Von der Notwendigkeit einer "geistlichen Triage" - Der Absolutheits- und Wahrheitsanspruch Jesu und die Postmoderne - Zeit & Schrift

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Von der Notwendigkeit einer "geistlichen Triage" - Der Absolutheits- und Wahrheitsanspruch Jesu und die Postmoderne - Zeit & Schrift
Aktuelles

Von der Notwendigkeit einer
»geistlichen Triage«
Der Absolutheits- und Wahrheitsanspruch Jesu
und die Postmoderne

                                          D    as Glaubensbekenntnis der
                                               Postmoderne lautet, dass alle
                                          Erkenntnis relativ ist, es absolute
                                                                                   solutheitsanspruch zu schleifen.
                                                                                   Sie bedeutet vielmehr – entspre-
                                                                                   chend dem ursprünglichen Wort-
                                          Wahrheit nicht gibt und alle Wahr-       sinn – anderslautende Überzeu-
                                          heiten gleichberechtigt nebenein-        gungen, also auch solche, die man
                                          anderstehen. Wahr ist, was funk-         missbilligt, zu ertragen.
                                          tioniert oder guttut. Toleranz ist          So wie wir es von einem Athe-
                                          demnach, alles gleich gut oder           isten, der ernst genommen wer-
                                          gleich schlecht zu finden, und da-       den will, erwarten dürfen, dass er
                                          mit eigentlich Indifferenz. Mission      die Vorzüge eines Lebens ohne
                                          ist unter diesem Blickwinkel ein         Gott preist, so bezeugen Chris-
                                          No-Go, Ausdruck von Anmaßung             ten gegenüber einer glaubenslo-
                                          und Unaufgeklärtheit.                    sen Welt, was sie in Jesus gefun-
                                             Jesus hingegen sagt in Joh 14,6       den haben, wie er ihrem Leben
                                          unmissverständlich: »Ich bin der         Sinn gegeben, sie aus trüben Bin-
                                          Weg und die Wahrheit und das Leben.      dungen befreit und ihnen Gott als
1 Zum Verhältnis von Wahrheit und
                                          Niemand kommt zum Vater als nur          Vater bekannt gemacht hat! Chris-
  Macht äußert sich sehr pointiert        durch mich.« Dieses Wort könnte          ten kämpfen nicht das Rückzugs-
  Paul Bruderer, »Das Postmoderne         dem postmodernen Mindset ent-            gefecht, wonach Jesus zum kleinen
  Dilemma mit Wahrheit und Macht«:        gegengesetzter nicht sein. Nimmt         »Haus­erlöser« degradiert wird, der
  »Wir haben Angst, dass Wahrheits-
  ansprüche zu Machtmissbrauch            man diese Worte ernst, ist Jesus         seinen Anspruch nur gegenüber
  und Gewalt führen. Die postmo-          kein frommer Sozialarbeiter, der         seinen Anhängern geltend macht,
  dernen Denker haben das Problem         von seinen Nachfolgern postum            sondern halten an Jesu Anspruch,
  erkannt und schlagen eine Lösung
  vor: Wir sollen die Idee einer einzi-   hochgejubelt und von der Kirche          den die ersten Christen so wun-
  gen Wahrheit aufgeben. Letztlich        zum Zwecke der Macht überhöht            derbar im Symbol des Fisches zum
  halten sie an der Macht fest und ge-    wurde.1 Oben zitierter Satz macht        Ausdruck brachten, fest: »Ichthys«
  ben die Wahrheit auf. Jesus Christus
  geht genau den umgekehrten Weg:
                                          unmissverständlich klar: Für alle        – Jesus Christus, Gottes Sohn und
  Er lässt seine Macht los und hält an    Menschen gilt, dass das Heil exklu-      Erlöser! Einstweilen, bis zur Wie-
  der Wahrheit fest. Die Auswirkun-       siv in Jesus zu finden ist, nur er ist   derkunft Jesu, lieben sie ihre glau-
  gen sind ungeahnt groß!« https://
                                          der von Gott verheißene Retter, ist      benslosen oder andersgläubigen
  danieloption.ch/gesellschaft/
  pluralismus/das-postmoderne-            wahrer Mensch und wahrer Gott!           Freunde, Nachbarn und Kollegen
  dilemma-mit-wahrheit-und-macht/            Christliche Toleranz kann dem-        ungeachtet dessen, was sie glau-
  (Rechtschreibung modifiziert).          nach nicht bedeuten, diesen Ab-          ben oder rauchen, wie ein bekann-

