"Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung." Auf der Suche nach Mythos, Religion und Metaphysik im Werk Harry Mulischs1

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Zuerst erschienen in: Gegenwart der Einheit. Zum Begriff der Religion. Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages
Bernhard Uhdes, herausgegeben von Thomas Jürgasch u.a., Freiburg i. Br./Berlin/Wien, Rombach Verlag, 2008,
ISBN 978-3-7930-9550-7.

                                 „Die Welt verdankt ihre Existenz
                                  der menschlichen Erinnerung.“
                               Auf der Suche nach Mythos, Religion
                             und Metaphysik im Werk Harry Mulischs1

                                    Holger Zaborowski (Washington, D. C.)

                                                           „[…] dass Leben letztendlich Lesen heißt.“2
                                                                                         Harry Mulisch

               Mythos, Religion und Metaphysik im Werk Harry Mulischs – anhand
               dieser Themen soll in den folgenden Ausführungen eine erste, vorsich-
               tige Annäherung an das Werk Mulischs unternommen werden.3 Da-
               mit, so könnte man denken, seien genug Fragen verbunden, so dass es
               ratsam sei, sofort medias in res, zur Sache selbst, zu schreiten. Ein di-
               rekter Einstieg bietet sich also an. Was versteht Mulisch unter My-
               thos? Was ist die metaphysische, was die religiöse Dimension seines
               Werkes? Und, um noch grundlegendere Fragen zu nennen: Was ist
               überhaupt gemeint, wenn hier von „Mythos“ gesprochen wird? Was,
               wenn von „Metaphysik“ oder „Religion“ die Rede ist?
               Mit der Frage nach Mythos, Religion und Metaphysik in Mulischs
               Werk, dem Werk eines philosophisch geschulten Dichters und Den-

               1
                 Dieser Aufsatz stellt die überarbeitete Fassung eines ursprünglich im Juli 2004 am
               Erbacher Hof in Mainz gehaltenen Vortrags dar. Für Anregungen bei der Abfassung
               dieses Textes danke ich Herrn Dr. Stephan Loos und Herrn Dr. Alfred Denker.
               2
                 H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, aus dem Niederländischen von M. DEN
               HERTOG-VOGT, Reinbek 152001, S. 10.
               3
                 Vgl. zum Werk von Harry Mulisch auch M. MOTTÉ: „Leon de Winter und Harry
               Mulisch. Auseinandersetzung zweier niederländischer Juden mit der Vergangenheit“,
               in: Stimmen der Zeit 224 (2006), S. 691-705; H. HÄRING: „Il patto satanico dell’evo mod-
               erno: un romanzo di Harry Mulisch“, in: D. MIETH / E. SCHILLEBEECKX / H. SNIJDE-
               WIND (Hgg.): Cammino e visione. Universalità e regionalità della teologia nel 20. secolo. Scritti in
               onore di Rosino Gibellini, Brescia 1996, S. 215-237; P.K. KURZ: „Ironisches Spiel mit den
               Tafeln des Moses. Harry Mulischs Roman ‚Die Entdeckung des Himmels‘“, in: Stim-
               men der Zeit 212 (1994), S. 180-192; G.N. FORST: „‚Shall We Talk about Light?‘ Fate
               and Freedom in Harry Mulisch’s ‚The Assault‘“, in: Modern Language Studies 24 (1994),
               S. 47-53. Hilfreiche Interpretationshilfen liegen mit R. WILCZEK / H. MULISCH: Das
               Attentat, München 2002; M. BIENECK: Musik in der Literatur am Beispiel von Harry Mulisch:
               „Die Entdeckung des Himmels“, Hannover 2001, und R. KRUSE: Harry Mulisch: ‚Das Atten-
               tat’: Ein Krieg mit der Vergangenheit, Paderborn 1999 vor.
„Die Welt verdankt ihre Existenz
                   der menschlichen Erinnerung.“
                Auf der Suche nach Mythos, Religion
              und Metaphysik im Werk Harry Mulischs1

                     Holger Zaborowski (Washington, D. C.)

                                            „[…] dass Leben letztendlich Lesen heißt.“2
                                                                          Harry Mulisch

Mythos, Religion und Metaphysik im Werk Harry Mulischs – anhand
dieser Themen soll in den folgenden Ausführungen eine erste, vorsich-
tige Annäherung an das Werk Mulischs unternommen werden.3 Da-
mit, so könnte man denken, seien genug Fragen verbunden, so dass es
ratsam sei, sofort medias in res, zur Sache selbst, zu schreiten. Ein di-
rekter Einstieg bietet sich also an. Was versteht Mulisch unter My-
thos? Was ist die metaphysische, was die religiöse Dimension seines
Werkes? Und, um noch grundlegendere Fragen zu nennen: Was ist
überhaupt gemeint, wenn hier von „Mythos“ gesprochen wird? Was,
wenn von „Metaphysik“ oder „Religion“ die Rede ist?
Mit der Frage nach Mythos, Religion und Metaphysik in Mulischs
Werk, dem Werk eines philosophisch geschulten Dichters und Den-

1
  Dieser Aufsatz stellt die überarbeitete Fassung eines ursprünglich im Juli 2004 am
Erbacher Hof in Mainz gehaltenen Vortrags dar. Für Anregungen bei der Abfassung
dieses Textes danke ich Herrn Dr. Stephan Loos und Herrn Dr. Alfred Denker.
2
  H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, aus dem Niederländischen von M. DEN
HERTOG-VOGT, Reinbek 152001, S. 10.
3
  Vgl. zum Werk von Harry Mulisch auch M. MOTTÉ: „Leon de Winter und Harry
Mulisch. Auseinandersetzung zweier niederländischer Juden mit der Vergangenheit“,
in: Stimmen der Zeit 224 (2006), S. 691-705; H. HÄRING: „Il patto satanico dell’evo mod-
erno: un romanzo di Harry Mulisch“, in: D. MIETH / E. SCHILLEBEECKX / H. SNIJDE-
WIND (Hgg.): Cammino e visione. Universalità e regionalità della teologia nel 20. secolo. Scritti in
onore di Rosino Gibellini, Brescia 1996, S. 215-237; P.K. KURZ: „Ironisches Spiel mit den
Tafeln des Moses. Harry Mulischs Roman ‚Die Entdeckung des Himmels‘“, in: Stim-
men der Zeit 212 (1994), S. 180-192; G.N. FORST: „‚Shall We Talk about Light?‘ Fate
and Freedom in Harry Mulisch’s ‚The Assault‘“, in: Modern Language Studies 24 (1994),
S. 47-53. Hilfreiche Interpretationshilfen liegen mit R. WILCZEK / H. MULISCH: Das
Attentat, München 2002; M. BIENECK: Musik in der Literatur am Beispiel von Harry Mulisch:
„Die Entdeckung des Himmels“, Hannover 2001, und R. KRUSE: Harry Mulisch: ‚Das Atten-
tat’: Ein Krieg mit der Vergangenheit, Paderborn 1999 vor.
Holger Zaborowski

