Von der Notwendigkeit einer "geistlichen Triage" - Der Absolutheits- und Wahrheitsanspruch Jesu und die Postmoderne - Zeit & Schrift
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Aktuelles Von der Notwendigkeit einer »geistlichen Triage« Der Absolutheits- und Wahrheitsanspruch Jesu und die Postmoderne D as Glaubensbekenntnis der Postmoderne lautet, dass alle Erkenntnis relativ ist, es absolute solutheitsanspruch zu schleifen. Sie bedeutet vielmehr – entspre- chend dem ursprünglichen Wort- Wahrheit nicht gibt und alle Wahr- sinn – anderslautende Überzeu- heiten gleichberechtigt nebenein- gungen, also auch solche, die man anderstehen. Wahr ist, was funk- missbilligt, zu ertragen. tioniert oder guttut. Toleranz ist So wie wir es von einem Athe- demnach, alles gleich gut oder isten, der ernst genommen wer- gleich schlecht zu finden, und da- den will, erwarten dürfen, dass er mit eigentlich Indifferenz. Mission die Vorzüge eines Lebens ohne ist unter diesem Blickwinkel ein Gott preist, so bezeugen Chris- No-Go, Ausdruck von Anmaßung ten gegenüber einer glaubenslo- und Unaufgeklärtheit. sen Welt, was sie in Jesus gefun- Jesus hingegen sagt in Joh 14,6 den haben, wie er ihrem Leben unmissverständlich: »Ich bin der Sinn gegeben, sie aus trüben Bin- Weg und die Wahrheit und das Leben. dungen befreit und ihnen Gott als 1 Zum Verhältnis von Wahrheit und Niemand kommt zum Vater als nur Vater bekannt gemacht hat! Chris- Macht äußert sich sehr pointiert durch mich.« Dieses Wort könnte ten kämpfen nicht das Rückzugs- Paul Bruderer, »Das Postmoderne dem postmodernen Mindset ent- gefecht, wonach Jesus zum kleinen Dilemma mit Wahrheit und Macht«: gegengesetzter nicht sein. Nimmt »Hauserlöser« degradiert wird, der »Wir haben Angst, dass Wahrheits- ansprüche zu Machtmissbrauch man diese Worte ernst, ist Jesus seinen Anspruch nur gegenüber und Gewalt führen. Die postmo- kein frommer Sozialarbeiter, der seinen Anhängern geltend macht, dernen Denker haben das Problem von seinen Nachfolgern postum sondern halten an Jesu Anspruch, erkannt und schlagen eine Lösung vor: Wir sollen die Idee einer einzi- hochgejubelt und von der Kirche den die ersten Christen so wun- gen Wahrheit aufgeben. Letztlich zum Zwecke der Macht überhöht derbar im Symbol des Fisches zum halten sie an der Macht fest und ge- wurde.1 Oben zitierter Satz macht Ausdruck brachten, fest: »Ichthys« ben die Wahrheit auf. Jesus Christus geht genau den umgekehrten Weg: unmissverständlich klar: Für alle – Jesus Christus, Gottes Sohn und Er lässt seine Macht los und hält an Menschen gilt, dass das Heil exklu- Erlöser! Einstweilen, bis zur Wie- der Wahrheit fest. Die Auswirkun- siv in Jesus zu finden ist, nur er ist derkunft Jesu, lieben sie ihre glau- gen sind ungeahnt groß!« https:// der von Gott verheißene Retter, ist benslosen oder andersgläubigen danieloption.ch/gesellschaft/ pluralismus/das-postmoderne- wahrer Mensch und wahrer Gott! Freunde, Nachbarn und Kollegen dilemma-mit-wahrheit-und-macht/ Christliche Toleranz kann dem- ungeachtet dessen, was sie glau- (Rechtschreibung modifiziert). nach nicht bedeuten, diesen Ab- ben oder rauchen, wie ein bekann- 20 Zeit & Schrift 1 ∙ 2021
Aktuelles ter Pfarrer es einmal auf den Punkt bzw. wissen können, Ontologie brachte. hingegen ist die Suche nach den Dingen, die existieren. Realisten Ein schwerwiegender bestehen etwa darauf, dass es ei- Kategorienfehler: nen großen Unterschied gibt zwi- Ontologie vs. Epistemologie schen dem Wissen über die Welt« Es gibt im gemeindlichen Kon- und den »Dinge[n], die wirklich text nach meiner Beobachtung existieren. Sie nehmen an, dass die eigentlich keine Diskussion, wo Welt bzw. die Realität unabhängig nicht früher oder später ein Disku- davon existiert, dass wir sie wahr- tant einwirft, diese oder jene Frage nehmen«, dass sie also »bewusst- lasse sich gar nicht entscheiden. seinsunabhängig existiert. Viele Schließlich habe Paulus selbst ge- Relativisten hingegen behaupten, sagt: »Wir sehen jetzt mittels eines dass alles, was existiert, nur für den Spiegels, undeutlich, dann aber von einzelnen Menschen existiert und Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne nicht an sich.