Vom geSTirn zum geHirn - Max-Planck-Gesellschaft
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Vom Gestirn zum Gehirn Was hält Materie zusammen? Was das Univer- lange Zeit ausgesetzt. Erst kürzlich ging es für das sum? Was macht das menschliche Denken aus? Team der 35-Jährigen, zu dem ein Philosoph, eine Biomedizinerin, zwei Psychologinnen und eine Es waren schon immer die großen Fragen, die Mathematikerin gehören, wieder los. Nur mit Charlotte Grosse Wiesmann vom Max-Planck- Masken und negativem Lolli-Test der Kids, ver- Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften steht sich. beschäftigt haben. Inzwischen untersucht die Forscherin, die eigentlich Physik studiert hat, Charlotte Grosse Wiesmann leitet am Institut die Minerva-Fast-Track-Forschungsgruppe „Meilen- welche Entwicklungen im Gehirn es ermöglichen, steine früher kognitiver Entwicklung“. Sie er- 44 dass Kinder sich in andere hineinversetzen forscht, wann und warum kleine Kinder in der können. Lage sind, sich in andere hineinzuversetzen. Ab wann sie verstehen, dass andere Menschen sich ein Bild von der Welt machen, das von ihrem eige- Text: Catarina Pietschm ann nen auch abweichen kann. Diese mentale Fähig- keit – in der Fachwelt Theory of Mind genannt – ist für das menschliche Zusammenleben unerläss- lich. Entsprechende Defizite, wie sie beispiels- Es ist einer dieser brütend heißen Julitage in Berlin- weise Menschen mit Autismus oder Schizophre- Prenzlauer Berg, an denen man nur Schatten nie haben, führen zu Problemen im Zwischen- sucht. Durch die geöffneten Fenster der Altbau- menschlichen. Theory of Mind ist etwas spezi- wohnung perlen kurze Klangfolgen eines Glo- fisch Menschliches. Selbst andere Primaten ver- ckenspiels. Sie kommen von der nahen Kultur- stehen sich darauf vermutlich nur ansatzweise. brauerei. Eine Wasserkaraffe mit Zitronenschei- Vielleicht kein Wunder, denn die Fähigkeit, sich in ben und Minze steht auf dem Tisch. Charlotte andere hineinzuversetzen, scheint in Zusammen- Grosse Wiesmann schenkt zwei Gläser ein und hang zu stehen mit einer anderen typisch mensch- setzt sich wieder in den Sessel. Ihr Arbeitsplatz ist lichen Fähigkeit: sich sprachlich ausdrücken zu eigentlich das Leipziger Max-Planck-Institut für können. Kognitions- und Neurowissenschaften, wenig mehr als eine ICE-Stunde von Berlin entfernt. „Wenn wir deuten, was ein anderer denken könnte, Zeit, die sie gut nutzen kann, um Fachliteratur zu sagen wir Dinge wie: Er denkt, dass ... Ich wollte lesen oder Artikel zu schreiben. Doch wegen Co- wissen, ob Kinder in dem Alter, in dem sie solche rona arbeitet die Neuropsychologin im Home Satzkonstruktionen erlernen, auch lernen, sich in office. Und das, mit kurzen Unterbrechungen, be- andere hineinzuversetzen“, erzählt die Forscherin. reits seit März 2020. Die Hygienerichtlinien am Um die Aufmerksamkeit der Kinder für die Ver- Institut sind sehr streng. Besonders für For- haltenstests zu wecken, inszeniert sie spielerische schende, die wie sie mit Kleinkindern arbeiten. Situationen. Da packt zum Beispiel eine Plüsch Entsprechende Studien waren – sehr zum Frust maus ein Gummibärchen in eine Tüte und macht ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – für danach ein Nickerchen. „Währenddessen nehmen Max Planck Forschung · 3 | 2021
