Volk und/oder Nation? Die mitteleuropäische Schicksalsfrage. Bartók, Volkslied, Politik
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Volk und/oder Nation? Die mitteleuropäische Schicksalsfrage. Bartók, Volkslied, Politik Éva Tőkei 1. Die mitteleuropäische Schicksalsfrage Die mitteleuropäischen Konzepte von Nation und Nationalismus-Varianten unterscheiden sich nicht nur zeitlich, sondern auch strukturell sowohl vonein- ander, als auch von ihren historischen Vorlagen. Sie sind gerade wegen ihrer zeitlichen Verspätung zum einen durch den Widerstand gegen die Hegemonie der früheren, mittlerweile Großmächte gewordenen Nationalstaaten, zum an- deren durch die spätere Phase der Industrialisierung und deren soziale Span- nungen geprägt. In diesem Umfeld wurde das ‚Volk‘ jeweils anders unter- schiedlich konzipiert, so kommt und kam das Wort ‚Volk‘ bis heute in vielen Bedeutungsvarianten vor, im Sinne von ‚populus‘, aber auch einer idealisierten bodenständigen Bauernschicht usw., schließlich auch als ‚Herrenrasse‘. Als Vorstudie zu einer eventuellen breiteren mitteleuropäischen Untersuchung soll hier – gerade wegen ihrer alarmierenden Aktualität – versucht werden, zumindest einige von einer komparatistischen Perspektive her gesehen durch- aus aufschlussreichen politischen Konsequenzen der ungarischen Varianten zu erläutern. Sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen beinhalten die Nations- konzepte eine Unterscheidung von Fremdem und Eigenem, von Zentralem und Lokalem. Dabei ist das jeweilige Verständnis von ‚Volk‘ geprägt durch die unterschiedlichen zeitlichen und geographischen Dimensionen, den gerade aktuellen Stand der Definition von (National-)Staatlichkeit. In der Epoche, als ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im 19. Jahrhundert in Ungarn in der Literatur und den Künsten im Rahmen der nationalen Unabhängigkeitsbewegung in den Vorder- grund traten, fanden beide Konzepte im Deutschen gerade vor allem in den kulturellen Manifestationen der erwünschten politischen Einheit der existie- renden Kleinstaaten ihren Ausdruck. Als kulturelles Projekt ist der Wunsch nach einer eigensprachlichen deutschen Nationalkultur schon viel früher, be- reits vor der Aufklärung als Mittel bürgerlicher Legitimation vorhanden. Schon seit dem 16. Jahrhundert sammeln und zeichnen städtische Bürger ländliche Lieder auf (Nusser 2012: 338). Programmatisch zentral wurde das Thema je- doch im 19. Jahrhundert, als der Unterschied zwischen den Ländern, in denen die Existenz eines Nationalstaates selbstverständlich war, und denen, in denen das Bürgertum kleiner und schwächer war und aus einer global gesehen schon Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
214 Éva Tőkei benachteiligten Position erst begann, nach Zentral- oder Eigenstaatlichkeit zu streben, notwendigerweise gravierend war. Dementsprechend erhielten die Sammlung der alten eigensprachigen Lieder als symbolischer Legitimationsakt und damit parallel die Gründung oder der Wunsch nach einem Nationaltheater dort, wo es einen Nationalstaat noch nicht gab, als Ziel eine viel wichtigere Rolle. Volk und/oder Nation? In welchem Verhältnis stehen diese Konzepte? Volkskunst und Nationaltheater sind also kulturelle Konstrukte der bürger- lichen Distanzierung vom Feudalismus. Beide sind neben den literarischen for personal use only / no unauthorized distribution und anderen künstlerischen Werken ausgesprochen bürgerliche Beiträge zur Erschaffung einer über das Lokale hinausreichenden Identität mit eigenen, neuen Gattungen und Institutionen. ‚Volkslied‘ ist also eine durch und durch paradoxe