kers, stehen wir vor einer denkbar großen und umfassenden Aufgabe,
die zahlreiche, über das Werk Mulischs weit herausreichende Dimen-
sionen hat. Denn leben wir nicht, wie manche Philosophen uns glau-
ben machen, in einem nach-metaphysischen Zeitalter, das, wie andere
oder auch dieselben Denker uns versichern, von der Wiederkehr des
Mythos gekennzeichnet ist? Hat der Mythos die Stelle der Metaphysik
eingenommen? Und wie verhält es sich mit der Religion? Sind nicht
Mythos und Metaphysik an die Stelle der Religion getreten – oder
etwa umgekehrt? Aber ist nicht gegen Ende des 20. und zu Beginn des
21. Jahrhunderts vielmehr die Religion wiedergekehrt und zu neuem
Leben erwacht?
Fragen über Fragen, die nach einer Antwort verlangen, aber vielleicht
kaum schon beantwortet werden können. Denn so einfach geht es nun
doch nicht; so einfach darf es nicht gehen. Diese Themen und Fragen
verlangen eine andere, eher indirekte Zugangsweise. In gewisser Weise
folgen wir damit Mulisch selbst, der nie direkt, sondern immer über
Umwege, Vorreden, scheinbar nebensächliche Überlegungen, Spieler-
eien und Neckereien sich seinem Thema und somit auch seinem Leser
nähert: „Klar“, so beginnt der Roman Die Prozedur, „ich kann natürlich
mit der Tür ins Haus fallen und mit einem Satz beginnen wie Das Tele-
fon läutete. Wer ruft wen an? Warum? Es muss sich um etwas Wich-
tiges handeln, denn sonst würde die Akte nicht damit anfangen. Span-
nung! Action! Aber das geht diesmal nicht. Im Gegenteil.“4 Erwar-
tungen der Art, dass die Handlung sofort einsetzte und den Leser in
ihren Bann zöge, werden von Mulisch daher schroff zurückgewiesen:
„Wer sofort mitgezogen werden will, um die Zeit totzuschlagen, der
kann dieses Buch besser gleich wieder zuschlagen, den Fernseher ein-
schalten und sich auf der Couch nach hinten lehnen, wie in einem
warmen Schaumbad.“5
Auch hier können wir nicht direkt mit dem eigentlichen Thema anfan-
gen. Beginnen wir, bevor wir zum Mythos, zur Religion und zur Me-
taphysik fortschreiten, also erst einmal mit dem Helden unserer Über-
legungen. Denn gerade in der Literatur kommt alles auch darauf an, zu
sehen und zu verstehen, wem überhaupt die Stimme gehört, auf die
wir hören. Wer ist es, der hier spricht und sich selbst – und nicht je-
manden oder etwas anderes – ausdrückt? Es wird sich zeigen, dass eine

4
  H. MULISCH: Die Prozedur, aus dem Niederländischen von G. SEFERENS, München /
Wien 1999, S. 7.
5
  H. MULISCH: Die Prozedur, S. 7.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

Antwort auf diese Frage alles andere als einfach ist, unser Held ent-
gleitet uns immer wieder. Aber seien wir mutig und versuchen wir eine
erste verhaltene Annäherung, einen ersten scheuen Blick aus der Ferne
auf die Gegenwart Mulischs – und damit auch auf Geschichte und Zu-
kunft.

„[…] dann verliert sie mit ihrer Geschichte gleichzeitig auch ihre Zukunft.“

Harry Mulisch ist der Autor eines form-, facetten- und ideenreichen
Werkes. Er ist Romancier, Sachbuchautor, Dramatiker, Feuilletonist,
Intellektueller, Philosoph, der sich selbst, da er sich „nie vor Gegensät-
zen, ja nicht einmal vor Widersprüchen gefürchtet“6 habe, als einen
Seelenverwandten des Nikolaus von Kues bezeichnet. Mulisch ist aber
auch ein sensibler Beobachter der Zeitgeschichte, der immer wieder
aus aktuellem Anlass das Wort in oft nicht unkontroverser Weise er-
greift – eine wichtige Stimme nicht nur der niederländischen, sondern
der europäischen, mithin der Weltliteratur, und als eine solche Stimme
immer auch ein Outsider, der nie so ganz in die überlieferten Kategori-
en passt: „Als ich ein Kind war, wurde bei uns zuhause nicht Nieder-
ländisch gesprochen, sondern Deutsch. Niederländisch ist genauso
wenig meine ‚Muttersprache’, wie die Niederlande mein ‚Vaterland’
sind.“7 Ein Mann also zwischen den Welten und „Fronten“, Kind von
Immigranten, der Vater ein ehemaliger Offizier aus Österreich-Un-
garn, der im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen kollaborierte,8 und
die Mutter eine Jüdin aus einer Frankfurter Familie. Schwieriger, ver-
trackter kann man sich eine Familienkonstellation für ein 1927 gebore-
nes (und daher ohnehin schon zur „skeptischen Generation“ gehören-
des) Kind kaum vorstellen. Hier, in dieser familiären Konstellation,
diesem auch schuldbeladenen persönlichen Bezug zur Geschichte des
20. Jahrhunderts, finden wir einen wichtigen, immer wieder deutlich
werdenden Antrieb für das dichterische Schaffen Harry Mulischs. Mu-
lisch erinnert an das, was war – die Geschichte – um der Zukunft wil-

6
  H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, Deutsch von G.
SEFERENS, Reinbek 2002, S. 19.
7
  H. MULISCH: „Wir Weltliteraten“, in: ders.: Die Säulen des Herkules. Essays, aus dem
Niederländischen von G. SEFERENS, Reinbek 1999, S. 184-188, S. 185.
8
  Vgl. für die Bedeutung der Beziehung Mulischs zu seinem Vater auch M. MOTTÉ:
„Leon de Winter und Harry Mulisch. Auseinandersetzung zweier niederländischer
Juden mit der Vergangenheit“, S. 693.
Holger Zaborowski

len: „Sollte aber die Menschheit mit dem Verschwinden der persönli-
chen Emotionen auch ihre Verbrechen vergessen, dann verliert sie mir
ihrer Geschichte gleichzeitig auch ihre Zukunft. Dann hat sie sich selbst
aufgehoben.“9
Wohin gehört er also? Wer ist er? Irgendwo dazwischen, mag die
Antwort lauten, nicht hierhin, nicht dorthin, und gleichzeitig überall-
hin. Und in gewisser Weise ist das „Dazwischen“ auch ein erster
Schlüssel zu seinem Werk, in dem sich immer wieder zeigt, dass es ein-
fache Schlüssel nicht gibt, dass alles eine Kehrseite, eine andere Seite,
jedes Oben ein Unten, jede Zukunft eine Vergangenheit, jede Wahr-
heit ihre Lüge, jedes Vorne ein Hinten, jeder Himmel eine Hölle hat
und dass es gilt, um überhaupt leben zu können, diese Widersprüche
miteinander in ein Verhältnis zu setzen, sie nicht zu negieren, sondern
zunächst einmal auszuhalten – und dann weiter zu sehen. Diese Kunst
könnte man auch „Dialektik“ nennen (wenn man die Dialektik eher
von den Gegensätzen als von der Synthese her versteht), und so wird
auch besser verständlich, warum Nikolaus von Kues zum Helden und
Vorbild Mulischs werden konnte – jener spätmittelalterliche oder,
wenn man so will, frühneuzeitliche Kardinal, der die Spannung des
Widerspruches zum Grundprinzip seines Denkens gemacht hat, eines
Denkens, das nicht so leicht zu fassen, nicht so leicht zu erschöpfen ist,
sondern des immer neuen und lebendigen Vollzuges bedarf.