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Aktuelles

ter Pfarrer es einmal auf den Punkt     bzw. wissen können, Ontologie
brachte.                                hingegen ist die Suche nach den
                                        Dingen, die existieren. Realisten
Ein schwerwiegender                     bestehen etwa darauf, dass es ei-
Kategorienfehler:                       nen großen Unterschied gibt zwi-
Ontologie vs. Epistemologie             schen dem Wissen über die Welt«
Es gibt im gemeindlichen Kon-           und den »Dinge[n], die wirklich
text nach meiner Beobachtung            existieren. Sie nehmen an, dass die
eigentlich keine Diskussion, wo         Welt bzw. die Realität unabhängig
nicht früher oder später ein Disku-     davon existiert, dass wir sie wahr-
tant einwirft, diese oder jene Frage    nehmen«, dass sie also »bewusst-
lasse sich gar nicht entscheiden.       seinsunabhängig existiert. Viele
Schließlich habe Paulus selbst ge-      Relativisten hingegen behaupten,
sagt: »Wir sehen jetzt mittels eines    dass alles, was existiert, nur für den
Spiegels, undeutlich, dann aber von     einzelnen Menschen existiert und
Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne   nicht an sich.«3
ich stückweise, dann aber werde ich
erkennen, wie auch ich erkannt wor-     Triage erwünscht!
den bin« (1Kor 13,12).                  Was bedeutet dieses Dilemma – es
   Die Frage ist tatsächlich berech-    gibt die eine objektive Wahrheit,
tigt: Wie verhält sich oben skizzier-   unser Erkennen aber ist begrenzt
ter Absolutheitsanspruch Jesu und       – nun für den christlichen, inner-
des christlichen Glaubens zu dieser     gemeindlichen Diskurs? Wo auch
Aussage des Paulus? Spricht Pau-        immer Christen aufeinandertref-
lus hier nicht eindeutig einer er-      fen – ob auf der Ebene der eigenen
kenntnisrelativistischen Position       Ortsgemeinde, der eigenen Glau-
das Wort?                               bensgemeinschaft und erst recht
   Ich bin froh, dass sich gegen        bei der Begegnung mit Christen
das postmoderne Mindset in-             anderer Prägung –, wird man Un-
zwischen auch vonseiten der sä-         terschiede in den Lehrauffassun-
kularen Philosophie Widerstand          gen bemerken. Das ist zumindest
regt. Der m. E. profilierteste Ver-     für jeden, der nachdenkt, unver-
treter des »neuen Realismus« ist        meidlich. Wie geht man mit sol-
Markus Gabriel. Er bezeichnet die       chen Meinungsverschiedenheiten
Behauptung, es gebe keine ob-           um, um weder der Gefahr dogma-
jektive Wahrheit, unverblümt als        tischer Beliebigkeit noch der Ge-
»postmodernen Unsinn«.2 Wich-           fahr gesetzlicher Engstirnigkeit zu
tiger noch ist jedoch der Hinweis,      erliegen? Um welche Lehrauffas-          2 Vgl. Markus Gabriel: »Jetzt mal rea-
den ich ebenfalls den »Realisten«       sung sollen wir kämpfen, um wel-           listisch bleiben«, Die Zeit 32/2020,
                                                                                   https://www.zeit.de/2020/32/­
verdanke, wonach diesem »Un-            che nicht? Mit wem kann ich das            moralischer-fortschritt-in-dunklen-
sinn« einer der schwerwiegends-         Abendmahl feiern, mit wem nicht?           zeiten-markus-gabriel-philosphie-
ten Denkfehler überhaupt, ein Ka-       Wo sticht die Einheit der Lehre (im        sachbuch. Vgl. ausführlich Markus
                                                                                   Gabriel: Ich ist nicht Gehirn, Berlin
tegorienfehler, zugrunde liegt: die     Sprachgebrach der »Brüder«: die
                                                                                   2015.
Verwechslung von Ontologie mit          des Geistes) die der Gemeinde (im
                                                                                 3 Werner Stangl: »Epistemologie«,
Erkenntnistheorie.                      Sprachgebrauch der »Brüder«: die           Online-Lexikon für Psychologie und
   »Erkenntnistheorie fragt da-         des einen Leibes)? Wichtige theo-          Pädagogik, https://lexikon.stangl.
nach, was Menschen erkennen             logische Differenzen zu ignorieren         eu/8310/epistemologie

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                                          und unter den Teppich zu kehren         Gruppe« (35). Zwar hätten »nach-
                                          ist keine Lösung, Spaltungen hin-       denkliche Protestanten« die Zer-
                                          gegen über zweitrangige Fragen          splitterung der Christen in ver-
                                          ebenso wenig.                           schiedene Denominationen stets
                                             Um die Lösung vorwegzuneh-           bedauert (35), aber so wie keine
                                          men: Das, was man in der Medi-          Ortsgemeinde die Gemeinde im
                                          zin und gerade in der Corona-Krise      absoluten Sinn sei, könne auch
                                          um jeden Preis verhindern möchte,       keine Gemeinde die Wahrheit für
                                          benötigen wir in der Theologie:         sich allein beanspruchen (36). Wer
                                          Die Rede ist von einer Triage. In       sich von anderen wahren Christen
                                          der Medizin bezeichnet »Triage«         vollständig abschotte, werde kei-
                                          eine Methode, wo etwa ein Notfall-      nen Erfolg haben, und man müsse
                                          mediziner angesichts begrenzter         anerkennen, wie sehr Gott auch
                                          Kapazitäten oder unter Zeitdruck        andere Christen gesegnet und
                                          entscheiden muss, welche Patien-        dass man selbst ebenfalls blinde
                                          ten zuerst bzw. welche Patienten        Flecken habe (36). Selbstgerech-
                                          überhaupt behandelt werden sol-         tigkeit könne sich nicht nur auf
                                          len. Auf besagte Lehrfragen ange-       Werke stützen, sondern ebenso
                                          wandt, muss immer wieder darum          auf Dogmen, auf die man sich et-
                                          gerungen werden, welche Lehrfra-        was einbilde (42). Eine Rigorosi-
                                          gen von großer Bedeutung und            tät, die die Einheit und Liebe un-
                                          welche zu vernachlässigen sind.         ter den Gläubigen gering schätzt,
                                          Den Ausdruck »theologische Tri-         wird deutlich als Werk Satans be-
                                          age« habe ich Gavin Ortlund zu          zeichnet; es sei dieselbe Rigorosi-
                                          verdanken, der ihn wiederum bei         tät, die schon dazu geführt habe,
                                          Albert Mohler entlehnt hat.4            Jesus als Sabbatbrecher, Weinsäu-
                                             Bevor Ortlund in der zweiten         fer und Freund der Zöllner und
                                          Hälfte seines Buches Finding the        Sünder zu bezeichnen (41). Dem
                                          Right Hills To Die On seine Kate-       »doctrinal sectarianism« entkom-
                                          gorien entfaltet, führt er dem Le-      men wir laut Ortlund nur, wenn un-
                                          ser zunächst in Teil 1 vor Augen,       sere tiefste Loyalität Jesus gilt (43).
                                          wie wertvoll die Einheit des Leibes        Genauso eindringlich warnt er
                                          Christi ist – so wertvoll, dass Jesus   aber davor, im »doctrinal mini-
4 Vgl. Gavin Ortlund: Finding the Right   für die Einheit seiner Versamm-         malism« Zuflucht zu suchen oder
  Hills To Die On. The Case for Theolo-   lung in den Tod ging (34, 149f.)!       in der »doctrinal indifference«,
  gical Triage, Wheaton 2020. Der Au-     Vor diesem Hintergrund warnt er         wo man das Trennende kleinrede
  tor vertritt einige Ansichten, von
  denen wir uns als »Brüder« distan-      eindringlich vor der Versuchung         und damit auch die Christen ver-
  zieren würden – er ist z. B. Vertre-    des »doctrinal sectarianism«, also      höhne, die für solche Überzeugun-
  ter des Amillennialismus und des        leichtfertig aufgrund von Diver-        gen mit dem Leben bezahlt hätten
  Continuationismus. Kritik an die-
  sem Buch wird aber nicht bei ein-
                                          genzen ein Schisma zu riskieren.        (52). Judas jedenfalls – auf diese
  zelnen Lehrauffassungen ansetzen        Pointiert schreibt er, Separatismus     unterschiedlichen Verben macht
  können, weil es ja genau darum          sei viel öfter eine Folge von Stolz     Ortlund aufmerksam (33, 80, 94)
  geht, zu klären, wie mit solchen Ab-
                                          als eine Folge von Heiligkeit (32).     – habe »allen Fleiß angewandt«,
  weichungen von den eigenen Lehr-
  auffassungen umzugehen ist.             »Die Unfähigkeit, wahre Christen        den Geschwistern »über [das] ge-
5 Lehre, dass Jesus Christus vor dem      außerhalb des eigenen Zirkels an-       meinsame Heil zu schreiben«, sich
  Tausendjährigen Reich auf die Erde      zuerkennen, führt zum geistlichen       aber zugleich genötigt gesehen,
  kommen wird.                            Niedergang und dem Tod dieser           sie daran zu erinnern, »für den ein-

