Virtueller Test automatisierter Fahrfunktionen - Bertrandt

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Virtueller Test automatisierter Fahrfunktionen - Bertrandt
TITELTHEMA      Automatisiertes Fahren

Virtueller Test automatisierter
Fahrfunktionen
Die zunehmende Komplexität und Variantenvielfalt automatisierter Fahrfunktionen
lässt sich durch eine rein anforderungsbasierte Testmethodik nicht mehr zuverlässig
beherrschen. Im Kontext der Plattform für hochautomatisiertes Fahren HARRI ent­
wickelt Bertrandt Methoden und Tools für den szenarienbasierten Test der zugehörigen
Funktionen und Elektronik weiter.

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Virtueller Test automatisierter Fahrfunktionen - Bertrandt
AUTOREN

                                                                       Dr.-Ing. Torsten Butz
                                                              ist Abteilungsleiter Elektronik-
                                                         Entwicklung Fahrwerk, Antrieb und
                                                                  Automatisiertes Fahren bei
                                                                     Bertrandt in Ingolstadt.

                                                                        Dipl.-Wirt.-Ing. (FH)
                                                                            Simon Paleduhn
                                                           ist Teamleiter Systementwicklung
                                                         und Testmanagement bei Bertrandt
                                                                               in Ingolstadt.

                                                           Dipl.-Ing. (FH) Alexander Merkel
                                                              ist Abteilungsleiter Elektronik-
                                                            Entwicklung Diagnose, Komfort,
                                                         ADAS und Powertrain bei Bertrandt
                                                                                 in Ehningen.

                                                                               Dipl.-Ing. (FH)
                                                                      Christian Bohner, MBA
                                                                 ist Teamleiter Virtueller Test
                                                                  bei Bertrandt in Ingolstadt.

                                              MOTIVATION

                                              Zur Verbesserung der Verkehrssicherheit
                                              und stetigen Automation des Straßenver-
                                              kehrs finden vermehrt Fahrerassistenz-
                                              systeme und automatisierte Fahrfunktio-
                                              nen Einsatz. Die steigende Komplexität
                                              der zugrundeliegenden Elektronik- und
                                              Softwarekomponenten, agile Entwick-
                                              lungsmethoden sowie die Reduzierung
                                              von Erprobungsfahrzeugen erhöhen auch
                                              die Anforderungen an geeignete Absiche-
                                              rungsmethoden [1, 2]. Herkömmliche
                                © Bertrandt

                                              Testverfahren nach anforderungsbasier-
                                              tem Ansatz allein sind nicht mehr aus-
                                              reichend, um in immer kürzer werden­
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Virtueller Test automatisierter Fahrfunktionen - Bertrandt
TITELTHEMA            Automatisiertes Fahren

den Entwicklungszyklen die Abdeckung
aller notwendigen Absicherungsaspekte
hinsichtlich Funktion, Robustheit und
Sicherheit zu erreichen. Eine szenarien-
basierte Testmethodik und eine konse-
quente Virtualisierung ermöglichen die
funktionsunabhängige Darstellung der
Testbedingungen und eine Verschieb­
barkeit von konkreten Testaufwänden
in Richtung virtueller Testorte.