Gattung, ein bürgerlich-urbanes Konzept, dessen betont ländliche materielle Manifestationen mit der Urbanisierung als gemeinschaftliche Pro- Winter Journals dukte notwendigerweise allmählich völlig verschwinden. Was bleibt, sind die Aufzeichnungen, die eher Produkte der zeitgenössischen Verleger sind, die aber die Vergangenheitsbezogenheit als Stilmerkmal aufrechterhalten. Wo es noch keinen zentralen Nationalstaat und einen, die landeseigene Produktion befördernden Nationalmarkt gibt, hat das noch kleinere und schwächere Bürgertum nicht nur mit den einheimischen feudalistischen Insti- tutionen, sondern auch mit den inzwischen Kolonialmächte gewordenen Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) mächtigeren Nationalstaaten zu wetteifern. Von den gemeinschaftsbildenden nationalstaatlichen Institutionen kann man nur träumen. Lessings erster Ver- such, in Hamburg ein ausschließlich von den Bürgern finanziertes Theater zu schaffen, ist noch kurzlebig, es scheitert an mangelnden finanziellen Mitteln oder am Interesse. An vielen Hoftheatern jedoch entwickeln sich ähnliche Ak- tivitäten, eine eigene deutschsprachige Kultur zu schaffen, die sich im Kontrast zur französischen kulturellen Hegemonie definiert. Das entspricht völlig dem emanzipatorischen Geist der Aufklärung, völlig unabhängig von den politi- schen Ansichten der Beteiligten (z.B. Goethe). Nach der Reichsgründung wer- den sowohl Theater als auch Volkspoesie weiterhin als Legitimationsmittel verwendet, aber nicht mehr als Emanzipationsprojekt gegenüber fremder kul- tureller und politischer Hegemonie, sondern im Sinne der Selbstbestimmung des neuen Staates als Groß- und Kolonialmacht. In dem von Österreich eroberten Ungarn setzten die bürgerlichen Emanzi- pationstendenzen noch später ein, mit der Übermittlung der und paradoxer- weise zugleich in Konfrontation zur deutschsprachigen Kultur, noch dazu iro- nischerweise von einer (vor der Magyarisierung anderer Nationalitäten durch die Ungarn noch) meist deutschsprachigen städtischen Bürgerschicht vertre- ten. ‚Nation‘ bedeutete zur Zeit Josephs II. im Ungarischen noch den Adel, der seine Privilegien gegen die Reformbestrebungen des aufgeklärten Monarchen erfolgreich verteidigen konnte. Nachdem seine Reformen zurückgenommen Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Volk und/oder Nation? 215 werden mussten, inklusive die Einführung des Deutschen als Amtssprache statt des Lateins, wählte sein Nachfolger, der ebenfalls reformorientierte Leopold, den Weg der Pazifizierung des ungarischen Adels durch die ‚Magyarisierungs- gesetze‘ auf Kosten der anderssprachigen Nationalitäten im Kaisertum Öster- reich. Die Selbstbestimmung der neuen Bürgerschicht durch die Verbindung mit den ursprünglichen, volkseigenen Kunstwerken (vor allem Sprachkunst- werken in der eigenen Nationalsprache) sowie der Anspruch auf eine neue Öffentlichkeit durch ein Nationaltheater sind auch in Ungarn typisch städtische Erscheinungen. Die Förderung einer deutschsprachigen Kultur in Kontrast zur französischen Kulturhegemonie und einer ungarischsprachigen in Kontrast zur deutschen waren beide unter feudalen Verhältnissen zu vertreten. Der Wider- stand gegen die deutschsprachige Administration in Ungarn verkoppelte sich in den späteren Nachbarländern von Ungarn mit dem Widerstand gegen die erzwungene ‚Magyarisierung‘. Das importierte aufklärerisch-kosmopolitische Ideengut der bürgerlich-nationalen Bewegung (Selbstbestimmung für alle Völ- ker) konnte im feudalistischen Vielvölkerstaat Ungarn nur bei einigen Intellek- tuellen dominieren, politisch resultierte daraus