Digitalisierung und Datenschutz in der Sozialen Arbeit
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Alice Neuhäuser Martin Klein Digitalisierung und Datenschutz in der Sozialen Arbeit
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Inhaltsverzeichnis Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alice Neuhäuser & Martin Klein 1. Einleitung 5 Alice Neuhäuser & Martin Klein Digitalisierung und Datenschutz in der Sozialen Arbeit Alice Neuhäuser Köln 2019 2. Charakteristika der Digitalisierung: Disruption und Determinismus 5 ISBN 978-3-00-062444-5 Alice Neuhäuser Copyright © 2019 by Alice Neuhäuser & Martin Klein 3. Politischer Diskurs in Deutschland über Digitalisierung und Datenschutz 14 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung beider Autoren unzulässig. Alice Neuhäuser 4. Freiheit und Menschenwürde im digitalen Zeitalter 18 Katholische Hochschule NRW Wörthstr. 10 Martin Klein 50668 Köln 5. Digitalisierung und Soziale Arbeit? Ja, aber nicht um www.katho-nrw.de jeden Preis. Grenzen und Möglichkeiten digitaler Kooperation mit Adressaten 23 Martin Klein 6. Technik-Akzeptanz in der Sozialen Arbeit 25 Autoren 6.1 Gesellschaftliche Ebene 25 Dr. Alice Neuhäuser ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fach 6.2 Organisationsebene 27 Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster, E-Mail: a.neuhaeuser@katho-nrw.de. 6.3 Einzelfall-Ebene 29 Prof. Dr. Martin Klein ist Professor für Theorien und Konzepte der So- Martin Klein zialen Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster, 7. Fazit und Ausblick 33 E-Mail: m.klein@katho-nrw.de.
1. Einleitung Die Digitalisierung greift Raum. Dem Datenschutz bleibt eine Nische. Und selbst in der Nische wird es für den Datenschutz eng. Die Digitalisierung wird nicht wieder verschwinden,1 sondern prägt inzwischen die politische Sphäre und den beruflichen Alltag in der Sozialen Arbeit. Im Spannungsfeld zwischen Digitalisierung und Datenschutz gewinnt die Digitalisierung trotz deutscher und europäischer Datenschutz-Gesetze und -Verordnungen allzu oft die Oberhand. 2. Charakteristika der Digitalisierung: Disruption und Determinismus „Heute entwickelt sich der ganze Globus zu einem Panoptikum. Es gibt kein Außerhalb des Panoptikums. Es wird total. Keine Mauer trennt das Innen vom Außen. Google und soziale Netzwerke nehmen panoptische Formen an. […] Man liefert sich […] freiwillig dem panoptischen Blick aus. Man baut geflissentlich mit am digitalen Panoptikum, indem man sich entblößt und ausstellt. Der Insasse des digitalen Panoptikums ist Opfer und Täter zugleich.“2 Durch die Digitalisierung wandelt sich alles: wie Menschen leben, wie sie mit anderen interagieren, wie sie arbeiten und konsumie- ren. Der technische Fortschritt diktiert dabei die Spielregeln und die Geschwindigkeit, während die Menschen zur bloßen Anpas- sung an die Veränderungen verdammt scheinen. Eine derart schnelle und umfassende Transformation ist histo- risch einzigartig, weswegen der Begriff von der digitalen Revolu- 5
tion zutreffend ist. Nicht einmal die Industrialisierung, die eben- hundert Jahren wandelten sich die Vorstellungen von Säkulari- falls alle Lebens- und Arbeitsbereiche tiefgreifend umgestaltet tät grundlegend.8 Seither wird nicht mehr auf die Transzendenz hat, eignet sich als Vergleich, da die Weiterentwicklungen „erst rekurriert, sondern auf Immanenz.9 „Anschauungen waren [nun- in deutlich längeren Zyklen“3 – oftmals erst nach Jahren oder mehr] diesseitsorientiert, säkular.“10 Fortan mussten Erfahrungen Jahrzehnten – erkennbar wurden. Binnen der ersten Dekade des und Erlebnisse „nicht mehr in eine existente Ordnung eingefügt dritten Jahrtausends haben sich digitale Innovationen im Alltag werden“11. Somit musste alles registriert werden. „Denn jede Aus- und Berufsleben durchgesetzt.4 Heute führen nahezu alle Men- sonderung einer Wahrnehmung könnte sich später als Fehler er- schen digitale Endgeräte permanent mit sich und sind zudem von weisen.“12 denen ihrer Mitmenschen umgeben. In diesem Zusammenhang Die Informationen und Botschaften auf den Displays sind damit wird selten problematisiert, welche Daten durch eigene oder frem- für viele wichtiger als das Gespräch von Angesicht zu Angesicht. de Geräte unaufhörlich über jeden Einzelnen gesammelt werden. Der Kontakt und die Interaktion zum physischen Gegenüber Smartphones etc. sind nicht vergleichbar mit Werkzeugen aus werden für die Blicke auf das digitale Endgerät und die schnel- dem analogen Zeitalter, da sie Sensoren, Mikrofone und Kame- le Lektüre der erhaltenen Mitteilungen unterbrochen. Die unein- ras besitzen, die pausenlos die Umgebung analysieren.5 Welche geschränkte Konzentration auf das Hier und Jetzt fällt heute Folgen diese Tatsache für die Vertrautheit des Gesprächs hat, schwieriger; die Nutzer sind zunehmend nicht gänzlich da, wo sie hinterfragen die meisten nicht. Bequemlichkeit, Vernetzung und gerade sind, also körperlich präsent, aber geistig abwesend und sozialer Druck sind Gründe, die Risiken im digitalen Zeitalter hin- auf Stand-By-Modus für eintreffende Informationen. Die Technik zunehmen bzw. kleinzureden. Die Augenblicke, Orte und Räume, hat demzufolge den Menschen im Griff, nicht mehr umgekehrt die frei von digitaler Verzweckung sind, sind somit rar geworden. wie im analogen Zeitalter. Es existiert bislang kein Knigge oder Regelwerk über das Mitfüh- Aus der Effizienz und Optimierung von Arbeitsprozessen erwuchs ren oder den Gebrauch digitaler Produkte im Privatleben, Alltag ein Lifestyle der Selbstoptimierung. Verfahren aus der Betriebs- oder Berufsleben. Selbst Berufsgeheimnisträger wie z. B. Anwäl- wirtschaftslehre, die technischen Prozessen gegolten haben, te, Arzte oder Priester können private oder dienstliche digitale werden immer stärker und meist unreflektiert auf Menschen Endgeräte jederzeit weitgehend ungehindert mitführen. übertragen, die dadurch reibungslos und störungsfrei wie techni- Menschen sind nicht gezwungen worden, digitale Erzeugnisse zu sche Gebrauchsgegenstände funktionieren sollen. Zahlreiche An- kaufen und zu verwenden. Sie tun es freiwillig. Vertreter der Tech- wender sehen einen Reiz darin, mit Hilfe digitaler Überwachung Industrie wie Tony Fadell gestehen inzwischen ein, das Suchtpo- Schritte zu zählen, den Puls zu messen oder das Schlafverhalten tenzial digitaler Kommunikation bewusst intendiert zu haben, um zu analysieren.13 Dass hierdurch Millionen von Daten generiert Nutzer abhängig zu machen und den eigenen Profit exorbitant werden und oftmals unklar bleibt, wo diese landen, wird offenbar zu steigern.6 Keine der nahezu im Minutentakt ankommenden ausgeblendet oder hingenommen.14 Nachrichten „lässt sich a priori als irrelevant ausschließen. In ei- ner Welt, in der das säkulare Wissen auf dem Immanenzprinzip gründet, ist alles wichtig, weil es wichtig sein könnte“7. Vor zwei- 6 7
Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die vermeintli- Gesundheitsdaten mittels Wearables zu erzeugen, aus denen che Aussagekraft von durch Daten erzeugten Diagrammen und sich der individuelle Beitrag aufgrund von Bewegung, Ernährung, Belohnungssystemen bei sog. gesundheitsbewusstem Verhalten. Gewicht etc. ermitteln lassen wird. Später droht zudem für jeden „Oft verdrängt die objektivierte Berichterstattung subjektive Kör- die Offenlegungspflicht „aller genetischen und medizinischen pergefühle, und viele Nutzer berichten inzwischen davon, dass sie Informationen“19. Das uns heute noch vertraute solidarische Ge- erst angesichts nicht zufriedenstellender Körperdaten angefan- sundheitssystem wird durch ein Prinzip des permanenten Wett- gen haben, sich schlecht zu fühlen. Das quantifizierende Selbst bewerbs abgelöst. „Leistungs- und Performanzmessungen fußen kann in einen Konflikt mit dem sich fühlenden Selbst treten und [dabei] auf einer reduktionistischen Vorstellung dessen, was als diesem die Deutungshoheit über körperliche und mentale Befind- relevante Leistung anzusehen ist. So findet häufig nur das, was lichkeiten entreißen.“15 Doch wie konnte es binnen kurzer Zeit so quantifizierbar ist, Eingang in die Beobachtungs- und Bewer- weit kommen? „Möglich wurde das durch die Vergötzung der Da- tungssysteme. […] Mit der zahlengetriebenen Inszenierung von ten.“16 Dem digitalen Objekt überhaupt die Macht einzuräumen, Wettbewerb geht darüber hinaus eine Überbetonung oder gar Fe- Handlungsanweisungen zu geben und diese als Person auch tischisierung dessen einher, was in Zahlen ausgedrückt und ver- noch auszuführen, verschiebt das Machtverhältnis zwischen messen werden kann.“20 Die „Quantified Self-Bewegung“ hält alle Mensch und Technik zu Gunsten der Technik. Es konterkariert Ergebnisse, die in Zahlen überführt werden können, für objektiv die Vorstellung vom autonom handelnden und entscheidenden und damit aussagekräftig. Zudem verleiht ihr die kühle Statistik erwachsenen Menschen. Orientierung, während Werte oder Weltanschauungen, die früher die Ausrichtung des Handelns leiteten, an Bedeutung verlieren. Zusätzlich können die Daten mit anderen geteilt werden, wodurch ein Wettbewerb um z. B. die meisten Schritte pro Woche entsteht. Trotz des bereits eingetretenen Wandels, der in weiten Teilen als Dieser Trend und diese Ich-Bezogenheit, die auf die Optimierung disruptiv gekennzeichnet werden kann, stehen wir erst am Anfang des eigenen Körpers gerichtet ist, werden von einem Paradigmen- der Entwicklung. In immer mehr Lebens- und Arbeitsbereichen wechsel in der Medizin begleitet und gesteigert, nach dem nicht verschwinden derzeit analoge, also datensparsame Alternativen die „Kranken geheilt, sondern die Gesunden optimiert“17 werden wie z. B. der analoge Festnetzanschluss, das analoge Kabelfern- sollen. Der Wettbewerb erhält damit zu Lasten des Solidaritäts- sehen, der analoge Stromzähler, die analoge Einkommensteuer- gedankens noch stärker Einzug in den Gesundheitsbereich; der erklärung oder der analoge Fahrschein. Denn „alles, was digitali- Druck auf den Einzelnen, sich diesen neuen Spielregeln zu unter- siert werden kann, wird digitalisiert werden“21, so lautet das Credo werfen, sich also körperlich zu betätigen und dadurch Krankhei- für die Zukunft. Der totalitäre Impetus wird inzwischen selten ten vermeintlich vorzubeugen, wird immer größer. verschwiegen,22 sondern das Ziel der umfassenden und keinen Bereich auslassenden digitalen Transformation klar benannt. Die Gesellschaft unterschätzt die Folgen dieser „Quantified Self- Damit werden alle „gezwungen sein, die mit jeder Lebensregung Bewegung“ und verkennt sie als bloße Spielerei.18 Denn diese erzeugten Daten permanent preiszugeben“23. Entscheidungsfrei- Entwicklung steuert darauf hin, dass es in naher Zukunft keinen heit ist demzufolge ein Relikt aus der Vergangenheit, weil die am Einkommen orientierten Beitrag zur gesetzlichen Krankenver- Erwartungshaltung des Beobachters im Entscheidungsfindungs- sicherung mehr geben wird, sondern jeder gezwungen sein wird, prozess immer miteinkalkuliert wird. 8 9
Die Menschheit kommt der vollständigen Digitalisierung sukzes- und unter traditionellen Verbündeten, überdies der wachsende sive näher, ohne jemals demokratisch darüber abgestimmt zu Populismus und Vereinfachungstendenzen bzw. die Sehnsucht haben,24 ob es sich erstens hierbei um den Wunsch der Mehrheit nach leicht verständlichen Erklärungen im Hinblick auf eine im- handelt und ob es zweitens einen Rechtsanspruch auf analoge mer komplexer werdende Welt. Alternativen geben muss.25 Um das Prinzip der negativen Frei- Doch woher kommt dieser Umbruch und wer löste ihn aus? Ent- heit zu erhalten, könnte damit jedem die Möglichkeit eingeräumt wicklungen lassen sich nie monokausal erklären, doch auch die werden, sich der Veränderung bewusst zu entziehen und an der Digitalisierung und die durch sie ausgelöste Transformationsdy- Digitalisierung nicht partizipieren zu müssen. Darüber hinaus ver- namik müssen als eine entscheidende Ursache benannt werden. liert der Mensch seine Einzigartigkeit, unveräußerliche Position Eine wachsende Zahl an Menschen – inzwischen rund ein Drittel sowie Unantastbarkeit seiner Würde und fällt an die zweite Stelle der Bevölkerung – fühlt sich angesichts der schnellen digitalen hinter die Technik zurück. Denn er wird einerseits immer stärker Transformation im Alltag und in der Berufswelt überfordert, ha- zur Generierung und Offenlegung seiner Daten gezwungen und dert mit den erforderlichen und nicht als freiwillig wahrgenom- andererseits zur bloßen Summe seiner Daten degradiert. „Dem menen Anpassungsprozessen und entwickelt in der Folge eine Dataismus zufolge besteht das Universum aus Datenströmen, Abwehrhaltung gegen diesen schnellen Wandel.31 In einer Erhe- und der Wert jedes Phänomens oder jedes Wesens bemisst sich bung der Initiative D21 gaben 38 Prozent der Befragten an, keine nach seinem bzw. ihrem Beitrag zur Datenverarbeitung.