«3 ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt wor- Triage erwünscht! den bin« (1Kor 13,12). Was bedeutet dieses Dilemma – es Die Frage ist tatsächlich berech- gibt die eine objektive Wahrheit, tigt: Wie verhält sich oben skizzier- unser Erkennen aber ist begrenzt ter Absolutheitsanspruch Jesu und – nun für den christlichen, inner- des christlichen Glaubens zu dieser gemeindlichen Diskurs? Wo auch Aussage des Paulus? Spricht Pau- immer Christen aufeinandertref- lus hier nicht eindeutig einer er- fen – ob auf der Ebene der eigenen kenntnisrelativistischen Position Ortsgemeinde, der eigenen Glau- das Wort? bensgemeinschaft und erst recht Ich bin froh, dass sich gegen bei der Begegnung mit Christen das postmoderne Mindset in- anderer Prägung –, wird man Un- zwischen auch vonseiten der sä- terschiede in den Lehrauffassun- kularen Philosophie Widerstand gen bemerken. Das ist zumindest regt. Der m. E. profilierteste Ver- für jeden, der nachdenkt, unver- treter des »neuen Realismus« ist meidlich. Wie geht man mit sol- Markus Gabriel. Er bezeichnet die chen Meinungsverschiedenheiten Behauptung, es gebe keine ob- um, um weder der Gefahr dogma- jektive Wahrheit, unverblümt als tischer Beliebigkeit noch der Ge- »postmodernen Unsinn«.2 Wich- fahr gesetzlicher Engstirnigkeit zu tiger noch ist jedoch der Hinweis, erliegen? Um welche Lehrauffas- 2 Vgl. Markus Gabriel: »Jetzt mal rea- den ich ebenfalls den »Realisten« sung sollen wir kämpfen, um wel- listisch bleiben«, Die Zeit 32/2020, https://www.zeit.de/2020/32/ verdanke, wonach diesem »Un- che nicht? Mit wem kann ich das moralischer-fortschritt-in-dunklen- sinn« einer der schwerwiegends- Abendmahl feiern, mit wem nicht? zeiten-markus-gabriel-philosphie- ten Denkfehler überhaupt, ein Ka- Wo sticht die Einheit der Lehre (im sachbuch. Vgl. ausführlich Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn, Berlin tegorienfehler, zugrunde liegt: die Sprachgebrach der »Brüder«: die 2015. Verwechslung von Ontologie mit des Geistes) die der Gemeinde (im 3 Werner Stangl: »Epistemologie«, Erkenntnistheorie. Sprachgebrauch der »Brüder«: die Online-Lexikon für Psychologie und »Erkenntnistheorie fragt da- des einen Leibes)? Wichtige theo- Pädagogik, https://lexikon.stangl. nach, was Menschen erkennen logische Differenzen zu ignorieren eu/8310/epistemologie Zeit & Schrift 1 ∙ 2021 21
Aktuelles und unter den Teppich zu kehren Gruppe« (35). Zwar hätten »nach- ist keine Lösung, Spaltungen hin- denkliche Protestanten« die Zer- gegen über zweitrangige Fragen splitterung der Christen in ver- ebenso wenig. schiedene Denominationen stets Um die Lösung vorwegzuneh- bedauert (35), aber so wie keine men: Das, was man in der Medi- Ortsgemeinde die Gemeinde im zin und gerade in der Corona-Krise absoluten Sinn sei, könne auch um jeden Preis verhindern möchte, keine Gemeinde die Wahrheit für benötigen wir in der Theologie: sich allein beanspruchen (36). Wer Die Rede ist von einer Triage. In sich von anderen wahren Christen der Medizin bezeichnet »Triage« vollständig abschotte, werde kei- eine Methode, wo etwa ein Notfall- nen Erfolg haben, und man müsse mediziner angesichts begrenzter anerkennen, wie sehr Gott auch Kapazitäten oder unter Zeitdruck andere Christen gesegnet und entscheiden muss, welche Patien- dass man selbst ebenfalls blinde ten zuerst bzw. welche Patienten Flecken habe (36). Selbstgerech- überhaupt behandelt werden sol- tigkeit könne sich nicht nur auf len. Auf besagte Lehrfragen ange- Werke stützen, sondern ebenso wandt, muss immer wieder darum auf Dogmen, auf die man sich et- gerungen werden, welche Lehrfra- was einbilde (42). Eine Rigorosi- gen von großer Bedeutung und tät, die die Einheit und Liebe un- welche zu vernachlässigen sind. ter den Gläubigen gering schätzt, Den Ausdruck »theologische Tri- wird deutlich als Werk Satans be- age« habe ich Gavin Ortlund zu zeichnet; es sei dieselbe Rigorosi- verdanken, der ihn wiederum bei tät, die schon dazu geführt habe, Albert Mohler entlehnt hat.4 Jesus als Sabbatbrecher, Weinsäu- Bevor Ortlund in der zweiten fer und Freund der Zöllner und Hälfte seines Buches Finding the Sünder zu bezeichnen (41). Dem Right Hills To Die On seine Kate- »doctrinal sectarianism« entkom- gorien entfaltet, führt er dem Le- men wir laut Ortlund nur, wenn un- ser zunächst in Teil 1 vor Augen, sere tiefste Loyalität Jesus gilt (43). wie wertvoll die Einheit des Leibes Genauso eindringlich warnt er Christi ist – so wertvoll, dass Jesus aber davor, im »doctrinal mini- 4 Vgl. Gavin Ortlund: Finding the Right für die Einheit seiner Versamm- malism« Zuflucht zu suchen oder Hills To Die On. The Case for Theolo- lung in den Tod ging (34, 149f.)! in der »doctrinal indifference«, gical Triage, Wheaton 2020. Der Au- Vor diesem Hintergrund warnt er wo man das Trennende kleinrede tor vertritt einige Ansichten, von denen wir uns als »Brüder« distan- eindringlich vor der Versuchung und damit auch die Christen ver- zieren würden – er ist z. B. Vertre- des »doctrinal sectarianism«, also höhne, die für solche Überzeugun- ter des Amillennialismus und des leichtfertig aufgrund von Diver- gen mit dem Leben bezahlt hätten Continuationismus. Kritik an die- sem Buch wird aber nicht bei ein- genzen ein Schisma zu riskieren. (52). Judas jedenfalls – auf diese zelnen Lehrauffassungen ansetzen Pointiert schreibt er, Separatismus unterschiedlichen Verben macht können, weil es ja genau darum sei viel öfter eine Folge von Stolz Ortlund aufmerksam (33, 80, 94) geht, zu klären, wie mit solchen Ab- als eine Folge von Heiligkeit (32). – habe »allen Fleiß angewandt«, weichungen von den eigenen Lehr- auffassungen umzugehen ist. »Die Unfähigkeit, wahre Christen den Geschwistern »über [das] ge- 5 Lehre, dass Jesus Christus vor dem außerhalb des eigenen Zirkels an- meinsame Heil zu schreiben«, sich Tausendjährigen Reich auf die Erde zuerkennen, führt zum geistlichen aber zugleich genötigt gesehen, kommen wird. Niedergang und dem Tod dieser sie daran zu erinnern, »für den ein- 22 Zeit & Schrift 1 ∙ 2021