aber der Wunsch nach einem Nationalstaat und der Einführung einer Nationalsprache in einer semikolonia- len Situation. Während der späteren aggressiven ‚Magyarisierung‘ wurde ein vielsagendes Detail völlig vergessen, nämlich dass das erste schriftliche Mani- fest aus dem Jahr 1779 mit der Forderung nach einem ungarisch-sprachigen Nationaltheater in deutscher Sprache von einem Offizier der österreichischen Armee in Preßburg veröffentlicht wurde. Die liberale Vorstellung von Gleichheit, Freiheit und Kultur in der National- sprache für alle Völker führte einerseits zur Entdeckung der Volksdichtung, andererseits zur Etablierung des bürgerlichen Nationaltheaters anstelle des Hoftheaters. Die nationale Unabhängigkeit blieb in Ungarn noch lange auf der politischen Agenda. Im Gegensatz zur Deutschen Einheit wurde das Ziel eines Nationalstaates in Ungarn zunächst einmal nicht erreicht und wurde später, infolge der Niederlage im ersten Weltkrieg, als Katastrophe erlebt. Die dünne bürgerliche Schicht in den Städten war infolge der beförderten Immigration nach der Entvölkerung während der langen Türkenherrschaft deutschspra- chig, die meisten Ungarn waren entweder Adelige oder Bauern. Das liberale geistige Klima der Aufklärung wurde in den späteren Phasen der national- staatlichen Entwicklung nicht nur in dem neuen deutschen Staat, sondern auch in Ungarn völlig vergessen. Nach dem Ausgleich im Jahre 1867, um die zerfallende Monarchie zu retten, wird die zahlenmäßig größte ungarische Na- tionalität symbolisch als staatsbildende Nation anerkannt, die Bauern und die anderen Nationalitäten bleiben unterworfen. In der Doppelmonarchie Öster- reich-Ungarn wurde nach dem Ausgleich (1867) die schon im Reformzeitalter der 1830er Jahre vorhandene Assimilationsbestrebung (‚Magyarisierung‘) der Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
216 Éva Tőkei Nationalitäten (von Minderheiten kann wegen ihrer hohen Bevölkerungsanteile gar nicht die Rede sein) noch aggressiver. Nach dem Verlust von zwei Dritteln der Gebiete im Friedensvertrag 1919 verstärkte sich die ethnozentrische (völki- sche) Orientierung. Parallel dazu existierte auch eine progressive künstlerisch- literarische Linie, die sich durch ihre ländliche Orientierung vom urbaneren Blick nach Westen unterschied. Die westlich orientierte städtische Bevölke- rung und die Intellektuellen waren (im Gegensatz zu 1848) infolge der inten- siven ‚Magyarisierung‘ nicht mehr nur deutschsprachig. Die Kluft zwischen Stadt und Land resultierte nicht aus der sprachlichen Zugehörigkeit, sondern eher aus der Standesangehörigkeit: Das Land gehörte zum ungarischen Adel und wurde von Bauern bearbeitet, beide mit feudalen Wertevorstellungen, sich als ‚echte‘ Ungarn verstehend, im Gegensatz zum städtischen Bürgertum mit ausländisch klingenden Namen, die letzteren wurden vom Adel herab- lassend als wirtschaftlich Tätige für minderwertig, von den armen Bauern oder mittellosen Landarbeitern als relativ Wohlhabende für ihre Armut für mitver- antwortlich gehalten. Die Schizophrenie der ungarischen nationalen Entwicklung um die Jahrhundertwende ist ohne Zweifel die Tatsache, dass diejenigen, die die bürgerliche Entwicklung, den Reichtum, der das Auftreten gegenüber der dominanten Hälfte der Doppelmonarchie, also die wachsende Unab- hängigkeitsbestrebung, ermöglichte, zum größten Teil nicht aus dem traditionellen ungarischen Mittelstand stammten, sondern aus den nur teilweise assimilierten jüdischen, deutschen usw. Bevölkerungsschichten. Die verstärkten ungarischen Nationalbestrebungen bezogen sich im Gegensatz zur Gesamtmonarchie-Auffassung