“26 In ei- Bereitschaft zu zeigen, weitere digitale Kenntnisse zu erwerben.32 nem solchen Regime mutiert „Informationsverarbeitung […] zum höchsten Ziel, nach dem der menschliche Geist streben kann“27. Wenn nahezu alles Vertraute und Bekannte innerhalb einer über- schaubaren Zeit einer Veränderung oder Umwälzung unterzogen Der weltweite Diskurs über die Digitalisierung ist von Determinis- wird, „klammern sich Menschen an das, was ihnen Halt gibt“33: mus geprägt. Niemand könne die technische Weiterentwicklung die eigene Identität, „die helfen soll, die Unsicherheit zu kompen- abbremsen oder anhalten. Vielmehr habe sich der Mensch der sieren“34. Aus diesem Grund erleben der Begriff Heimat und die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts anzupassen. Die regionale sowie nationale Identität eine Renaissance und werden Veränderungsdynamik sei ohnehin zu stark, um sich ihr entge- prioritäre Handlungsfelder der politischen Agenda.35 Populisti- genzusetzen. Eine solche Argumentation stellt die Technik nicht sche Kräfte, die Fragen der Identität in Wahlkämpfen gezielt the- nur über den Menschen, sondern auch über die Demokratie. matisieren und zuspitzen, erleben politische Höhenflüge. Gleich- Damit scheint die negative Prophezeiung Realität zu werden, zeitig werden lange unvorstellbar geglaubte politische Voten in wonach „altehrwürdige Institutionen wie Wahlen, Parteien und Europa wie z. B. jenes des britischen EU-Austritts Wirklichkeit. Parlamente obsolet werden könnten, da sowohl Menge als auch Weil der Wandel durch Digitalisierung meist zu abstrakt und Geschwindigkeit der Daten zunehmen“28. In der Folge „könnte die komplex ist, um ihn angemessen in Worte zu fassen, wird heut- Demokratie schwächer werden oder sogar verschwinden“29. zutage von vielen Menschen eher das diffuse Gefühl artikuliert, Eine oftmals wiederholte Zeitdiagnose lautet, „die Welt [sei] aus „aufgrund der rasanten Neuerungen zum Spielball unkontrollier- den Fugen geraten“30. Kennzeichen sind schwindende Gewisshei- ter Mächte“36 geworden zu sein. Dies führt dazu, dass sichtbarere ten und die abnehmende Verlässlichkeit in der Politik insgesamt Veränderungen wie Flucht und Migration nach Europa an der Stel- 10 11
le der temporeichen Umbrüche durch Digitalisierung derzeit zum Neben diesem klaren Ordnungsrahmen sollte der Bevölkerung eskalierenden politischen Streitthema werden. eine Verlangsamung oder Pause der Anpassungsprozesse an die Digitalisierung eingeräumt werden. Ferner muss dem Menschen Wegen der Unsicherheit über die künftigen technischen Entwick- die Entscheidungsfreiheit gewährt werden, inwieweit er analoge lungen sowie die eigenen Anpassungszwänge und der fehlenden Techniken weiter nutzen möchte, was nur durch einen Rechtsan- Vorstellungskraft, wie das eigene Leben durch die Veränderun- spruch auf analoge Alternativen erreicht werden kann. Dies stärkt gen in zehn oder zwanzig Jahren aussehen wird, ist derzeit kei- seine negative Freiheit, da ein nicht unerheblicher Teil der Bevöl- ne positive Zukunftsvision erkennbar. Unbehagen vor dem, was kerung digitale Technik nicht derart umfangreich nutzen möch- kommt, dominiert daher. Unterdessen fliehen Hunderttausende te bzw. kann.37 Über das Ausmaß der eigenen Nutzung digitaler Menschen vor Krieg nach Europa oder betrachten diesen Kon- Technik sollte jeder Einzelne viel stärker kritisch reflektieren, mal tinent als Sehnsuchtsort für ein besseres Leben. Durch Einwan- innehalten sowie Abstinenz wagen, um den durch Digitalisierung derung verändern sich die Aufnahmeländer logischerweise. Die ausgelösten „instrumentellen Umgang“38 mit dem Gegenüber zu Überforderung angesichts der digitalen Transformation erklärt erkennen, und Daten seiner Mitmenschen nicht ungefragt gene- zu einem gewissen Teil die Heftigkeit der politischen Auseinan- rieren, sondern sein Verhalten auf seine Verantwortung und sei- dersetzung mit dieser weiteren und deutlich weniger abstrakten nen Respekt gegenüber seinen Mitmenschen und deren Rechte Veränderung, der Zuwanderung, wodurch die gerade wieder ent- ausrichten. Außerdem muss jeder Rückzugsorte von der Digita- deckten Identifikationsräume wie Nation oder Region einer Belas- lisierung erhalten. Dazu zählt vor allem, in der eigenen Wohnung tungsprobe unterzogen werden und unter Umständen auch kurz vor digitaler Verzweckung geschützt zu sein und sich unbeobach- vor einem tiefgreifenden Wandel stehen. tet fühlen zu dürfen. Die Betonung des Determinismus der digitalen Entwicklung unter- gräbt die Gestaltungskraft der Politik. Da es heute politische Insti- tutionen glücklicherweise (noch) gibt, muss der Primat der Politik wiederentdeckt werden und schnellstmöglich in ein umfassendes Regelungswerk der Digitalisierung münden. Statt die technischen Entwicklungen passiv hinzunehmen, muss ein Rechtsrahmen für ein humanes Leben und demokratisches Gemeinwesen ent- wickelt und klare Gesetze und Grenzen für die Nutzung digitaler Innovationen formuliert und Leitplanken für die digitale Transfor- mation gezogen werden. Damit würden die unantastbare Würde des Menschen gesichert, dieser nicht zum Datenerzeuger degra- diert und demokratische sowie rechtsstaatliche Verfahren erhal- ten und nicht weiter geschwächt werden. 12 13
3. Politischer Diskurs in Deutschland über vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.“42 Digitalisierung und Datenschutz Im Jahr 2019 wirken die Verfassungsbeschwerden gegen die in den 1980-er Jahren geplante Volkszählung anachronistisch. In ei- „Wir brauchen ein positives Verhältnis zu Daten.“39 ner Zeit, in der sich viele freiwillig digital entblößen, ist es schwie- rig nachzuvollziehen, warum eine analoge Totalerhebung über die Die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland Bevölkerung, ihre räumliche Verteilung, soziale und demografi- ist durchaus kritisch gegenüber der Datenerhebung und -verarbei- sche Merkmale breite zivilgesellschaftliche Proteste hervorrief, tung eingestellt, auch wenn sich diese Haltung selten auf das ei- wenngleich die Ergebnisse nicht digital erfasst, sondern nach der gene Verhalten mit digitalen Endgeräten auswirkt. Die Diktaturer- Analyse und Verknüpfung mit Meldedaten in Aktenordnern ab- fahrungen im 20. Jahrhundert haben sich tief in das kollektive geheftet worden wären. Junge Menschen, die damals gegen die Gedächtnis der Deutschen eingebrannt, woraus Skepsis und Vor- Volkszählung demonstrierten, sind jetzt etwa 60 bis 65 Jahre alt. sicht gegenüber staatlicher Macht erwachsen sind. Im digitalen Ihre Stimme gegen die digitale Überwachung erheben sie heut- Zeitalter gründet sich Macht vor allem auf den Besitz von Daten. zutage nicht, obwohl diese nahezu jede Lebenssekunde erfasst Doch nicht in erster Linie der Staat, sondern private Tech-Unter- und verzweckt. nehmen sitzen auf einem unvorstellbar riesigen Datenschatz, Grundsätzlich sind Proteste in Deutschland dann zu erwarten, der sekündlich wächst und durch Filter und Analyseprogramme wenn die Datengenerierung sichtbar ist. Als vor rund zehn Jahren jeden Einzelnen durchschaubar und berechenbar werden lässt. die Wagen von Google durch alle Straßen fuhren und u. a. die Ge- Weil sich Menschen nach eingespielten Routinen verhalten, kann bäudefassaden abfotografierten, regte sich teilweise Widerstand, ihr mutmaßliches zukünftiges Verhalten