„Kurzum, die Literatur hat von ihrem Wesen her einen theologischen Charakter
[…].“

Der direkte Einstieg in das Thema, mit der Tür ins Haus, ist also nicht
möglich. Dichter sind schreckhafte und scheue Zeitgenossen, die oft
den Schatten dem Licht vorziehen. Man muss sich ihnen langsam nä-
hern, um ihnen überhaupt nahe kommen zu können. Eine kleine de-
tour, ein kleiner Umweg erweist sich daher als notwendig – und zwar
gerade auch im Hinblick auf die Themen von Mythos, Religion und
Metaphysik und den mit ihnen verbundenen Fragen. Wenn Mulisch
nämlich recht hat, so muss ein „Schriftsteller […] selbst auch eine Ge-
schichte sein, vielleicht sollte man sogar von einem Mythos sprechen,

9
 H. MULISCH: „Auf der Schwelle zur Geschichte“, in: ders.: Die Säulen des Herkules.
Essays, S. 165-171, hier S. 170.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

ansonsten bleibt auch sein Werk im Nebel verborgen“10. Dann aber
können wir nicht einfach nach dem Mythos – oder nach der Religion
und der Metaphysik – im Werk Mulischs fragen, sondern nur nach
dem Mythos, der dem Werk zugrunde liegt und sich in ihm Ausdruck
verschafft. Denn hinter den Geschichten, die Mulisch erzählt, mal iro-
nisch-verspielt, mal in tiefstem Ernst, sind andere, grundlegendere Ge-
schichten verborgen, verdeckte Mythen, religiöse Anschauungen oder
Metaphysiken, die sich in den Erzählungen andeuten oder widerspie-
geln, aber selbst nicht erzählt werden können. Im Laufe dieser ersten
Überlegungen wird sich dann zeigen, dass Umwege oft Königswege
sind, dass sie vielleicht nicht schneller, aber besser zum Ziel oder zu-
mindest in Richtung eines möglichen Ziels führen.
Eines möglichen Ziels. Denn wissen wir überhaupt schon mit Sicherheit,
wohin wir wollen? Ist nicht gerade das Werk eines Schriftstellers nie
abgeschlossen? Bleibt es, dieses Werk, nicht ein offener Prozess zu-
mindest bis zu dem geheimnisvollen Zeitpunkt, da der Dichter die Fe-
der aus der Hand gibt und sein letztes, ein allerletztes Wort gesprochen
oder geschrieben hat – oder sich einfach nur noch ins Schweigen
schickt? Mulisch ist sich wie wenige Schriftsteller dieser Dynamik, die-
ser Offenheit und Unabgeschlossenheit des dichterischen Prozesses
bewusst: „Ein Buch“, so schreibt er, „einmal geschrieben, bleibt nicht
auf alle Zeit unveränderlich. Es ändert sich mit jedem neuen Buch, das
ein Schriftsteller schreibt. Mit jedem Buch verändert der Schriftsteller
alles, was er geschrieben hat, und bestimmt bis zu einem gewissen
Grade alles, was er noch schreiben wird. Mit jedem Wort, das er nie-
derschreibt, stellt er alles Übrige zur Diskussion. Darin liegt seine
Hoffnung und seine Furcht.“11
„Darin liegt seine Hoffnung und seine Furcht.“ – Die Hoffnung, dass
ein wahres, gültiges Wort möglich sei, die Furcht, dass all die Worte
doch nur Schall und Rauch seien. Bei dieser Betrachtung des dich-
terischen „Vollzuges“ stoßen wir auch auf ein Geheimnis, das sich nur
schwer in die Sprache holen lässt: Ähnlich, wie unsere Identität, wer
wir also sind, immer schon in uns angelegt ist und der – oft überra-
schenden – Entfaltung im Vollzug des Lebens bedarf, so ist auch das
poetische Schaffen, so Mulisch, eigentlich kein Neuschaffen, sondern
ein Entfalten – von etwas, das immer schon da ist. Mulisch spricht in

10
  H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 75.
11
  H. MULISCH: Selbstporträt mit Turban, aus dem Niederländischen von I. WILHELM,
Reinbek 1997, S. 33.
Holger Zaborowski

diesem Zusammenhang von der Erfahrung, „dass ich alles, was ich in
meinem Leben noch schreiben würde, zwar noch schreiben musste,
dass es aber eigentlich auf irgendeine Weise bereits da war. Es war das
ruhige Bewusstsein der Sicherheit und des richtigen Weges, das sich
sogar ins Körperliche verlängerte: ich würde nicht eher sterben, bis ich
das letzte Wort geschrieben haben würde – einmal vielleicht nur um
ein Haar nicht sterben, aber jedenfalls nicht sterben.“12
Was bedeutet dies aber? Vielleicht dies, dass für den Schriftsteller Bü-
cher nicht Produkte sind, die von ihm, seiner eigenen Identität, abge-
trennt werden können, sondern bleibender und sich immer auch wan-
delnder Ausdruck seiner Identität, dessen, wer er eigentlich ist, und
dass diese Identität nicht vollständig wäre, dass es einen Mangel gäbe,
wenn sie sich nicht literarisch ausdrückte. Und wie dies, wer wir eigen-
tlich sind, letztlich offen bleibt, bis wir nicht mehr sind, so gilt dies
auch für die die verschiedenen Formen, in denen sich unsere Identität
ausdrückt und fortschreibt. Wie das Leben, so ist auch das Dichten
und Schreiben ein sich selbst immer neu einholendes und immer wie-
der neu interpretierendes und bestimmendes Geschehen: unabge-
schlossen, vielen Risiken auf dem Weg ausgeliefert, voller Erwartung,
dass einmal ein rechtes Wort gelingt, dass das Wort selbst Sinn hat
oder sogar Sinn stiftet – in einer Welt, die von Mulisch und vielen
seiner Zeitgenossen als sinnlos wahrgenommen wird –, und in der
Hoffnung, dass Erinnerung möglich ist und damit die Welt: Denn
„[d]ie Welt“, so Mulisch, „verdankt ihre Existenz der menschlichen Er-
innerung.“13
Damit steht die Auseinandersetzung mit literarischen Zeugnissen aber
vor einer nicht unbeträchtlichen Herausforderung. Denn es geht in die-
ser Auseinandersetzung darum, einen Zugang zu Zeugnissen zu finden,
die ihren Anspruch auf Gültigkeit in einer sehr eigenen, sehr subjek-
tiven, die Welt neu schaffenden, zuletzt theologischen Sprache formu-
lieren: „Ich war der Meinung, dass jede Erzählung“, so bekennt Mu-
lisch, „auch die eines eingefleischten Atheisten, notwendigerweise eine
erschaffene Welt darstellt, in der ein ultra-orthodoxer Gott herrscht.
Kurzum“, so räsoniert er weiter, „die Literatur hat von ihrem Wesen
her einen theologischen Charakter, und meiner Überzeugung nach
musste sie sich von der Illusion verabschieden, sie könne ein wahr-

12
   H. MULISCH: Augenstern, aus dem Niederländischen von M.   DEN   HERTOG-VOGT,
Reinbek 1991, S. 108.
13
   H. MULISCH: „Auf der Schwelle zur Geschichte“, S. 166.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

heitsgetreues Abbild der vorhandenen Wirklichkeit liefern.“14 Der
literarische Text ist daher immer viel eher dies: Zeugnis statt Doku-
ment, Imagination statt Beschreibung, Wahrheitsstiftung statt Wahr-
heitsfindung, Weltzeugung statt Weltbewältigung. In ihm, dem literar-
ischen Text, „drückt“ sich ein Autor in ganz anderer Weise aus als der
Autor eines wissenschaftlichen oder journalistischen Textes. Welt wird
gestiftet – und man mag hier nicht zuletzt auch an Hölderlin oder Hei-
degger denken, die das Werk des Dichters ähnlich gesehen haben.15
Der Autor ist dabei gewissermaßen der Text, und der Text ist der
Autor, sein bleibender Körper: „Das Oeuvre“, so Mulisch, „ist der neue
Körper des Schriftstellers, – ein Körper, den er sich selber geschaffen
hat, solider, haltbarer als der, den er von seiner Mutter erhalten hat. Er
ist dazu bestimmt, den Schriftsteller nach seinem eigenen Verschwin-
den auf Erden zu überleben: nicht ‚ewig’, aber zumindest für einige
Zeit. Mit diesem neuen Körper wird er noch atmen, wenn er selbst mit
Atmen schon längst aufgehört haben wird; längst sprachlos geworden,
wird er aus ihm noch sprechen.“16 Mit diesem neuen Körper ist es für
den Schriftsteller möglich, über den Tod hinaus seine Stimme zu erhe-
ben und sich zu Wort zu melden, dieser neue Körper verlangt aber
auch Scheu und Respekt auf Seiten des Interpreten. Wir haben es nicht
mit einem abgespaltenen Produkt zu tun, sondern mit etwas Lebendi-
gem, dem Lebendigen der Erzählung: „Die Erzählung als solche ist der
eigentliche Erzähler“, so Mulisch, „sie erzählt sich selbst; vom ersten
Satz an ist die Erzählung auch eine Überraschung für den Erzähler,
und das wissen alle Erzähler.“17
Dieser „transzendentale ‚neue’“ Körper des Schriftstellers in seinem
Oeuvre, so folgert Mulisch, ist nun die „individuelle Art und Weise“,
wie der Mensch seine Grenzen überwinden kann, die Grenzen der
Endlichkeit und Bedingtheit – eine andere Art und Weise als die kol-
lektive Erweiterung der Grenzen, die der Mensch unweigerlich erfährt,