Aktuelles mal den Heiligen überlieferten Glau- 85f.). Sehr gut unterscheidet er lium nicht unmittelbar betreffen, ben zu kämpfen« (Jud 3). auch zwischen jemand, der bei sei- die aber für das Wohlergehen der Den ersten Teil seines Buches ner Bekehrung vielleicht noch gar Gemeinde Jesu durchaus von Be- beschließt Ortlund damit, anhand nicht mit sämtlichen Lehren der lang sind (z. B. Tauffrage, Geistes- seiner Biografie und am Beispiel Kategorie 1 vertraut ist und den- gaben, Frauenfrage). Differenzen der Tauffrage und der Frage, wie noch von Neuem geboren wird, in dieser Kategorie rechtfertigen Genesis 1 und die Schöpfungstage und jemand, der bekennt, Christ nach Ortlund auch Schismen, wo- zu verstehen sind, das Problem an- zu sein, dann aber heilsentschei- bei die Vertreter solcher Auffassun- derslautender Lehrauffassungen dende Wahrheiten verwirft (80f.). gen als Geschwister wertgeschätzt und seinen eigenen Lernprozess Die Mahnung, einen Versprecher werden sollten und Vertreter bei- bei der Ausbildung von Katego- etwa beim öffentlichen Gebet der Seiten gottesfürchtige Chris- rien nachzuzeichnen. Dieser Weg nicht gleich als Häresie zu werten, ten sein können. Die eigene führte ihn für eine gewisse Zeit in halte ich ebenfalls für sehr weise Überzeugung solle stets in einer die konfessionelle Isolation, die er (81). Die Frage, ob jemand, der demütigen und barmherzigen Ge- weder beabsichtigt noch sich ge- häretische Lehren vertritt, über- sinnung vorgetragen werden. wünscht hatte (67), in der er aber haupt gerettet sein könne, beant- In Kategorie 3 siedelt Ortlund erfuhr, wie Gott ihn auch in der wortet Ortlund aus meiner Sicht schließlich Fragen an, die nicht »denominational migration« be- sehr klug: Was die Aufnahme in unwichtig sind, aber kein Schisma gleitete (70). die Gemeinde betreffe, seien wir rechtfertigen (z. B. Tausendjähri- Im zweiten Teil entwickelt Ort durchaus in der Verantwortung, ges Reich, Schöpfungstage). Sehr lund schließlich sorgfältig seine Häretiker abzuweisen, aber über eindringlich warnt er davor, über Kategorien. Kategorie 1 bezeich- das ewige Wohl und Wehe befinde der Frage, wann die Entrückung net Auffassungen, die unmittelbar glücklicherweise Gott. Das ent- stattfindet oder wer der Antichrist mit dem Evangelium zusammen- spricht m. E. exakt dem, was Paulus sei, nicht die Fragen zu vernach- hängen und die den Unterschied in 2Tim 2,19 schreibt. In Bezug auf lässigen, auf die es eigentlich bei zwischen Orthodoxie und Häre- die Frage nach der Rechtfertigung Jesu Wiederkommen ankommt: sie markieren (z. B. Trinität, Jung- aus Glauben mahnt er zur Vorsicht, die Auferstehung und das End- frauengeburt, Inkarnation, Recht- nicht jede anderslautende Auffas- gericht etwa (126). Weder sollte fertigung aus Glauben). Gemeint sung vorschnell zur Häresie zu er- man den Prämillennialismus5 in sind hier Lehren, die die Person klären, weil einige Auffassungen die Nähe von Häresie rücken, noch Jesu direkt betreffen, die aus gu- nicht klar zwischen Rechtfertigung sollte man ihn zu einem Lackmus- tem Grund als »heilsnotwendig« und Heiligung unterschieden hät- test für Orthodoxie stilisieren. Und bezeichnet werden, denn es gehört ten (88) und Häresie nur da gege- auch hinsichtlich Genesis 1 fordert zu den Kennzeichen eines wahren ben sei, wo man sich in Bezug auf er dazu auf, aus den unterschiedli- Christen, dass er die Lehre der Bi- das Heil nicht allein auf Christus chen Überzeugungen zu der Frage, bel über Jesus Christus annimmt und den Glauben an ihn stütze. wie alt die Erde ist oder wie lange (vgl. 1Joh 4,1–6; 5,9–12; 2Joh 7–11). Auch könne nicht jeder angemes- die Schöpfungstage waren, kein Wenn jemand die Lehre der Apo- sen ausdrücken, dass er sich in Be- Schibboleth zu machen, solange stel über Jesus Christus und das zug auf sein Seelenheil nur auf Je- die Historizität der Ereignisse vo- Zeugnis Gottes über seinen Sohn sus stütze (89). Diese Bemerkung rausgesetzt werde (142). Auch hier antastet, stellt sich die Frage, ob empfinde ich als sehr weise und weist er auf die Gefahr hin, über er wirklich aus Gott geboren ist. hilfreich besonders im Hinblick auf die strittigen Fragen das eigent- Am Beispiel der Jungfrauengeburt das Gespräch mit gläubigen Ka- lich Unerhörte der Schöpfungsge- führt der Autor aus, wie eng mit tholiken. schichte zu übersehen: dass Gott diesen Fragen die Frage nach der Kategorie 2 umfasst nach Ort aus dem Nichts erschuf, die Men- Autorität der Heiligen Schrift im lund solche Fragen, die nicht heils- schen im Bilde Gottes erschaffen Allgemeinen zusammenhängt (83, entscheidend sind und das Evange- wurden und der Sündenfall histo- Zeit & Schrift 1 ∙ 2021 23