TESTMETHODIK

Die weiterentwickelte szenarienbasierte
Testmethodik, BILD 1, ist eine Ableitung
aus den Forschungsergebnissen des
BMWi-geförderten Projekts Pegasus [3]
und den normativen Standards der Safety         BILD 1 Szenarienbasierte Testmethodik (© Bertrandt)
of the Intended Functionality [4]. Wesent-
licher Bestandteil sind funktionale Test-
szenarien, die über eine abstrakte sprach-
liche Beschreibung definiert sind. Ihre
Parametrierung erfolgt über statische
Informationen, wie Straßengeometrien
und Wetterbedingungen, sowie dyna­
mische Informationen, wie Manöver­
beschreibungen von Ego-Fahrzeug und
anderen Verkehrsteilnehmern. Durch die
Übersetzung in das universelle Format
OpenScenario [5] und die Festlegung der
infrage kommenden Parameterräume
entstehen logische Szenarien, die eine
Tool-unabhängige Verwendbarkeit sowie
eine Portierbarkeit zwischen den Test­
orten gewährleisten sollen. Die Ablage
erfolgt in einer Szenariendatenbank, die
einen funktionsunabhängigen Szenarien­
katalog darstellt.
   Basierend auf einer Kritikalitätsbewer-
tung wählt eine automatisierte Teststeue-
rung die für den jeweiligen Testfokus
relevanten logischen Szenarien aus und          BILD 2 Sechs-Ebenen-Modell gemäß Pegasus (© Bertrandt)
erzeugt konkrete Szenarien durch Bele-
gung der Parameterräume mit eindeuti-
gen Werten. Nach Ableitung der konkre-
ten Testfälle wird eine Zuordnung auf           SZENARIENMODELLIERUNG                                 Modell gemäß Pegasus verwendet [6],
virtuelle Testinstanzen, wie Model-,            UND -BEWERTUNG                                        das sich aus den Ebenen Straße, Leit­
Software- und Hardware-in-the-Loop-                                                                   infrastruktur, temporäre Einflüsse, zum
Umgebungen (MiL, SiL, HiL) oder phy­            Die Qualität der Testergebnisse wird                  Beispiel Baustellen, Dynamik von Ego-
sische Tests im Fahrzeug vorgenommen.           maßgeblich dadurch bestimmt, dass                     Fahrzeug und weiteren Verkehrsteilneh-
Im Anschluss an die Testdurchführung            die Szenarien den relevanten Testfall-                mern, Umweltbedingungen sowie digi-
werden die abgedeckten Testfall- bezie-         raum abdecken und auf validen Daten                   tale Informationen (Car2X) zusammen-
hungsweise Parameterräume bewertet              basieren, die der Realität auf der Straße             setzt, BILD 2. Die Informationen aus den
und ihre Kri­tikalität verifiziert. Die Test-   gerecht werden. Grundlage dafür sind                  unterschiedlichen Ebenen können im
ergebnisse werden in der Ergebnisdaten-         generische Manöver aus dem alltäglichen               Wesentlichen beliebig miteinander kom-
bank abgelegt und über eine Testnach-           Straßenverkehr, aber auch kritische Situ-             biniert werden, um eine breite Variation
steuerung werden gegebenenfalls weitere         ationen, die durch Auswertung von Feld-               von Testszenarien zu erhalten.
konkrete Szenarien erzeugt, um iterativ         daten oder Unfalldatenbanken identifiziert               Aufgrund der Vielzahl möglicher Sze-
die Abdeckung aller wichtigen Bereiche          werden. Zum strukturellen Aufbau der                  narien und Parametervariationen würde
des Testfallraums sicherzustellen.              Testszenarien wird ein Sechs-Ebenen-                  eine Absicherung des vollständigen Test-
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Virtueller Test automatisierter Fahrfunktionen - Bertrandt
fallraums exponentiell hohe Aufwände            die verwendete Toolkette, BILD 4, voll-      ven Bestandteile der virtuellen Toolkette
verursachen, die vor dem Hintergrund            ständig zu virtualisieren und durch          vollständig in die Cloud integrieren. Im
immer höherer Releasefrequenzen von             Transfer der Testdurchführung in die         Wesentlichen handelt es sich dabei um
Softwarelieferungen ausgeschlossen              Cloud eine Parallelisierung sowie Simu-      die Umgebungssimulation, die Simula-
sind. Um die Testdurchführung auf               lationsgeschwindigkeiten schneller als       tion des virtuellen Steuergeräts (vECU)
­relevante konkrete Szenarien zu be­­           Echtzeit zu erreichen.                       sowie die übergeordnete Testautomati-
 schränken, ist eine Kritikalitätsbewer-           Während die zuvor skizzierten Tools       sierung. Dabei deckt die Umgebungs­
 tung erforderlich, die die Auswahl und         für Szenariendatenbank, Szenarienkon-        simulation neben der Dynamik des
 Wertebelegung der verfügbaren Parame-          kretisierung, Ergebnisdatenbank und          ­Ego-Fahrzeugs auch die virtuelle Ver-
 ter auf den für die zu testende Funktion       Testnachsteuerung auf dem Client-PC           kehrsumgebung sowie Modelle für die
 interessanten Parameterbereich fokus-          laufen, lassen sich die rechenzeitintensi-    Umfeldsensorik ab, wie Kamera, Lidar
 siert. Dabei kommen sowohl prädiktive
 Verfahren zum Einsatz, die keine Test-
 durchführung bedingen, wie auch Ana-
 lysen, die im Rahmen der Testnachsteue-
 rung den Parameterbereich justieren.
 Kritikalitätsmetriken wie Time-to-Colli-
 sion, Time-to-Brake oder Distance-of-
 Closest-Encounter [7] können für jedes
 Szenario gesondert definiert und in der
 Szenariendatenbank abgelegt werden.
      Zur Konkretisierung der Testszenarien
 wurde ein Softwaremodul entwickelt,
 BILD 3. Für die initiale Szenarienerstel-
 lung wird die Manöverbeschreibung für
 die dynamischen Verkehrsteilnehmer mit
 ­statischen Informationen aus den anderen
  Leveln des Sechs-Ebenen-Modells über­
  lagert. Im zweiten Schritt werden die
  ­Szenarienparameter miteinander kombi-
niert und über eine Wahrscheinlichkeits-
   verteilung die Abtastraten für die jewei­
   ligen Parameterbereiche festgelegt. Auf
   Basis der prädiktiven Kritikalitätsbewer-
   tung werden die relevanten, kritischen
   Szenarien identifiziert und damit der Test
   der Systemgrenzen fokussiert. Abschlie-
   ßend sorgt eine stochastische Variation
   der S
       ­ zenarienparameter dafür, dass im
   Test auch zufällige Streuungen und Ab­­
   weichungen berücksichtigt werden, die
   im realen Straßenverkehr unvermeidlich
   sind. Im Rahmen der Testnachsteuerung
   führt eine Kritikalitätsbewertung bereits
   getesteter Szenarien zu einer Optimie-
   rung der dynamischen und statischen
   Szenarienparameter abhängig davon,
   wie zuver­lässig sich die Prädiktion der
   Szenarienkritikalität erweist.