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mal den Heiligen überlieferten Glau-    85f.). Sehr gut unterscheidet er       lium nicht unmittelbar betreffen,
ben zu kämpfen« (Jud 3).                auch zwischen jemand, der bei sei-     die aber für das Wohlergehen der
   Den ersten Teil seines Buches        ner Bekehrung vielleicht noch gar      Gemeinde Jesu durchaus von Be-
beschließt Ortlund damit, anhand        nicht mit sämtlichen Lehren der        lang sind (z. B. Tauffrage, Geistes-
seiner Biografie und am Beispiel        Kategorie 1 vertraut ist und den-      gaben, Frauenfrage). Differenzen
der Tauffrage und der Frage, wie        noch von Neuem geboren wird,           in dieser Kategorie rechtfertigen
Genesis 1 und die Schöpfungstage        und jemand, der bekennt, Christ        nach Ortlund auch Schismen, wo-
zu verstehen sind, das Problem an-      zu sein, dann aber heilsentschei-      bei die Vertreter solcher Auffassun-
derslautender Lehrauffassungen          dende Wahrheiten verwirft (80f.).      gen als Geschwister wertgeschätzt
und seinen eigenen Lernprozess          Die Mahnung, einen Versprecher         werden sollten und Vertreter bei-
bei der Ausbildung von Katego-          etwa beim öffentlichen Gebet           der Seiten gottesfürchtige Chris-
rien nachzuzeichnen. Dieser Weg         nicht gleich als Häresie zu werten,    ten sein können. Die eigene
führte ihn für eine gewisse Zeit in     halte ich ebenfalls für sehr weise     Überzeugung solle stets in einer
die konfessionelle Isolation, die er    (81). Die Frage, ob jemand, der        demütigen und barmherzigen Ge-
weder beabsichtigt noch sich ge-        häretische Lehren vertritt, über-      sinnung vorgetragen werden.
wünscht hatte (67), in der er aber      haupt gerettet sein könne, beant-         In Kategorie 3 siedelt Ortlund
erfuhr, wie Gott ihn auch in der        wortet Ortlund aus meiner Sicht        schließlich Fragen an, die nicht
»denominational migration« be-          sehr klug: Was die Aufnahme in         unwichtig sind, aber kein Schisma
gleitete (70).                          die Gemeinde betreffe, seien wir       rechtfertigen (z. B. Tausendjähri-
   Im zweiten Teil entwickelt Ort­      durchaus in der Verantwortung,         ges Reich, Schöpfungstage). Sehr
lund schließlich sorgfältig seine       Häretiker abzuweisen, aber über        eindringlich warnt er davor, über
Kategorien. Kategorie 1 bezeich-        das ewige Wohl und Wehe befinde        der Frage, wann die Entrückung
net Auffassungen, die unmittelbar       glücklicherweise Gott. Das ent-        stattfindet oder wer der Antichrist
mit dem Evangelium zusammen-            spricht m. E. exakt dem, was Paulus    sei, nicht die Fragen zu vernach-
hängen und die den Unterschied          in 2Tim 2,19 schreibt. In Bezug auf    lässigen, auf die es eigentlich bei
zwischen Orthodoxie und Häre-           die Frage nach der Rechtfertigung      Jesu Wiederkommen ankommt:
sie markieren (z. B. Trinität, Jung-    aus Glauben mahnt er zur Vorsicht,     die Auferstehung und das End-
frauengeburt, Inkarnation, Recht-       nicht jede anderslautende Auffas-      gericht etwa (126). Weder sollte
fertigung aus Glauben). Gemeint         sung vorschnell zur Häresie zu er-     man den Prämillennialismus5 in
sind hier Lehren, die die Person        klären, weil einige Auffassungen       die Nähe von Häresie rücken, noch
Jesu direkt betreffen, die aus gu-      nicht klar zwischen Rechtfertigung     sollte man ihn zu einem Lackmus-
tem Grund als »heilsnotwendig«          und Heiligung unterschieden hät-       test für Orthodoxie stilisieren. Und
bezeichnet werden, denn es gehört       ten (88) und Häresie nur da gege-      auch hinsichtlich Genesis 1 fordert
zu den Kennzeichen eines wahren         ben sei, wo man sich in Bezug auf      er dazu auf, aus den unterschiedli-
Christen, dass er die Lehre der Bi-     das Heil nicht allein auf Christus     chen Überzeugungen zu der Frage,
bel über Jesus Christus annimmt         und den Glauben an ihn stütze.         wie alt die Erde ist oder wie lange
(vgl. 1Joh 4,1–6; 5,9–12; 2Joh 7–11).   Auch könne nicht jeder angemes-        die Schöpfungstage waren, kein
Wenn jemand die Lehre der Apo-          sen ausdrücken, dass er sich in Be-    Schibboleth zu machen, solange
stel über Jesus Christus und das        zug auf sein Seelenheil nur auf Je-    die Historizität der Ereignisse vo-
Zeugnis Gottes über seinen Sohn         sus stütze (89). Diese Bemerkung       rausgesetzt werde (142). Auch hier
antastet, stellt sich die Frage, ob     empfinde ich als sehr weise und        weist er auf die Gefahr hin, über
er wirklich aus Gott geboren ist.       hilfreich besonders im Hinblick auf    die strittigen Fragen das eigent-
Am Beispiel der Jungfrauengeburt        das Gespräch mit gläubigen Ka-         lich Unerhörte der Schöpfungsge-
führt der Autor aus, wie eng mit        tholiken.                              schichte zu übersehen: dass Gott
diesen Fragen die Frage nach der           Kategorie 2 umfasst nach Ort­       aus dem Nichts erschuf, die Men-
Autorität der Heiligen Schrift im       lund solche Fragen, die nicht heils-   schen im Bilde Gottes erschaffen
Allgemeinen zusammenhängt (83,          entscheidend sind und das Evange-      wurden und der Sündenfall histo-