Aktuelles risch ist (143). Während man zu- natürlich gibt es Unterschiede in tragfähig ist und es sich in einem weilen für den Glauben kämpfen der Härte des Urteils durch die Spannungsverhältnis zum Sola- müsse, dienten feste Überzeu- Apostel. Das »Anathema« in Gal Scriptura-Prinzip befindet (79) und gungen in Fragen dieser Katego- 1,9 spricht Paulus nicht über ei- zur Tatsache, dass wichtige bib- rie eher dem Zweck, Kämpfe um nen aus, der mit löchriger Jeans lische Dogmen über einen län- des Evangeliums willen zu vermei- zum Gottesdienst kommt, in den geren Zeitraum verschüttet ge- den (144). »Stunden« Kaugummi kaut, sich wesen sein können (93). Wichtig Kategorie 4 schenkt Ortlund die Haare gelt oder hin und wie- sei es ferner, zu fragen, welche nur im Vorwort Beachtung und der zu lange Computer spielt. Wirkung eine bestimmte Auffas- auf S. 47. Hierher gehören Fragen, Bei Paulus’ Frontalkonfrontation sung auf das persönliche und ge- die unwichtig sind bzw. bei denen »Wer hat euch bezaubert?« (Gal 3,1) meindliche Leben habe und in- Christen sich gegenseitig Freiheit geht es um die Abwehr eines An- wieweit eine angestammte Lehre zugestehen und Ambiguität aus- griffs auf das Herzstück des Evan- durch den Zeitgeist unter Druck halten lernen müssen. In der Kir- geliums. In den anderen Briefen geraten sei. Legitim sei es über- chengeschichte wird dafür tradi- demgegenüber ringt und wirbt dies, zu fragen, welche Absichten tionell der Ausdruck »Adiaphora« Paulus um die Einzelnen und um und Methoden die Vertreter einer verwendet (z. B. Musikbegleitung Gemeinden. Dabei ist gut zu er- bestimmten Lehrauffassung ver- im Gottesdienst). kennen, wie Paulus bei den je- folgten und welche Nachteile der- Ortlund ist sich bewusst, dass je- weils diskutierten Auffassungen jenige erleide, der an einer unpo- des Kategorienmodell simplifiziert von Lehre und Lebenswandel ge- pulären Auffassung festhalte, etwa und dass die Übergänge fließend wichtet. Dem Problem, dass je- vonseiten der akademischen Ge- sind (97). Zudem habe man es nie des Kategorienmodell eigentlich meinschaft. nur mit Dogmen zu tun, sondern schon Kriterien voraussetzt, die So sehr mich Ortlunds Katego- immer auch mit unausgesproche- ihrerseits erst einmal definiert rien überzeugt haben, sei mir den- nen Richtlinien und Einstellun- werden müssen und hinterfragt noch folgende Ergänzung gestat- gen (98). Ortlund mahnt, genau werden können, weicht der Au- tet: Ein solches Kategorienmodell hinzuschauen, dann werde sich tor nicht aus. Das Buch bietet eine muss m. E. noch eine Stufe tie- z. B. herausstellen, dass nicht je- Fülle von Beispielen aus dem Neuen fer ansetzen, nämlich beim Bibel- der Vertreter des Continuationis- Testament, aus denen sich erken- text. Paul Henebury hat ein Mo- mus6 auch eine gesonderte Geis- nen lässt, dass auch die Apostel dell entwickelt, in dem er seine testaufe fordere (112) oder dass solche Kategorien unterschieden (fünf) Stufen danach unterschei- man in der Tauffrage gar nicht so (13, 29f., 32, 38–40, 104). In An- det, ob eine bestimmte Lehrauf- weit auseinander liege wie zuvor lehnung an Erik Thoennes und fassung explizit in der Heiligen angenommen; die Kindertaufe zu Wayne Grudem führt Ortlund zu- Schrift vorkommt, ob sie sich un- vertreten sei mitnichten dasselbe dem Kriterien auf, die über die Zu- mittelbar aus solchen Schriftstel- wie die Taufwiedergeburt zu leh- ordnung entscheiden (76–79): die len ableiten lässt oder ob sie auf ren (101). biblische Klarheit in einer Frage,7 Ableitungen zweiten oder noch Kritiker könnten einwenden, die Bedeutsamkeit für das Wesen höheren Grades beruht.8 Auch hier dass solche Kategorien in der Gottes und das des Evangeliums, gibt es noch einen gewissen Spiel- Heiligen Schrift selbst explizit die Häufigkeit und Bedeutsamkeit raum, aber der scheint mir kleiner nicht vorkommen, und sie haben innerhalb der Heiligen Schrift, die zu sein. Die Frage nach der Wich- recht. Allerdings fragt, wer »geübte Wirkung dieser Lehre auf andere tigkeit der jeweiligen Lehre müsste Sinne« (Hebr 5,14) hat, nicht nur Lehren und die Überzeugungen dann in einem zweiten Schritt ge- danach, wo etwas wörtlich so in der Christenheit in Gegenwart und stellt werden. der Bibel steht, sondern auch, ob Vergangenheit. Dabei reflektiert Oben skizzierte Modelle bedür- es dem gesamtbiblischen Zeug- er durchaus, dass das kirchenge- fen allerdings noch weiterer Prä- nis entspricht oder nicht. Und schichtliche Argument allein nicht zisierungen. Zum einen kann ein 24 Zeit & Schrift 1 ∙ 2021