mittels der vorhandenen der zu einer Widerspruchsmöglichkeit der Bewohner gegen die Daten mit großer Wahrscheinlichkeit antizipiert werden.40 Veröffentlichung der Daten ihres Zuhauses führte. Kritik an der Als Sternstunde des Datenschutzes gilt in Deutschland das Implementierung von Videoanlagen ist ein weiteres Beispiel für Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. De- die Ablehnung der sichtbaren Datengenerierung. Sofern die Er- zember 1983. Aus der Interpretation der Artikel 1 (unantastba- zeugung von Daten nicht offenkundig erkennbar ist, bleiben Pro- re Würde) und Artikel 2 (freie Entfaltung der Persönlichkeit) er- teste aus. wuchs das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Gegenwärtig ist ein Paradigmenwechsel weg von der Forderung Der Grundsatz, jeder soll bestimmen können, wer was wann über nach Datensparsamkeit hin zur Datensouveränität zu erkennen. ihn weiß,41 ist ein Meilenstein epochaler Größe gewesen. Denn Aufgrund der Flut an neuen Daten wurde Datensparsamkeit als „wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, wel- Ziel zurückgestellt bzw. weitgehend aufgegeben. Das neue Kon- che ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen zept lautet: Jeder Einzelne soll stärker als Eigentümer seiner Daten seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen mög- geschützt werden. In diesem Geist ist auch die EU-Datenschutz- licher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen grundverordnung von 2016 formuliert worden. Jedoch ist fraglich, 14 15
ob diese juristische Antwort auf die Digitalisierung die notwendi- eintretende Wohlstandseinbußen als Zukunfts- und Schreckens- ge Akzeptanz für den Datenschutz in der Bevölkerung finden wird. szenario. Insofern ernten Kritiker der Digitalisierung den Vorwurf, Denn vielen – besonders Nicht-Rechtswissenschaftlern – wirkt den Reichtum des Landes zu gefährden. Gleichzeitig gilt den die EU-DSGVO als zu kompliziert und damit nicht alltagstauglich Befürwortern einer schnellen digitalen Transformation ein im sowie als schwierig umsetzbare bürokratische Bürde. Sie schafft internationalen Vergleich hohes Maß an Datenschutz als Inno- neue Unsicherheiten, bis zahlreiche unklare Fragen durch Gerich- vationshemmnis bzw. -bremse. Damit gerät das Grundrecht auf te entschieden sein werden, so dass im Ergebnis keine neue Sen- Datenschutz, also auf informationelle Selbstbestimmung, unter sibilität für Datenschutzthemen zu erwarten ist. Druck. Die Frage nach der Notwendigkeit, darüber hinaus digitale Grund- Aufgrund einer langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs rechte – angelehnt an den Grundrechtekatalog des Grundgeset- und sinkender Arbeitslosenzahlen wirken künftige Umbrüche auf zes – zu etablieren, begann mit einer Initiative von Intellektuellen dem Gebiet der Erwerbsarbeit gegenwärtig nicht als bedrohlich. Ende 2016.43 Sie brachten Vorschläge und Formulierungen für Noch ist unklar, welche genauen Folgen die digitale Transforma- digitale Grundrechte mit der Absicht in den politischen Diskurs tion auf den Arbeitsmarkt und heutige Berufsfelder haben wird. ein, die Datensouveränität der Menschen im digitalen Zeitalter Studienergebnisse fallen sehr unterschiedlich aus und prognosti- zu verbessern und den digitalen Wandel zu verrechtlichen. Ihre zieren teils geringe Arbeitsplatzverluste, teils aber auch den Weg- Charta wurde 2018 überarbeitet,44 mündete aber noch nicht in ein fall ganzer Berufsbranchen.46 bindendes Grundrechte-Dokument. Sie ist wie ein Gesetzestext Eine ernstzunehmende gesellschaftliche Debatte über die Zu- formuliert, was den Vorteil hat, dass sie in dieser Form in den kunft der Arbeit findet nicht statt. Menschen werden also mit Gesetzgebungsprozess übernommen werden könnte. ihren Sorgen um die Zukunftsfähigkeit des eigenen Arbeitsplat- Der Nachteil besteht ebenso wieder darin, dass man mit einem zes allein gelassen. Antworten, ob Massenarbeitslosigkeit durch Gesetzestext selten zahlreiche Menschen und schon gar nicht Automatisierung und Digitalisierung zu erwarten ist, erhalten sie deren Herzen erreichen kann. So bleibt der Datenschutz ein Ni- genauso wenig wie politische Konzepte zur Gestaltung und Ab- schenthema, dem sich nur wenige Interessierte widmen, während schwächung dieser Transformation. Vielmehr heißt es auch hier, in Umfragen eher greifbarere politische Themenfelder wie Woh- nur wer sich anpasse, werde zukünftig erfolgreich sein.47 Eine au- nungsnot, Rente, Pflege, innere Sicherheit und Migration als prio- tonome Entscheidung des Einzelnen bleibt als essenzielle Option ritär benannt werden.45 unerwähnt. Der politische Diskurs in Deutschland über Digitalisierung und Datenschutz ist in weiten Teilen angstgesteuert. Die viertgröß- te Volkswirtschaft der Erde ist eine erfolgreiche Industrienation, weswegen die Frage aufkommt, ob sich diese Industrienation binnen kurzer Zeit in eine wettbewerbsfähige Digitalnation wan- deln kann. Kennzeichen der Debatte sind also unter Umständen 16 17
4. Freiheit und Menschenwürde im Sowohl in den USA als auch in Europa und darüber hinaus in Asi- en befinden sich unvorstellbar große Datenmengen über jeden digitalen Zeitalter Einzelnen in digitalen Datenbanken.54 Das Unternehmen Acxiom beispielsweise „behauptet, Daten von 800 Millionen Menschen zu „Das Konzept der Menschenwürde gerät im wuchernden Goldrausch haben, darunter etwa 44 Millionen Deutsche“55. Jene Informatio- der Datenausbeutung zusehends unter die Räder.“ 48 nen, über die Auskunfteien verfügen, können unmittelbare Auswir- kungen auf die Verwirklichung zahlreicher Lebensentscheidun- gen haben, die ein Mensch treffen möchte wie z. B. die Aufnahme Die digitalen Endgeräte, die sich bei vielen Anwendern großer Be- eines Kredits. Aufgrund der Datenbestände bei den Auskunfteien liebtheit erfreuen, sind oft „made in the USA“. Das Verständnis werden diese ermöglicht oder verwehrt. Die Berechnungsme- von Freiheit, Menschenwürde und Datenschutz diesseits und jen- thode – die Scoreformel – gilt als Betriebsgeheimnis und muss seits des Atlantiks unterscheidet sich grundsätzlich, weswegen weitgehend nicht offengelegt werden.56 Wer einen Kredit nicht ge- europäische Forderungen, die Tech-Industrie des Silicon Valley währt bekommt, kann letztlich nicht vollumfänglich nachvollzie- stärker zu regulieren, keinen Widerhall in den Vereinigten Staaten hen, welche Informationen hierfür ausschlaggebend waren, und erzeugen. erhält keine Auskünfte darüber, wie diese gewichtet wurden.57 In Oberstes Verfassungsprinzip der USA ist liberty, die Freiheit des diesem Zusammenhang ließ eine Studie der ehemaligen Bundes- Individuums, insbesondere vor Einschränkungen durch gesetzli- verbraucherministerin Ilse Aigner aus dem Jahr 