Vorne und Hinten im Städtebau - archimaera
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Christoph Mäckler, Wolfgang Sonne (Dortmund) Vorne und Hinten im Städtebau Bezahlbarer Wohnraum steht heute ganz oben auf der politischen Agen- da der Bundesrepublik Deutschland. Die Fachwelt betont, dass die Fehler der Sechzigerjahre, der monofunktionale Wohnungsbau in Form von Groß- siedlungen auf der grünen Wiese, nicht wiederholt werden dürfen. In vielen Projekten lebt ungewollt die Siedlungsideologie weiter: gleichartige Woh- nungen, allseitige Besonnung und Belüftung, mehr Grünraum als Straßen- raum. Kurz: Es fehlt das Verständnis für das, was Stadt ausmacht, die Tren- nung von Öffentlichkeit und Privatheit – und damit eine Unterscheidung von Vorne und Hinten. Im Siedlungsbau sind alle Seiten gleich; im Städtebau dagegen gibt es Vorder- seiten, die den öffentlichen Raum definieren, und Rückseiten, die sich einem privaten Raum zuwenden. Die Vorderseiten sind als Straßen- und Platzwände anspruchsvoll gestaltet, um den Bedürfnissen der urbanen Öffentlichkeit ge- recht zu werden. Die Rückseiten umfassen die Höfe und Gärten und machen diese zu einem Innenraum, der von den Anliegern genutzt wird. Das Verständnis für diese Differenzierung, für das Vorne und Hinten, das Öf- fentliche und Private, gilt es wiederzugewinnen, wenn mit den neuen Wohn- häusern tatsächlich urbane Quartiere entstehen sollen. Es muss untersucht werden, mit welchen städtebaulichen und architektonischen Typen von Blö- cken, Häusern, Grundrissen und Fassaden das allseits gewünschte urbane Quartier erreicht werden kann. Anstelle von Zeilen, Solitären oder Groß- strukturen bildet das mehrgeschossige Haus am Blockrand mit rückseitigen Flügeln am Hof flexible Möglichkeiten, eine Differenzierung von öffentli- chen und privaten Sphären auszubilden und unterschiedlichsten Ansprü- chen zu genügen. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-52162 März 2021 #9 "Rückseiten" S. 121-138
Es ist der europäische Städtebau, der sichtig und erreichbar sein sollten. Die ganz wesentlich die Idee und die Pra- Rückseite im Städtebau war völlig ver- xis der Rückseite in der Architektur schwunden, die Vorderseite hatte sich ausgebildet hat. In der Landschaft frei- zur Allseitigkeit gemausert. Der Traum stehende Bauten wie der griechische einer alles ausleuchtenden Aufklärung Peripteraltempel, die bergbekrönende schien städtebaulich verwirklicht.2 Burg, der Bauernhof, die Villa oder der Monopteros im Landschaftspark Doch mit diesem Sieg der Allseitigkeit sind mehr oder weniger allansichtig wurden auch die Verluste offenbar: Ge- und haben tendenziell eher gleichge- bäude hatten keine ansprechend und wichtig gestaltete Seiten. Ganz anders anspruchsvoll gestalteten Straßenfas- die Bauten im Stadtgefüge: das Stadt- saden mehr, mit denen sie einen öffent- haus, das Rathaus, die Kirche und viele lichen Stadtraum fassen und schmü- andere städtische Bauaufgaben sind in cken konnten. Und fast noch gravie- das Netz der Stadt eingebunden und render: Gebäude hatten keine Rücksei- richten sich zumeist mit einer Seite – ten mehr, die privater, informeller und ihrer Vorderseite – zu diesem öffent- vielfältiger sein konnten als die Fassa- lichen Straßennetz hin aus. Und da, den der Vorderseite. Die im deutschen wo es eine definierte Vorderseite gibt, Sprachgebrauch vorhandene Differen- ist auch die Rückseite unvermeidbar: zierung in "Straßenfassade