VIRTUELLE TESTTOOLKETTE

Trotz Begrenzung der Absicherung auf
die als relevant identifizierten Szenarien,
ist eine Teststrategie unerlässlich, die die
Testumfänge im Fahrzeug sowie – auf-
grund des Rechenzeitbedarfs für die
Echtzeitsimulation – in SiL- und HiL-
Umgebungen auf das notwendige Mini-
mum reduziert. Vielmehr ist es das Ziel,
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TITELTHEMA          Automatisiertes Fahren

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                                                                                                           konkretisierung (© Bertrandt)

oder Radar, die Informationen über         tion der Testszenarien an und nimmt           ASM, VEOS und System Desk von dSpace
den Fremdverkehr in Form von Punkte-       nach Ende der Testfalldurchführung die        Anwendung, zum anderen eine hetero-
wolken, Target- oder Objektlisten zur      szenarienspezifische Auswertung vor.          gene Kombination von IPG CarMaker
Verfügung stellen. Die zu testende Funk-      Im Hinblick auf Leistungsumfang und        und QTronic Silver. Als Testautomatisie-
tion wird über ein vECU-Tool integriert,   Wartbarkeit der eingesetzten Tools wur-       rung kommt in beiden Fällen ECU-Test
das die Erzeugung und Einbindung von       den für die maßgeblichen Komponenten          von TraceTronic zum Einsatz.
einzelnen Regelalgorithmen oder Soft-      der virtuellen Testtoolkette ausschließlich      Für die Bereitstellung in die Cloud gibt
warekomponenten bis hin zu vollstän­       kommerzielle Produkte eingesetzt. Exem-       es mehrere Optionen. Sofern die verwen-
digen Steuergerätearchitekturen mit        plarisch wurden zwei Varianten imple-         deten Tools die Nutzung von Docker-Con-
zugehöriger Bussimulation gestattet.       mentiert, die sowohl die Pegasus-Metho-       tainern unterstützen, ist die Portierung der
Die programmtechnische Anbindung           dik wie auch perspektivisch OpenScena-        PC- in die Cloud-Umgebung relativ einfach
des vECU-Codes erfolgt häufig über ein     rio bestmöglich unterstützen. Zum einen       zu realisieren. Alternativ ist der Betrieb der
Functional Mock-up Interface (FMI). Die    findet eine homogene Toolkette bestehend      Toolkette in einer virtuellen Maschine
Testautomatisierung steuert die Simula-    aus den Simulations- und vECU-Tools           möglich, bei der zusätzlich das Betriebs-

                                                                                                                   BILD 4 Virtuelle
                                                                                                                  ­Testtoolkette
                                                                                                                   (© Bertrandt)