2009 aufhorchen, che Regulierungen.49 Der freie Markt und das wirtschaftlich frei wonach rund die Hälfte der Daten nicht richtig waren.58 Die gro- agierende Individuum sind Ausdruck dieses Verständnisses. In ße Macht der Auskunfteien kann einerseits zur Schicksalsfrage Europa ist stattdessen die unantastbare Würde jedes Einzelnen werden. Andererseits sind Ablehnungen aufgrund falscher Da- die Grundbedingung. Die Achtung der Menschenwürde bedeu- ten nicht hinnehmbar.59 Betroffene fühlen sich in beiden Fällen tet – anders als in den USA – damit eben auch den Schutz des ausgeliefert.60 Die Reformen des Bundesdatenschutzgesetztes Einzelnen vor den Bedrohungen durch den ökonomischen Libe- in den letzten Jahren haben zu punktuellen Veränderungen wie ralismus.50 Dem Marktgeschehen Rahmenbedingungen zu set- einer kostenfreien Selbstauskunft und der verbesserten Möglich- zen heißt beispielsweise, Googles Verarbeitung von Daten euro- keit der Datenkorrektur geführt. päischer Bürger zu begrenzen.51 Was in Europa als praktizierter Auch auf dem Feld der Verbrechensbekämpfung soll in Zukunft Verbraucherschutz gefeiert wird, gilt aus US-amerikanischer Per- mit Daten viel stärker operiert werden. Ziel ist es, all jene zu stop- spektive als Handelsbarriere.52 pen, bevor sie zu Verbrechern werden. Aufgrund vorhandener Das Nichtantasten solcher Daten bedeutet, dem Einzelnen mit Daten über einen Menschen wird sein künftiges Verhalten antizi- Respekt vor seiner Würde und Integrität zu begegnen. Die Nut- piert. Parallelen zu anderen Menschen sind die Basis für derartige zung der Daten bedarf der Zustimmung des Betroffenen. Ansons- Prognosen. Besonders problematisch ist, dass das bei zufällig ten betrachtet derjenige, dessen Daten genutzt werden, dies als vorhandenen völlig harmlosen Übereinstimmungen mit Kriminel- Diebstahl. In den USA gibt es dagegen kein Verständnis für Eigen- len in den USA schon heute dazu führen kann, dass sich Betrof- tumsrechte des Menschen an seinen Daten.53 18 19
fene gegenüber staatlichen Stellen rechtfertigen müssen, ohne dass Vertrauen durch (soziale) Kontrolle ersetzt wird.68 Insofern jemals mit dem Gesetz in Konflikt geraten zu sein.61 Ohnehin hat wird es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis es auch sich die Gefahrenabwehr sowohl diesseits als auch jenseits des in Deutschland heißen wird, wir könnten uns der technischen Atlantiks in den letzten Jahren ausgeweitet, ohne dass ein ernst- Entwicklung nicht entziehen und der „Smart State“, wie die Big- hafter politischer oder gesellschaftlicher Diskurs über die Gren- Data-Diktatur euphemistisch genannt wird, sei die effektive und zen staatlicher Aktivitäten stattgefunden hätte. zeitgemäße Gestaltung des Gemeinwesens. Einer solchen Argu- mentation, die von Determinismus geprägt und bestimmt wird, Wie wird sich darüber hinaus das Verhältnis des Staates zu sei- muss ein Riegel vorgeschoben werden. Freiheit, Menschenwürde nen Bürgern durch die fortschreitende Digitalisierung verändern? und Menschlichkeit sind nur zu erhalten, wenn der Digitalisierung Wird das, was in Diktaturen wie China beginnt, eines nicht allzu endlich enge Grenzen gesetzt werden. fernen Tages auch in Demokratien wie Deutschland nicht mehr aufzuhalten sein? China führt gegenwärtig unter dem verschlei- Die Voraussetzung für Würde und Selbstbestimmung ist, dass je- ernden Begriff Sozialkreditsystem eine Big-Data-Diktatur ein.62 der weiß, wer was wann über ihn weiß, so lautet der Grundsatz Alle Einwohner erhalten ein Punktekonto und der Punktestand des Volkszählungsurteils. Besonders schutzwürdig sind die eige- bemisst sich aufgrund der Informationen, die durch permanente nen vier Wände des Menschen. Dieser grundgesetzlich garantier- Überwachung erzeugt werden und in allwissenden Datenbanken te Kernbereich privater Lebensführung gerät durch die Digitalisie- vorliegen.63 Einen hohen Punktestand kann man bei wohlfeilem rung und das Internet der Dinge, durch das alle Gegenstände mit und devotem Verhalten erzielen. Wer diesen erreicht hat, kann dem Internet verbunden werden, massiv unter Druck. Vernetzte beispielsweise mit einer Beförderung rechnen, ein Visum für eine Haushaltsgeräte wie z. B. Kühlschränke, Kaffeemaschinen oder Auslandsreise beantragen oder dessen Kinder können den von Heizungsthermostate generieren aufgrund ihrer Sensoren unauf- ihnen gewünschten Ausbildungsberuf erlernen.64 Wer dagegen hörlich Daten, ohne dass der Mensch dafür noch aktiv werden nur einen niedrigen Punktestand erlangt hat, dem wird etwa ein müsste. Hinterrücks forschen sie den Menschen in seinem Priva- Zugticket für die erste Klasse oder die Reise mit einem Flugzeug testen – seiner eigenen Wohnung – aus, und machen ihn somit verweigert.65 Diese „kybernetische Politik macht die Bürger zu auch außerhalb der Öffentlichkeit vollständig transparent.69 den Komplizen ihrer eigenen Überwachung“66, wobei man in die- Gegenwärtig verschwinden im Bereich der Haushaltsgeräte ana- sen Zusammenhang gar nicht mehr von Bürgern sprechen kann, loge Alternativ-Produkte, weswegen die Forderung nach einem weil alles, was einen Bürger ausmacht, in einem solchen digitalen Rechtsanspruch auf analoge Alternativen dringend politisch un- Totalitarismus verlorengegangen ist.67 terstützt und umgesetzt werden muss. Ähnlich wie bei der „Quan- In Deutschland liegen die generierten Daten aus dem Alltag, dem tified Self-Bewegung“ ernten vernetzte Haushaltsgeräte eher ein Privat- und Berufsleben größtenteils bei Unternehmen, nicht Schmunzeln und der totalitäre Impetus wird selten erkannt, weil beim Staat. Sie sind für die Betroffenen nicht einsehbar, aber sie die Datenerhebung nicht sichtbar ist. existieren ebenfalls, wenn auch (noch) nicht so umfassend und derart stark miteinander verknüpft wie in China. Auch in Europa erleben wir momentan einen Paradigmenwechsel, der dazu führt, 20 21
