"Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt." - Transgenerational Memory', literarischer Raum und kulturelle Fiktion in Anne Webers ...

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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor
                                   uns liegt.“ – ‚Transgenerational Memory‘,
                                   literarischer Raum und kulturelle Fiktion in
                                   Anne Webers Zeitreisetagebuch Ahnen (2015)

                                   Stephan Wolting

                                   1. Zur Mehrdeutigkeit von Zeitreisetagebuch im Zusammenhang
                                      mit der Konzeption von transgenerational memory

                                       „Sonst kriegen sie uns … Nichts wie weiter…Sonst kriegt uns die Geschichte…
                                       Sonst holt sie uns ein und bringt uns um…“ Jaroslav Rudiš: Winterbegs letzte Reise (2019: 202)

                                   Im vorliegenden Beitrag geht es um das Werk Ahnen von Anne Weber (2015),
                                   der Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2020. Neben weiteren biogra-
                                   phisch-familiären Bezügen wird zu großen Teilen die Tätigkeit ihres Urgroß-
                                   vaters als preußischer Beamter, als Jurist, später als protestantischer Pastor,
                                   von 1890 bis 1904 im Posener Land thematisiert. Die Autorin treibt vor allem
                                   die Frage um, inwieweit sich innerhalb der unterschiedlichen Familiengenera-
                                   tionen (schwerpunktmäßig deren männlicher Vertreter) ein geistig-mentales
                                   Kontinuum in einem biographischen wie kulturpolitischen Sinne feststellen
                                   lässt, das bei der Geschichte ihres Urgroßvaters beginnt und sich bis zu je-
                                   ner der Autorin fortsetzt.1 Weber benutzt dazu die schöne Metapher, „sich von
                                   einer verschwundenen Generation zur nächsten wie auf den aneinanderge-
                                   knüpften Brettern einer morschen Hängebrücke vor- und zurückbewegen zu
                                   können“ (Weber 2015: 203). Die deutsch-amerikanische Komparatistin Helga
                                   Druxes (2015) bezeichnet diese Verfahrensweise im Gespräch mit der Autorin
                                   als „transgenerational Holocaust memory“2: Dies drückt sich über den inhalt-
                                   lichen Rahmen hinaus nicht zuletzt in der Form des Prosastücks aus, deren
                                   Betrachtung im Fokus dieser Untersuchung steht.
                                       Wie in dem jüngst prämierten Werk, dem Versepos Annette. Eine Heldin-
                                   nenepos (Weber 2020)3, hat die Autorin nach eigener Aussage auch in ­Hinblick

                                   1   Das Werk ist in drei (Zeit-) Abschnitte unterteilt: die Zeit des Urgroßvaters im Posener Land,
                                       die Beschreibung des Lebens des Vaters mit der Verbindung zum Großvater sowie die Zeit von
                                       Webers Recherche.
                                   2   Bei dem Begriff sei aber Vorsicht geboten, denn im gleichen Interview betont Weber, dass „sie
                                       mit Menschen, nicht mit Generationen“ verkehre. Das Zitat geht sinngemäß auf Gustav Landauer
                                       zurück, wie die Autorin betont (Winter 2015: 179).
                                   3   Sie erhielt den Preis für dieses Werk über die französische Widerstandskämpferin Anne

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                     © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                                                   auf Ahnen sehr um die gattungsästhetische Form des Oeuvres gerungen4, das
                                                                   sie schließlich Zeitreisetagebuch nannte. An anderer Stelle wird von einer „poe-
                                                                   tisch-autobiografische[n] Meditation über Herkunft und Identität“ (­Pfohlmann
                                                                   2015) gesprochen. Damit ist ein Stichwort für die Betrachtung einer „Poetik des
                                                                   Raums“ im Sinne Bachelards (1987) gegeben. Weber gebraucht den Terminus
                                                                   Reise hier in einem doppelten Sinne: einmal in einem lokalen, als Reise zu den
                                                                   Orten ihrer Recherche, und darüber hinaus in einem temporalen, als Reise in
                                                                   „die zeitliche Fremde ihrer Vorfahren“ (Weber 2015: 37). Unter Zugrundele-
            for personal use only / no unauthorized distribution

                                                                   gung von letzterem stellt sie einen Bezug zum Titel her, wo sie von ihrer Reise
                                                                   in die Vergangenheit als in ein eigentlich „unzugängliches Totenreich“ (Weber
                                                                   2015: 20), jenes Land ihrer Ahnen, spricht.5
                                                                       Innerhalb dieser Überlegungen wird der oben beschriebenen Vorgabe der
                                                                   Autorin Rechnung getragen und die Frage zu beantworten versucht, welche
                              Winter Journals

                                                                   besonderen Implikationen wie etwa metanarrative Kommentierungen o.ä. in
                                                                   Hinblick auf die Darstellungsweise und intendierte Lesart damit verbunden
                                                                   sind. Für Weber bedeutet Form zugleich Aussage und Zeitreisetagebuch eine
                                                                   poetisch imaginierte Form einer Reise in Raum und Zeit. Der Schwerpunkt
                                                                   dieser Betrachtung liegt trotz des im Kompositum vorkommenden Begriffs
                                                                   der Zeit hier stärker auf der kantianisch gesprochen Anschauungsform des
                                                                   Raums.6 Allerdings lassen sich beide Formen im erzähltechnischen Sinne
                                                                                                                                                        Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)

                                                                   eines von Bachtin (1973) herausgestellten Chronotopos oder der von Böhme
                                                                   betonten Raumzeitlichkeit7 nicht scharf trennen, was in Übereinstimmung zu
                                                                   Webers Konzeption steht. Nicht allein zwischen den Zeilen lässt sich die Ab-
                                                                   sicht der Autorin herauslesen, dass „Zeitreisetagebuch“ bedeutet, Vergangen-
                                                                   heit, und damit Zeit, räumlich zu machen, etwa wo sie schreibt, dass sie sich

                                                                         ­ eaumanoir. Es soll hier keinesfalls als ‚politische Stellungnahme‘ bzw. als Analogieschluss
                                                                         B
                                                                         missverstanden werden, aber im Zusammenhang des ‚Rauswurfs‘ von Monika Maron bei S.
                                                                         Fischer, ging es fast unter, dass der Fischer Verlag Webers Werk als ‚Versepos‘ nicht heraus-
                                                                         geben wollte. Stattdessen erschien es bei Matthes & Seitz, der damit als relativ kleiner Verlag
                                                                         innerhalb weniger Jahre zum zweiten Mal den Deutschen Buchpreis erhielt, nach 2015 Frank
                                                                         Witzels Die Erfindung der Roten Armee-Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager
                                                                         im Sommer 1969.
                                                                   4     Wie die Autorin in einem Gespräch mit dem Verfasser anlässlich einer Lesung (spotkanie au-
                                                                         torskie) am Germanistischen Institut der UAM Poznań am 24.11.2016 selbst betonte.
                                                                   5     Der Begriff Ahnen taucht an verschiedenen Stellen auf, auch bei der Klimax des Werks, als sie
                                                                         zuletzt am 1. November zwei Friedhöfe in Poznań, Myłostowo und Jezicki, besucht und nach
                                                                         einer Reflexion über die Ahnen der Opfer und der Täter sich einen Ort wünscht, „an dem alle
                                                                         Toten ungeteilt, meine Ahnen sind.“ (Weber 2015: 268)
                                                                   6     Vgl. die Kritik der reinen Vernunft, vor allem die Transzendentale Elementarlehre. Erster Teil.
                                                                         Die transzendentale Ästhetik § 1. 1. Abschnitt. Von dem Raum (Kant 1982: 69ff.) Bitte Seiten­
                                                                         zahlen von – bis angeben, 2. Abschnitt: Von der Zeit (Kant 1982; 78ff.) Bitte Seitenzahlen
                                                                         von – bis angeben.
                                                                   7     Eine Idee, die im Übrigen schon Lessing (1974) in seinem Laokoon in Abgrenzung der Literatur
                                                                         von der Bildenden Kunst umtrieb (Böhme 2005: XII).