besuch bei Charlotte Grosse Wiesmann 45 F o t o: Dav i d Ausse r hof e r f ü r M PG Schätzt tiefe Einblicke: Charlotte Grosse Wiesmann untersucht Meilensteine in der kindlichen Gehirnentwicklung, indem sie das Verhalten von Kindern testet und deren Hirnaktivität misst. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Besuch bei wir mit dem Kind das Gummibärchen heraus und das nun zwei wichtige Hirnareale miteinander ver- legen es in eine Kiste. Dann fragen wir das Kind, bindet. Das eine liegt im hinteren Schläfenlappen wo die Maus es wohl suchen wird, wenn sie auf- und hilft uns, über andere nachzudenken. Das an- wacht“, erzählt Grosse Wiesmann. Während Zwei- dere sitzt im Frontallappen der Großhirnrinde und bis Dreijährige ausnahmslos auf die Kiste zeigen, ist vermutlich dafür zuständig, die verschiedenen sagen Vierjährige: in der Tüte. „Sie verstehen also, Ebenen voneinander zu unterscheiden und so die dass die Maus denkt, das Gummibärchen sei noch eigene und die fremde Perspektive auseinanderzu- dort, wo sie es versteckt hat.“ Den Jüngeren gelingt halten.“ Erst wenn diese „Datenautobahn“ vorhan- dieser Perspektivwechsel noch nicht. den ist, gelingt es Kindern, sich in andere hinein- zuversetzen. Die Verbindung entwickelt sich etwa Was ist bei den Älteren anders? Hat sich in ihrem Ge- zeitgleich mit der Fähigkeit, Vermutungen über die hirn etwas verändert? Um dies herauszufinden, Gedanken anderer auch auszusprechen. „Interes- messen die Forschenden unter anderem die Hirn santerweise unterstützt die neue Nervenverbin- aktivität ihrer Probanden, während diese Zeichen- dung diese Fähigkeit ganz unabhängig davon, wie trickfilme anschauen. Dazu nutzen sie Elektroenze gut andere geistige Fähigkeiten – Intelligenz, phalografie (EEG), eine Methode, die elektrische Sprachverständnis oder Impulskontrolle – ausge- Aktivitäten des Gehirns anhand der Spannungs- prägt sind“, betont Grosse Wiesmann. Sie vermu- schwankungen an der Kopfoberfläche misst. „Die tet, dass ein stark ausgeprägter Fasciculus arcuatus Kleinen sitzen dabei meist auf dem Schoß der Mut- der Grund dafür ist, dass manche Menschen be- ter, und wir lenken sie kurz ab, um ihnen die Kappe sonders gut darin sind, sich in andere hineinzuver- Charlotte Grosse Wiesmann forschte in der Teilchenphysik, bevor sie den Weg fand zu ihrem heutigen Thema, dem Gehirn. 46 mit den EEG-Elektroden aufzusetzen“, erzählt setzen. „Dass dies Menschenaffen nicht so gut ge- Grosse Wiesmann. Zusätzlich wird oft noch eine lingt, könnte umgekehrt an einer nur schwächeren Magnetresonanztomografie (MRT) gemacht, die Verbindung liegen.“ die Strukturen des reifenden jungen Gehirns milli- metergenau sichtbar macht. Aber wie bekommt man Das menschliche Gehirn ist ein kleines Universum denn Kinder in die enge Röhre? „Platzangst ken- für sich. Den Weg dahin fand Charlotte Grosse nen sie noch nicht. Bei den Eineinhalbjährigen nut- Wiesmann erst, nachdem sie in einer vollkommen zen wir in der Regel den natürlichen Mittagsschlaf. anderen Welt geforscht hatte – in jener der Quan- Die Eltern kommen dann um die typische Mittags- tenphysik. Daran, dass sie schon sehr früh ein schlafzeit, machen die üblichen Schlafroutinen – Faible für Physik entwickelte, ist ihr Vater, selbst etwas vorlesen oder singen –, und wenn das Kind Physiker, nicht unschuldig. Von einer Reise in die schläft, legen sie es auf die MRT-Liege.“ Für Fünf- USA hatte er ein Teleskop mitgebracht, durch das jährige wird das MRT zum Raumschiff erklärt, in sie abends gemeinsam die Sterne betrachteten. Es dem man einen Film sehen kann. „Sind Kopfhörer folgten Physikprojekte in der Schule und die Teil- und Videobrille erst mal auf, vergessen sie die Um- nahme an „Jugend forscht“. Dafür verfolgte sie ge- gebung schnell“, sagt die Forscherin. Während Mi- nauestens die Bahnen der Jupitermonde und prüfte ckey Mouse oder das freche Eichhörnchen Scrat anhand der Daten die Kepler’schen Gesetze über aus Ice Age Abenteuer bestehen, schauen die For- den Umlauf von kleineren Himmelskörpern um schenden auf den Monitor, auf dem scheibchen- ein Zentralgestirn. Gravitation, Elementarteilchen- weise die Gehirnstrukturen des Kindes erscheinen. physik – mit grundlegenden Fragen der theoreti- „Ab einem Alter von etwa vier Jahren finden wir schen Physik wollte sie sich befassen und schrieb eine stärkere Verbindung über ein bogenförmiges sich an der Universität Hamburg für Physik ein – Nervenfaserbündel – den Fasciculus arcuatus –, und für Philosophie. „In der Schule war ich immer Max Planck Forschung · 3 | 2021