Auch die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmt 5. Digitalisierung und Soziale Arbeit? zusehends. Dies geschieht nicht nur durch den instrumentellen Umgang untereinander, die omnipräsente Beobachtung des Men- Ja, aber nicht um jeden Preis. Grenzen und schen durch digitale Technik, den Wunsch nach einem technik- Möglichkeiten digitaler Kooperation mit ähnlichen Funktionieren und die körpernah getragenen Gadgets wie Wearables, durch die datenbasierte Vorschläge für das ver- Adressaten73 meintlich gesundheitsbewusste Verhalten generiert werden. Im- mer stärker kommunizieren Menschen durch die Nutzung von Gegenwart und Zukunft des Menschen wurden seit jeher von Sprach-Assistenten mit der Technik und führen Befehle wie Be- technischen Entwicklungen beeinflusst. Die Genese der Technik stellungen oder Reservierungen damit aus. gehört zur Menschheitsgeschichte und wirkt damit immer schon Welche schwerwiegenden Folgen für die menschliche Kommuni- auf die kulturelle, soziale und politische Umwelt ein.74 Ohne Tech- kation zu erwarten sind, zeigte die sog. Cyber-Romanze „Her“ aus nisierung wäre der Mensch ein ziemlich unauffälliges Tier.75 Für dem Jahr 2013. Der Hauptprotagonist verliebte sich scheinbar in Hans Blumenberg ist Technik einfach „ein Universum von Dingen die Stimme einer Software; in Wirklichkeit verlor er die Fähigkeit […], die um uns herum funktionieren“76. Er interessierte sich vor der menschlichen Kommunikation. Denn die Auswertung seiner allem für den Prozess der Technisierung. Mit seiner begrifflichen Persönlichkeit mittels digitaler Analyse hat ergeben, was er in je- Genügsamkeit bezeichnet er damit den Übergang zur Technik der Sekunde vermeintlich hören wollte. Und die Software wurde und den Prozess der ständigen „Vermehrung und Verdichtung entsprechend programmiert, die in der Folge haargenau das sa- dieser Dingwelt“77. Dabei geht es ihm um die Stellung des Men- gen ließ, was der Protagonist wünschte. schen zur Technik, der Antinomie von Lebenswelt und Technisie- rung und der Entfremdung oder der Herrschaft der Technik über Eine derart konfliktfreie Kommunikation ist jedoch weder möglich den Menschen.78 noch erstrebenswert, sofern sich zwei Menschen unterhalten. Denn ihrer Kommunikation wohnt keine „maschinelle, operationa- Für Blumenberg entspringt die Technisierung aus der Spannung le Sprache, der jede Amivalenz fehlt“70, inne. Normal ist es, dass zwischen einer unendlich theoretischen Aufgabe und der vorge- ein Gesprächspartner z. B. Wörter benutzt, die er für neutral hält, fundenen „Daseinskapazität“79 des Menschen. Technik ist nicht sein Gegenüber aber vielleicht mit dem Erleben einer sehr posi- mehr nur noch Instrumentarium der Daseinssicherung, sondern tiven oder sehr negativen Erfahrung in Verbindung bringt, was wird zu einem Moment der Selbstverwirklichung, der neue Bedürf- zur Folge hat, dass die Aussage anders aufgenommen wird als nisse direkt mit produziert.80 intendiert.71 Das „Nicht-Verstehen“72 ist somit ein zwingender Teil In der Menschheitsgeschichte sind vor allem die „Quantensprün- des Verstehens. Durch die Mentalität der Effizienz wird alles, was ge“ in der technischen Entwicklung interessant, weil sie enorme nicht reibungslos funktioniert, zur Störung. Zwischenmenschliche Auswirkungen auf den Menschen und die Umwelt zeigen. Daher Kommunikation wird also durch die Digitalisierung instrumentell. wird in diesem Zusammenhang häufig der Begriff der Revolution verwendet. Das gilt für die neolithische Revolution in der Steinzeit 22 23
genauso wie für die industrielle Revolution des 18./19. Jahrhun- 6. Technik-Akzeptanz in der Sozialen Arbeit derts. Gegenwärtig erscheint es plausibel, von einer digitalen Re- volution zu sprechen. Blumenbergs gelassene Technik-Definition ist pragmatisch, all- Wie sieht es mit der Technik-Akzeptanz im Bereich der Sozialen gemein, aber damit auch vage. Für die Diskussion in der Sozi- Arbeit aus? In einer deutschlandweiten repräsentativen Befra- alen Arbeit kann zur Konkretisierung die Unterteilung von Renn gung zum Thema Digitalisierung haben sich die Befragten, die in und Zwick ergänzt und angepasst werden.81 Sie unterteilen den einem Wohlfahrtsverband arbeiten, eher der technikdistanzierten Technikbegriff in die drei Anwendungsbereiche externe Technik, Seite zugeordnet. In deutlichem Kontrast hierzu befinden sich die Konsumtechnik und Technik am Arbeitsplatz. Diese drei Anwen- Befragten, die eine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung dungsbereiche unterscheiden sich u. a. bezüglich der Akzeptanz absolviert oder aber angegeben haben, in der Industrie beschäf- in der Öffentlichkeit. Während externe Technik wie z. B. Kraft- tigt zu sein.83 Woher kommt diese mehrheitlich kritische Haltung werke, Mobilfunkantennen oder das Projekt zur automatischen in den Wohlfahrtsverbänden? Warum bewerten sich die Fachkräf- Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz häufiger ge- te dort eher als technikdistanziert und weniger als technikzuge- sellschaftliche Widerstände auslösen, erfährt die Konsumtechnik wandt? und die Technik am Arbeitsplatz eher Zustimmung.82 Ausgehend von den drei oben beschriebenen Anwendungsberei- chen der Technik könnte es für das Thema Digitalisierung (in) der Sozialen Arbeit hilfreich sein, diese Dreiteilung zu übernehmen und anzupassen. Exemplarische Gründe für eine eher technikdi- stanzierte Haltung werden nachfolgend für das Thema Digitali- sierung (in) der Sozialen Arbeit auf der gesellschaftlichen, der Organisations- und der Einzelfall-Ebene skizziert. 6.1 Gesellschaftliche Ebene Die Technisierung erzwingt nach Blumenberg rücksichtslos die Anpassung der „mangelhaften“ Natur an ihre Anforderungen.84 Diese Perspektive findet sich aber nicht nur in der philosophi- schen, sondern auch der in der soziologischen Theorietradition. William F. Ogburn, ein Pionier der Technikfolgenabschätzung, hat technische Innovationen als nicht aufhaltbar beschrieben und daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass Gesellschaften zu Anpassungsleistungen gezwungen sind. Damit wird unterstellt, 24 25
dass die technische Entwicklung der gesellschaftlichen Reakti- ras, die Kinderzimmer, Haustüren, Flure etc. überwachen, sollen on immer einen Schritt voraus ist. Dies führt zu einem „cultural dem eigentlichen Schutz der Privatsphäre dienen und können lag“.85 Institutionen, Werte, Normen, Organisationen („immateri- durch diese panoptische Machtasymmetrie das Gegenteil bewir- elle Kultur“) können mit dem schnellen technischen Fortschritt ken.87 nicht mithalten. Aus dieser zeitlichen Asymmetrie können auch durch die Digitalisierung soziale Probleme und Konflikte wie z. B. Arbeitslosigkeit, Benachteiligung, Ausgrenzung und Diskrimi- 6.2 Organisationsebene nierung entstehen. Die Fachkräfte der Sozialen Arbeit arbeiten Organisationen haben drei unterschiedliche Seiten.88 Von außen überwiegend reaktiv mit den Adressaten daran, wieder Zugang nimmt man in der Regel die Schauseite der Organisation wahr. zu Chancen der Selbstbestimmung und Selbstachtung zu erhal- Mit dieser Schauseite oder Fassade zeigt eine Organisation, wie ten. Diese Erfahrungen können Auswirkungen auf die Haltung der sie gerne gesehen werden will. Vom Corporate Design über die Fachkräfte in der Sozialen Arbeit zur Digitalisierung haben. Internetseite bis hin zu den Flyern, Leitbildern und der Öffentlich- Die Störanfälligkeit der Infrastruktur könnte einen weiteren Grund keitsarbeit versucht eine Organisation, Qualität, Professionalität für eine eher technikdistanzierte Haltung der Fachkräfte der So- und