                                                                                       Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                                                       © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt.“                                       139

                                   „die zeitliche Differenz zwischen sich und dem Urgroßvater als eine Strecke“
                                   vorstellt (Weber 2015: 67).8 Somit wird für sie in diesem Fall besonders der
                                   Begriff des Raums virulent, der etwas anderes meint als der konkretere Begriff
                                   des Orts9, was sich wiederum auf Interpretation oder Lesart auswirkt: Es geht
                                   um die Darstellung eines künstlerischen oder literarischen Raums, nicht um
                                   die Beschreibung eines geographischen oder historischen Orts.
                                       Von hierher wird an die Konzeptionen Blanchots (2012) vom „literari-
                                   schen“ und Lotmans (2009) vom „künstlerischen Raum“ angeknüpft10, und
                                   wie angedeutet darüber hinaus sich dem Werk gattungs- und formalästhetisch
                                   genähert, wie es in literaturwissenschaftlichen Regionalstudien – zumindest
                                   innerhalb germanistischer Publikationen – eher unterrepräsentiert scheint.
                                   Auf diese Weise ergibt sich zugleich ein neuer, anderer Zugang zu einer Re-
                                   gion als ‚kultureller Fiktion‘ innerhalb derer, im Zusammenspiel von Biografie,
                                   Historie und Regionalität und qua literarisch-ästhetischer Konstruktion sowie
                                   performativer Erinnerungsarbeit, „Vergangenheit plötzlich vor uns liegt“11.
                                       Bevor in diesem Zusammenhang konkreter auf die ästhetische Struktur ein-
                                   gegangen wird, seien einige Bemerkungen zur historischen Figur von Webers
                                   Urgroßvater am Leitfaden der Frage nach einem geistigen Kontinuum sowie zu
                                   dessen Einbindung in Webers Familiengeschichte vorweggenommen. Eher als
                                   Exkurs schließen sich einige Bemerkungen zur historisch-politischen Situation
                                   des Posener Lands sowie zur Literatur des Posener Landes an. Beide For-
                                   schungsbereiche sind wissenschaftlich gut dokumentiert (Greser 2016; Mache
                                   2021), sodass sich hier anschlussoperativ auf nur einige wenige konkrete Fix-
                                   punkte beschränkt werden kann. In diesem Zusammenhang sei festgehalten,
                                   dass Weber weder aus der Erfahrung einer Region heraus schreibt, noch sich
                                   speziell für die Region interessiert, sondern diese nur im Zusammenhang mit
                                   der Lebensgeschichte ihres Urgroßvaters behandelt. Insofern liegt hier ein
                                   völlig anderer Impetus als bei jeder anderen Form eines Schreibens aus re-
                                   gionaler Erfahrung (Gössmann/Hollender 1996) vor. Zugleich sei darauf ver-
                                   wiesen, dass Weber stark individuelles Erinnern (auch das eigene) akzentuiert,
                                   also die Singularität12 jeder Lebensgeschichte (nicht zuletzt jener ihres Groß-
                                   vaters) betont und sich im phänomenologischen Sinne deutlich von jeglicher

                                   8  In diesem Kontext ließe sich assoziativ an Schlögels (2003) Diktum denken, wonach „wir im
                                      Raume die Zeit lesen“, wenngleich in einem anderen Kontext geäußert.
                                   9 Oftmals als Unterscheidung von space und place verdeutlicht.
                                   10 Man hätte in dem Zusammenhang auch Ernst Cassirer (1985) als Zeugen aufrufen können.
                                   11 Nicht zuletzt als eine noch einzulösende Verpflichtung. Dieses Motiv taucht mehrere Male im
                                      Werk auf, u.a. auch im Zusammenhang mit der Konzeption Gustav Landauers, mit dem der Ur-
                                      großvater später befreundet und von ihm geistig stark beeinflusst war: „Die Vergangenheit liegt
                                      vor uns wie ein Weg […].“ (Winter 2015: 233)
                                   12 Hier als eher heuristischer Begriff anders benutzt als bei Reckwitz (2017), der dies in einem
                                      soziologischen Sinn als im weitesten Sinne Lifestyle oder Habitusform versteht.

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                     © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                   Verallgemeinerung distanziert, selbst jener eines kollektiven (Halbwachs
                                   1985)13, eines kommunikativen (Welzer 2002)14 oder eines kulturellen Ge-
                                   dächtnisses (Assmann 1992):15
                                         […] dass es in Wirklichkeit nur einzelne gibt mit ihren einzelnen Gesinnungen oder Gesinnungs-
                                         losigkeiten, und in diesen Einzelnen, in den meisten von ihnen, die leisen oder dröhnenden
                                         Stimmen ihres Gewissens. Die Bücher irren, es gibt keine Massen, es gibt nur einen Vater und
                                         einen Sohn oder eine Mutter und einen Sohn oder eine Tochter und zwischen ihnen gibt es
                                         Wege, die weiterführen oder abbrechen. Die Erklärung in den Büchern erklären das Leben und
                                         Denken und Handeln dieser Einzelnen nicht. (Winter 2015: 256)16

                                   2. Die ‚fiktiv-historische‘ Figur des Urgroßvaters in Webers Werk

                                   Die ‚fiktiv-historisch‘ literarisierte Figur des Urgroßvaters wird im Werk als ein
                                   „hochgebildeter Mann“ charakterisiert, der sich bei den Griechen, Klassikern
                                   wie Goethe, Shakespeare und Dante gut auskannte. Darüber hinaus wird er
                                   wie folgt beschrieben:
                                         Viele Eigenschaftswörter würden auf ihn passen: der Suchende, der Wahnsinnige, der Haltlose,
                                         der Radikale, der Unbändige [...]. Das Erste, was mich für den Mann erwärmte, war, dass sein
                                         nur in Fragmenten überliefertes Hauptwerk den Titel „Abrechnung mit Gott“ tragen sollte.
                                         (Weber 2015: 7)17

                                   Weber führt dazu weiter aus, dass es nicht zuletzt seine „Abrechnung mit
                                   Gott“18 war, was sie von Anfang an für ihn einnahm und ihr zum Anlass des

                                   13 Vgl. auch die frühe Kritik Kosellecks (2004). Es gilt inzwischen als in der Forschung allseits
                                       bekannt, dass Halbwachs die Schrift nie selbst veröffentlichte, sondern diese als Kompendium
                                      später von seinem Sohn herausgegeben wurde. Für viele Kritiker dieser Konzeption bleibt ‚kol-
                                      lektives Gedächtnis‘ eine contradictio in adjecto.
                                   14 Welzers Ansatz geht noch am ehesten in die Richtung Webers oder umgekehrt, weil bei ihm
                                      auch das Familiengedächtnis im Sinne der Tradierung ein Teil des kommunikativen Gedächt-
                                      nisses ist.
                                   15 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch Aleida Assmann (2013), die einzelne Positionen
                                      noch einmal kritisch und konfrontativ einander gegenüberstellt. Natürlich sind sich beide
                                      ­Assmanns auch der formalästhetischen Komponente literarischer Werke bewusst.
                                   16 Auch in Bezug auf den „Germanisierungsprozess“ betont Weber die Rolle des Einzelnen: „Ab
                                       1871 sollten Gesetze nach und nach nicht nur dir Scholle, sondern auch die Sprache von allem
                                       Slawischen reinigen [im Original kursiv; St.W.]. Dieser Germanisierungsprozess wird allge-
                                      mein als Vorstufe des Späteren beschrieben, als eine Art Vorgebirge des Riesengebirges. Und
                                      für einen, der den Blick vor dem einzelnen Leben verschließt und nur größere Strömungen
                                      wahrnimmt, mag das auch stimmen. Aber das Leben eines Einzelnen ist reicher, widersprüch-
                                      licher, schwankender als das der Gemeinschaft, es lässt sich nicht mit den anderen Leben zu
                                      einem Trend verschmelzen.“ (Weber 2015: 223)
                                   17 An einer anderen Stelle nennt sie ihn eine „Kippfigur“, bei dem „die zwei Hälften seines Wesens
                                       weiter auseinanderklaffen, als es gemeinhin vorkommt“ (Weber 2015: 178).
                                   18 Wie sein nur in Fragmenten erhaltenes „Hauptwerk“ heißen sollte (Weber 2015: 7).