Aktuelles und dieselbe Frage, je nachdem, achtung nicht selten ebenfalls »bis wie sie angegangen wird, in Kate- aufs Blut« kontrovers diskutiert. gorie 2 oder 3 fallen, was Ortlund In den endlosen Debatten zum auch bewusst ist (114). Um es kon- Thema »Abhängigkeit oder Un- kret zu machen: Argumentiert je- abhängigkeit der Ortsgemeinde«, mand in der Frauenfrage damit, die mich seit meiner Kindheit, d. h. dass man ja 1Kor 14,34 mit 1Kor bewusst seit annährend 30 Jahren 11,5 vereinbaren müsse – entwe- begleiten, scheute man sich stets, der man verlegt das Beten und die anderslautende Meinung ex- Weissagen in den privaten Raum plizit als Irrlehre zu bezeichnen, oder das Beten und Weissagen bil- wollte die strittigen Fragen aber det eine Ausnahme vom Schwei- dennoch in den Stand von Be- gegebot –, bewegt sich die De- kenntnisfragen heben, ihnen die batte m. E. in Kategorie 3. Wird Bedeutung eines status confessio- hingegen 1Kor 14,34 wegzukon- nis verleihen. Zu diesem Zweck be- textualisieren versucht und Pau- mühte man die Kategorie »kirch- lus’ Autorität durch Verweis auf liche Ungerechtigkeit«. Ich halte den historischen Kontext unter- das für legitim; man sollte diese miniert, ist die Lehre von der Hei- Strategie aber zugeben und offen ligen Schrift tangiert und die Frage kommunizieren. Denn in der De- fällt in Kategorie 2. batte um das rechte Gemeindever- Zum anderen ist neben dem ständnis vermischten sich meiner Problem, welche Kategorien zu Beobachtung nach allzu oft zwei unterscheiden sind und welche Diskussionsebenen: Es kam zu ei- Frage welcher Kategorie zuzuord- nem Austausch über das Für und nen ist, auch noch das Problem Wider der unterschiedlichen Ge- zu erörtern, bis zu welcher Kate- meindeauffassungen, gleichzeitig gorie eine Glaubensgemeinschaft und unausgesprochen schwang einen Konsens erzielen sollte, also aber stets die Frage mit, ob die Ein- welche Fragen identitätsstiftend stufung als Bekenntnisfrage ge- sind und welche nicht. Traditio- rechtfertigt ist oder nicht. nell wird dieses Problem mit den Ausdrücken »Bekenntnisfall« und Verweigerung der geistlichen »status confessionis« bezeichnet. Triage – kein Kavaliersdelikt! Selbstredend, dass Häresie, also Was ist nun zu tun, wenn eine 6 Lehre, dass alle neutestamentli- chen Geistesgaben (einschließlich Abweichungen in der Katego- Gemeinde oder Glaubensgemein- Prophetie, Sprachenrede und Hei- rie 1, ein Schisma zur Folge hät- schaft die »theologische Triage«, lung) bis heute fortbestehen. ten. Ortlund siedelt die Grenze also die Diskussion darüber, wel- 7 Dass die Heilige Schrift in allen we- für eine Ortsgemeinde oder Glau- chen Stellenwert welche (Lehr-) sentlichen Fragen klar ist, ist Teil des lutherischen Schriftprinzips und bensgemeinschaft zwischen Ka- Auffassungen haben, verweigert? wurde von Luther bereits in seiner tegorie 2 und 3 an, was allerdings Das passiert dann, wenn leitende, Schrift Vom unfreien Willen in aller aus meiner Sicht nicht selbstver- meinungsbildende Brüder, die sich Deutlichkeit formuliert (vgl. Bern- hard Rothen: Die Klarheit der Schrift. ständlich ist. Bis zu welcher Ka- ihrem Selbstverständnis nach ja Martin Luther. Die wiederentdeckten tegorie der Grundsatz »agree to niemals als schwach im Glauben Grundlagen, Göttingen 1990, S. 41). disagree« gilt und ab welcher Ka- bezeichnen würden, Sonderre- 8 Paul Martin Henebury: »Rules of Affi- tegorie der Bekenntnisfall auszu- geln formulieren. Dann wird – um nity«, https://drreluctant.wordpress. rufen ist, wird nach meiner Beob- ein Beispiel zu nennen – die nach com/2012/04/03/rules-of-affinity/ Zeit & Schrift 1 ∙ 2021 25
Aktuelles Geschlechtern getrennte Sitz- beispielsweise die Gottheit Jesu ordnung verteidigt wie die leibli- leugnen würde –, sondern ein che Auferstehung Jesu oder seine »non-essential« zum »essential« Jungfrauengeburt.9 Oder ein »füh- gemacht wird. render« Bruder formuliert alljähr- Auch hier hilft Ortlunds oben lich um Weihnachten herum die bereits erwähnte Unterschei- Sonderregel, kein guter Christ dung zwischen Rechtfertigung dürfe Weihnachten feiern. Ein an- und Heiligung. Um mit seiner Ar- deres Beispiel wäre das strikte Al- gumentation nicht selbst den Feh- koholverbot unter russlanddeut- ler des Rigorismus zu begehen, schen Christen. Während man in den man ja gerade kritisiert, sollte der UdSSR angesichts des weit man deutlich zwischen Rechtfer- verbreiteten Alkoholmissbrauchs tigung und Nachfolge, zwischen als Christ aus gutem Grund gänz- Heil und Heiligung unterschei- lich auf Alkohol verzichtete, fal- den. Verknüpft derjenige, der die len diese Rahmenbedingungen Sondervorschrift verkündet, das in Deutschland weg. Wenn nun mit der Aussicht auf Errettung? geistliche Leiter auch in diesem Dann handelte es sich um ein an- neuen Kontext am Alkoholverbot deres Evangelium und Kategorie 1 