Attraktivität zu zeigen. Jede Organisation der Sozialen Arbeit zialen Arbeit darstellen. Wer jemals die Internetseiten Shodan, wird nach außen betonen, wie wichtig ihr der Datenschutz ist, Opentopia, Insecam etc. gesehen hat, weiß, wie einfach es ist, dass sie alle Gesetze und Regeln einhält und trotzdem innovativ die Web- oder Überwachungskameras, Lichtsteuerung, Cloud- ist. Festplatten oder Heizungsthermostate von Smart-Home-Haus- Auf der formalen Seite der Organisation wird dann der Umgang halten anzuschauen. Es bleibt allerdings nicht immer nur bei der mit dem Datenschutz festgelegt. Jeder Mitarbeiter muss sich ver- Zuschauerperspektive. Mit etwas krimineller Energie lassen sich pflichten, diese Vorgaben einzuhalten. Die Kommunikation zu den diese Geräte auch von außen steuern. Zahllose Videos belegen, Kostenträgern und zu den Adressaten darf – häufig sogar aus- dass ahnungslose Smart-Home-Besitzer durch das für sie nicht drücklich – nicht über alltäglich verwendeten Apps und Program- nachvollziehbare kontingente An- und Ausschalten ihrer Radios, me laufen. Wenn diese Vorgaben nicht eingehalten werden, kann Fernseher, des Lichts oder der Jalousien durchaus Unterhal- man nicht Mitglied der Organisation bleiben. Bei Bekanntwerden tungswert entfalten können. Auf diesen Seiten lassen sich sogar der Nichteinhaltung gibt es die Schrittfolge Ermahnung, Abmah- Kraftwerke, Krankenhäuser, Wasserversorgungs- oder Verkehrs- nung und letzten Endes die Kündigung. Diese Mitgliedschaftsbe- systeme überwachen und teilweise sogar steuern. Die feindliche dingungen gehören zur formalen Struktur der Organisation. Übernahme und Fremdsteuerung des Internets der Dinge ist nicht nur denkbar, sondern wird bereits praktiziert. Diese Anfälligkeit ist Hier kommt die dritte Seite der Organisation ins Spiel, die nicht auf eine Folge der fortschreitenden Digitalisierung. Michel Foucault der Schauseite und nicht in der formalen Struktur zu finden ist. hat diese Dimension nicht mehr erlebt, obwohl er mit dem Begriff Ein Teil der Organisationsstruktur kann als Informalität bezeich- „Panoptismus“ die zunehmenden Überwachungs- und Kontroll- net werden, wenn eine Handlung mit einer gewissen Regelmäßig- mechanismen und die daraus resultierende soziale Konformität keit von der Formalstruktur abweicht.89 Dies ist vor allem dann des Individuums sehr treffend beschrieb.86 Die unzähligen Kame- der Fall, wenn es um Einstellungen oder Haltungen geht. Orga- 26 27
nisationen der Sozialen Arbeit sind häufig mit widersprüchlichen 6.3 Einzelfall-Ebene Anforderungen konfrontiert. Diese lassen sich aber nicht formal Die Soziale Arbeit forciert ihren Blick seit den 1970-er Jahren ver- regeln. Ein vierjähriges Kind in einer Wohngruppe der Jugendhil- mehrt auf die Lebenswelt bzw. den Alltag ihrer Klientel,93 so dass fe, das seine räumlich weit entfernte Mutter sehen und sprechen von einer Hinwendung der Sozialwissenschaften zum Alltag ge- will, trifft bei den zuständigen Fachkräften auf viel Verständnis. sprochen wurde.94 Spätestens mit dem achten Jugendbericht der Dies trifft auch für die Mutter zu, die die Fachkräfte bittet, ihrem Bundesregierung wurde die sogenannte Lebensweltorientierung Kind ein Smartphone oder Tablet in die Hand zu geben, damit sie zu einem wichtigen Qualitätskriterium der Sozialen Arbeit.95 miteinander skypen können. Formal müssten die Fachkräfte die- sem Wunsch eine Absage mit dem Hinweis auf den Datenschutz Gegenwärtig gibt es eine zeitliche, räumliche und soziale Durch- erteilen. Gleichzeitig haben sie den Auftrag des Jugendamts, die dringung dieses Alltags mit Medien.96 Soziale Netzwerke und mo- Mutter-Kind-Beziehung zu stärken. In nicht wenigen Fällen wird bile Medien sind Teil des Alltags der Adressaten und Fachkräfte. hier die Entscheidung zu Gunsten des Wunsches der Mutter und Eine Reihe von komplexen technischen Programmen gestalten des Kindes getroffen, obwohl dies formal untersagt ist. Die zu- die Alltagserfahrungen in einem Maße wie in keiner früheren Epo- ständigen Leitungskräfte und die Fachkräfte des Kostenträgers che. Über die Mediatisierung in der Sozialen Arbeit oder die Aus- werden „offiziell“ nichts erfahren (wollen) und dieses Vorgehen wirkungen der Smartphone-Allgegenwart und -Abhängigkeit gibt im Sinne einer „brauchbaren Illegalität“90 dulden. Ein Rechtferti- es zahlreiche Veröffentlichungen.97 Wie bereits oben beschrieben, gungszwang entsteht erst, wenn dieses offiziell angefragt wird. erfahren diese Angebote der Konsumtechnik eher Zustimmung. Interessant ist, dass darüber nicht kommuniziert werden kann. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass die Monetarisierung Weder die Leitungskräfte noch die Fachkräfte können und wol- des Alltags das große Ziel vieler digitaler Geschäftsmodelle ist.98 len dieses Thema ansprechen, ohne in ein Dilemma zu geraten. Viele Technologiekonzerne versuchen, mit häufig gratis angebo- Niklas Luhmann bezeichnet dies als „Kommunikationslatenz“91. tenen Programmen möglichst viele Daten zu sammeln, um aus Das schlichte Problem besteht darin, dass eine entsprechende diesen gesammelten Datenmengen neue Erkenntnisse zu gewin- sichere Technik für den Arbeitsplatz nicht vorhanden ist. Die Pro- nen. Nicht ohne Grund wird dies als Daten- oder auch Überwa- gramme, die Softwareanbieter entwickeln, passen nicht zu den chungskapitalismus beschrieben.99 hohen Datenschutzanforderungen für die digitale Kooperation mit Adressaten der Sozialen Arbeit. Umgekehrt zeichnet sich die Dieser Datenkapitalismus lässt sich am einfachsten mit einem Praxis häufig durch eine gewisse Überforderung aus. Selbst bei Beispiel konkretisieren. Der Facebook-Gründer und Eigentümer den Organisationen, wo eine gewisse Techniknähe vorhanden von WhatsApp und Instagram Marc Zuckerberg sagte 2010 in ei- ist, scheitern eigene Entwicklungen oft an den Ressourcen und nem Interview, dass Privatsphäre nicht länger die soziale Norm am Know-how. Zudem ist das Thema mit Angst besetzt, oft wird sei. Seinen Diensten wurde seitdem oft vorgeworfen, die Privat- gesagt: „Bevor wir da etwas falsch machen, machen wir lieber sphäre gezielt auszuhebeln, um damit zusätzliches Geld durch nichts.“92 Werbung verdienen zu können. Die Belege sind zahlreich. In 2018 wurde bekannt, dass das britische Unternehmen Cambridge Ana- lytica auf regelwidrige Weise an 87 Millionen Datensätzen von 28 29