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Aktuelles

risch ist (143). Während man zu-        natürlich gibt es Unterschiede in     tragfähig ist und es sich in einem
weilen für den Glauben kämpfen          der Härte des Urteils durch die       Spannungsverhältnis zum Sola-
müsse, dienten feste Überzeu-           Apostel. Das »Anathema« in Gal        Scriptura-Prinzip befindet (79) und
gungen in Fragen dieser Katego-         1,9 spricht Paulus nicht über ei-     zur Tatsache, dass wichtige bib-
rie eher dem Zweck, Kämpfe um           nen aus, der mit löchriger Jeans      lische Dogmen über einen län-
des Evangeliums willen zu vermei-       zum Gottesdienst kommt, in den        geren Zeitraum verschüttet ge-
den (144).                              »Stunden« Kaugummi kaut, sich         wesen sein können (93). Wichtig
   Kategorie 4 schenkt Ortlund          die Haare gelt oder hin und wie-      sei es ferner, zu fragen, welche
nur im Vorwort Beachtung und            der zu lange Computer spielt.         Wirkung eine bestimmte Auffas-
auf S. 47. Hierher gehören Fragen,      Bei Paulus’ Frontalkonfrontation      sung auf das persönliche und ge-
die unwichtig sind bzw. bei denen       »Wer hat euch bezaubert?« (Gal 3,1)   meindliche Leben habe und in-
Christen sich gegenseitig Freiheit      geht es um die Abwehr eines An-       wieweit eine angestammte Lehre
zugestehen und Ambiguität aus-          griffs auf das Herzstück des Evan-    durch den Zeitgeist unter Druck
halten lernen müssen. In der Kir-       geliums. In den anderen Briefen       geraten sei. Legitim sei es über-
chengeschichte wird dafür tradi-        demgegenüber ringt und wirbt          dies, zu fragen, welche Absichten
tionell der Ausdruck »Adiaphora«        Paulus um die Einzelnen und um        und Methoden die Vertreter einer
verwendet (z. B. Musikbegleitung        Gemeinden. Dabei ist gut zu er-       bestimmten Lehrauffassung ver-
im Gottesdienst).                       kennen, wie Paulus bei den je-        folgten und welche Nachteile der-
   Ortlund ist sich bewusst, dass je-   weils diskutierten Auffassungen       jenige erleide, der an einer unpo-
des Kategorienmodell simplifiziert      von Lehre und Lebenswandel ge-        pulären Auffassung festhalte, etwa
und dass die Übergänge fließend         wichtet. Dem Problem, dass je-        vonseiten der akademischen Ge-
sind (97). Zudem habe man es nie        des Kategorienmodell eigentlich       meinschaft.
nur mit Dogmen zu tun, sondern          schon Kriterien voraussetzt, die         So sehr mich Ortlunds Katego-
immer auch mit unausgesproche-          ihrerseits erst einmal definiert      rien überzeugt haben, sei mir den-
nen Richtlinien und Einstellun-         werden müssen und hinterfragt         noch folgende Ergänzung gestat-
gen (98). Ortlund mahnt, genau          werden können, weicht der Au-         tet: Ein solches Kategorienmodell
hinzuschauen, dann werde sich           tor nicht aus. Das Buch bietet eine   muss m. E. noch eine Stufe tie-
z. B. herausstellen, dass nicht je-     Fülle von Beispielen aus dem Neuen    fer ansetzen, nämlich beim Bibel-
der Vertreter des Continuationis-       Testament, aus denen sich erken-      text. Paul Henebury hat ein Mo-
mus6 auch eine gesonderte Geis-         nen lässt, dass auch die Apos­tel     dell entwickelt, in dem er seine
testaufe fordere (112) oder dass        solche Kategorien unterschieden       (fünf) Stufen danach unterschei-
man in der Tauffrage gar nicht so       (13, 29f., 32, 38–40, 104). In An-    det, ob eine bestimmte Lehrauf-
weit auseinander liege wie zuvor        lehnung an Erik Thoennes und          fassung explizit in der Heiligen
angenommen; die Kindertaufe zu          Wayne Grudem führt Ortlund zu-        Schrift vorkommt, ob sie sich un-
vertreten sei mitnichten dasselbe       dem Kriterien auf, die über die Zu-   mittelbar aus solchen Schriftstel-
wie die Taufwiedergeburt zu leh-        ordnung entscheiden (76–79): die      len ableiten lässt oder ob sie auf
ren (101).                              biblische Klarheit in einer Frage,7   Ableitungen zweiten oder noch
   Kritiker könnten einwenden,          die Bedeutsamkeit für das Wesen       höheren Grades beruht.8 Auch hier
dass solche Kategorien in der           Gottes und das des Evangeliums,       gibt es noch einen gewissen Spiel-
Heiligen Schrift selbst explizit        die Häufigkeit und Bedeutsamkeit      raum, aber der scheint mir kleiner
nicht vorkommen, und sie haben          innerhalb der Heiligen Schrift, die   zu sein. Die Frage nach der Wich-
recht. Allerdings fragt, wer »geübte    Wirkung dieser Lehre auf andere       tigkeit der jeweiligen Lehre müsste
Sinne« (Hebr 5,14) hat, nicht nur       Lehren und die Überzeugungen          dann in einem zweiten Schritt ge-
danach, wo etwas wörtlich so in         der Christenheit in Gegenwart und     stellt werden.
der Bibel steht, sondern auch, ob       Vergangenheit. Dabei reflektiert         Oben skizzierte Modelle bedür-
es dem gesamtbiblischen Zeug-           er durchaus, dass das kirchenge-      fen allerdings noch weiterer Prä-
nis entspricht oder nicht. Und          schichtliche Argument allein nicht    zisierungen. Zum einen kann ein