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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt.“                                      141

                                   Werks wurde. Der aus Kassel stammende Florens Christian Rang (1864-1924)19
                                   macht sich nach seiner Posener Zeit auch publizistisch, literarisch, theologisch
                                   und philosophisch einen Namen und wird von seinem späteren Freund Walter
                                   Benjamin20 als der „größte Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche“ (Weber
                                   2015: 162) bezeichnet. Dessen Zeit im Posener Land erscheint nicht zuletzt
                                   deshalb besonders aufschlussreich, weil diese in dem Wikipedia-Artikel über
                                   ihn komplett ausgespart ist, so als würde sein Leben erst mit der Berliner Zeit,
                                   u. a. als Vorstandsvorsitzender und 2. Direktor der Raiffeisenbank ab 1917
                                   (Weber 2015: 183) beginnen21, weil er erst nach seiner Posener Zeit neben
                                   Benjamin22 mit prominenten Geistesgrößen deutschsprachiger Kulturge-
                                   schichte wie Martin Buber, Hugo von Hofmannsthal oder Gustav Landauer in
                                   Kontakt stand. Etwas despektierlich könnte man ihn einen B-Promi innerhalb
                                   der deutschen Geistesgeschichte nennen. Die Autorin spricht in diesem Zu-
                                   sammenhang u. a. von einer „Fußnote“ oder einem „Randvermerk“ der Ge-
                                   schichte (Weber 2015: 29).
                                       Nicht allein die Posener Zeit bleibt von der Lebensgeschichte Rangs ausge-
                                   spart, sondern damit verbunden auch zugleich seine von Weber zumindest als
                                   Frage formulierte Aspiration, dem Deutschtum im Posener Land Vorschub zu
                                   leisten und an der damaligen preußisch-protestantischen „Germanisierung“
                                   mitzuarbeiten (Weber 2015: 37).23 Denn um mit Weber zu fragen: Was hätte ei-
                                   nen deutschen Geistesmenschen aus dem Westen Deutschlands dazu gebracht,
                                   sich in der Posener Provinz24 und ‚protestantischen Diaspora‘ niederzulassen?

                                   19 Der im Werk Sanderling genannt wird, nach einem Wattvogel aus der Gattung der Strandläufer.
                                      Die phonetische Anspielung auf Sonderling liegt nahe. Weber stellt die Beziehung im Werk wie
                                      folgt her: „Sanderling ist den Strömungen ausgesetzt, das stimmt; wie der Vogel, dessen Namen
                                      er trägt, läuft er immer naher am Wassersaum seiner Zeit.“ (Weber 2015: 223)
                                   20 Sie trafen sich noch 1924 kurz vor Rangs Tod auf Capri, wo Benjamin kurze Zeit später auch die
                                      Nachricht vom Tode Rangs erhielt.
                                   21 Zu Lebzeiten veröffentlichte Rang mehrere Aufsätze und Werke (Wołkowicz: 2007). Wołkowicz
                                      nennt Rang dort einen „militanten Nationalisten“, was einen wesentlichen Gegensatz zu den
                                      Recherchen Webers markiert (Wołkowicz 2007: 27).
                                   22 Im Werk heißt es dazu: „Dass er nicht gänzlich in Vergessenheit geraten ist, hat Sanderling
                                      wohl weniger dem Eifer seiner Nachkommen, als seiner Freundschaft mit Benjamin zu ver-
                                      danken.“ (Weber 2015: 80).
                                   23 Dazu muss man wissen, dass Beamter in Preußen etwas ganz Anderes als heute bedeutete, was
                                      die gesellschaftliche Anerkennung betraf. Das Thema der Germanisierung wird an verschie-
                                      denen Stellen von der Autorin selbst angesprochen: „Ich bin von Anfang an geneigt gewesen,
                                      Sanderling ebenfalls für einen Germanisator zu halten. Wäre er, den nichts mit Polen verband,
                                      sonst ausgerechnet in jenen Jahren aggressiver Germanisierung in den Osten gegangen? (Weber
                                      2015: 222), Allerdings findet sie auch eine Tagebucheintragung, worin er schreibt, dass „die
                                      Regierung kein Recht hat, einem Volke seine Sprache zu nehmen […].“ (Weber 2015: 222f.)
                                   24 Es werden die beiden Dörfer Wiłkowice/Wolfskirch und Połajewo/Güldenau (etwa 50 km
                                      nördlich von Poznań/Posen) genannt, die größere Gemeinde, wo Sanderling Pastor war und
                                      weitere zwölf Dörfer der Umgehung betreute.

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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                                          Warum zieht es den jungen Beamten in diese östliche, seit 1815 Preußen zugeschlagene, eigent-
                                          lich aber polnische und mehrheitlich weiter von Polen bewohnte Provinz des Kaiserreichs, wo die
                                          deutsche Sprache nur von wenigen gesprochen wird und wo nur wenige – mehr oder weniger
                                         dieselben – seinem, dem evangelischen Glauben anhängen? Aus freien Stücken sei er in den
                                         ­Osten gegangen lese ich. Aber aus welchen Gründen? Sicher war er keiner, der den gangbarsten
                                          Weg gesucht hätte. Und warum der Osten? In einem Brief an Richard Dehmel schreibt sein Ju-
                                          gendfreund Franz Servaes, Sanderling sei mehrere Jahre als Germanisator in partibus infidelium
                                          im Posen‘schen gewesen, als einer also, der ausgezogen ist in von Andersgläubigen besiedelten
                                          Gegenden das Deutschtum zu verbreiten. Mit Andersgläubigen sind in diesem Fall nicht so sehr
                                          religiöse Abweichler gemeint als solche, die nicht dem Glauben an das Deutschtum anhängen. Es
                                          scheint demnach, so jedenfalls sieht es sein engster Jugendfreund, als habe Sanderling sich nach
                                          Posen begeben, um sich tatkräftig an der von Bismarck und den nachfolgenden preußischen
                                          Regierungen betriebenen Stärkung des Deutschtums zu beteiligen. (Weber 2015: 35)

                                   Um diese Problematik weiter zu vertiefen, bedient sich Weber der ‚Technik‘
                                   einer herantastenden Infragestellung25, gerade was die eigenen Recherchen26
                                   anbelangt. Sie betreibt auf diese Weise nicht allein eine Art von literarischer
                                   transgenerationeller Vergangenheitsbewältigung (Druxes 2015), sondern
                                   stellt gleichzeitig das damalige Umfeld dar, das Bild einer Region, die zu dieser
                                   Zeit vor allem durch den Versuch einer deutschen kulturellen Inbesitznahme
                                   gekennzeichnet war.
                                       Isoliert betrachtet wäre dieser Umstand für den hiesigen Kontext eher zu
                                   vernachlässigen, fiele nicht in diesem Zusammenhang auch jener Satz, den
                                   Webers Werk leitmotivisch durchzieht bzw. von der Autorin immer wieder von
                                   neuem zitiert wird. Bei einem Besuch einer ‚Irrenanstalt‘ oder „Idiotenanstalt“
                                   (O-Ton Rang) Owińska im Posener Land rutscht ihrem Urgroßvater die Frage
                                   heraus: „Warum vergiftet ihr diese Menschen nicht?“ (Weber 2015: 67, 113,
                                   135, 143, 225 u. a.)
                                       Einschränkend muss allerdings erwähnt werden, dass dieser Satz in Rich-
                                   tung Eugenik der einzige Hinweis auf eine solche Einstellung ist. An anderen
                                   Stellen sind allerdings, wenngleich kryptischer, d.h. impliziter, auch polen-
                                   feindliche Äußerungen im Sinne eines ‚zivilisatorischen Rückstands‘ der Be-
                                   völkerung in den Schriften zu finden, wie Weber bemerkt, ohne diese explizit
                                   zu zitieren. Eine zivilisatorische Abwertung des ‚Ostens‘ durchzieht im Übrigen
                                   die Familiengeschichte bis zu ihrem Vater hin.27
                                       Gleichsam deutet sich damit der Horizont eines Werks an, innerhalb des-
                                   sen versucht wird, eine Entwicklung aufzuzeigen, wie jemand zum einen dazu