Facebook-Mitgliedern gelangt ist. Darüber hinaus wurde das so- In der Sozialen Arbeit geht es in der Zusammenarbeit von Ad- ziale Netzwerk Opfer eines Hacking-Angriffs, bei dem Informati- ressaten mit den Fachkräften in der Regel um tragfähige Bezie- onen von 30 Millionen Nutzern in „unbefugte Hände“100 gerieten. hungen auf mehreren Ebenen (u. a. intra-/interpersonelle Ebene, professionelle Hilfeebene, Netzwerkebene). Eine weitere hier Die Sorge um die Datensicherheit steigt mit der Bildung und den besonders interessante Beziehungsebene ergibt sich durch die Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen: Die Furcht Möglichkeiten der digitalen Kommunikation. Tragfähige Bezie- vor Kontrollverlust ist bei Personen, die sich selbst sozial ober- hungen auf der digitalen Ebene ändern die orts- und zeitunab- halb der Mitte einordnen, stärker verbreitet als bei Personen, die hängige „Kommunikation und Formen der Kontaktaufnahme im sich unterhalb der Mittelschicht einordnen. Vor allem aber sehen Vergleich zum Realraum“104. die Intensivnutzer des Internets die Autonomie ihrer Daten in Ge- fahr.101 Aus den berufsethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit werden Richtlinien für das berufliche Handeln abgeleitet, die auch für Am Beispiel der seit einigen Jahren praktizierten Online-Bera- die digitale Beziehungsebene gelten. Adressaten offenbaren den tungsangebote lässt sich die Sorge um die Datensicherheit gut Fachkräften intimste und privateste Informationen unter der Vor- veranschaulichen.102 In der Onlineberatung geht es um sehr sen- aussetzung, dass diese vertraulich behandelt und nicht ohne ihre sible personenbezogene Daten. Daher ist es erfreulich, wenn z. B. Einwilligung an Dritte weitergegeben werden.105 „Sozialarbeiter_ die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit innen sollten redlich handeln. Dies beinhaltet: keinen Missbrauch Anforderungen an diese Online-Beratungsangebote definiert.103 der Vertrauensbeziehung der Menschen, die ihre Dienste nutzen, Wie in der analogen Beratung muss auch in der digitalen Beratung Anerkennung der Grenzen zwischen privatem und beruflichem mit Adressaten ein sehr hohes Schutzniveau der Vertraulichkeit Leben, keine Ausnutzung der Stellung zu persönlichem Vorteil zu Grunde gelegt werden. In diesen Anforderungen wird festge- oder Gewinn“.106 legt, dass für ein angemessenes IT-Sicherheitsniveau dieser Soft- ware eine Risikoanalyse durchgeführt und ein Sicherheitskonzept Ein Missbrauch der Vertrauensbeziehung liegt vor, wenn staatlich auf der Basis einer anerkannten Methode erstellt werden müssen. anerkannte Fachkräfte der Sozialen Arbeit ihre Schweigepflicht Eine anerkannte Methode ist der IT-Grundschutz des Bundesam- (§ 203 StGB) verletzen. Dazu zählt das unbefugte Offenbaren des tes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Dies sollten persönlichen Wissens, das ihnen in ihrer beruflichen Funktion an- Organisationsverantwortliche vor Einsatz einer entsprechenden vertraut oder bekannt geworden ist. Diese gesetzliche Regelung Software sorgfältig prüfen. Durch eine Analyse der bisherigen An- schützt die Privatsphäre vor einer unbefugten Weitergabe durch bieter in diesem Markt lässt sich jedoch feststellen, dass Über- sogenannte Geheimnisträger. Die Fachkräfte der Sozialen Arbeit prüfungen auf diesem Niveau fast nicht stattfinden. Das Sicher- sind im Gesetz explizit genannt. heitsniveau wird häufig sogar in einer charmanten Dreistigkeit nur Zudem entspricht dies auch dem Grundsatz der Datensparsam- von dem jeweiligen Softwareanbieter versprochen. Die Definition keit oder Datenminimierung, wie er in der EU-Datenschutzgrund- von Schutzzielen und die Risikobewertung werden operativen IT- verordnung verankert ist. Die Erhebung, Verarbeitung und Nut- Dienstleistern überlassen, obwohl es im rechtlich vorgegebenen zung personenbezogener Daten und die Auswahl und Gestaltung Rahmen eine Aufgabe der Sozialen Arbeit selbst ist. 30 31
von Datenverarbeitungssystemen sind an dem Ziel auszurichten, 7. Fazit und Ausblick so wenige personenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen. Die Organisationsleitung ist zum Da- tenschutz durch Technikgestaltung verpflichtet und muss geeig- Wie können die Möglichkeiten der Digitalisierung unter Berück- nete technische und organisatorische Maßnahmen treffen, die sichtigung der fachlichen Anforderungen der Sozialen Arbeit ge- sicherstellen, dass nur solche personenbezogenen Daten verar- nutzt werden? Hier ist es an der Zeit, sich an die eigene Nase beitet werden können, deren Verarbeitung für den jeweiligen be- zu fassen. Es drängt sich die Frage auf, beteiligt sich die (Wis- stimmten Verarbeitungszweck erforderlich sind (§ 71 BDSG). senschaft der) Soziale(n) Arbeit in Deutschland proaktiv an der Die Anerkennung der Grenzen zwischen privatem und berufli- Entwicklung geeigneter Technik am Arbeitsplatz, oder überlässt chem Leben bezieht sich bei der digitalen Kommunikation auf sie dies anderen Disziplinen oder fachfremden Unternehmen? eine Unterscheidung zwischen privat genutzter Konsumtechnik Hochschulen für Soziale Arbeit müssen zusammen mit Organi- und der Technik am Arbeitsplatz. Auch wenn die Kommunikati- sationen aus der Praxis Kooperationen zu anderen eher techni- on im Alltag häufig über WhatsApp, Skype oder E-Mail läuft und schen Hochschulen aufbauen, die über das nötige Technik-Wis- ohne Zweifel sehr komfortabel ist, muss die Nutzung der genann- sen und die Praxispartner im technischen Bereich verfügen. Im ten Kommunikationswege trotzdem als ein Missbrauch von Ver- Netzwerk können sie von den fachlichen Anforderungen ausge- trauensbeziehungen bewertet und einer Nichtanerkennung von hend gemeinsam die notwendigen Werkzeuge zur digitalen Ko- Grenzen des privaten und beruflichen Lebens bezeichnet werden. operation entwickeln. Langfristig wäre es wünschenswert, wenn Fachkräfte der Sozialen Arbeit zahlen einen hohen Preis, weil sie die Organisationen der Sozialen Arbeit jeder Fachkraft das geeig- damit gegen berufsethische Prinzipien verstoßen und somit un- nete Werkzeug bzw. die geeignete Technik am Arbeitsplatz zur professionell und rechtswidrig arbeiten. Verfügung stellen, damit digitale Kooperation möglich wird. So könnte in Kooperation mit einem Hardwarehersteller ein Smart- phone eingekauft werden, das von externen und unabhängigen Expertenorganisationen wie z. B. dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) bezüglich der Datensicherheit überprüft wird. Auf diesem Gerät müssten dann sichere, eben- falls extern und unabhängig geprüfte Kommunikationsangebote im Bereich Messenger, Mail, Telefon und Videoberatung vorins- talliert sein, die „zustandslos“ sind. Zustandslose Systeme kön- nen nicht speichern, sondern ermöglichen lediglich eine sichere Verbindung über eine Peer-to-Peer-Verbindung. Damit würde die Trennung von Privatem und Arbeit ermöglicht werden. Zum einen würden sich die beruflich genutzten Geräte von den privat genutz- ten Geräten unterscheiden und nebenbei hätten die Fachkräfte 32 33
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