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Aktuelles

und dieselbe Frage, je nachdem,        achtung nicht selten ebenfalls »bis
wie sie angegangen wird, in Kate-      aufs Blut« kontrovers diskutiert.
gorie 2 oder 3 fallen, was Ortlund     In den endlosen Debatten zum
auch bewusst ist (114). Um es kon-     Thema »Abhängigkeit oder Un-
kret zu machen: Argumentiert je-       abhängigkeit der Ortsgemeinde«,
mand in der Frauenfrage damit,         die mich seit meiner Kindheit, d. h.
dass man ja 1Kor 14,34 mit 1Kor        bewusst seit annährend 30 Jahren
11,5 vereinbaren müsse – entwe-        begleiten, scheute man sich stets,
der man verlegt das Beten und          die anderslautende Meinung ex-
Weissagen in den privaten Raum         plizit als Irrlehre zu bezeichnen,
oder das Beten und Weissagen bil-      wollte die strittigen Fragen aber
det eine Ausnahme vom Schwei-          dennoch in den Stand von Be-
gegebot –, bewegt sich die De-         kenntnisfragen heben, ihnen die
batte m. E. in Kategorie 3. Wird       Bedeutung eines status confessio-
hingegen 1Kor 14,34 wegzukon-          nis verleihen. Zu diesem Zweck be-
textualisieren versucht und Pau-       mühte man die Kategorie »kirch-
lus’ Autorität durch Verweis auf       liche Ungerechtigkeit«. Ich halte
den historischen Kontext unter-        das für legitim; man sollte diese
miniert, ist die Lehre von der Hei-    Strategie aber zugeben und offen
ligen Schrift tangiert und die Frage   kommunizieren. Denn in der De-
fällt in Kategorie 2.                  batte um das rechte Gemeindever-
   Zum anderen ist neben dem           ständnis vermischten sich meiner
Problem, welche Kategorien zu          Beobachtung nach allzu oft zwei
unterscheiden sind und welche          Diskussionsebenen: Es kam zu ei-
Frage welcher Kategorie zuzuord-       nem Austausch über das Für und
nen ist, auch noch das Problem         Wider der unterschiedlichen Ge-
zu erörtern, bis zu welcher Kate-      meindeauffassungen, gleichzeitig
gorie eine Glaubensgemeinschaft        und unausgesprochen schwang
einen Konsens erzielen sollte, also    aber stets die Frage mit, ob die Ein-
welche Fragen identitätsstiftend       stufung als Bekenntnisfrage ge-
sind und welche nicht. Traditio-       rechtfertigt ist oder nicht.
nell wird dieses Problem mit den
Ausdrücken »Bekenntnisfall« und        Verweigerung der geistlichen
»status confessionis« bezeichnet.      Triage – kein Kavaliersdelikt!
Selbstredend, dass Häresie, also       Was ist nun zu tun, wenn eine           6 Lehre, dass alle neutestamentli-
                                                                                 chen Geistesgaben (einschließlich
Abweichungen in der Katego-            Gemeinde oder Glaubensgemein-             Prophetie, Sprachenrede und Hei-
rie 1, ein Schisma zur Folge hät-      schaft die »theologische Triage«,         lung) bis heute fortbestehen.
ten. Ortlund siedelt die Grenze        also die Diskussion darüber, wel-       7 Dass die Heilige Schrift in allen we-
für eine Ortsgemeinde oder Glau-       chen Stellenwert welche (Lehr-)           sentlichen Fragen klar ist, ist Teil des
                                                                                 lutherischen Schriftprinzips und
bensgemeinschaft zwischen Ka-          Auffassungen haben, verweigert?           wurde von Luther bereits in seiner
tegorie 2 und 3 an, was allerdings     Das passiert dann, wenn leitende,         Schrift Vom unfreien Willen in aller
aus meiner Sicht nicht selbstver-      meinungsbildende Brüder, die sich         Deutlichkeit formuliert (vgl. Bern-
                                                                                 hard Rothen: Die Klarheit der Schrift.
ständlich ist. Bis zu welcher Ka-      ihrem Selbstverständnis nach ja
                                                                                 Martin Luther. Die wiederentdeckten
tegorie der Grundsatz »agree to        niemals als schwach im Glauben            Grundlagen, Göttingen 1990, S. 41).
disagree« gilt und ab welcher Ka-      bezeichnen würden, Sonderre-            8 Paul Martin Henebury: »Rules of Affi-
tegorie der Bekenntnisfall auszu-      geln formulieren. Dann wird – um          nity«, https://drreluctant.wordpress.
rufen ist, wird nach meiner Beob-      ein Beispiel zu nennen – die nach         com/2012/04/03/­rules-of-affinity/