festhalten, schränken sie damit wäre betroffen. Verknüpft jemand Christen in ihrer gottgegebenen oder eine ganze Glaubensgemein- Freiheit ein, handeln fahrlässig schaft eine Sondervorschrift »nur« und machen sich des Machtmiss- mit der richtigen Heiligung, muss brauchs schuldig. Wohlgemerkt: das Urteil vorsichtiger ausfallen. Es geht hier um leitende Brüder Wenn sich aber der Verdacht er- einer Gemeinde oder Glaubens- härtet, dass jemand mit solchen gemeinschaft, die per Definition Sonderregeln sein eigenes religi- nicht zu den Schwachen im Sinne öses Fleisch pflegt (vgl. Kol 2,16ff.), von Röm 14 und 1Kor 8 gehören. darf es auch hier kein aushalten- Etwas ganz anderes wäre es, wenn des Schweigen geben! Wo Ein- »Tante Berta« Probleme mit einer zelmeinungen das Gewissen der gemischten Sitzordnung, dem Fei- gesamten Versammlung binden, ern von Weihnachten oder dem darf es keine Toleranz geben. Auch maßvollen Genuss von Alkohol hier kann nach einem mehrfachen hätte und ihr Gewissen deswegen und öffentlichen Ermahnen und in Not geriete. wenn solche Einzelmeinungen In welche Kategorie muss sol- nicht ab- und zurechtgewiesen che Gesetzlichkeit geistlicher Lei- werden, ein Abwenden nötig sein! 9 Wenn eine Glaubensgemeinschaft ter eingeordnet werden? Ist das Denn auch hier verkündet jemand sich in solchen Aspekten der Form Gal 5, d. h. steigt eine Frage, die ei- »Christus+« und verdunkelt, dass nicht wandelt, gerät sie zur muse- gentlich im Bereich der Adiaphora der Grundsatz »allein aus Gnade« alen Veranstaltung, die für Außen- angesiedelt ist, damit in Katego- für Rechtfertigung und Heiligung stehende nur noch für eine kultu- relle Fremdheitserfahrung taugt. rie 2 oder gar 1 auf? Die Frage ist gleichermaßen gilt. Ortlund gibt 10 Gesetzlichkeit. deswegen nicht so einfach zu be- zu bedenken, dass auch Ansich- 11 Vgl. Axel Volk: »Die Lüge von der antworten, weil hier kein »essen- ten einer untergeordneten Kate- Hauptsache«, komm und sieh 48 tial« negiert wird – dann wäre die gorie Einfluss auf das Evangelium (2017), S. 17–19. Sache klar, wenn eine Gemeinde haben können (57). 26 Zeit & Schrift 1 ∙ 2021
Aktuelles Ursachen für den Verlust der fahr zu laufen, ein Gebot Gottes Geschwistern, die einer unabhän- Ambiguitätstoleranz und zu missachten. Mich beschäftigt gigen Gemeinde das Wort reden, Impulse zur Abhilfe schon länger die Frage, ob diese da auch kaum Besserung. Im Ge- Folgende Frage berührt mich als Sorge berechtigt ist. Sollte man genteil: Neue Einzelfragen wie die Aussteiger aus einer im Legalis- also eher Sorge haben, etwas zu Frage nach der Erwerbstätigkeit mus10 gefangenen Glaubensge- gestatten, was die Bibel missbil- von Müttern werden aus dem Be- meinschaft, um deren Reform ich ligt, und daher lieber Vorsicht wal- reich der Adiaphora in den Bereich etliche Jahre vergeblich gekämpft ten lassen, oder sollte man eher der Bekenntnisfragen verschoben. habe, existentiell: Wie kann es Angst haben, etwas zu verbieten, Da hätte man sich die zurücklie- sein, dass dieselben Personen, die was Gott gestattet? Ortlunds Rat genden Trennungen wirklich spa- mit Stolz davon berichten, dass in dieser Frage ist m. E. sehr weise: ren können!11 die internationalen Unterschiede Wir sollten jedenfalls nicht mehr Dass Fragen aus dem Bereich in der (nun wirklich nicht neben- Angst davor haben, etwas zu be- der Adiaphora in die Kategorie 3 sächlichen!) Tauffrage – sie hat grüßen, was ggf. verboten sei, als oder gar 2 verfrachtet werden, nach Ortlund immerhin mehr Mär- davor, etwas zu verbieten, was passiert, wie bereits angedeutet, tyrer unter den Wiedertäufern ge- Gott gestattet hat (122). vornehmlich dort, wo es »Schwa- fordert als Märtyrer in den ersten Kompromisse in Randfragen che im Glauben« (Röm 14, 1Kor 8) drei Jahrhunderten bis zur kons- nicht auszuhalten ist im Grunde in den Leitungskreis, die Brüder- tantinischen Wende (100) – nie zu ein infantiles Verhaltensmuster. stunde o. Ä. »geschafft« haben einem Schisma geführt haben, zu- Wie man mit der derzeit vorherr- oder auf »Brüderbesprechungen« gleich in der Gegenwart jede Am- schenden ambiguitätsintoleran- das Wort führen – was meiner Be- biguitätstoleranz vermissen lassen ten, ja ignoranten Haltung die den- obachtung nach leider eher die und bis ins kleinste Detail festle- kende Jugend halten will (außer Regel als die Ausnahme ist. Und gen, was sein darf und was nicht? mithilfe von Druck), ist mir schlei- so hätte ich mir im Zusammen- Das ist nach Ortlund genauso erhaft. Dass diese nicht in Scharen hang mit Ortlunds Ausführungen schlimm wie die Wahrheit zu ver- davonläuft, gibt mir Rätsel auf – zu Röm 14 auch eine Problemati- wässern und muss als eine sehr aber vermutlich ist es die Angst sierung gewünscht, wen Paulus zerstörerische Sünde bezeichnet vor dem Verlust der Komfortzone denn mit den »Schwachen« meint werden (33). Nach dem