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Virtueller Test automatisierter Fahrfunktionen - Bertrandt
system sowie CPU-, GPU- und Speicher­        bung kann dabei auch zur Generierung           LITERATURHINWEISE
ressourcen emuliert werden müssen. In        von Steuergrößen für Fahrroboter aus           [1] Linz, T.: Testen in Scrum-Projekten. Leitfaden für
                                                                                            Softwarequalität in der agilen Welt: Aus- und Weiter­
beiden Fällen lassen sich die virtuellen     dem Fahrzeugtest verwendet werden.             bildung zum ISTQB Certified Agile Tester – Founda­
Toolketten nahezu beliebig v­ ervielfachen      Die bisherigen Ergebnisse zeigen,           tion Extension. Heidelberg: dpunkt.verlag, 2017
und die Testdurchführung aufgrund der        dass die szenarienbasierte Testmethodik        [2] Maurer, M.; Gerdes, J. C.; Lenz, B.; Winner, H.
                                                                                            (Hrsg.): Autonomes Fahren: Technische, rechtliche
Skalier­barkeit der Rechenressourcen in      gegenüber dem herkömmlichen anforde-           und gesellschaftliche Aspekte. Berlin/Heidelberg:
der Cloud parallelisieren.                   rungsbasierten Test eine höhere Robust-        Springer, 2015
                                                                                            [3] N. N.: Forschungsprojekt Pegasus. Online:
                                             heit hinsichtlich Änderungen in der
                                                                                            https://www.pegasusprojekt.de/de/about-PEGASUS,
                                             Anforderungslage und dem Entwick-              aufgerufen am 31.01.2020
ERGEBNISSE
                                             lungsprozess aufweist. Trotz der Wieder-       [4] International Organization for Standardization:
                                                                                            ISO/PAS 21448:2019 Road vehicles – Safety of the
Im Kontext der von Bertrandt entwickel-      verwendbarkeit der generischen Testsze-
                                                                                            intended functionality, Genf, 2019
ten Plattform für hochautomatisiertes        narien und der effizienten Auswertung          [5] ASAM e. V.: OpenScenario. Online: https://www.
Fahren HARRI [8] wurde die beschrie-         der Testergebnisse sind Aufwand und            asam.net/standards/detail/openscenario, aufgerufen
                                                                                            am 31.01.2020
bene virtuelle Testtoolkette eingesetzt,     Testumfang zum Nachweis von korrekter
                                                                                            [6] N. N.: Pegasus Scenario Database. Online:
um autonome Park- und Rangierfunktio-        Funktionalität und Sicherheit automati-        https://www.pegasusprojekt.de/files/tmpl/Pegasus-
nen zu testen. Daneben wurde ein Proof-      sierter Fahrfunktionen jedoch erheblich.       Abschlussveranstaltung/15_Scenario-Database.pdf,
                                                                                            aufgerufen am 31.01.2020
of-Concept für den Test einer Fahrerassis-   Mit zunehmender Komplexität der Funk-          [7] Junietz, P.; Schneider, J.; Winner, H.: Metrik zur
tenzfunktion zur Fahrzeuglängsführung        tion ist dies nur durch Reduktion der          Bewertung der Kritikalität von Verkehrssituationen
auf Autobahnen durchgeführt. Die erstell-    Testszenarien auf Basis einer Kritikalitäts-   und -szenarien. 11. Uni-DAS e. V. Workshop Fah­
                                                                                            rerassistenz und automatisiertes Fahren, Walting,
ten generischen Szenarienkataloge sind       bewertung sowie durch konsequente Vir-         29.-31.03.2017
ebenso für Funktionen höherer Autono-        tualisierung machbar. Gegenstand aktuel-       [8] Schiekofer, P.; Erdogan, Y.; Schindler, S.;
miestufen nutzbar. Im Rahmen von Kun-        ler Untersuchungen sind Messbarkeit und        Wendl, M.: Maschinelles Lernen für das automati­
                                                                                            sierte Fahren. In: ATZ 121 (2019), Nr. 12, S. 48-51
denprojekten finden die Ergebnisse unter     Nachweis der Abdeckung aller infrage
anderem Eingang in den Test voraus-          kommenden Testszenarien sowie die
                                                                                                     READ THE ENGLISH E-MAGAZINE
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