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Aktuelles

                                       Geschlechtern getrennte Sitz-             beispielsweise die Gottheit Jesu
                                       ordnung verteidigt wie die leibli-        leugnen würde –, sondern ein
                                       che Auferstehung Jesu oder seine          »non-essential« zum »essential«
                                       Jungfrauengeburt.9 Oder ein »füh-         gemacht wird.
                                       render« Bruder formuliert alljähr-           Auch hier hilft Ortlunds oben
                                       lich um Weihnachten herum die             bereits erwähnte Unterschei-
                                       Sonderregel, kein guter Christ            dung zwischen Rechtfertigung
                                       dürfe Weihnachten feiern. Ein an-         und Heiligung. Um mit seiner Ar-
                                       deres Beispiel wäre das strikte Al-       gumentation nicht selbst den Feh-
                                       koholverbot unter russlanddeut-           ler des Rigorismus zu begehen,
                                       schen Christen. Während man in            den man ja gerade kritisiert, sollte
                                       der UdSSR angesichts des weit             man deutlich zwischen Rechtfer-
                                       verbreiteten Alkoholmissbrauchs           tigung und Nachfolge, zwischen
                                       als Christ aus gutem Grund gänz-          Heil und Heiligung unterschei-
                                       lich auf Alkohol verzichtete, fal-        den. Verknüpft derjenige, der die
                                       len diese Rahmenbedingungen               Sondervorschrift verkündet, das
                                       in Deutschland weg. Wenn nun              mit der Aussicht auf Errettung?
                                       geistliche Leiter auch in diesem          Dann handelte es sich um ein an-
                                       neuen Kontext am Alkoholverbot            deres Evangelium und Kategorie 1
                                       festhalten, schränken sie damit           wäre betroffen. Verknüpft jemand
                                       Christen in ihrer gottgegebenen           oder eine ganze Glaubensgemein-
                                       Freiheit ein, handeln fahrlässig          schaft eine Sondervorschrift »nur«
                                       und machen sich des Machtmiss-            mit der richtigen Heiligung, muss
                                       brauchs schuldig. Wohlgemerkt:            das Urteil vorsichtiger ausfallen.
                                       Es geht hier um leitende Brüder           Wenn sich aber der Verdacht er-
                                       einer Gemeinde oder Glaubens-             härtet, dass jemand mit solchen
                                       gemeinschaft, die per Definition          Sonderregeln sein eigenes religi-
                                       nicht zu den Schwachen im Sinne           öses Fleisch pflegt (vgl. Kol 2,16ff.),
                                       von Röm 14 und 1Kor 8 gehören.            darf es auch hier kein aushalten-
                                       Etwas ganz anderes wäre es, wenn          des Schweigen geben! Wo Ein-
                                       »Tante Berta« Probleme mit einer          zelmeinungen das Gewissen der
                                       gemischten Sitzordnung, dem Fei-          gesamten Versammlung binden,
                                       ern von Weihnachten oder dem              darf es keine Toleranz geben. Auch
                                       maßvollen Genuss von Alkohol              hier kann nach einem mehrfachen
                                       hätte und ihr Gewissen deswegen           und öffentlichen Ermahnen und
                                       in Not geriete.                           wenn solche Einzelmeinungen
                                          In welche Kategorie muss sol-          nicht ab- und zurechtgewiesen
                                       che Gesetzlichkeit geistlicher Lei-       werden, ein Abwenden nötig sein!
9 Wenn eine Glaubensgemeinschaft
                                       ter eingeordnet werden? Ist das           Denn auch hier verkündet jemand
  sich in solchen Aspekten der Form    Gal 5, d. h. steigt eine Frage, die ei-   »Christus+« und verdunkelt, dass
  nicht wandelt, gerät sie zur muse-   gentlich im Bereich der Adiaphora         der Grundsatz »allein aus Gnade«
  alen Veranstaltung, die für Außen-
                                       angesiedelt ist, damit in Katego-         für Rechtfertigung und Heiligung
  stehende nur noch für eine kultu-
  relle Fremdheitserfahrung taugt.     rie 2 oder gar 1 auf? Die Frage ist       gleichermaßen gilt. Ortlund gibt
10 Gesetzlichkeit.                     deswegen nicht so einfach zu be-          zu bedenken, dass auch Ansich-
11 Vgl. Axel Volk: »Die Lüge von der   antworten, weil hier kein »essen-         ten einer untergeordneten Kate-
   Hauptsache«, komm und sieh 48       tial« negiert wird – dann wäre die        gorie Einfluss auf das Evangelium
   (2017), S. 17–19.                   Sache klar, wenn eine Gemeinde            haben können (57).

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Aktuelles

Ursachen für den Verlust der          fahr zu laufen, ein Gebot Gottes        Geschwistern, die einer unabhän-
Ambiguitätstoleranz und               zu missachten. Mich beschäftigt         gigen Gemeinde das Wort reden,
Impulse zur Abhilfe                   schon länger die Frage, ob diese        da auch kaum Besserung. Im Ge-
Folgende Frage berührt mich als       Sorge berechtigt ist. Sollte man        genteil: Neue Einzelfragen wie die
Aussteiger aus einer im Legalis-      also eher Sorge haben, etwas zu         Frage nach der Erwerbstätigkeit
mus10 gefangenen Glaubensge-          gestatten, was die Bibel missbil-       von Müttern werden aus dem Be-
meinschaft, um deren Reform ich       ligt, und daher lieber Vorsicht wal-    reich der Adiaphora in den Bereich
etliche Jahre vergeblich gekämpft     ten lassen, oder sollte man eher        der Bekenntnisfragen verschoben.
habe, existentiell: Wie kann es       Angst haben, etwas zu verbieten,        Da hätte man sich die zurücklie-
sein, dass dieselben Personen, die    was Gott gestattet? Ortlunds Rat        genden Trennungen wirklich spa-
mit Stolz davon berichten, dass       in dieser Frage ist m. E. sehr weise:   ren können!11
die internationalen Unterschiede      Wir sollten jedenfalls nicht mehr          Dass Fragen aus dem Bereich
in der (nun wirklich nicht neben-     Angst davor haben, etwas zu be-         der Adiaphora in die Kategorie 3
sächlichen!) Tauffrage – sie hat      grüßen, was ggf. verboten sei, als      oder gar 2 verfrachtet werden,
nach Ortlund immerhin mehr Mär-       davor, etwas zu verbieten, was          passiert, wie bereits angedeutet,
tyrer unter den Wiedertäufern ge-     Gott gestattet hat (122).               vornehmlich dort, wo es »Schwa-
fordert als Märtyrer in den ersten       Kompromisse in Randfragen            che im Glauben« (Röm 14, 1Kor 8)
drei Jahrhunderten bis zur kons-      nicht auszuhalten ist im Grunde         in den Leitungskreis, die Brüder-
tantinischen Wende (100) – nie zu     ein infantiles Verhaltensmuster.        stunde o. Ä. »geschafft« haben
einem Schisma geführt haben, zu-      Wie man mit der derzeit vorherr-        oder auf »Brüderbesprechungen«
gleich in der Gegenwart jede Am-      schenden ambiguitätsintoleran-          das Wort führen – was meiner Be-
biguitätstoleranz vermissen lassen    ten, ja ignoranten Haltung die den-     obachtung nach leider eher die
und bis ins kleinste Detail festle-   kende Jugend halten will (außer         Regel als die Ausnahme ist. Und
gen, was sein darf und was nicht?     mithilfe von Druck), ist mir schlei-    so hätte ich mir im Zusammen-
Das ist nach Ortlund genauso          erhaft. Dass diese nicht in Scharen     hang mit Ortlunds Ausführungen
schlimm wie die Wahrheit zu ver-      davonläuft, gibt mir Rätsel auf –       zu Röm 14 auch eine Problemati-
wässern und muss als eine sehr        aber vermutlich ist es die Angst        sierung gewünscht, wen Paulus
zerstörerische Sünde bezeichnet       vor dem Verlust der Komfortzone         denn mit den »Schwachen« meint
werden (33). Nach dem vorherr-        und Haltegruppe, die uralte Angst,      (149). Viele Probleme in gesetz-
schenden Verständnis vom einen        aus der Synagoge ausgeschlossen         lichen Glaubensgemeinschaften
Leib, wonach man keine weitere        zu werden (vgl. Joh 9,22; 12,42).       gerade in Bezug auf Adiaphora re-
Glaubensgemeinschaft, sondern            Die gesetzliche Verengung, die       sultieren ja daraus, dass etwa Äl-
eine »Plattform« außerhalb aller      ich in meiner vormaligen Glau-          teste, die per Definition nicht zu
menschlichen Benennungen sein         bensgemeinschaft ausgemacht             den Schwachen gehören, Anstoß
möchte, müsste man doch eine          habe, geht m. E. ganz wesentlich        nehmen, um ihre Sondervorschrif-
besonders ausgeprägte Ambigu-         darauf zurück, dass man sich um         ten durchzusetzen. Es gehört zu
itätstoleranz kultivieren, um ver-    o. g. Kategorien keine Gedanken         den verbreitetsten Missverständ-
schiedene Strömungen auch de          gemacht hat. Wie an anderer Stelle      nissen v. a. unter konservativen
facto auffangen zu können.            ausführlicher dargestellt: Für ein      Christen, dass das Anstoßnehmen
   Wohlwollend könnte man wie         Grundübel halte ich, dass eine Dis-     an nahezu der ganzen Christen-
für die Mischna der Pharisäer         kussion über die Frage, welche der      heit – die wenigen eigenen Ver-
geltend machen, dass die engen        1001 (Lehr-)Auffassungen welcher        wandten ausgenommen – ein Aus-
Grenzen der ernstzunehmenden          Kategorie zuzuordnen sind, nicht        weis geistlicher Reife sei; nicht zu
Sorge entspringen, unmerklich ein     stattfindet. Immer gleich den Be-       Unrecht spricht man in diesem
Gebot Gottes übertreten zu kön-       kenntnisfall auszurufen führt je-       Zusammenhang auch von einer
nen. Man riskiert daher lieber, die   denfalls in die Irre und gesetzliche    »Diktatur der Schwachen«. Solche
Grenzen zu eng zu stecken, als Ge-    Enge. Leider beobachte ich bei den      Schwachen in leitender Funktion