auf die ungarische Geschichte, ihre tausendjährige Unabhängigkeit und Tradition. Auch die neue, assimilierende Mittelschicht versuchte, national zu erscheinen. Pest erschien in den Jahren 1870-1880 noch als eine deutsche Stadt, 74% der Bevölkerung war deutschsprachig und nur ein Teil konnte ungarisch, aber zwei Jahrzehnte später konnten nur 6,3% kein Ungarisch (Glatz 1984: 166). In einer semikolonialen Situation ist Ungarn einerseits weiterhin Kolonie, an- dererseits Kolonialmacht. Was für eine ideale Brutstätte für eine Vielfalt von Selbstdefinitionen und Auffassungen von ‚Volk‘ und ‚Nation‘, die dann im 20. Jahrhundert im Schatten des völkischen Kapitels der Wortgeschichte zu völlig entgegengesetzten Varianten führen: Die Volkskultur wird bis heute von rechts und links gleichermaßen beansprucht. In Mitteleuropa kann man die lokalen Nationalismus-Varianten kaum ohne Berücksichtigung der internen Koloni- sation verstehen. Die Friedensverträge nach beiden Weltkriegen und die Ma- chenschaften der Großmächte haben die Situation weiter kompliziert. Die weiterhin nicht ausgelebten Wunschvorstellungen von nationaler Selbstbe- stimmung haben die Tür weit geöffnet für hemmungslose Populisten-Führer, die sehr gut wissen, wie man mit anachronistischen Losungen von unterdrück- ten – dogmatisierten statt analysierten – Revolutionen Stimmen gewinnen kann. Die Vereinnahmung von im ungarischen Diskurs bis heute unantast- baren Werten wie ‚Nation‘ und ‚Volk‘ sowie die anvisierte totale Eroberung der Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Volk und/oder Nation? 217 Institution Theater sind wichtige, obwohl völlig anachronistische symbolische Komponenten der populistischen Machtausübung. Der Zusammenhang zwi- schen den historischen Nation- und Volksbegriffen und dem zeitgenössischen Populismus ist eine globale Erscheinung, umso aufschlussreicher ist die Un- tersuchung der Symbolkraft dieser Elemente an typisch mitteleuropäischen Beispielen. 2. Bartók, Herder und die Politik Das Thema ‚Bartók und die Politik‘ ist nicht nur bezüglich seiner eigenen poli- tischen Agenda relevant (im Rahmen der oben skizzierten Problematik von ‚Volk‘ und ‚Nation‘), sondern noch viel mehr wegen der ideologischen Reaktio- nen der Rezeption einerseits auf die Modernität seiner Musik, in der er Volks- musik und Volkslieder als Komponist frei benutzt, andererseits aufgrund seiner Sammeltätigkeit, wobei er auf absoluter Authentizität des gesammelten Mate- rials besteht (was später zur Kanonisierung führt). Das kompliziert den schon erwähnten par excellence politischen Charakter der Gattung oder, besser ge- sagt, des Projekts ‚Volkslied‘ noch mehr. Die Geburt der Gattung ‚Volkslied‘ ist also der Legitimationsagenda des Bürgertums zu verdanken. Herder hatte sie weder erfunden noch entdeckt, sondern übernahm sie von dem Engländer Thomas Percy. Dieser hatte 1757 bei einem Freund zufällig ein altes Manuskript mit alten (hundert Jahre früher aufgezeichneten) Gedichten gefunden, durchgearbeitet, mit weiteren gesam- melten Liedern ergänzt und 1765 veröffentlicht (Hagedorn 1940: 1). Herders Wortprägung ‚Volkslied‘ (1771) begründete dennoch eine von der englischen abweichende, viel mehr durchpolitisierte, spezifisch mitteleuropäische Tradi- tion, die mit den jeweiligen mitteleuropäischen Deutungsvarianten des Wortes ‚Volk‘ und den gerade aktuellen Konzepten von Nation zusammenhängt. Dabei sind weder Herders noch Bartóks Intentionen noch ihre Spuren Ausnahmen, und die fundamentalen Unterschiede zwischen beiden sollen keineswegs ver- gessen werden. Wissenschaftlichkeitskriterien und