14
   H. MULISCH: Die Prozedur, S. 19.
15
   Vgl. hierzu etwa M. HEIDEGGER: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ (1935/36), in:
ders.: Holzwege (= Gesamtausgabe Bd. 5), hg. von F.-W. VON HERRMANN, Frankfurt a.
M. 1977, S. 1-74. Vgl. zu Hölderlins Verständnis von Dichtung und zu Heideggers
Erläuterung dazu auch M. HEIDEGGER: „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“, in:
ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (= Gesamtausgabe Bd. 4), hg. von F.-W. VON
HERRMANN, Frankfurt a. M. 1981, S. 33-48, vor allem S. 41f.
16
   H. MULISCH: Selbstporträt mit Turban, S. 34.
17
   H. MULISCH: Die Prozedur, S. 19.
Holger Zaborowski

durch die Technik.18 Insofern für Mulisch die „technische Vernunft“
und das „philosophische Staunen“ die beiden Pole des menschlichen
Geistes sind, ist der kreative, der dichterisch-schaffende Prozess als der
Technik entgegen gesetzt letztlich nicht nur ein theologischer, sondern
auch ein philosophischer Akt: ein Staunen über die Geheimnisse, die
im „Hintergrund“ der Wirklichkeit hervorscheinen und die sich im
dichterischen Akt zur Sprache bringen oder von der Sprache selbst
genannt werden: „Ein Gedicht muss von der Sprache gemacht werden,
nicht vom Dichter.“19 Der Dichter erfährt als Medium, wie die Sprache
dieses Gedicht macht. Oder sagen wir besser: wie sich das Gedicht,
eine Erzählung, ein Roman selbst schreibt, sich des Dichters bedient
und „in ihrer vorhersagbar-unvorhersagbaren Entstehungsweise, auf-
grund eines freien Willens, […] schließlich doch ein wahrheitsgetreues
Abbild der Welt“ ist – „so wie auch die physische Wirklichkeit nur bis
zu einem gewissen Grad durch Ursache und Wirkung bestimmt wird
und letztendlich fundamentalen Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten,
Zufällen unterworfen ist.“20

„Jedes Leben hat seine Geheimnisse […].“

Wir stoßen hier, angesichts des poetischen Aktes, des immer auch
selbst aktiven Mediums der Sprache nicht nur an das Geheimnis, das
sich im Schreiben ausdrückt, an die Erfahrung der Passivität des Dich-
ters, „dass Schreiben ein riskantes Unternehmen ist, das man nur zum
Teil selbst in der Hand hat“21. Wir stoßen auch an das Geheimnis, das
der Mensch ist. „Wenn es um den Menschen geht, bleibt am Ende
immer ein rätselhafter Rest“, so Mulisch in Das Theater, der Brief und die
Wahrheit, „[v]ielleicht bestimmt ja dieser Rest, wer man ist.“22 Und dies,
diese Wurzel der Literatur im Geheimnisvollen, verlangt eine besonde-
re Scheu, einen besonderen Respekt im Umgang und einen dem Ge-
heimnis des Menschen ent-sprechenden Zugang. Der kreative Prozess,
der „Vollzug“ des Dichters, der, wie Harry Mulisch, „mit Worten le-

18
   H. MULISCH: Selbstporträt mit Turban, 50.
19
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 86.
20
   H. MULISCH: Die Prozedur, S. 19.
21
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 89.
22
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 98.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

ben wollte“,23 steht unter seinen eigenen Gesetzen. So schreibt Harry
Mulisch: „Jedes Leben hat seine Geheimnisse, und die müssen gewahrt
werden. Doch je älter man wird und je weniger man zu verlieren hat,
desto uneinsehbarer wird es, warum man sie eigentlich wahrt, so dass
man sie genauso gut erzählen kann.“24
Die Geheimnisse eines jeden Lebens müssen also gewahrt werden. Es
wäre exhibitionistisch, zuviel von sich zu erzählen, und frivol, zuviel
wissen zu wollen. Und doch kann man, und doch wird man diese Ge-
heimnisse erzählen – so, wie immer wieder in der Geschichte der Lite-
ratur erzählt wurde und die Scheu der Neugier, das Schweigen dem
Sprechen wich. Mulisch schränkt allerdings die Hoffnung, dass es in
seinem Werk um Literatur im alten, im vertrauten Sinne gehe, ein,
indem er sich von der Weltliteratur in einem stolzen, seiner eigenen
Bedeutung und Originalität bewussten Gestus distanziert. Denn ir-
gendwas, so Mulisch, sagte ihm, dass er mit der Weltliteratur nichts zu
tun habe: „Was ich daraus lernen würde, wäre in Wirklichkeit Anpas-
sung und also ein Abkommen von meinem eigenen Weg. Die beste-
hende Literatur sagte mir nichts, ich war ein Schriftsteller, kein Literat.
Das einzige, was mir etwas sagte, war das, was ich nicht ausdrücken
konnte, aber um jeden Preis sagbar machen musste. Dabei konnte mir
niemand helfen, denn mein Werk würde so einmalig und rätselhaft
vollendet sein, dass auch später niemand etwas würde daraus lernen
können, da es in einem tiefen Geheimnis wurzelte.“
Diese Sätze verraten nicht nur ein nicht gerade geringes Selbstbewusst-
sein wie auch ein Bewusstsein um die eigene Originalität und Beson-
derheit. Sie scheinen auch jede Beschäftigung mit Mulischs Texten zu
einer Farce, einer Unmöglichkeit zu machen. Denn wie soll man sich
mit Texten auseinandersetzen, aus denen auch später niemand etwas
würde lernen können, da Mulischs Werk in einem tiefen Geheimnis
wurzele? Wie kann man sich überhaupt aus der Außenperspektive
diesem Geheimnis nähern? Wird Mulisch, der Ironiker, nicht mit ei-
nem galanten Lächeln, einem Witz, einer scharfen Bemerkung jedem
Versuch, sich seinem Werk zu nähern, verweigern? Findet sich der
Interpret hier nicht in einem Hase-und-Igel-Spiel, in der Frustration
desjenigen, der immer zu spät kommt? Ist der Dichter nicht, egal wie
schnell und klug der Interpret sich fortbewegt, immer schon da gewe-
sen und weitergegangen? Bleibt angesichts des Unsagbaren nur das