                                   25 Anlehnend an die Begründung der Jury des deutschen Buchpreises 2020 für ihr letztes Werk,
                                      wo innerhalb der Begründung der Jury das Prinzip der „tastenden Annäherung“ an Identitäts-
                                      und Kulturräume hervorgehoben wird (in Ahnen das Posener Land, in Annette die Region der
                                      Bretagne).
                                   26 So fragt sie sich beispielsweise bei Ihrer Recherche im Bundesarchiv Koblenz auf den Spuren
                                      ihres Nazi-Großvaters, ob sie nicht selbst zur Denunziantin geworden sei (Winter 2015: 104f.).
                                   27 Weber selbst natürlich ausgenommen.

                                                       Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                       © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt.“                                        143

                                   kommen kann, eine solche Frage zu äußern und zum anderen, ob sich eine
                                   solche Einstellung in der Familiengeschichte fortsetzt. Dass die Autorin im Ge-
                                   spräch mit Schriftstellerkollegen klug genug und zudem gut beraten gewesen
                                   ist, diese Aussage nicht mit unhistorischen bzw. heutigen Kriterien zu betrach-
                                   ten, legt wiederum der Untertitel des Werks nahe: Ein Zeitreisetagebuch. In
                                   diesem Sinne vollzieht Weber – und in diesem Fall ist die Autorin ganz entge-
                                   gen dem narratologischem Paradigma wirklich mit der Erzählerin gleichzu-
                                   setzen – eine doppelte Reise: zum einen in die Zeit vom Ende des 19., Anfang
                                   des 20. Jahrhunderts, zum anderen in den Raum zu unterschiedlichen Orten,
                                   nicht nur nach Posen und ins Posener Land28, sondern auch etwa ins Benja-
                                   min-Archiv nach Berlin29, wieder zurück in ihre Wahlheimat Paris30, in die
                                   Bretagne31 oder in die hessische ‚Irrenanstalt‘ Hadamar32 in der Nähe von
                                   Braunfels an der Lahn.33 Ein weiterer Umstand dürfte in diesem Kontext von
                                   nicht unerheblicher Bedeutung gewesen sein: dass der Sohn des Urgroßvaters,
                                   also ihr Großvater, selbst nach Angaben seines Sohns ein „überzeugter Nazi“
                                   war (Weber 2015: 75), zu dem sie aber keinerlei Kontakt unterhielt, was sie im
                                   Nachhinein als „glücklichen Umstand“ bezeichnet, vor allem deshalb, weil er
                                   sie als uneheliches Kind nicht anerkannte (Weber 2015: 232).

                                   3. Die Reise in die Vergangenheit als Familienkontinuum?

                                   Rangs Nachlass befindet sich im Benjamin-Archiv als Einrichtung der Aka-
                                   demie der Künste auf der Luisenstraße in Berlin-Mitte, wozu Weber die Er-
                                   laubnis erhält, Einblick zu nehmen. Weber thematisiert an vielen Stellen ihre
                                   eigene Recherche und berührt somit immer wieder ihre eigene Familienge-
                                   schichte, etwa wie sie als uneheliches Kind auf die Welt kommt und von ihrer

                                   28 Zu den Orten ihres Urgroßvaters, etwa zur ehemaligen ‚Irrenanstalt‘ Owińska oder in das ehe-
                                      malige Konzentrationslager Posen/Fort VII Colomb bzw. zu dessen Überresten.
                                   29 Außerdem ins Bundesarchiv Koblenz und ins Landesarchiv Nordrhein-Westfalens in Duisburg.
                                      Dabei wundert sich die Autorin nicht über die klischeehafte Sachlichkeit und Effizienz des Per-
                                      sonals, wie sie schreibt, allerdings schon darüber, wie problemlos man die Erlaubnis bekommt,
                                      über NS-Repräsentanten zu recherchieren.
                                   30 Weber lebt seit ihrem 18. Lebensjahr in Paris und bezeichnet sich als „eine Deutsche, die von
                                      außen“. Es wäre interessant, diese dritte (fremdkulturelle) Perspektive als Tertium comparatio-
                                      nis noch weiter zu untersuchen. In Ahnen beschreibt sie in Paris die Treffen mit ihrer Freundin
                                      Cecile Wajsbrot, der bekannten jüdischen, früher in Paris, heute in Berlin lebenden Schriftstel-
                                      lerin, die Weber auch übersetzt hat.
                                   31 Wo sie mit dem Künstler Pierre Apatschevsky zusammentrifft, der sonst ebenfalls in Paris lebt
                                      und dessen jüdische Familie aus Odessa stammt.
                                   32 In Hadamar wurde das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten für angeblich geistes-
                                      kranke Patienten umgesetzt und mindestens 15.000 Menschen in der Gaskammer umgebracht
                                      ( [18.01.2021]).
                                   33 Etwas kalauerhaft wäre hier ‚der Name ist Programm‘ festzustellen.

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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                                   ­ lleinerziehenden Mutter großgezogen wird. Von ihrem biologischen Vater,
                                   a
                                   dem Pädagogikprofessor Adalbert Rang34, wird ihr bezüglich ihrer Recherchen
                                   vorgeworfen, sich auf diese Weise in die Familiengeschichte „einschreiben zu
                                   wollen“ (Weber 2015: 153).
                                        Bis zuletzt will der Vater die NS-Vergangenheit seines Vaters verschweigen,
                                   des Großvaters Webers und Sohns von Florens Christian Rang, wie zudem We-
                                   bers Recherchen ergeben oder eigene schriftliche Äußerungen des Großvaters
                                   belegen. Außerdem existieren Dokumente in Form von Fragmenten und An-
                                   fängen geschriebener Texte darüber, wonach der Großvater begann, eine Bio-
                                   grafie über seinen Vater zu schreiben35. Die Autorin entrüstet sich über ein
                                   Manuskript des Großvaters, das sie findet, unter dem Titel Der Pfarrer von
                                   Połajewo:
                                         Ein Kapitel des Manuskripts […] ist überschrieben mit Das sündige Dorf. Eine grauenhafte,
                                         kaninchenhafte Unzucht habe geherrscht unter den menschenähnlichen Geschöpfen, die das
                                         Dorf bewohnten, ein einziger elender, verdeckter Sündenpfuhl sei das gewesen. Sodom und
                                         Gomorra konnten nicht schlimmer verderbt sein. [Im Original kursiv gedruckt; St.W.] […] Der
                                         Pfarrer von Połajewo ist der Versuch des Sohnes, den Vater zu sich runterzuziehen, einen bie-
                                         deren, verlogenen Bildungsbürger aus ihm zu machen, wie er selbst einer ist, schreie ich in
                                         meiner Wut. Ich verfluche keinen Gott, ich schreie nicht zum Himmel, aber es schreit zum
                                         Himmel, das einem, der mit Mördern paktierte, Unzucht das schlimmste und widerwärtigste
                                         aller Übel ist. (Weber 2015: 323f.)