Untersuchungsrichtungen sind im 18. und 20. Jahrhundert völlig anders. Herder betrachtete die Texte ohne Musik, während Bartók vor allem die Musik ohne Text untersuchte. In den Schriften sind die ideologischen Aspekte kaum zu übersehen. Beide waren Befürworter des nationalen Projekts, wenn auch auf eine ihren unterschiedli- chen Epochen entsprechende Art und Weise. Beide hatten Formulierungen, die sich, von den Nachkommen aus dem Originalkontext gerissen, oft im Interesse ganz entgegengesetzter politischer Absichten interpretieren ließen. Herders abschätzige Urteile über die gegenwärtige Kultur der Slawen („der Russe [...] ist Sklave um Despot zu werden. [...] hat grobe Ehre“ (Drews 1990: 30) stehen Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
218 Éva Tőkei neben denen über ihre großartige Zukunft und seine Betonung der Gleichbe- rechtigung aller Völker, und beide – völlig entgegengesetzte – Implikationen fanden bei den Nachfahren nachhaltige Resonanz. „Die Interessen des in Westpreußen geborenen, von Montesquieus Staatslehre beeinflussten Herders, keiner der slawischen Sprachen mächtig, verlagerten sich nun allmählich auf das Gebiet der Volkspoesie. Herder stellte bereits 1767 in den Fragmenten fest: ‚Unter Scythen und Slaven, Wenden und Böhmen, Russen und Polen gibt es noch Spuren von diesen Fußstapfen der Vorfahren‘.“ (Drews 1990: 31) Die Historizität von Herders Anliegens, sein Interesse am archaischen Charakter slawischer Kulturen, also sein historisches Interesse, ist der springende Punkt, und was bei den Nachfahren besonders auffällt, ist gerade die diesbezügliche Vergessenheit. Weder Herders, noch Bartóks Perspektive kann ohne den kolo- nialen bzw. postkolonialen Kontext betrachtet werden. In beiden Fällen wird eine aufklärerische Agenda in Gestalt des bürgerlich-libertären Nationalismus (im antifeudalistischen Sinne) verfolgt, wobei die Verflechtungen von Fremdem und Eigenem im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Auch Bartóks Worte wie ‚rassemäßig‘, ‚einzigartige Aufnahmefähigkeit‘ und Integration fremder Einwirkungen seitens des ungarischen Volkes ist zumindest untersuchungsbe- dürftig und klingt leicht nach einer Aufforderung zum Tanz für die Populisten: Wenn auch die ungarischen Bauern einerseits die Eigenheiten ihrer alten Musik bewahrt haben, verschlossen sie sich andererseits nicht vor neueren Entwicklungsmöglichkeiten: dem verdan- ken wir das Entstehen des gänzlich homogenen, von jeder anderen Bauernmusik abweichenden, entschieden rassemäßigen [sic] neuen Stil, der durch starke Fäden mit dem nicht weniger rasse- mäßigen [sic] alten Stil verbunden ist. Die Entstehung und die auffallende Originalität des neuen Stils ist umso erstaunlicher, da die ungarische Bauernmusik unmittelbar vor seiner Entstehung von außerordentlich viel fremden Musikelementen, fremden Melodien durchtränkt war. Dass diese Wirkung fremder Elemente bei der Weiterentwicklung keine verhängnisvolle Wirkung auf die Rasseneigenheit [sic] der ungarischen Bauernmusik hatte, ist der beste Beweis für die Selbstständigkeit und die künstlerische Gestaltungskraft der ungarischen Bauern. (Bartók 1965: 96f.) Ob Implikationen solcher Bemerkungen und die seiner enormen strukturalis- tisch-komparatistischen Tätigkeit und Musikästhetik die wesentlicheren Fak- toren seiner Wirkung sind, ist eine komplizierte Frage. 