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Aktuelles

                                            erfinden auch gern, u. U. in wohl-     um theologische Fähigkeiten als
                                            meinender Absicht, neue Fröm-          um eine Haltung der Demut (147).
                                            migkeitsparameter, ohne dass ih-       Oft sei nicht Ignoranz das eigentli-
                                            nen bewusst ist, dass sie sich damit   che Problem, sondern die Ignoranz
                                            im Grunde auf dem breiten Weg          gegenüber der eigenen Ignoranz.
                                            der Gesetzlichkeit befinden und        Demut hingegen sei sich nicht nur
                                            den Heiligen und Erhabenen mit         dessen bewusst, was man nicht
                                            den Projektionen ihrer Krämersee-      wisse, sondern auch dessen, dass
                                            len beleidigen.12                      man ggf. nicht wisse, dass man et-
                                               Auf der Suche nach Ursachen         was nicht weiß. Demut gehe mit
                                            für diese unheilvolle Entwicklung      der Bereitschaft einher, lernen zu
                                            und die Verweigerung jedweder          wollen, aufmerksam zuzuhören,
                                            Triage stieß ich darüber hinaus        und mache uns geistig beweglich,
                                            auf die Einschätzung eines lang-       während uns Stolz stagnieren lasse
                                            jährigen vollzeitlichen »Bruders«,     (ebd.).14 Dabei habe Demut nichts
                                            selbst von Hause aus Jura-Profes-      mit »wishy-washy« zu tun.
                                            sor, also Geisteswissenschaftler          Was Ortlund schreibt, erinnert
                                            par excellence. Er konstatiert la-     mich sehr an das, was die Losung
                                            pidar, die »geschlossenen Brü-         der »Brüder« der ersten Genera-
12 Dieses Phänomen beschriebt Jona-
   than Swift so wunderbar in Gulli-        der« litten an einem Mangel an         tion war: »Mit weitem Herzen auf
   vers Reisen: “All true believers break   Geisteswissenschaftlern. Dieser        engem Pfad.« Leider, so zumin-
   their eggs at the convenient end.”       Befund deckt sich mit dem, was         dest meine Einschätzung, ist von
13 Vgl. Thomas Bauer: Die Vereindeu-        Thomas Bauer über die religiö-         der Weite des Herzens bei den
   tigung der Welt. Über den Verlust
   an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Dit-     sen Laien im Islam schreibt, die       »geschlossenen Brüdern« nichts
   zingen 2018, S. 39. Um Missver-          sich radikalisieren: Sie seien häu-    mehr übriggeblieben. Ihnen wie
   ständnissen vorzubeugen: Mir             fig Ingenieure, weil sie dort kon-     allen anderen Lesern sei daher ins
   geht es nur um den Vergleichs-
   punkt »Sehnsucht nach Eindeu-            krete Zahlen und die Eindeutigkeit     Stammbuch geschrieben, womit
   tigkeit«. Als Christ und Realist, der    fänden, die sie so sehr suchten.13     Paulus so eindringlich die Gala-
   daran festhält, dass es Wahrheit         Auch in diesem Zusammenhang            ter konfrontierte: Wer ist deine
   gibt, falle ich vermutlich ebenfalls
   unter das Verdikt des Autors. He-
                                            gibt Ortlunds Buch etliche Denk-       Mutter, ist dein Name Ismael oder
   rausfordernd und inspirierend ist        anstöße. »Theologische Triage«         Isaak, bist du Kind der Magd oder
   für mich die Lektüre aber, weil der      sei keine Mathematik-Aufgabe,          der Freien (vgl. Gal 4)?
   Autor entgegen dem oberfläch-            sondern erfordere Weisheit, Ge-
   lichen Befund, wonach die post-
   moderne Gesellschaft per se zur          bet und das Vertrauen auf den Hei-     Der Gesetzlichkeit ebenso wie
   Vielfalt strebt, skizziert, dass auch    ligen Geist (123). Ortlund schließt    der Beliebigkeit entkommen:
   die postmoderne Bedeutungslosig-         mit einem eindringlichen Plädoyer      christlicher Realismus
   keit, die Sehnsucht nach »Authen-
   tizität« und »Identität« sowie die       für ein weises Vorgehen und eine       Niemand wird bestreiten, dass die
   Flucht in die »verführerische Ein-       demütige Gesinnung: »Theologi-         Christenheit derzeit v. a. durch das
   deutigkeit des Marktwertes« Aus-         sche Triage erfordert erstens De-      um sich greifende postmoderne
   prägungen der Ambiguitätsintole-
   ranz sind.
                                            mut, zweitens Demut und drittens       Mindset und die Abwertung von
14 Für das Phänomen, dass sich v. a.
                                            Demut« (146). Widerspruch ohne         absoluter Wahrheit und biblisch
   Halbwissende überschätzen, ohne          Demut und Offenheit dafür, dass        fundierten Standpunkten ange-
   es zu merken, hat sich inzwischen        man selbst auch irren könne und        fochten wird, sodass Irrlehren im
   der Ausdruck »Dunning-Kruger-
                                            blinde Flecke habe, und nur zum        Namen falsch verstandener Tole-
   Effekt« eingebürgert. Zu wissen,
   dass man nichts weiß, ist eben et-       Zweck der Kritik und Zensur sei        ranz immer mehr Raum gewinnen
   was gänzlich anderes als lediglich       unangebracht (ebd.). Es gehe bei       können. Ebenso deutlich muss bei
   nichts zu wissen.                        der theologischen Triage weniger       dieser Gelegenheit aber vor der