vorherr- und Haltegruppe, die uralte Angst, (149). Viele Probleme in gesetz- schenden Verständnis vom einen aus der Synagoge ausgeschlossen lichen Glaubensgemeinschaften Leib, wonach man keine weitere zu werden (vgl. Joh 9,22; 12,42). gerade in Bezug auf Adiaphora re- Glaubensgemeinschaft, sondern Die gesetzliche Verengung, die sultieren ja daraus, dass etwa Äl- eine »Plattform« außerhalb aller ich in meiner vormaligen Glau- teste, die per Definition nicht zu menschlichen Benennungen sein bensgemeinschaft ausgemacht den Schwachen gehören, Anstoß möchte, müsste man doch eine habe, geht m. E. ganz wesentlich nehmen, um ihre Sondervorschrif- besonders ausgeprägte Ambigu- darauf zurück, dass man sich um ten durchzusetzen. Es gehört zu itätstoleranz kultivieren, um ver- o. g. Kategorien keine Gedanken den verbreitetsten Missverständ- schiedene Strömungen auch de gemacht hat. Wie an anderer Stelle nissen v. a. unter konservativen facto auffangen zu können. ausführlicher dargestellt: Für ein Christen, dass das Anstoßnehmen Wohlwollend könnte man wie Grundübel halte ich, dass eine Dis- an nahezu der ganzen Christen- für die Mischna der Pharisäer kussion über die Frage, welche der heit – die wenigen eigenen Ver- geltend machen, dass die engen 1001 (Lehr-)Auffassungen welcher wandten ausgenommen – ein Aus- Grenzen der ernstzunehmenden Kategorie zuzuordnen sind, nicht weis geistlicher Reife sei; nicht zu Sorge entspringen, unmerklich ein stattfindet. Immer gleich den Be- Unrecht spricht man in diesem Gebot Gottes übertreten zu kön- kenntnisfall auszurufen führt je- Zusammenhang auch von einer nen. Man riskiert daher lieber, die denfalls in die Irre und gesetzliche »Diktatur der Schwachen«. Solche Grenzen zu eng zu stecken, als Ge- Enge. Leider beobachte ich bei den Schwachen in leitender Funktion Zeit & Schrift 1 ∙ 2021 27
Aktuelles erfinden auch gern, u. U. in wohl- um theologische Fähigkeiten als meinender Absicht, neue Fröm- um eine Haltung der Demut (147). migkeitsparameter, ohne dass ih- Oft sei nicht Ignoranz das eigentli- nen bewusst ist, dass sie sich damit che Problem, sondern die Ignoranz im Grunde auf dem breiten Weg gegenüber der eigenen Ignoranz. der Gesetzlichkeit befinden und Demut hingegen sei sich nicht nur den Heiligen und Erhabenen mit dessen bewusst, was man nicht den Projektionen ihrer Krämersee- wisse, sondern auch dessen, dass len beleidigen.12 man ggf. nicht wisse, dass man et- Auf der Suche nach Ursachen was nicht weiß. Demut gehe mit für diese unheilvolle Entwicklung der Bereitschaft einher, lernen zu und die Verweigerung jedweder wollen, aufmerksam zuzuhören, Triage stieß ich darüber hinaus und mache uns geistig beweglich, auf die Einschätzung eines lang- während uns Stolz stagnieren lasse jährigen vollzeitlichen »Bruders«, (ebd.).14 Dabei habe Demut nichts selbst von Hause aus Jura-Profes- mit »wishy-washy« zu tun. sor, also Geisteswissenschaftler Was Ortlund schreibt, erinnert par excellence. Er konstatiert la- mich sehr an das, was die Losung pidar, die »geschlossenen Brü- der »Brüder« der ersten Genera- 12 Dieses Phänomen beschriebt Jona- than Swift so wunderbar in Gulli- der« litten an einem Mangel an tion war: »Mit weitem Herzen auf vers Reisen: “All true believers break Geisteswissenschaftlern. Dieser engem Pfad.« Leider, so zumin- their eggs at the convenient end.” Befund deckt sich mit dem, was dest meine Einschätzung, ist von 13 Vgl. Thomas Bauer: Die Vereindeu- Thomas Bauer über die religiö- der Weite des Herzens bei den tigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Dit- sen Laien im Islam schreibt, die »geschlossenen Brüdern« nichts zingen 2018, S. 39. Um Missver- sich radikalisieren: Sie seien häu- mehr übriggeblieben. Ihnen wie ständnissen vorzubeugen: Mir fig Ingenieure, weil sie dort kon- allen anderen Lesern sei daher ins geht es nur um den Vergleichs- punkt »Sehnsucht nach Eindeu- krete Zahlen und die Eindeutigkeit Stammbuch geschrieben, womit tigkeit«. Als Christ und Realist, der fänden, die sie so sehr suchten.13 Paulus so eindringlich die Gala- daran festhält, dass es Wahrheit Auch in diesem Zusammenhang ter konfrontierte: Wer ist deine gibt, falle ich vermutlich ebenfalls unter das Verdikt des Autors. He- gibt Ortlunds Buch etliche Denk- Mutter, ist dein Name Ismael oder rausfordernd und inspirierend ist anstöße. »Theologische Triage« Isaak, bist du Kind der Magd oder für mich die Lektüre aber, weil der sei keine Mathematik-Aufgabe, der Freien (vgl. Gal 4)? Autor entgegen dem oberfläch- sondern erfordere Weisheit, Ge- lichen Befund, wonach die post- moderne Gesellschaft per se zur bet und das Vertrauen auf den Hei- Der Gesetzlichkeit ebenso wie Vielfalt strebt, skizziert, dass auch ligen Geist (123). Ortlund schließt der Beliebigkeit entkommen: die postmoderne Bedeutungslosig- mit einem eindringlichen Plädoyer christlicher