3. Die Bartók-Rezeption und die Politik Heute gilt Bartók als emblematische Figur der Folklore auch bei denen, die zu seiner Musik gar keine Affinität haben. Seine musikwissenschaftliche Sammel- und Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Volksmusik wurde auch im Real- sozialismus hochgeschätzt, seine frühere nationalistische Motivation mit dem progressiven ästhetischen Emanzipationsprojekt der späteren Jahre verharm- Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Volk und/oder Nation? 219 lost und dadurch sozusagen durch Verschwiegenheit konserviert und aufge- hoben. Die zweifellose Modernität seiner Musik und deren souveräne Behand- lung der Volksmusik scheint jedoch gerade auf den heute gängigen ungarischen Volksliedbegriff gar keinen Einfluss zu haben, der enger gefasst ist als überall sonst. Als ‚Volkslied‘ betrachtet werden im Ungarischen bis heute ausschließlich alte Lieder der ländlichen Bevölkerung von unbekannten Autoren (in deutscher Übersetzung ‚Bauernlied‘), städtische, politische und zeitgenössische Lieder werden ignoriert. Im deutschsprachigen Raum hingegen wurde das wissen- schaftliche Spektrum seit den 1960er Jahren in jeder Hinsicht erweitert. Man kann nicht genug betonen, dass ‚Volkslied‘ keine Gattung im üblichen Sinne ist, indem sie von Anfang an politisch – und auch, obwohl damals noch nicht üblich, auch literatursoziologisch – konzipiert war. Einen strukturell-äs- thetischen Charakter erlangt es erst mit Bartók, aber nicht literarisch, sondern musikalisch. Deswegen ist eine interdisziplinäre Annäherungsweise erforder- lich. Da also ‚Volkslied‘ von Anfang an politisch konzipiert wurde, überrascht nicht, dass das Wort auch im Laufe seiner späteren Karriere so interpretiert wurde, vor allem und am stärksten dort und dann, wo und wann das am hef- tigsten geleugnet wurde und wird. Die Emblematisierung kultureller Phäno- mene, die Negation ihrer Historizität ist durch und durch zeitgebunden. Aus Bartóks morphologischen und strukturellen Systematisierungen können keine ideologischen Schlussfolgerungen gezogen werden, seine morphologischen Untersuchungen untermauern seinen Nationalismus nicht, mögen sie noch so sehr dadurch motiviert worden sein. Die morphologisch-strukturelle Annähe- rungsweise revolutionierte die Volksmusikforschung, diese Methode wurde aber auf sein eigenes Weltbild und die ideologischen Implikationen seiner Be- hauptungen weder von ihm noch von den meisten seiner Verehrer angewendet. Diese bleiben unreflektiert und zugleich kanonisiert. Da ihn ‚Volkslied‘ als li- terarische Gattung gar nicht beschäftigt, haben seine Untersuchungen auch keine literaturhistorische Wirkung. Kulturhistorisch äußerst relevant ist aber, auf welche Art und Weise seine Veredelung der Volksmusik und des Volklieds durch seine Musik und Sammlung bis heute politisch interpretiert werden. Da- bei ist ein gravierender Unterschied im Ausland und in Ungarn zu beobachten. Anlässlich des Bartók-Jubiläums erschienen in Deutschland zahlreiche Zeitungsartikel, die seine komplexe Wirkung auf die Kultur des 20. Jahrhun- derts charakterisieren. Einige thematisieren seine Beziehung zur Moderne, seine Modernität und Progressivität (Köhler 2020), andere seine multikultu- relle Perspektive (Unger 2019). Auch in Ungarn wurde endlich der ideologische Aspekt seines Werkes angesprochen, und zwar sein Nationalismus. Dies ist deswegen wichtig, weil, seitdem Bartók und Kodály die wissenschaftliche Volksliedsammlung etabliert hatten und die Volksliedforschung in Ungarn ganz der Ethnologie und der Musikwissenschaft überlassen wurde, auf diese Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