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Versuchung auf der anderen Seite           Ich möchte schließen mit einem
gewarnt werden, auch sinnvolle          Zitat von Francis Schaeffer. Man
und notwendige Kompromisse,             muss den Verlust des gesellschaft-
die die Wahrheit nicht kompro-          lichen Einflusses durch Christen
mittieren, abzulehnen und das bi-       nicht wie Schaeffer bedauern, aber
blische Konzept von Gehorsam zur        wie kein Zweiter hat er die An-
Gesetzlichkeit verkommen zu las-        fechtungen der Gläubigen durch
sen. Auch das gehört zur Agenda         das post-christliche Zeitalter und
des Abfalls, wie Kinley und Hitch-      die Postmoderne vorweggenom-
cock so treffend anmerken: »Das         men und darunter gelitten. Be-
ist im Grunde eine Form von Welt-       merkenswert finde ich daher, wie
lichkeit und Fleischlichkeit, da sie    er unter der Überschrift »christ-
die sündige Natur in ihrem un-          licher Realismus« beiden Reakti-
ablässigen Bestreben unterstützt,       onsweisen auf die Beliebigkeit der
sich selbst zu rechtfertigen.«15        Postmoderne – Gesetzlichkeit auf
   Die Diskussion darüber, was in       der einen, faule Kompromissbe-
welche Kategorie gehört, ist nicht      reitschaft auf der anderen Seite –
überflüssig. Nur eine immerwäh-         entgegentritt:
rende Debatte darüber schützt uns          »[Wir brauchen] jeden Tag die
davor, zu »Fanatikern« zu werden        Hilfe des Sohnes Gottes, denn aus
und in einen geistlichen Radikalis-     eigener Kraft schaffen wir es nicht.
mus zu verfallen. Wer nicht lernt,      Wir müssen ihn seine Furcht in uns
die Kategorien sorgfältig zu un-        wirken lassen. Wir können in un-
terscheiden und in Mitteldingen         serer alten Natur Orthodoxie ver-
und bestimmten Lehrauffassun-           künden, und wir können in unse-
gen Differenz auszuhalten, wird         rer alten Natur faule Kompromisse
am Ende allein dastehen oder eine       schließen. Unser Auftrag lautet je-
Sekte um sich versammelt haben.         doch ganz anders: Wir sollen mit
Andererseits – und das wird gern        Gottes Hilfe in unserer Generation
übersehen – schützt diese Diskus-       Gott und sein Wesen sichtbar ma-
sion und die Unterscheidung der         chen. An uns soll sich zeigen, dass
genannten Kategorien genauso            er ein persönlicher, heiliger und
vor dem Libertinismus16 und An-         liebender Gott ist. Unserer alten      15 Mark Hitchcock und Jeff Kinley: Der
                                                                                  kommende Abfall vom Glauben. Die
tinomismus17. Denn wer etwa nur         Natur nach können wir entweder            Sabotage des Christentums von in-
»fundamentale Irrlehre« kennt,          rechtgläubig oder liebevoll und           nen, Dillenburg 2018, S. 118.
schafft in allen anderen auch           kompromissbereit sein. Eines aber      16 Zügellosigkeit, ausschweifende Le-
nicht unwesentlichen Aspekten           können wir in unserer alten Natur         bensweise.
Raum für viel zu viel Beliebigkeit.     nicht – wir können nicht gleichzei-    17 Gesetzlosigkeit.
Gemeinden ebenso wie einzelne           tig Gottes Gerechtigkeit und Liebe     18 Vgl. den hervorragenden Aufsatz
                                                                                  von Thomas Jeising: »Bibeltreue und
Christen, die sich einer Diskussion     in unserem Leben sichtbar ma-             ihre Grenzgebiete. Indifferenz und
darüber verweigern, wo die Grenze       chen: das ist nur durch das Wirken        Hardlinertum«, https://bibelbund.
zwischen diesen Kategorien ver-         des Heiligen Geistes möglich. Al-         de/2015/07/bibeltreue-und-ihre-
                                                                                  grenzgebiete-teil-2/
läuft, sind auf dem Holzweg und         les aber, was weniger darstellt, ist
                                                                               19 Francis A. Schaeffer: Gott ist keine
vergehen sich genauso am Sola-          nicht Abbild Gottes, sondern eine
                                                                                  Illusion. Ausrichtung der historischen
Scriptura-Prinzip wie die liberale      Karikatur Gottes, der existiert.«19       christlichen Botschaft an das zwan-
Bibelkritik, denn beide relativieren                                              zigste Jahrhundert, Wuppertal 1971,
                                                      Marcel Haldenwang           S. 172.
auf ihre Weise die Heilige Schrift.18

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