Realismus keit, die Sehnsucht nach »Authen- tizität« und »Identität« sowie die für ein weises Vorgehen und eine Niemand wird bestreiten, dass die Flucht in die »verführerische Ein- demütige Gesinnung: »Theologi- Christenheit derzeit v. a. durch das deutigkeit des Marktwertes« Aus- sche Triage erfordert erstens De- um sich greifende postmoderne prägungen der Ambiguitätsintole- ranz sind. mut, zweitens Demut und drittens Mindset und die Abwertung von 14 Für das Phänomen, dass sich v. a. Demut« (146). Widerspruch ohne absoluter Wahrheit und biblisch Halbwissende überschätzen, ohne Demut und Offenheit dafür, dass fundierten Standpunkten ange- es zu merken, hat sich inzwischen man selbst auch irren könne und fochten wird, sodass Irrlehren im der Ausdruck »Dunning-Kruger- blinde Flecke habe, und nur zum Namen falsch verstandener Tole- Effekt« eingebürgert. Zu wissen, dass man nichts weiß, ist eben et- Zweck der Kritik und Zensur sei ranz immer mehr Raum gewinnen was gänzlich anderes als lediglich unangebracht (ebd.). Es gehe bei können. Ebenso deutlich muss bei nichts zu wissen. der theologischen Triage weniger dieser Gelegenheit aber vor der 28 Zeit & Schrift 1 ∙ 2021
Aktuelles Versuchung auf der anderen Seite Ich möchte schließen mit einem gewarnt werden, auch sinnvolle Zitat von Francis Schaeffer. Man und notwendige Kompromisse, muss den Verlust des gesellschaft- die die Wahrheit nicht kompro- lichen Einflusses durch Christen mittieren, abzulehnen und das bi- nicht wie Schaeffer bedauern, aber blische Konzept von Gehorsam zur wie kein Zweiter hat er die An- Gesetzlichkeit verkommen zu las- fechtungen der Gläubigen durch sen. Auch das gehört zur Agenda das post-christliche Zeitalter und des Abfalls, wie Kinley und Hitch- die Postmoderne vorweggenom- cock so treffend anmerken: »Das men und darunter gelitten. Be- ist im Grunde eine Form von Welt- merkenswert finde ich daher, wie lichkeit und Fleischlichkeit, da sie er unter der Überschrift »christ- die sündige Natur in ihrem un- licher Realismus« beiden Reakti- ablässigen Bestreben unterstützt, onsweisen auf die Beliebigkeit der sich selbst zu rechtfertigen.«15 Postmoderne – Gesetzlichkeit auf Die Diskussion darüber, was in der einen, faule Kompromissbe- welche Kategorie gehört, ist nicht reitschaft auf der anderen Seite – überflüssig. Nur eine immerwäh- entgegentritt: rende Debatte darüber schützt uns »[Wir brauchen] jeden Tag die davor, zu »Fanatikern« zu werden Hilfe des Sohnes Gottes, denn aus und in einen geistlichen Radikalis- eigener Kraft schaffen wir es nicht. mus zu verfallen. Wer nicht lernt, Wir müssen ihn seine Furcht in uns die Kategorien sorgfältig zu un- wirken lassen. Wir können in un- terscheiden und in Mitteldingen serer alten Natur Orthodoxie ver- und bestimmten Lehrauffassun- künden, und wir können in unse- gen Differenz auszuhalten, wird rer alten Natur faule Kompromisse am Ende allein dastehen oder eine schließen. Unser Auftrag lautet je- Sekte um sich versammelt haben. doch ganz anders: Wir sollen mit Andererseits – und das wird gern Gottes Hilfe in unserer Generation übersehen – schützt diese Diskus- Gott und sein Wesen sichtbar ma- sion und die Unterscheidung der chen. An uns soll sich zeigen, dass genannten Kategorien genauso er ein persönlicher, heiliger und vor dem Libertinismus16 und An- liebender Gott ist. Unserer alten 15 Mark Hitchcock und Jeff Kinley: Der kommende Abfall vom Glauben. Die tinomismus17. Denn wer etwa nur Natur nach können wir entweder Sabotage des Christentums von in- »fundamentale Irrlehre« kennt, rechtgläubig oder liebevoll und nen, Dillenburg 2018, S. 118. schafft in allen anderen auch kompromissbereit sein. Eines aber 16 Zügellosigkeit, ausschweifende Le- nicht unwesentlichen Aspekten können wir in unserer alten Natur bensweise. Raum für viel zu viel Beliebigkeit. nicht – wir können nicht gleichzei- 17 Gesetzlosigkeit. Gemeinden ebenso wie einzelne tig Gottes Gerechtigkeit und Liebe 18 Vgl. den hervorragenden Aufsatz von Thomas Jeising: »Bibeltreue und Christen, die sich einer Diskussion in unserem Leben sichtbar ma- ihre Grenzgebiete. Indifferenz und darüber verweigern, wo die Grenze chen: das ist nur durch das Wirken Hardlinertum«, https://bibelbund. zwischen diesen Kategorien ver- des Heiligen Geistes möglich. Al- de/2015/07/bibeltreue-und-ihre- grenzgebiete-teil-2/ läuft, sind auf dem Holzweg und les aber, was weniger darstellt, ist 19 Francis A. Schaeffer: Gott ist keine vergehen sich genauso am Sola- nicht Abbild Gottes, sondern eine Illusion. Ausrichtung der historischen Scriptura-Prinzip wie die liberale Karikatur Gottes, der existiert.«19 christlichen Botschaft an das zwan- Bibelkritik, denn beide relativieren zigste Jahrhundert, Wuppertal 1971, Marcel Haldenwang S. 172. auf ihre Weise die Heilige Schrift.18 Zeit & Schrift 1 ∙ 2021 29
Sie können auch lesen