Besuch bei F o t o: M PI f ü r Ko gn i t ions - u n d N eu row i sse nschaft e n 47 Handpuppen als Laborausstattung: Charlotte Grosse Wiesmann wendet spielerische Methoden an, um herauszufinden, wie die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, und die Sprachentwicklung zusammenhängen. Max Planck Forschung · 3 | 2021
Besuch bei Wichtige Verbindung: Der Fasciculus arcuatus (grün) verknüpft ab etwa dem vierten Lebensjahr zwei Hirnareale: eine Region im hinteren Schläfenlappen Gr af i k : M PI f ü r Ko gn i t ions - u n d N eu row i sse nschaft e n (braun), die uns als Erwachsenen hilft, über die Gedanken anderer nachzudenken, und ein Areal im vorderen Groß- hirn (rot), das vermutlich dazu dient, eigene und fremde Perspektiven auseinanderzuhalten. hin- und hergerissen gewesen zwischen geisteswis- einer kurzen Auszeit sah sie sich nach Arbeitsgrup- 48 senschaftlichen und konzeptionellen Fragen in den pen um, die sich mit diesen Themen befassten, und Naturwissenschaften. Und ich dachte, mit dieser stieß auf die Neuropsychologin Angela Friederici, Fächerkombination den Dreh gefunden zu haben, Direktorin am Leipziger Max-Planck-Institut. „Ich beides zu verbinden“, erzählt sie. Als sie für das kontaktierte sie und fragte: Wie wirkt sich Sprache Hauptstudium an die Humboldt-Universität nach auf das Denken aus? So kamen wir ins Gespräch Berlin wechselte, zeigte sich, dass ein Doppelstu- und hatten bald ein Projekt für meine Doktorarbeit dium unmöglich war. Die Physikvorlesungen liefen gefunden.“ am Stadtrand in Adlershof – Philosophieseminare fast zeitgleich in Berlin-Mitte. Auf Fachkonferenzen traf sie wiederholt Victoria Southgate vom Center of Early Childhood Cogni- Dann eben Konzentration auf die theoretische Physik. tion der Universität Kopenhagen. „Ihre Theorie Darauf, wie die Gravitationstheorie mit der Ele- entwicklung war nah an dem, wie ich mir die Dinge mentarteilchenphysik zusammenpasst. Die Studien vorstellte. Als Postdoc zu ihr zu gehen, schien mir stiftung ermöglichte ihr ein Auslandsjahr in Paris, logisch zu sein.“ Die Psychologin bot ihr eine Stelle an der renommierten Ecole Normale Supérieure. an, doch Charlotte Grosse Wiesmann wollte ein Doch konzeptionell zu arbeiten, die großen Zusam- eigenes Forschungsprojekt umsetzen und bewarb menhänge zu finden, wie Charlotte Grosse Wies- sich erfolgreich um ein Marie-Curie-Stipendium mann sich das vorgestellt hatte, war nicht so einfach. bei der EU. Für das Jahr in Kopenhagen verschob Die Doktorarbeit in mathematischer Physik brach sie sogar die Gründung ihrer Minerva-Arbeits- sie nach einem halben Jahr frustriert ab. „Ich war gruppe, für die Angela Friederici sie bereits vorge- im Wesentlichen dabei, Integrale auszurechnen. schlagen hatte. Das war alles sehr technisch, und es schien unend- lich lange zu dauern, bis man all die Theorien er- Kopenhagen! Ein kostspieliges Pflaster, auf dem be- fasst haben würde und selbst schöpferisch tätig wer- zahlbarer Wohnraum Mangelware ist. Schließlich den konnte.“ kam sie in einer WG unter. Ihr eigenes Reich um- fasste ganze acht Quadratmeter. Doch die span- Aber es gab ja noch so viele andere spannende Dinge. nende Forschung und die beruflichen Möglich Wie funktioniert der Mensch? Wie sein Denken? keiten waren es ihr wert, sich einzuschränken. Was Die Philosophie des Geistes. Hirnforschung! Nach Charlotte Grosse Wiesmann nicht ahnte: Kopenha- Max Planck Forschung · 3 | 2021