23
     H. MULISCH: Augenstern, S. 110.
24
     H. MULISCH: Augenstern, S. 7.
Holger Zaborowski

Schweigen, eine negative Literaturkritik, nur das verstummende Lesen
selbst? Bleibt zuletzt also nichts als das schweigende Hören auf das
Wort eines Dichters, der in einem selbstbewussten und stolzen Akt
sich nicht etwa in die Weltliteratur einreihte, sondern sich dieser als
Ausnahme gegenüberstellt?
Mulisch ist allerdings zu sehr auch ein augenzwinkernder, ironisch
spielender und mit seiner Eitelkeit kokettierender Spieler, als dass wir
ihn hier zu sehr beim Wort nehmen müssten. Für uns bleibt nämlich
eine Hoffnung, die in einem anderen Modus des Zugangs liegt. Mu-
lischs Opusculum Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch
– und wieder einmal stoßen wir auf den Widerspruch! –, dieses kleine
Buch also steht unter einem Motto Diderots: „Wer verstanden werden
will, erkläre nichts.“ In gewisser Weise haben wir hier einen – mögli-
chen – Schlüssel für das Verständnis des Werkes Mulischs – und den
Imperativ, dass wir in der Auseinandersetzung mit ihm und seinem
Werk auch nicht zuviel erklären, sondern verstehen sollten, dass wir
versuchen sollten, nicht die einzelnen Teile seines Werkes zu erklären,
sondern seine sich im Prozess eines schreibenden Lebens formende
Gestalt zu erblicken.
Was wir dann nämlich immer erneut sehen, ist, dass Mulisch immer
wieder nicht nur die Entstehung seines eigenen Werkes thematisiert,
sondern sich auch immer wieder mit der Frage nach der Rolle des
Schriftstellers, dem Geheimnis literarischer Produktivität und dem
Wesen des gesprochenen und geschriebenen Wortes beschäftigt – vor-
nehmlich in der Auseinandersetzung mit sich selbst und, nicht gerade
bescheiden, gewiss, seiner eigenen Genialität: Bei wenigen Schriftstel-
lern der Gegenwart steht die Person des Schriftstellers so unmittelbar
und in so eigenwillig-eigenständiger Weise im Vordergrund und wird
zum Ausgang, Problem, Thema und Ziel der literarischen Produktivi-
tät. Denn Mulisch geht es nicht nur um sich selbst, um die Eitelkeit
von Selbstbespiegelung und Selbstbeweihräucherung (dies, so wird der
Leser schnell bemerken, spielt durchaus eine Rolle!), sondern sein
Werk selbst hat eine zentrale Bedeutung innerhalb der Erklärung von
Wirklichkeit und Wahrheit. Mulisch genießt so in gleichsam exhibitio-
nistischer Weise die Aufmerksamkeit und das Interesse seiner Leser
und Interpreten – mit nahezu masochistischen Neigungen. So schließt
er das Vorwort zu seinem Selbstporträt mit Turban: „Und nun – der Fraß
ist aufgetischt, ihr Herren Psychologen! Heute essen wir Menschen-
fleisch. Mahlzeit! Auf dass ihr euch den Magen nicht verderben mögt,
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

Vegetarier mit eurer Vegetarierseele.“25 Und nur zu gut kennt er ver-
mutlich nicht nur Franz von Baders These, dass „alle Menschen [...] im
seelischen, guten oder schlimmen Sinn unter sich: Anthropophagen“
seien,26 sondern auch seinen Hegel, einen anderen der großen Dialek-
tiker, um nicht von der Dialektik von Meister und Sklave zu wissen,
davon, dass die Meister, die Psychologen, Interpreten und Sezierer,
letztlich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, dem Dichter, seiner
Weise, sich uns zu präsentieren, stehen. Wir bleiben abhängig von sei-
nem Wohlwollen, seiner Lust an der Selbstdarstellung und seiner Ei-
telkeit – die bis zu frühen Überlegungen, „welches Thema ich für mei-
ne Nobelpreisrede wählen sollte“27, reicht.

„Wenn alles absurd ist, so ist innerhalb dieses Absurden ausschließlich das Absurde
nicht absurd!“

Dass die Person des Dichters so sehr im Vordergrund steht, hat einen
besonderen Grund, der – in einem weiteren Schritt – auf unser Thema
lenkt. Denn Mulisch – der Dichter selbst, seine eigene Subjektivität –
ist sich selbst zum ersten Gesetz seines eigenen Schreibens und der
Wahrheit dieses Schreibens geworden. Sein Leben, seine Biographie,
seine familiäre Herkunft aus dem Niemands- und Jedermannsland
„Dazwischen“, seine Erlebnisse, Ideen und Gedanken, die Geschehnis-
se des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, die biographisch moti-
vierten Fragen nach Schuld und geschichtlicher Verstrickung und der
„kalvinistische[n] Seele“ der Niederlande sind von zentraler Bedeutung
für sein Schreiben. Aber auch die Geheimnisse des Kosmos und die
neuen Möglichkeiten des Menschen in einer Zeit, in der es in den letz-
ten zwölf Jahren, wie Mulisch im Jahr 2000 schreibt, mehr Verände-
rungen als während des gesamten Mittelalters gegeben habe28 und
„möglicherweise […] auf die Dauer nichts vor der Technik sicher“ ist,
„nicht einmal die Logik“29, stehen im Vordergrund seines Schreibens –

25
   H. MULISCH: Selbstporträt mit Turban, S. 10.
26
   Vgl. F.X. VON BAADER: „Alle Menschen sind im seelischen, guten oder schlimmen,
Sinn unter sich: Anthropophagen“, in: Gesammelte Schriften zur philosophischen Anthropologie,
hg. von F. HOFFMANN (= Sämmtliche Werke 4), Leipzig 1853, S. 221-242.
27
   H. MULISCH: Augenstern, S. 55.
28
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 61.
29
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 100.
Holger Zaborowski

als eigene, als radikal auf ihn selbst bezogene Erfahrungen und Erleb-
nisse: Es ist dabei die sich immer wieder neu aussprechende Stimmung
der Absurdität, die Mulischs Schreiben bestimmt, die Vermutung, dass
„Ionescu und Beckett“ – zwei Meister des Absurden und Widersinni-
gen – „offensichtlich doch den Nagel auf den Kopf getroffen“ haben.30
„Da schließlich alles unsinnig ist“, so räsoniert Onno Quist, einer der
Helden, vielleicht der tragische Anti-Held der Entdeckung des Himmels,
„das ganze Leben und die ganze Welt, macht nur noch das Unsinnige
einen gewissen Sinn. Verstehst Du das? Wenn alles absurd ist, so ist
innerhalb dieses Absurden ausschließlich das Absurde nicht absurd!
Stimmt’s, oder hab’ ich recht? Hast Du schon mal von Camus gehört?
Camus war ein Philosoph des Absurden und ist bei einem absurden
Autounfall ums Leben gekommen.“31 Im Absurden also finden die
Gegensätze eine neue Einheit.
Figuren wie Camus, deren Leben absurd ist und keinen Sinn zu haben
scheint, die von den seltsamsten Zufällen heimgesucht werden und im-
mer wieder erfahren, dass es keine Leitung und Lenkung, keine göttli-
che Providenz gibt, bevölkern daher Mulischs Romane: Da ist etwa je-
ner schon genannte Onno Quist selbst, dessen Frau Ada, dessen
Freundin Helga, dessen bester Freund Max alle in unglücklichen,
höchst unwahrscheinlichen Umständen verunglücken oder sterben:
Max Delius, Onno Quists bester Freund und Astronom wird ironi-
scherweise von einem Meteoriten erschlagen – nichts bleibt mehr von
ihm übrig, der Sarg, so beobachtet Mulisch süffisant, ist leer, er stirbt,
als er in betrunkenem Zustand der Weltformel nahe kommt und damit
einer Lösung für alle Rätsel. Und die Ironie der Geschichte? Was ab-
surd, wie ein unerträglicher Zufall erschien, geht zurück auf göttliche
Lenkung. Der Leser erfährt, dass es letztlich der Himmel war, der hier
eingegriffen hat – aus Vorsicht: „Ich war der Meinung, wir dürften
nicht das geringste Risiko eingehen“, so erfahren wir aus einer himmli-
schen Unterhaltung, „[a]ngenommen, er hätte sich selbst ernst genom-
men und dasselbe Durchsetzungsvermögen wie sein Sohn gehabt. Ei-
nen sehr großen Namen hatte er in der Astronomie nicht zu verlieren,
und vielleicht wäre er an diesem Wendepunkt bereit gewesen, va
banque zu spielen. Unser letzter Strohhalm ist immer noch der Glaube