                                   Aufgrund der Bekanntschaft seines Vaters mit Martin Buber erhält dieser
                                   Großvater nach dem Krieg, als es um die Bestrafung von NS-Verbrechern geht,
                                   einen ‚Persilschein‘. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann in der Tat im
                                   wortwörtlichen Sinne von einem die Generationen transzendierenden Erin-
                                   nern sprechen (Druxes 2015). Diese Verbindung stellt Weber selbst ganz ex-
                                   plizit her, wenn sie fragt: „Wie hat es geschehen können, dass aus dem Sohn
                                   eines Sanderlings, eines Mannes also, der von Juden umgeben war und in ih-
                                   nen seine, des Christen ältere Brüder sah, ein Nazi wurde?“ (Weber 2015: 53)
                                       Im Gegensatz zu seinem Sohn wie seinem Enkel legt Florian Christian Rang
                                   in Tagebüchern, die Weber im Benjamin-Archiv konsultiert, allerdings ein
                                   durchaus selbstkritisches Geständnis in Form einer protestantisch eingefärb-
                                   ten ‚seelischen Innenschau‘ (und später unter dem starken Einfluss der Schrif-
                                   ten Nietzsches ein Ringen mit Gott bis hin zur späteren Ungläubigkeit) ab,

                                   34 Er war Professor an der Pädagogischen Hochschule Berlin (1968-1982, die Anfang der 1980er
                                      Jahre aufgelöst und in schon bestehende andere Hochschulen wie die FU etc. integriert wurde)
                                      und wurde später Professor an der Universität Amsterdam (von 1982 bis zu seiner Emeritie-
                                      rung 1993).
                                   35 Der Großvater war Direktor der Stadtbibliothek Bielefeld (später jener in Köln) war. Übrigens
                                      plante auch Webers Vater eine ganze Biografie über ihn zu schreiben, es blieb bei einem Porträt
                                      für die Neue Rundschau 1959. 2008 übergab er die Dokumente an das Benjamin-Archiv. Von
                                      ihm liegt ein einziges veröffentlichtes Dokument vor mit dem Titel Der Roman.

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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt.“                                     145

                                   verschweigt im Gegensatz zu den Vertretern der späteren Generationen nichts
                                   explizit, sondern versucht, sich Rechenschaft über Dinge seines Lebens abzu-
                                   legen, dessen biographische Eckdaten wie folgt lauten: in Kassel geboren, ka-
                                   tholisch getauft, Konvertierung der Familie zum protestantischen Glauben,
                                   Jurastudium in Köln (wo er auch zum Dr. jur. promoviert), Verwaltungsjob in
                                   Halberstadt. zunächst Leben eines „Lebemanns“36, Umzug ins Posener Land,
                                   zu dieser Zeit Aufnahme eines Theologiestudiums in Greifswald. Direktor der
                                   Raiffeisenbank in Berlin sowie Abfassen theoretischer Schriften.37

                                   4. Zur kulturhistorischen Situation des Posener Landes in
                                      literarischen Werken

                                   Vom Jahre 1815 an wurde Poznań der Provinz Preußen einverleibt. Nach der
                                   dritten polnischen Teilung gehörte Posen mehr als 100 Jahre zum Königreich
                                   Preußen. Das Gebiet war mit relativ wenigen Deutschen besiedelt. Es gab eine
                                   große polnische Mehrheit sowie eine jüdische und deutsche Minderheit. Die
                                   Provinz galt von deutscher Seite als einigermaßen „ungeliebt“ (Neubach 2019),
                                   von polnischer Seite wurde es als ihr Land angesehen, worauf Weber an meh-
                                   reren Stellen ihres Werks eingeht (u.a. Weber 2015: 241f.).
                                       Bismarck spricht in dem Zusammenhang nicht von Provinz, sondern von
                                   Schutzgebiet (Wiss. Dienst Deutscher Bundestag 2021; Broszat 1963: 129-172;
                                   Wehler 1968: 297-316) und stellt die Provinz damit afrikanischen Kolonien
                                   gleich.38 Bei den meisten Werken innerhalb der deutschsprachigen Literatur
                                   handelt es sich vorwiegend um Versuche einer kulturellen wie literarischen
                                   Inbesitznahme, etwa innerhalb der sogenannten Ostmarkliteratur, die wis-
                                   senschaftlich hinreichend bearbeitet ist.
                                       Darüber hinaus ist zu Recht behauptet worden, dass Posen und die Umge-
                                   bung weder in der deutschen, jüdischen noch in der polnischen Literatur eine
                                   ähnlich starke Resonanz gefunden hat wie Schlesien, Danzig und Umgebung,

                                   36 Weber geht auch darauf in ihrem Werk ein, wo sie etwa die Beziehung zu der Polin Pelagia
                                      Kruszszyńska, genannt Pela, beschreibt, die für ihn wohl die „große Liebe“ war und an die er
                                      selbst noch am Tag seiner Hochzeit mit Agnes denkt. (Weber 2015: 45f.)
                                   37 Als seine Hauptwerke gelten (das erstgenannte Werk haben u.a. Benjamin und Buber unter-
                                      stützt): Deutsche Bauhütte. Ein Wort an uns Deutsche über mögliche Gerechtigkeit gegen
                                      Belgien und Frankreich und zur Philosophie der Politik. Mit Zuschriften von Alfons Paquet,
                                      Ernst Michel, Martin Buber, Karl Hildebrandt, Walter Benjamin, Theodor Spira, Otto Erdmann.
                                      Leipzig: Sannerz 1924 sowie Historische Psychologie des Karnevals, erschienen in: Die Kreatur
                                      II/2 (1927/28); Neuausgabe herausgegeben von Lorenz Jäger, Berlin 1983, die Weber beide
                                      kommentiert.
                                   38 Shared history ist ein Begriff, der der postkolonialistischen Debatte (bzw. dem Diskurs) ent-
                                      stammt, und wird oft in Zusammenhang mit dem Dependenzdiskus benutzt. Der Versuch ana-
                                      log dazu, eine shared literary landscape festzumachen, erwies sich als unhaltbar.

                                                    Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                    © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                   Masuren respektive Ostpreußen o. ä. (Greser 2016; Wojtczak 1998). Einen lite-
                                   rarischen Mythos dieser Region hat es in diesem Sinne nicht gegeben. Ebenfalls
                                   ist richtig, dass die wenigen Zeugnisse anspruchsvoller Literatur insbesondere
                                   von Autoren stammen, die auf der Durchreise waren, wie etwa Heinrich Heine39
                                   oder Clara Viebig, die zu Sommeraufenthalten die Gegend besuchte und diese
                                   in ihrem Werk Das schlafende Heer beschrieb.40
                                       Webers Werk weist keinerlei Referenz zu diesen früheren Werken von Be-
                                   schreibungen des Posener Landes – auch nicht in Absetzung oder Entgeg-
                                   nung – auf, und schon gar nicht zu der Ostmarkliteratur o. ä. Sie stellt von
                                   daher hierzu bewusst und intentional keinerlei literarische Intertextualität
                                   her.41 Dazu lässt sich eine ganz andere literarische Qualität beobachten. An-
                                   näherung besteht in Webers Fall in einem völlig anderen Ansatz von Singula-
                                   rität, den man eine poetische Inbesitznahme einer kulturellen Fiktion nennen
                                   kann, die den Begriff der historischen Wahrheit durch den einer literarisch-
                                   künstlerischen Wahrhaftigkeit ersetzt, innerhalb derer die Autorin sich immer
                                   wieder auf den einzelnen Wegstrecken Rechenschaft über ihr Vorgehen ablegt.
                                   Durch den Einbezug und die Problematisierung des eigenen Standpunkts
                                   wie Standorts (Wierlacher 2020: 357-359) unterscheidet sich Webers Ansatz