und Hof- Da die allermeisten Häuser einer Stadt fassade" macht heute noch deutlich, nur über eine Seite erschlossen werden was dem Städtebau unserer Zeit ver- müssen – die Vorderseite, die mit ih- loren gegangen ist. Weggefallen ist vor rem Eingang am öffentlichen Straßen- allem der informelle, vielfältig nutz- netz liegt –, können die Blöcke zwi- bare Rückraum in der Stadt, der sich schen den Straßen so groß sein, dass in den Höfen im Blockinneren entfal- mehrere Häuser auf einem Block liegen ten konnte: vorbei die Möglichkeit für können und dabei alle über eine Vor- alternative Wohnformen in den Hoff- derseite an der Straße ihren Zugang lügeln von Stadtgebäuden und der da- erhalten, während sie gleichzeitig eine mit ermöglichten sozialen Mischung, Rückseite zum Blockinneren ausbil- vorbei die Möglichkeit zur vielfältigen den. Dies ist die Blockrandbebauung, gewerblichen Nutzung von Höfen und die sich über alle Zeiten und Kultur- der dadurch möglichen funktionalen kreise als ein Grundprinzip des Städte- Mischung, vorbei auch die Möglich- baus finden lässt, da sie einem Grund- keit, private und ruhige Gärten im bedürfnis von Städten entspricht: ma- Hof ungestört von Lärm und Gefahr ximale Bebauungsfläche bei minimaler der Straße anzulegen.3 Nur das private Wegefläche unter der Bedingung der Wohnhaus kennt noch heute das städ- Erreichbarkeit aller einzelnen Häuser tebauliche Prinzip der Trennung zwi- zu schaffen.1 schen der öffentlichen Straße und dem Privatgarten und man fragt sich, wa- Im historischen Überblick sind es nur rum diese selbstverständliche Quali- wenige Vertreter und kurze Zeiträume, tät nicht auch dem heutigen Mietwoh- in denen versucht wurde, mit diesem nungsbau zugute kommen sollte. Grundprinzip zu brechen. Zeitweise galt die Rückseite der Stadt, der Hinter- Mit der Auflösung der Differenz von hof, gar als das Böse schlechthin, das es Vorderseite und Rückseite – von Vor- "quadratkilometerweise glattzurasieren" ne und Hinten – im Städtebau wurde galt (Scheffler), das als "gebaute Gemein- zugleich eine Differenzierung zerstört, heiten" zusammenfallen sollte (Taut) die zu den Grundbedingungen der oder das schlicht "getötet" werden sollte Stadt überhaupt gehört: die Trennung (Le Corbusier), wie die Vertreter ei- von Öffentlichkeit und Privatheit. Erst ner Städtebaurevolution im 20. Jahr- die Städte ermöglichten die Entstehung hundert meinten. Ihr Wunschbild war dieser getrennten Sphären, die für un- die durchgrünte Siedlung, ihre bau- sere modernen Lebensentwürfe, Wert- lichen Typen waren vorzugsweise die vorstellungen und Rechtssysteme so Zeile und das Punkthaus – Bautypen, grundlegend sind. Soziologen haben die den Straßenraum und die Block- dieses Phänomen mit unterschied- begrenzung aufheben und im floa- lichen Begriffen beschrieben. 1903 ting space des allumfassend gedachten sprach Georg Simmel in seinem Vor- Grünraums auch von allen Seiten an- trag "Die Großstädte und das Geistes- 122