30
     H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 49.
31
     H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, S. 653.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

der Menschen; in dem Augenblick aber, da die Frage unserer Existenz
zur Wissenschaft wird, sind wir ihnen keinen Pfifferling mehr wert.“32
Das Absurde geht, näher betrachtet, auf himmlische Mächte zurück,
auf Mächte, die menschenähnlich fühlen, denken und handeln und die
sehen, dass ihre Existenz, der Glaube an sie, zunehmend gefährdet ist.
Denn die Menschen entdecken immer mehr, wissen immer mehr, er-
schließen immer weitere Bereiche – und bedürfen des Himmels immer
weniger. Es ist wichtig, hier genau auf die Nuancen zu achten: Es ist
nicht der persönliche Gott der jüdisch-christlichen Tradition mehr, mit
dem wir – oder sagen wir besser: die Helden und Anti-Helden in Mu-
lischs Romanen – es zu tun haben. Mulisch hat wie die meisten seiner
Figuren den Glauben an den jüdisch-christlichen Gott verloren. Dieser
Gott traditioneller Provenienz spielt keine Rolle mehr, die überlieferte
Religion – im Vordergrund steht bei Mulisch die Auseinandersetzung
mit dem holländischen Calvinismus – wird als bigott, als abergläu-
bisch, als fremd und versponnen erfahren. Mulischs Welt ist daher
gewissermaßen gottlos. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch eine ent-
zauberte, geheimnislose, götterlose oder unreligiöse Welt wäre. Im
Gegenteil. Denn das Geheimnis, eine neue Art des Abgründigen und
Geheimnisvollen, das Nicht- oder Mehr-als-Absurde im Absurden
spielt bei Mulisch eine große, wenn nicht sogar eine zentrale Rolle. Der
alte moralische Gott des Christentums ist – mit Nietzsche – gestorben.
Und gerade deshalb können neue oder alte mythische Götter wieder
ihr wesentliches Unwesen treiben.
Was der Dichter schreibt, hat daher immer auch eine mythische und
religiöse – und auch eine metaphysische Dimension. Mulisch berichtet,
wie seine Tochter einmal, als Mulisch etwas gesagt hatte, was sich zu-
fällig reimte, ihn nachdenklich angesehen und nach einer kleinen Weile
gesagt habe: „Das reimt sich – also ist es wahr.“ Mulischs lakonischer
Kommentar zu diesem Satz, der sich auch in der Entdeckung des Himmels
findet: „Vielleicht sprach sie damit die tiefste Wahrheit aus, die es auf
der Welt gibt.“33 Die tiefste Wahrheit, die es gibt: Dass etwas wahr,
letztlich nicht nur absurd ist, weil es sich reimt, oder sagen wir: weil es
ein gedichtetes Wort ist! Der Dichter wird somit, wir sahen es schon,
zum Stifter von Wahrheit – und Sinn. Er stiftet eine neue Welt, die
gereimt-gedichtete Welt einer tieferen Wahrheit, in der es um viel
mehr als nur Dichtung geht und von der her so etwas wie Erlösung –

32
     H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, S. 647.
33
     H. MULISCH: „MIHN“, in: ders.: Die Säulen des Herkules. Essays, S. 197-208, S. 208.
Holger Zaborowski

und nicht viel mehr als so etwas wie – möglich wird: Erlösung durch den
kreativen Akt selbst. Es liegt nicht fern, Mulisch hier den Vorwurf des
Gnostizismus zu machen: Dass es zuletzt darum geht, durch Wissen,
durch menschliche Leistungen, durch Schreiben und Dichten den
Menschen zu erlösen und dadurch das Leben erträglicher zu machen.
Dabei spielt – neben der Dichtung und Literatur – die Musik eine be-
sondere Rolle, denn in ihr, in der Musik sieht Mulisch diejenige Kunst-
form, die den Unterschied zwischen dem allgemeinen Wissen der Na-
turwissenschaften und dem besonderen Wissen der Kunst und Litera-
tur hinter sich gelassen hat und von der her die Komposition der Welt34 –
so der Titel des philosophischen Hauptwerkes Harry Mulischs – in
ihrer Einheit deutlich wird.35

„Die einzige Möglichkeit, darüber zu sprechen, ist die Kunst“

Mulisch geht es um Einheit, um das Prinzip, das allem zugrunde liegt.
Und darin verfolgt er – in Diskussion mit großen Denkern der Ge-
schichte der Philosophie – ein zutiefst metaphysisches Anliegen. Wor-
um es ihm nämlich geht, ist, in einer Weise, die unter anderem an den
Deutschen Idealismus erinnert, eine Beschreibung der Wirklichkeit, die
alles positive Wissen in sich integrierte. Wer Mulischs Werke liest,
wird daher feststellen, dass Mulisch unterschiedlichste Bereiche und
Disziplinen zu integrieren versucht – dieses Bemühen reicht von Über-
legungen zur Rolle des Schriftstellers, der Schrift und der Sprache über
historische, geschichtsphilosophische, politische und staatsphilosophi-
sche Betrachtungen und naturwissenschaftliche Theorien und Ausein-
andersetzungen bis zu kabbalistischen Spekulationen. Dies macht den
Reichtum seiner Werke aus, ihre Tiefe und Komplexität. Diese Aufga-
be schreibt Mulisch nämlich der Dichtung zumindest implizit zu: im
Erzählen der Erzählung selbst eine umfassende Weltdeutung zu ent-
wickeln und so die Entstehung des Weltalls zu kopieren. Denn die
Entstehung jeder Theorie und eines jeden Kunstwerkes, so Mulisch,
sei eine Kopie der Entstehung des Weltalls,36 sie ist, wie sich schon
gezeigt hat, ein kleiner Schöpfungsprozess.

34
   Vgl. H. MULISCH: De compositie van de wereld, Amsterdam 1980 (²1986; ³2002).
35
   H. MULISCH: „Das Eine“, in: ders.: Die Säulen des Herkules. Essays, S. 87-124, S. 121.
36
   H. MULISCH: „Das Eine“, S. 114.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

Und zwar geht es ihm um eine Weltdeutung, die weder mythisch noch
metaphysisch noch religiös ist, sondern irgendwo dazwischen liegt, die
also Momente des Mythischen, des Metaphysischen und des Religiö-
sen zeigt und die ihren Kern in der Einsicht findet, dass Wirklichkeit
geheimnisvoll ist und sich letztlich überhaupt nicht erklären lässt. Da-
her also zeigt sich hinter den ironischen Konstellationen vieler Ge-
schichten, den Verwicklungen und unwahrscheinlichen Zufällen, den
Zweifeln der Helden und Anti-Helden, ihren Erfahrungen, Hoffnung-
en und Sorgen eine grundlegend geheimnisvolle Schicht der Wirklich-
keit.
Mulisch begnügt sich nämlich nicht damit, von der Erfahrung der Ab-
surdität zu berichten und mit unseren Erwartungen an Wahrheit und
Möglichkeit zu spielen. Denn hinter der Welt des Absurden erscheint
eine andere Welt, die Welt, von der wir in der Kindheit (von der die
Erwachsenen durch den „wahren Lethe, den Fluß des Vergessens“37
getrennt sind) und im Traum eine Ahnung erhalten. Dies stellt aber
den Schriftsteller und seine Kunst vor eine fast unmögliche Aufgabe:
Denn während man das Gefühl haben mag, dass in den Träumen der
Schlüssel zum Welträtsel liege, sind Träume „bescheuert […], wenn
man sie erzählt, nicht aber wenn man sie träumt“, und daher gilt, „dass
man folglich etwas anderes erzählt als seinen Traum.“38 Erzählen kann
man Träume nicht. Was aber möglich ist, ist eine gewissermaßen indi-
rekte Mitteilung des Traumes durch die Kunst: „Die einzige Möglich-
keit, darüber zu sprechen, ist die Kunst – und so, auf diesem unterirdi-
schen Umweg, wird also doch davon gesprochen.“39 Wer also als
Künstler spricht, mag die Erfahrung machen, die der junge Harry Mu-
lisch gemacht haben mag, die Erfahrung, „als ob die Welt sich in
Wahrheit verwandelte – nicht in die Wahrheit der Wissenschaft, die
sie vertrat, sondern in eine Wahrheit, die mir innewohnte, die ich ver-
körperte; es schien, als ob die Welt die Lösung eines Problems sei, das
ich selbst war, oder andersherum, oder beides zugleich … kurzum, ich
dachte nicht mehr, ich war wie entrückt […]“40. Die Gesetze der Logik,
der Technik und eines objektiven Wahrheitsbegriffes gelten hier nicht
mehr. Was gilt, ist eine Logik, eine Wahrheit ganz anderer, fundamen-