                                   39 In seiner ihm eigenen Art betrachtet Heine auch Posen und das Posener Land in einer Mi-
                                      schung aus Identifikation und Ironie, sprich Distanz, Heines wohlbekannte Strategie, wenn er
                                      etwa davon spricht: „Posen, die Hauptstadt des Großherzogtums, hat ein trübsinniges, uner-
                                      freuliches Ansehen. Das einzige Anziehende ist, daß sie eine große Menge katholischer Kirchen
                                      hat. Aber keine einzige ist schön. […] Als wenn die unglückliche Stadt nicht genug hätte an dem
                                      bloßen Theater!! ( [25.01.2021]).
                                   40 Als das zweite relativ prominente Beispiel fungiert Clara Viebig, die von Wojtczak (1998: 66ff.)
                                      zur „Ostmarkliteratur gezählt wird und die in ihrem Werk Das schlafende Heer“ diese Gegend
                                      beschreibt, die sie von häufigen Sommerferienbesuchen auf einem Gut bei Verwandten im Pose-
                                      ner Land, woher ihre Eltern stammten, kannte. Clara Viebig schreibt: „Meine Heimaten. Meine
                                      Eltern stammen beide aus der Provinz Posen, daher, wo sich, wie man in dem von der Natur so
                                      bevorzugten Rheinland denkt, Hasen und Füchse Gutenacht sagen. Da kam ich nun hin. Eisen-
                                      bahn gab es nicht bis zum Gut der Verwandten, der Wagen wartete auf der kleinen Station;
                                      endlos ging‘s durch Sand und Korn und Rübenfelder, und weiter durch Rübenfelder, Korn und
                                      Sand. Rebhühner schwirrten auf, wenige Dörfer zeigten sich, die Räder holperten in ausgefah-
                                      renen Landweggeleisen, und der Himmel stülpte sich über das flache Land, wie eine Glasglocke
                                      über den Teller.“ (Viebig 1998: 6; Michalska 1968)
                                   41 Obwohl in dem Werk häufig Intertextualität hergestellt wird, vielfach auch zu Texten polnischer
                                      Schriftsteller, wie z.B. Mickiewicz‘ Dziady [Totenfeier] (Weber 2015: 240) oder Miłosz‘ Das
                                      verführte Denken (Weber 2015: 98). Zudem erwähnt sie vor allem jene historischen Werke, bei
                                      denen sie davon ausgehen konnte, dass sie der Urgroßvater gelesen hatte wie Alfred Knobloch
                                      oder des damaligen preußischen Kultusministers Graf Zedlitz (Weber 2015: 222, 225, 235),
                                      aber auch historische Werke über den „Deutschen Ostmarkenverein“, eine „nationalistische
                                      Propagandaorganisation“ (Weber 2015: 41) oder Die Stadt Posen unter preußischer Herrschaft
                                      von Moritz Jaffé von 1909 (Weber 2015: 42), wo es unter anderem heißt. „In der Tat gehen
                                      Deutsche und Polen im engen Raume des heutigen Posen wie Fremde aneinander vorüber.“

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt.“                                      147

                                   ­ iametral von jeder anderen Literatur über diese Region, im Übrigen auch von
                                   d
                                   den Beschreibungen Heines, der als bekannterweise großer Spötter und letz-
                                   ter Vertreter wie Überwinder der ‚romantischen Schule‘ zugleich zwar eine
                                   Distanz zu dem Beschriebenen, sprich der Region, entwickelt, den eigenen
                                   Standpunkt allerdings ebenfalls nicht hinterfragt. Insofern erscheint es nur
                                   konsequent, wenn Weber sich intertextuell keinesfalls mit der Literatur des
                                   Posener Lands beschäftigt, dagegen aber mit bekannten polnischen Autoren
                                   wie Stasiuk etc., wobei sie in dieser Beziehung das erste und einzige Mal im
                                   Werk die Kontenance verliert und ihm dabei auf den Leim geht. Nicht zuletzt
                                   hielt Weber von daher die ästhetische Form des Zeitreisetagebuchs für die an-
                                   gemessene Form, die abschließend genauer beleuchtet werden soll.

                                   5. Reisen in die Fremde von Raum und Zeit: Zeitreisetagebuch als
                                      literarisch-kulturelle Fiktion

                                   Auf den ersten Blick scheint es vermessen, mit der Textform des Zeitreisetage-
                                   buchs als neuer Gattung zu operieren, da diese Form literaturwissenschaftlich
                                   weder näher definiert ist, noch sich allgemeiner Akzeptanz erfreut. Wenn man
                                   im Sinne der Autorin dennoch von einer solchen Annahme ausgehen mag, so
                                   sei paradoxerweise auf Arbeiten zur Gedächtnisforschung (Schacter 1996)
                                   bzw. zum Erinnerungsdiskurs (Markowitsch 2005; Welzer 2002; Roth 2001)
                                   verwiesen, die Vorarbeiten zu Konzepten einer „biographischen“ bzw. „histori-
                                   schen Fiktion“ geleistet haben (Wolting 2015). Innerhalb dieser Studie wurde
                                   der Fokus insbesondere auf die Kategorie der Fiktion gelegt, um „räumliche
                                   Fiktion“ bzw. um den „literarischen Raum“ im Sinne Blanchots (2012) erwei-
                                   tert. Grundvoraussetzung bleibt dabei, dass der literarische Raum nicht mit
                                   einem wie auch immer angenommenen historischen oder geographischen
                                   Raum gleichgesetzt werden kann.42 Der Hanser-Lektor Wolfgang Matz hat dies
                                   im Gespräch mit dem Verfasser in einem anderen Kontext einmal leicht iro-
                                   nisch so beschrieben: „In einem literarischen Raum kann man nicht wohnen.“
                                   (zit. n. Wolting 2020: 53)
                                       Der Begriff der räumlichen Fiktion legt also nahe, dass es sich im Sinne von
                                   Lotman (2009) nicht um reale, sondern um künstlerisch gestaltete Räume han-
                                   delt (Lotman 2009: 261-279; Wolting 2020: 47-53). Mag dies auf den ersten

                                   42 Es sind also mehrere Differenzierungen hierbei nötig, die oft nicht streng eingehalten werden:
                                      Der Ort ist kein Raum, der künstlerische bzw. literarische Ort bzw. Raum kein geographischer
                                      respektive historischer etc. Nimmt man diese Grenzziehungen nicht vor, werden Untersuchun-
                                      gen oft in der Argumentation nicht sauber. Das Problem der Vereinnahmung eines konkreten
                                      geographischen Orts als künstlerischer Raum würde sich damit von allein lösen. Eine ‚literari-
                                      sche Region‘ kann niemals mit einer ‚geographischen Region‘ kongruent sein.

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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                                   Blick selbstevident erscheinen, so zeigen doch zahlreiche, auch jüngere Publi-
                                   kationen, dass der reale historische Raum nach wie vor nicht selten mit dem
                                   künstlerisch gestalteten Raum gleichgesetzt wird. Daraus resultiert eine zum
                                   Teil rein inhaltsfixierte oder ‚historische‘ Annäherung respektive eine Darstel-
                                   lung mit von außen an das Werk herangetragenen Kategorien, selbst dort, wo
                                   von hybridem Kulturraum oder von kulturellem Gedächtnis gehandelt wird.
                                   Nach Überzeugung des Verfassers würde eine solche Betrachtungsweise dem
                                   Werk Webers zumindest nicht angemessen gerecht werden. Denn die Autorin
                                   selbst besteht geradezu auf der ästhetischen Autonomie des literarischen
                                   Kunstwerks, eine Position, wie sie im Übrigen generell von einer überwiegenden
                                   Mehrheit von Autorinnen und Autoren vertreten wird.43
                                       Weber lehnt sich mit einer gewissen Radikalität an die Literaturkonzeption
                                   Maurice Blanchots (2012) an44,wonach schon „der Schriftsteller […] nicht beim
                                   Werk verbleiben“ kann. In diesem Zusammenhang mahnt Blanchot die Schrift-
                                   stellerin/den Schriftsteller, zu jener „Entferntheit“ zurückzukehren, „durch die
                                   er zunächst eintrat, um das Vernehmen dessen zu werden, was er schreiben
                                   musste“ (Blanchot 2012: 87). Genau diese von Blanchot geforderte Position
                                   der „Entferntheit“ nimmt Weber in der Beschreibung ein bzw. geht noch darü-
                                   ber hinaus: Nicht nur die Autorin verschwindet im Sinne Blanchots hinter ihrem
                                   Werk, sondern sie transzendiert zugleich jede Form biographischer Bezüge
                                   über die Beschreibung einer Region bzw. einem historischen Bezug hinaus
                                   (Blanchot 2012: 16).
                                       Von daher und daran anknüpfend kommt man mit Weber nicht umhin, die
                                   Singularität biographischer Beschreibungen in einem ästhetisch phänomeno-
                                   logischen Sinne herauszustellen. Sie setzt sich damit deutlich von oben erwähn-
                                   ten Positionen wie einem „kulturellen Gedächtnis“ o.ä. ab, nicht zuletzt dadurch,
                                   dass sie die „Singularität“ (Reckwitz 2017) von Biografien betont,
                                         […] dass es in Wirklichkeit nur einzelne gibt mit ihren einzelnen Gesinnungen oder Gesin-
                                         nungslosigkeiten, und in diesen Einzelnen, in den meisten von ihnen, die leisen oder dröhnen-
                                         den Stimmen ihres Gewissens. Die Bücher irren, es gibt keine Massen, es gibt nur einen Vater
                                         und einen Sohn oder eine Mutter und einen Sohn oder eine Tochter und zwischen ihnen gibt es
                                         Wege, die weiterführen oder abbrechen. Die Erklärung in den Büchern erklären das Leben und
                                         Denken und Handeln dieser Einzelnen nicht. (Winter 2015: 256)