220 Éva Tőkei Weise literatur- und kulturhistorische sowie ideologische Aspekte bis heute ignoriert werden. Der Stolz auf dieses Erbe gehört zum traditionellen ungari- schen Selbstbild, ohne Berücksichtigung von dessen historischen Gründen und politischen Konsequenzen. Zu den Gründen gehört neben dem in Ungarn verspäteten bürgerlichen Projekt der ‚Nation‘ nicht zuletzt, dass Bartók selbst die Musik analysierte und systematisierte, auch komparatistisch vorging, also auch dem Anspruch der internationalen Perspektive entsprach. Die internationale Anerkennung seines Werkes konnte nicht nur Futter für den nationalen Stolz werden, der mehr oder weniger unterschwellig bis heute zum Selbstbild der Ungarn gehört, sondern auch für die Idee des im Realsozialismus nicht wenig problematisch realisierten Internationalismus. Der Sprung vom Stolz zu populistischer Überheblichkeit, rassistischen Tönen und Xenophobie kann zum Teil mit dem vor der Wende unterschwelligen, danach immer wieder und immer mehr emergierenden Über- leben der völkischen Ideologie erklärt werden. Der renommierte ungarische Musikästhet Dénes Zoltai resümierte am Anfang dieses Jahrhunderts die Phasen der ungarischen Bartók-Rezension (Zoltai 2006) in einem virtuellen Dialog mit dem Soziologen Iván Vitányi in der Form von Reflexionen auf die kulturhistorische Zusammenfassung der fünf Phasen von dem Letzteren. Die fünf Phasen hat Iván Vitányi mit kulturhistorischer Objektivität und (wie Zoltai) als Zeuge zugleich mit biographischer Subjektivität durchaus au- thentisch belegt (Vitányi 2003), und man kann die ideologische und aktuell- politische Prägung der einzelnen Phasen durch die Zeitgeschehnisse klar be- obachten, die auch für die jeweiligen Volksliedkonzepten durchaus relevant sind. Die folgende kurze Zusammenfassung basiert auf ihrem virtuellen Dialog: 1) Die Ablehnung seitens der konservativ-feudalen Nationalisten gegenüber allem Neuen, Fremden und Urbanen, gleichzeitige Begeisterung für Natio- nalromantik. 2) Seit den 1930er Jahren bestehen zwei Bartók-Bilder unter den Verehrern, die der für Ungarn besonders charakteristischen Stadt-Land-Spaltung entsprechend seine Modernität und seinen Folklorismus scharf trennen. 3) Seit 1945 offizielle Kodifizierung von Bartók und Kodály, ausschließlich im Sinne ihres Folklorismus. 4) Seit den 1960er Jahren im Sinne der Öffnung für Bartóks existenzialisti- sche Problematik aufgrund des ‚Neuen Wirtschaftsmechanismus‘ (auch als drittes ungarisches Reformzeitalter bezeichnet) einerseits, seit den 1970er Jahren mit der urbanen, jugendlichen Wiederbelebung der Tanz- kultur (‚Tanzhausbewegung‘ genannt) andererseits, eine allgemeinere, aber immer noch gespaltene Wirkung. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Volk und/oder Nation? 221 5) Nach der Wende mit der generellen Öffnung auf alle Produkte der Kultur- industrie und den damit verbundenen welthistorischen und ökonomischen Tendenzen verlor Bartók seine Symbolhaftigkeit. Statt Symbolfigur der Progressiven wurde er ironischerweise gerade wegen seiner internationalen Anerkennung Futter für den nationalen Stolz. Dies ge- schah parallel dazu, dass auch die Intelligenz ihre relativ privilegierte Positi- on verlor. Was seit der Wende ideologisch im Hinblick auf das ‚Volkslied‘ ge- schah und geschieht, hat weniger mit Bartóks wissenschaftlicher Tätigkeit zu tun, die ja die morphologische Wende der Musikwissenschaft und der Ethno- logie herbeigeführt hat, als mit der Re-Emergenz populistischer Tendenzen. Bartóks ideologische Behauptungen entsprechen seinem nationalistischen Weltbild, aber verkörpern nicht seine Erneuerungen der Methodologie, ohne deren Kontext sie nicht interpretierbar sind. In seiner Musik benutzte er die Volksmusik souverän und schuf ein durch und durch modernes Oeuvre. Mit seiner