37
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 27.
38
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 73.
39
   H. MULISCH: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Ein Widerspruch, S. 93.
40
   H. MULISCH: Augenstern, S. 62.
Holger Zaborowski

tal anderer Art, die tiefste Wahrheit des gedichteten Wortes und des
dichtenden Subjektes.
Was Mulisch in seinem dichterischen Schaffen erreichen wollte und
will, ist aber genau dies: diesen Erfahrungen der Entrückung in indi-
rekter, immer wieder aber explizit eingeholter Weise Ausdruck zu ver-
leihen: „Als ich zu mir kam und wieder durch den Golf von Neapel
fuhr, dachte ich sofort an meine Schriftstellerei. Ich wollte damit Zu-
stände wie den gerade durchlebten ausdrücken. Aber mir wurde plötz-
lich klar, dass das auf direkte Art gar nicht möglich war. Mein Einsatz
war hoch, total, aber das Spiel, auf das ich setzte, existierte nicht, so
dass das Ergebnis nie Gewinn sein konnte, sondern ausschließlich Ver-
lieren, Lächerlichkeit. Vermutlich war meine Situation sogar noch ge-
fährlicher als das: Ich war dabei, mich selbst zu verzehren, wie ein Ver-
hungernder, der so lange von seinem eigenen Fett lebt, bis es aufge-
braucht ist und er stirbt. Es war alles nur Essenz ohne Existenz. Wenn
ich meinen Zustand ausdrücken wollte, musste ich nicht diesen selbst
thematisieren, denn damit wäre ich schnell fertig gewesen, sondern
das, wodurch er hervorgerufen wurde. Wurde er vom Golf von Nea-
pel hervorgerufen, so musste der Golf von Neapel erscheinen. Indirekt
sollte es geschehen; nicht Folgen, nein, Ursachen mussten gezeigt wer-
den. Ich musste mich der Realität zuwenden, dem Naheliegenden, und
auf eine paradoxe Weise würde dann alles ganz direkt erscheinen,
obwohl es indirekt wäre.“41 Hier skizziert Mulisch das Programm einer
indirekten Hermeneutik, die seinem „höheren“ Realismus und auch
seiner Ironie zugrunde liegt. Denn Mulischs Ironie ist nicht nur augen-
zwinkernder Scherz oder gelegentliche jungenhafte Albernheit – es gibt
diese Dimension, diese Freude am Spiel um seiner selbst willen im
Werke Mulischs. Seine Ironie ist viel tiefgründiger und erinnert an die
Ironie der großen Ironiker – Sokrates, Kierkegaard, Nietzsche oder
Thomas Mann – und verweist auf etwas Tieferes und Anderes, etwas,
das sich in der Sprache der Logik nicht ausdrücken lässt und des Hu-
mors, der ironischen Brechung bedarf, um überhaupt – wenn auch nur
indirekt – ausgedrückt zu werden.

41
     H. MULISCH: Augenstern, S. 62.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

„Jeder Satz ist ein Schlüssel zum Oeuvre. Und nicht allein zum Oeuvre.“

Von hier her, dieser indirekten, vorsichtigen, umwegigen Zugangswei-
se entfaltet sich die literarische Landschaft des Schriftstellers und Den-
kers Mulisch als ein immer neu begangener „gigantischer Umweg“ mit
immer neuen Widersprüchen und Ambivalenzen: In der Entdeckung des
Himmels geht es ironischerweise um die Entfremdung zwischen Himmel
und Erde und darum, dass der Teufel, dass dämonische Mächte zu-
nehmend Macht über den Menschen erhalten. Im Entzug, in der Auf-
kündigung des Vertrages zwischen Himmel und Menschheit wird der
Himmel entdeckt – oder entdeckt der Himmel, dass die Menschen es
nicht mehr wert sind, dass der Bund mit ihnen aufrecht erhalten wird,
und dass es höchste Zeit ist, die Gesetzestafeln zurückzuholen. Und
ironisch ist dies in mehrfachem Sinne: Denn es ist nicht nur der Fall,
dass die Gesetze nicht mehr gehalten werden, sondern auch, dass nie-
mand, kein Mensch so genau weiß, wo sich denn eigentlich die Geset-
zestafeln befinden. Der Himmel hätte es einfacher haben können!
Mulisch hält das Geschehen in Ambivalenz: Wie dem auch sei, wer
nun wen oder was entdeckt:42 Erst der Fehl Gottes, so können wir mit
Hölderlin sagen, zeigt uns die geheimnisvolle Anwesenheit Gottes oder
besser: der Himmlischen. Nur wo der Himmel verloren geht, wo er
sich entzieht, kann er überhaupt entdeckt werden – und der Dichter
hat die Aufgabe, von dieser Entdeckung Mitteilung zu geben: indirekt,
vorsichtig, ironisch, verspielt und doch einen letzten Ernst nie missen
lassend. Hier also stoßen wir auf die Tiefendimension des Augenzwin-
kerns und der Ironie Mulischs, die wir immer wieder vorfinden: Denn
in einem letzten Sinne ist sein Werk die Beschreibung einer Welt, in
der nur noch und zuletzt der Dichter Sinn und Wahrheit stiften kann:
in der Ambivalenz zwischen der Gegebenheit des Mythos oder der
Religion, der Passivität in der Erfahrung von Offenbarung auf der
einen und der Entwicklung von Metaphysik, der Aktivität einer Be-
schreibung dessen, was es mit Wirklichkeit im letzten auf sich hat, auf
der anderen Seite, in Werken mit überraschenden Wendungen, mit
unvermuteten Transformationen und Modulationen – Spuren auf Um-
wegen, die die eigentlichen Wege sind. Denn „[k]ein Satz ist beliebig.

42
 Vgl. hierzu auch P.K. KURZ: „Ironisches Spiel mit den Tafeln des Moses. Harry
Mulischs Roman ‚Die Entdeckung des Himmels‘“, S. 189.
Holger Zaborowski

Jeder Satz ist ein Schlüssel zum Oeuvre. Und nicht allein zum Oeu-
vre“43, so Mulisch in prägnanter Kürze.
Radikale Umwege gibt es daher eigentlich nicht. Sie alle führen ir-
gendwohin, und es mag wichtig sein, über sie zu gehen, sich ihrer als
Schlüssel zu bedienen, um die Geschichten hinter dem Werk zu er-
kunden. Während die direkten Wege der Technik, der Logik und dem
Kalkül überlassen sind, sind die Umwege die Wege des Staunens und
des Geheimnisses, der Mythen, der Religion und der Metaphysik, des
Abgründigen und Absurden, des Verrückten und Entrückten – die
Wege einer anderen, grundlegenderen Zeit. Wer hier zu direkt gehen
will, verliert sich. „Wer schreibt“, so Mulisch, „bekommt auf vielerlei
Weise mit der Zeit zu tun.“ Die Zeit des Schreibens ist aber eine ande-
re Zeit als die Zeit der Physik, es ist eine Zeit, in der der Himmel ent-
deckt werden kann (oder der Himmel selbst Entdeckungen machen
kann), eine Zeit, die sich mit den Mitteln der Naturwissenschaften und
der Technik nicht bestimmen lässt, die aber von zentraler Bedeutung
für das Verständnis des Menschen ist.