Besuch bei gen sollte auch privat ihr Leben verändern. Die nerva-Förderung, auf drei Jahre begrenzt. Sie selbst junge Frau wohnte erst wenige Wochen in der Stadt, kann sich danach auf eine reguläre Nachwuchs- als sie einmal auf dem Weg zum Flughafen stran- gruppenleiterstelle bewerben – in der Max-Planck- dete: „Wir mussten aussteigen, und alle drängten Gesellschaft, aber auch anderswo. Langfristig strebt sich um einen Metro-Angestellten, um Informatio- Charlotte Grosse Wiesmann eine Professur an, nen zu erhalten. Ich verstand kein Wort, da ich noch gern im Bereich der Gehirnentwicklung von Klein- kein Dänisch sprach“, erzählt sie. Das blieb nicht kindern. „Es wäre natürlich auch interessant, die unbemerkt. Ein Däne, auf dem Weg in die USA, Erwachsenenforschung dazu zu sehen. Oder die bei trat heran und übersetzte für sie. Gemeinsam such- Menschenaffen. Aber an der Kernfrage – wie ent ten sie im Internet nach Wegen, um den Airport wickelt sich das menschliche Gehirn? – werde ich schnellstmöglich zu erreichen, denn Charlotte dranbleiben“, sagt sie. Grosse Wiesmann war spät dran. Die beiden ver- standen sich gut und ihr Helfer, ein Historiker, der Die Forschung nimmt sie derzeit voll in Anspruch, sich auf die Restaurierung und den Bau von Möbeln deshalb wird ihr Mann den größten Teil der Eltern- verlegt hatte, schlug vor, sich nach seiner Rückkehr zeit nehmen. Auch wenn sie wissenschaftlich völlig zu treffen. „Er wollte mir Kopenhagen zeigen – auf unabhängig arbeitet, schätzt sie es sehr, dass ihr einer Tour zu den besten Bäckereien der Stadt“, er- während der „Minerva-Zeit“ Angela Friederici zur zählt sie lächelnd. Zimtschnecken und Wienerbrød, Seite steht. „Es ist toll, sie als Mentorin zu haben, ein fluffiger Blätterteig, gefüllt mit Vanillecreme denn bei vielen Dingen muss ich noch herausfinden, und/oder allerlei Fruchtigem. Mmmmh, einfach wie der Hase in der Forschung so läuft.“ Nur eines unwiderstehlich! Der Rest ist Geschichte: Sie zogen vermisst sie: die Zeit, sich politisch und gesellschaft- noch in Kopenhagen zusammen. Einen Großteil lich zu engagieren. So wie früher im Alumnipro- der Möbel in der Berliner Wohnung hat inzwischen gramm „Netzwerk Europa“. Eine der Projektreisen jener Däne gebaut, und im Oktober kommt ihr ers- führte sie zehn Jahre nach dem Jugoslawienkrieg tes gemeinsames Kind zur Welt. Ein Mädchen. nach Bosnien-Herzegowina, wo sie sich ein Bild 49 Was sie vermisst: die Zeit, sich politisch und gesellschaftlich zu engagieren, Geflüchtete zu unterstützen oder Podiumsdiskussionen zu organisieren. In zwei Jahren wird sie dann also selbst eine kleine davon machen konnte, wie kulturelle Initiativen „Probandin“ zu Hause haben. Wie praktisch. Wird helfen, Konflikte zwischen den einstigen Bürger- sie das nutzen? „Bestimmt!“, sagt sie lachend. „Es kriegsparteien zu überwinden. „Wir haben Einweg- ist eine gute Möglichkeit, neue Verhaltenstests aus- kameras an die verschiedenen ethnischen Gruppen zuprobieren.“ Bis es so weit ist, wird sie sich um das verteilt, sie gebeten, Fotos von ihrem Alltag zu ma- Fortkommen ihrer wissenschaftlichen Karriere chen, und danach eine Ausstellung organisiert.“ kümmern. Aktuell macht sie sich allerdings mehr Später gab Charlotte Grosse Wiesmann syrischen Gedanken um die Forschung ihrer Mitarbeitenden, Geflüchteten ehrenamtlich Nachhilfe und organi- denn ihre vier Promovierenden konnten wegen Co- sierte Podiumsdiskussionen zu Migrationsthemen. rona in den vergangenen eineinhalb Jahren kaum Aktuell hat sie maximal noch Kapazitäten für ihre Daten sammeln. „Sie stehen enorm unter Druck. Querflöte oder eine Laufrunde. Wegen der Schwan- Die Hälfte ihrer Zeit ist bereits rum, und eine Ver- gerschaft ist sie nun zum Nordic Walking überge- längerung kann ich ihnen leider nicht anbieten.“ gangen. Doch das wird sich bald wieder ändern. Die Mitarbeitendenstellen sind, ebenso wie die Mi- Wie vermutlich so manches andere auch. Max Planck Forschung · 3 | 2021
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