                                   43 Etwas überpointiert formuliert: Niemand schreibt ein Werk, um sich in ‚ein kollektives oder
                                      kulturelles Gedächtnis‘ respektive dem ‚Gedächtnis einer Region‘ etc. einzuschreiben, eine Dis-
                                      kussion, die in der Gedächtnisforschung, im Übrigen seit Jahren ‚geklärt‘ erscheint. Vor allem
                                      der Neurowissenschaftler Markowitsch (2005) gilt als literaturaffin und benutzt Kategorien der
                                      Literaturwissenschaft, um Gedächtnisphänomene zu markieren.
                                   44 Etwa auch im Verhältnis zu ihren Übersetzungen (übrigens ins Französische wie ins Deutsche),
                                      sie übersetzte u.a. einen der besten, einen stark ästhetischen Literaturbegriff vertretenden fran-
                                      zösischen Schriftsteller Pierre Michon.

                                                      Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                      © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt.“                                    149

                                   Insbesondere die Form des Zeitreisetagebuchs erlaubt nun jenen neuen, ganz
                                   anderen, besonderen Zugang, was als ein ästhetisches Transzendieren etwa
                                   auch von Regionalität (aber auch des Erinnerungsdiskurses) bezeichnet wer-
                                   den kann. Diese Konzeption ist nicht mit Positionen zur Transregionalität zu
                                   verwechseln, wie sie etwa in der Kunstgeschichte, aber auch innerhalb der Lite-
                                   ratur- und Kulturwissenschaft, vertreten werden (Bogade 2016).

                                   6. Zusammenfassung: Zeitreisetagebuch als ‚Journal einer
                                      (Selbst-)Erkundungsreise‘

                                   Die Autorin selbst verweist darauf, dass diese neue Art einer „literarischer Re-
                                   flexion“ im Sinne des „Sich-auf-den-Weg-Machens“ es ihr erlaubt, „Vergangen-
                                   heit als etwas zu begreifen, was vor uns liegt“, als etwas nicht fest Fixiertes
                                   (Druxes 2015: 6). Sie knüpft dabei an Konzepte innerhalb des Erinnerungsdis-
                                   kurses an, wonach individuelles wie kulturelles Erinnern mehr mit Gegenwart
                                   als mit Vergangenheit zu tun habe (Welzer 2002; Schacter 1996). In Webers
                                   Werk erhält Erinnerung darüber hinaus sogar ein zukunftweisendes, utopi-
                                   sches Moment, und hierin scheint ihr Ansatz äußerst innovativ.45
                                       Insofern wird eine zukünftige Funktion der Zeitreise manifest, die wieder-
                                   um eng mit der formalästhetischen Vorgehensweise Webers verknüpft ist, in
                                   die sie biographische und metabiographische Bemerkungen einbettet. Über-
                                   haupt scheint Weber immer wieder von neuem nach der angemessenen litera-
                                   rischen Form ihrer Werke zu suchen, worin sich z.B. auch ihr letztes Werk von
                                   dem hier zugrundeliegenden unterscheidet: Bei dem jüngsten Werk handelt es
                                   sich um ein Versepos. Gemeinsam ist beiden Werken eine meta-narrative Er-
                                   zählhaltung, wie es hier heuristisch genannt werden soll: Die eigene Schreib-
                                   weise oder Narration wird mit zum Thema des Werks gemacht. Abschließend
                                   seien die zentralen Punkte der hier vorgenommenen Reflexionen noch einmal
                                   kurz zusammengefasst:
                                       Anne Webers Zeitreisetagebuch stellt, einen innovatorischen gattungs­
                                   ästhetischen Versuch dar, sich auf die Spur einer ihr familiär nahestehenden
                                   Person (ihres Urgroßvaters), mehreren Zeiten (im Sinne von transgeneratio-
                                   nal memory) und einer spezifischen Region, des Posener Landes, zu begeben.
                                   Auf diese Weise gelingt es ihr, sich dem einen Zeitkolorit, der Spezifik eines
                                   Ortes sowie einer historischen Person zu nähern. Die Autorin geht dabei vor
                                   allem formalästhetisch mit der Form des Zeitreisetagebuchs einen neuen,
                                   ande­ren Weg. Durch dessen Doppelbedeutung und vielfältigen Bezüglichkeit

                                   45 Dieser Ansatz ist nicht mit ‚zukünftigen Erinnerungen‘ zu verwechseln, wie er beispielsweise
                                      von Markowitsch (2015) zum prospektiven Gedächtnis vertreten wird.

                                                    Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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                                   ‚er­schafft‘ die Autorin künstlerisch-literarisch eine Phase der Lebensgeschichte
                                   des ­Urgroßvaters neu, die nicht mit allgemeinen (epistemologischen) Katego-
                                   rien, sondern durch diese Art der literarischen Darstellung nur individuell zu
                                   erfassen ist. Insofern erscheint es nur konsequent, wenn am Ende das beson-
                                   dere Einzelschicksal eines Mannes ‚fiktiv‘ überdauert. Durch die Vorgehens-
                                   weise sowie die Qualität ihrer Darstellung gelingt es der Autorin zugleich, sich
                                   aus der Familiengeschichte herauszuschreiben46, vor allem durch ihre künst-
                                   lerische Vorgehensweise, jenen Wechsel von Identifikation und Distanz, was
                                   den eigenen Standpunkt wie Standort nicht ausnimmt. Insofern kann die Dar-
                                   stellung eines literarischen Orts wie der ‚Konstruktion einer Region‘ nicht nur
                                   für die Vergangenheit etwas Zukünftiges bedeuten, sondern schafft zugleich
                                   eine neue Verbindung von ästhetischer, historischer (temporaler) wie kultu-
                                   reller (lokaler) Annäherungsweise.
                                        Hinsichtlich der ästhetischen Funktion entsteht so zugleich literarischer
                                   Raum wie kulturelle Fiktion. Als Ergebnis einer literarischen Reise (in die in-
                                   dividuelle Lebensgeschichte wie in die Geschichte der Region) erteilt Weber
                                   der Fiktion eines familiären Kontinuums wie jener eines kulturell-historisch
                                   authentischen Raums eine endgültige Absage.