morphologischen Volksliedforschung und authentischen Sammlertä- tigkeit revolutioniert er die Musikethnologie. Der seitdem in Ungarn domi- nante, klassisch-rigorose, ausschließlich auf Authentizität der Bauernlieder basierende, lebensfremde Volksliedbegriff (nur in der Bevölkerung der seit dem 1920 Vertrag von Trianon an die Nachbarländer abgetretenen Gebiete lebt die Tradition wirklich weiter, gerade wegen der kulturellen Unterdrückung und der damit zusammenhängenden verlangsamten Urbanisierung zum Trotz) steht jedoch im direkten Gegensatz zu Bartóks Modernität. Dieser Aufsatz ist ein erster Versuch, einige Verflechtungen von Nationa- lismus und Volksbegriffen auf Deutsch und Ungarisch zu vergleichen. Weitere komparatistische Untersuchungen anderer mitteleuropäischen Varianten dieser Konzepte könnten für das Verständnis der vielen und manchmal erschre- ckend kurzen Wege vom progressiven Nationalismus zum Populismus, die in dieser Region als nachgerade schicksalhaft erscheinen, durchaus erhellend sein. Literatur: Andras, Bán Zoltán (2005): A magyarok istene – Bartók halálának 60. Évfordulóján [Der Gott der Ungarn – An Bartóks 60. Todestag.] – In: Magyar Narancs (29.9.2005). [26.2.2021]. Bartók, Béla (1965): Das ungarische Volkslied. Ethnomusikologische Schriften. Bd. 1: Das Ungari- sche Volkslied. Hrsg. von Denijs Dille. Mainz: Schott. Conrad, Sebastian (2008): Deutsche Kolonialgeschichte. München: Beck. Drews, Peter (1990): Herder und die Slaven. Materialien zur Wirkungsgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. München: Otto Sagner. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
222 Éva Tőkei Förster, Michael A. (2009): Kulturpolitik im Dienst der Legitimation. Oper, Theater und Volkslied als Mittel der Politik Kaiser Wilhelms II. Frankfurt/M. u.a.: Lang. Frendel, Stephan (1799 [1987]): Entwurf zu einem ungarischen Nationaltheater. – In: Budapest: Magyar Színházi Intézet Glatz, Ferenc (1984) Zene, politikai közgondolkodás, nemzeti eszmények (Társadalmi és kultúr- történeti megjegyzések a Kossuth szimfóniáról) [Musik, politisches Denken, nationale Ideale (Gesellschafts- und hulturhistorische Bemerkungen zur Kossuth-Symphonie)] [26.2.2021]. Hagedorn, Martin (1940): Das Percy-Folio-Manuskript. Studien zur Volksliedforschung, 3. Berlin: de Gruyter. Herder, Johann Gottfried (1877): Über die neuere deutsche Literatur/Fragmente, 1768. – In: Ders., Sämtliche Werke, 33 Bde., Bd. 2. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1-108. Herder, Johann Gottfried (1878): Journal meiner Reise im Jahr 1769 – In: Ders., Sämtliche Werke, 33 Bde., Bd. 4. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 343-461. Köhler, Kai (2020): Volkslied und Moderne. Vor 75 Jahren starb der ungarische Komponist Béla Bartók. – In: Junge Welt 48 (26. Februar), [26.2.2021]. Nusser, Peter (2012): Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Darmstadt: WBG. Unger, Anette (2019): Bartók als Volkslieder-Sammler. BR-Klassik (16.08.2019) [26.2.2021]. Vitányi, Iván (2003): Bartók Béla a XXI. Század Magyarországán. Zoltai Dénes 75. születésnapjára [Béla Bartók in Ungarn im 21. Jh. Zum 75. Geb. von Dénes Zoltai]. – In: Élet és Irodalom (18.7.2003) [26.2.2021]. Zoltai, Dénes (1970): Bartók nem alkuszik [Bartók gibt nicht nach] – In: Világosság (11.11.1970), 663-668. Zoltai, Dénes (2006): Bartók nem alkuszik. (Adalék a Bartók.recepció történetéhez.) [Bartók gibt nicht nach (Beitrag zur Geschichte der Bartók-Rezeption)]. – In: Ezredvég [26.2.2021]. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
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