„Was wir geschaffen haben, war offenbar um einiges mehr, als wir gedacht ha-
ben.“

Diese Zeit des Schreibens und die Dimension des Geheimnisvollen, die
in ihr erschlossen werden, rückt in einer Zeit, in der die Technik im-
mer wichtiger wird, allerdings immer weiter in den Hintergrund. Wir
stoßen hier auf ein weiteres wichtiges Motiv des dichterischen Schaf-
fens Harry Mulischs. Die Technik erscheint ihm als ein Grundproblem
und Grundübel: „Aber es ist genau diese Art Maschine“, so erfahren
wir in einem weiteren himmlischen Gespräch, „die Maschine an sich,
die das noch viel größere, das Grundübel verkörpert. Dieses technolo-
gisch-luziferische Böse steht eben nicht optimistisch im Dienste des
Chefs in der besten aller möglichen Welten, wie das vorgesehene Übel,
das du anzurichten beauftragt bist, sondern es nähert sich von ihm, es
verzehrt es, es nimmt seinen Platz ein wie ein Virus den Zellkern: ein
niederträchtiger Putsch, ein infamer Coup d’Etat. Krebs! Königs-
mord!“44 Die Technik, die Maschine an sich als das teuflische Urübel.
Was sich in diesem Gedanken Mulischs andeutet, ist eine abgründige

43
     H. MULISCH: Selbstporträt mit Turban, S. 36.
44
     H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, S. 650.
„Die Welt verdankt ihre Existenz der menschlichen Erinnerung“

Fähigkeit des Menschen, die Möglichkeit einer Verführung des Men-
schen, selbst zum Schöpfer zu werden, und zwar nicht nur anderer
Dinge, sondern auch seiner selbst, in ganz anderer Weise allerdings als
im dichterisch-schöpferischen Geschehen, eine Fähigkeit, die im Men-
schen, seiner Anlage, bereits vorgezeichnet war: „Es ist nun einmal so,“
so der himmlische Gesprächspartner lakonisch, „wir haben den Fehler
gemacht, wir haben die Potenzen des Menschen unterschätzt, und zwar
die Kraft seines Geistes ebenso wie die seines Fleisches, und damit sei-
ne Empfänglichkeit für solcherart satanische Einflüsterungen – aber
schließlich und endlich ist er doch unsere Kreatur, und was wir unter-
schätzt haben, ist unsere eigene Kreativität. Was wir geschaffen haben,
war offenbar um einiges mehr, als wir gedacht haben. In unserem
Scheitern steckt letztlich also ein Kompliment an die eigene Adresse:
Unsere Kreativität ist größer als wir!“45
Der Himmel schlägt die Arme über dem Kopf zusammen angesichts
dessen, was mit dem Menschen passiert ist, angesichts der Tatsache,
dass wir, die Menschen, uns „[mit] Hilfe der Technik […] schon eine
ganze Reihe von göttlichen Eigenschaften angeeignet haben.“46 Der
Mensch hat sich mit dem Teufel gegen den Himmel verschworen, er
wollte sein wie Gott, wie die Götter – und dies ist, so eine mögliche
Deutung des Titels Die Entdeckung des Himmels, die grauenhafte Entdec-
kung des Himmels: Die Schöpfung ist missglückt! Ein Unfall, alles aus
dem Ruder gelaufen, das Geschöpf richtet sich gegen seine Schöpfer!
Es empfiehlt sich, hier auch der Frage nachzugehen, inwiefern und
wann sich der Mensch gegen den Himmel verschworen und sich dar-
um bemüht hat, die himmlischen Mächte auszurotten. Einer der himm-
lischen Charaktere gibt einen Hinweis darauf: „Und mit unserer Aus-
rottung“, so bekennt er, „sind sie, ohne es zu wissen, schon geraume
Zeit beschäftigt.“47
„Seit geraumer Zeit“ – näherhin: seit dem Beginn der Neuzeit. Hier
stoßen wir auf ein anderes wichtiges Motiv des Denkens Harry Mu-
lischs, von dem her auch Licht auf die Frage nach Mythos, Religion
und Metaphysik in seinem Werk fällt. Denn in gewisser Weise stellen
die Schriften Mulischs einen langen, immer wieder neu gewagten Kom-
mentar zur und eine kritische Auseinandersetzung mit der Moderne
dar – und einen atheistischen Versuch der Theodizee, der Rechtferti-

45
   H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, S. 650.
46
   H. MULISCH: „Das Eine“, S. 92.
47
   H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, S. 648.
Holger Zaborowski

gung eines Gottes, den es eigentlich für den Menschen nicht mehr gibt,
und göttlicher Mächte, die die Nase voll haben angesichts des Übels in
der Geschichte, eines Übels, das in radikaler Weise im Holocaust er-
fahren wurde. Hitler, das Dritte Reich, der Holocaust sind daher im-
mer wieder auftauchende Motive im Werk Harry Mulischs, sie stehen
aber für mehr, nämlich für das globale Schicksal der Menschheit im
Zeitalter des modernen und sich vollendenden Nihilismus, ohne dass
Mulisch hier auch nur den Versuch einer Relativierung unternähme:
„Nach Auschwitz“, so Mulisch in drastischer und prophetischer Spra-
che, „– und während der ungewollt-gewollten Vorbereitung des plane-
tarischen Auschwitz (obwohl der Unterschied zwischen Kapitalismus
und Kommunismus im Vergleich zu dem zwischen Leben und Tod
minimal ist) – ist vielleicht auch für sie (scil. die Menschheit, H. Z.) der
Zeitpunkt gekommen einzusehen, was sie in ihrer Nacktheit eigentlich
ist.“48
Nicht, dass Mulisch naiv davon träumte, vor die Moderne, ihre My-
then, religiösen Ansprüche und Metaphysiken zurückzugehen. Er sieht
ein: „Die Welt wird von Träumen zusammengehalten. Zum Glück
sind es nur noch wenige, und die werden demnächst dank der Stern-
warte auch verschwunden sein.“49 Die Aktivitäten der Sternwarte, d. h.
der modernen Naturwissenschaften, lassen sich nicht unterbinden, aber
sie sind, so betont Mulisch immer wieder, nicht nur nicht fundamental
anders als die Aktivitäten des Dichters, sondern bedürfen auch der Er-
gänzung und Korrektur durch die Wahrheit des Dichters. Mulisch ak-
zeptiert daher das Schicksal, die Gegenwart, dass die Moderne unsere
Zeit bestimmt und wir nicht mehr vor die Moderne zurück können.
Was wir aber können – und was wir gewissermaßen auch müssen – ist
dies: die Moderne verstehen und, wo nötig und möglich, ihr begegnen,
uns mit ihr auseinandersetzen und sie ergänzen. Denn Mulisch scheint
nur zu gut zu wissen, dass man gegen die problematischen Auswüchse
der Neuzeit letztlich wenig machen kann, dass man nicht so einfach
noch so wohlmeinende Projekte und Maßnahmen gegen all die Pro-
bleme einer sich selbst absolut setzenden Technik entwickeln kann.
Jedes diesbezügliche Programm, so scheint er zu denken, würde nur
den Ungeist der Neuzeit weiter fortsetzen.

48
   H. MULISCH: „Bausteine einer Mythologie des Schriftstellertums“, in: ders.: Die
Säulen des Herkules. Essays, S. 24-49, S. 49.
49
   H. MULISCH: Die Entdeckung des Himmels, S. 424.
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