                                   Literatur
                                   Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in
                                      frühen Hochkulturen. München: Beck.
                                   Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. Mün-
                                      chen: Beck.
                                   Bachelard, Gaston (1987 [1957]): Poetik des Raumes. Frankfurt/M.: Fischer.
                                   Bachtin, Michail (1973): Chronotopos. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
                                   Blanchot, Maurice (2012): Der literarische Raum, Die wesentliche Einsamkeit. Zürich, Berlin:
                                       ­Diaphanes
                                   Böhme, Hartmut (2005): Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie. – In: Ders. (Hg.), Topogra-
                                      phien der Literatur: Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart: Metzler.
                                   Bogade, Marco (Hg.) (2016.): Transregionalität in Kult und Kultur. Bayern, Böhmen und Schlesien
                                      zur Zeit der Gegenreformation. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.
                                   Broszat, Martin (1963). Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. München: Ehrenwirth.
                                   Cassirer, Ernst (1985 [1931]): Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. – In: Ders., Symbol,
                                       Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933. Hamburg: Meiner.
                                   Druxes, Helga (2015): Glossen. Plötzlich liegt die Vergangenheit vor uns (dickinson.edu)  (dickinson.edu) [23.01.2021].

                                   46 Spätestens durch die künstlerische Bestätigung des Buchpreises (allerdings für das andere
                                      Werk), hat sie sich auf andere Weise aus ihrer ‚mediokren‘ männlichen Familiengeschichte ‚he-
                                      rausgeschrieben‘.

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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„Vergangenheit ist etwas, das plötzlich vor uns liegt.“                                      151

                                   Druxes, Helga (2018): Transgenerational Holocaust Memory in Anne Weber’s Ahnen and Esther
                                      Kinsky’s Am Fluß < Project MUSE - Transgenerational Holocaust Memory in Anne Weber‘s
                                      Ahnen and Esther Kinsky‘s Am Fluß (jhu.edu)>[21.02.2021].
                                   Greser, Ewa (2016): Die Stadt Posen in der deutschsprachigen Literatur (1772–1918). Poznań:
                                       Nauk. UAM Poznań.
                                   Gössmann, Wilhelm/Hollender, Christoph (1996) (Hgg.): Literarisches Schreiben aus regionaler
                                      Erfahrung: Westfalen – Rheinland – Oberschlesien und darüber hinaus. Paderborn: Schöningh.
                                   Halbwachs, Maurice (1985 [1925]): Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
                                   Heine, Heinrich, Reisebilder  [25.01.2021].
                                   Kant, Immanuel (61982): Kritik der reinen Vernunft (Werkausgabe Bd. III u IV). Hrsg. v. Wilhelm
                                      Weischedel. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
                                   Koselleck, Reinhart (2004): Gibt es ein kollektives Gedächtnis? Sofia: Maison des Sciences de
                                      l’ Homme et de la Société.
                                   Lessing, Gotthold Ephraim (1974 [1766]): Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie.
                                       – In: Werke, Bd. 6. München: Hanser, 7-187.
                                   Lotman, Jurij (2009): Zum künstlerischen Raum und zum Problem des Sujets. – In: Schmid,
                                      Wolf (Hg.), Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen. Berlin: de
                                      ­Gruyter, 261–279.
                                   Mache, Beata (2021): Provinz Posen in jüdischer Heimatliteratur  [07.01.2021].
                                   Markowitsch, Hans (2005): Das autobiographische Gedächtnis. Stuttgart: Klett-Cotta.
                                   Michalska, Urszula (1968): Clara Viebig – Versuch einer Monographie. Poznań: UAM.
                                   Neubach, Helmut (2019): Posen – Preußens ungeliebte Provinz: Beiträge zur Geschichte des
                                      deutsch-polnischen Verhältnisses 1815-1918. Herne: Freunde der Martin-Opitz-Bibliothek.
                                   Nowikiewicz, Elżbieta (2014): Die Provinz Posen in Autobiographien und autobiographischen Auf-
                                      zeichnungen. Eine literaturgeographische Lektüre. – In: Dies. (Hg.), Literarische Topogra-
                                      phien in Ostmitteleuropa bis 1945. Frankfurt/M.: Lang, 187-207.
                                   Pfohlmann, Oliver (2015): Ein literarisches Lehrstück. Mit ‚Ahnen‘ begibt sich Anne Weber auf die
                                       Suche nach ihrem Urgroßvater, dem Walter-Benjamin-Freund Florens Christian Rang
                                        [02.01.2021].
                                   Połczyńska, Edyta (1988): Im polnischen Wind. Beiträge zum deutschen Zeitungswesen, Theater-
                                       leben und zur deutschen Literatur im Großherzogtum Posen 1815–1918. Poznań: Nauk. UAM.
                                   Połczyńska, Edyta/Wojtczak, Maria (1996): Die Provinz Posen in der deutschen Literatur um die
                                       Jahrhundertwende. – In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch. Polen. Bonn, 83–106.
                                   Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
                                   Roth, Gerhard (2001): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frank-
                                       furt/M.: Suhrkamp.
                                   Rudiš, Jaroslav (22019): Winterbergs letzte Reise. München: Luchterhand.
                                   Schacter, Daniel (1996): Searching for memory: The Brain, the Mind and the Past. London: Basic
                                       Books.
                                   Thum, Gregor (2006): Mythische Landschaften. Das Bild vom ‚deutschen Osten‘ und die Zäsuren
                                      des 20. Jahrhunderts. – In: Ders. (Hg.), Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Eu-
                                      ropa im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 181-212.

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                     © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                   Viebig, Clara (1998): West und Ost – Novellen. – In: Dies., Leben und Werk. – Posen/Westpreußen
                                        [25.01.2021].
                                   Weber, Anne (2015): Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch. Frankfurt/M.: Fischer.
                                   Weber, Anne (2020): Annette. Ein Heldinnenepos. Berlin: Matthes & Seitz.
                                   Wehler, Hans-Ulrich (1968): Die Polenpolitik im deutschen Kaiserreich 1871-1918. – In: Kluxen,
                                      Kurt/Mommsen, Wolfgang J. (Hgg.), Politische Ideologien und Nationalstaatliche Ordnung.
                                      Festschrift für Theodor Schieder. München, Wien: Oldenbourg, 297-316.
                                   Welzer, Harald (2002): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München:
                                      Beck.
                                   Wierlacher, Alois (2020): Hingabe und Vertragsstiftung. Lessings Emilia Galotti und Goethes
                                      Iphigenie auf Tauris als Dramen bibelkritischer bzw. rechtspolitischer Sicherung menschli-
                                      chen Lebens und Zusammenlebens. Mit einem fachstrategischen Beitrag über die Weiterent-
                                      wicklung der im globalen Kontext unterschiedlich aufgestellten und standortbewusst agieren-
                                      den Germanistik(en) zu einer multilateralen Regionalistik der deutschsprachigen Welt.
                                      Heidelberg: Winter.
                                   Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (2021): Dokumentation Staatliche Maßnah-
                                       men gegenüber der polnischen Minderheit und den Bevölkerungen in den überseeischen Ge-
                                       bieten des Deutschen Reichs 1871 bis 1918  [25.01.2021].
                                   Wojtczak. Maria (1998): Literatur der Ostmark – Posener Heimatliteratur – Literatur der Ostmark
                                      – Posener Heimatliteratur (1890-1918). Poznań: Nauk. UAM.
                                   Wołkowicz, Anna (2007): Mystiker der Revolution. Der utopische Diskurs um die Jahrhun­
                                      dertwende: Gustav Landauer – Frederik van Eeden – Erich Gutkind – Florens Christian
                                      Rang – Georg Lukács – Ernst Bloch. Warschau: Uniwersytetu Warszawskiego.
                                   Wolting, Stephan (2015): Fiktion und Fremde in Hans-Josef Ortheils Romanen ‚Die Erfindung des
                                       Lebens‘ und ‚Die Moselreise‘. – In: Gansel, Carsten u.a. (Hgg.), Zwischen Fremdheit und Erin-
                                      nerung. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Göttingen:
                                      ­Vandenhoeck & Ruprecht, 43-55.
                                   Wolting, Stephan (2020): Undine Gruenter. Deutsche Schriftstellerin mit Ziel Paris. Göttingen:
                                      Vandenhoeck & Ruprecht.

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                     © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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