Abb. 1: Privatweg mit einge- leben" von der "Blasiertheit" des Groß- sener, ringartiger Baublöcke" entsprach zäuntem Müllplatz im offenen städters, mit der er gleichsam seine in- dieser Polarität: Block. Deutsches Institut für dividuellen Regungen hinter einer ein- Stadtbaukunst. heitlichen Fassade verstecken könne. "Der Baublock schuf zwei Räume, fast Die typische Haltung des Großstädters könnte man sagen, zwei Welten, die im Verhalten sei die "Reserviertheit", zwar innig aufeinander bezogen, aber die erst eine "persönliche Freiheit" der deutlich voneinander getrennt existier- Individuen ermögliche.4 ten: Erstens die Welt der öffentlichen Plätze und Straßen, in der die Kirchen Die Differenzierung von Privatheit und anderen öffentlichen Gebäude an und Öffentlichkeit als Grundbedin- hervorragenden, 'repräsentativen' Stel- gung einer städtischen Lebensweise len lagen. Zweitens die Welt der pri- hat der Soziologe Hans-Paul Bahrdt vaten Wohnbauten und ihrer Höfe und in seinem Buch Die moderne Groß- Gärten, deren privater Charakter da- stadt 1961 als "unvollständige Integrati- durch gesichert war, dass der Zugang on" beschrieben.5 Im Unterschied zum zu der privaten Zelle auf einem Umweg Land- oder Hofleben habe der Städ- über die öffentliche Straße erfolgte."8 ter die Möglichkeit, unterschiedlichen sozialen Gruppen anzugehören. Da- Für den Soziologen Bahrdt war die raus ergebe sich die Unterscheidung bauliche Unterscheidung in Vorder- des Privaten und Öffentlichen als Cha- seiten und Rückseiten das städtebau- rakteristikum der Stadt: "Eine Stadt ist liche Äquivalent zur sozialen Unter- eine größere Ansiedlung von Menschen, scheidung von öffentlicher und pri- in der die sich aus dem Zusammenwoh- vater Sphäre, die wiederum für die nen ergebenden sozialen Kontakte und Stadt konstitutiv ist. Kurz könnte man Institutionalisierungen die Tendenz zei- also auch sagen: Ohne Rückseiten kei- gen, entweder privat oder öffentlich zu ne Stadt. sein."6 Dieser Trennung von sozialen Sphären entsprach auch eine räum- Die konstituierende Bedeutung des öf- liche Trennung: "Die klassische Gestalt fentlichen Lebens für die Stadtgesell- der europäischen Stadt ist ein Ausdruck schaft betonte der Soziologe Richard der Tatsache, dass sich das Leben in ih- Sennett in seinem epochalen Werk nen nach der Grundformel der Polarität über den Verfall und Ende des öffent- und Wechselbeziehung von öffentlicher lichen Lebens. Die Tyrannei der Inti- und privater Sphäre ordnete."7 Insbe- mität, dessen amerikanische Origi- sondere die "Herausbildung geschlos- nalausgabe 1977 erschien. Das Verwi- 123
Abb. 2: Differenzierung öffent- licher und privater Räume durch Blockrandbebauung, Beispiel Quartier St. Leonhard in Graz. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. schen der Grenze zwischen Privatem definieren, und Rückseiten, die sich und Öffentlichem sowie der Verfall einem privaten Raum zuwenden. Die des öffentlichen Lebens durch eine di- Vorderseiten sind als Straßen- und stanzlos übergreifende Privatheit di- Platzwände anspruchsvoll gestaltet, agnostizierte er als zentrales Kultur- um den Bedürfnissen der urbanen und Gesellschaftsproblem seiner Zeit: Öffentlichkeit gerecht zu werden. Die Rückseiten sind oftmals informell und "Die Überzeugung, wahre zwischen- entsprechen den individuellen Wün- menschliche Beziehungen bestün- schen der privaten Nutzer.10 den in Enthüllungen von Persönlich- keit zu Persönlichkeit, hat auch unser Grundlegend zum Verständnis dieses Verständnis für die Zwecke der Stadt Phänomens ist es, sich die wesentlichen verzerrt. Die Stadt ist das Instrument Unterschiede zwischen der Siedlung nichtpersonalen Lebens, die Guß- und dem Stadtquartier vor Augen zu form, in der Menschen, Interessen, Ge- stellen. Während die Siedlung auf eine schmacksrichtungen in ihrer ganzen Überwindung des Gegensatzes von Komplexität und Vielfalt zusammen- Stadt und Land zielt, baut das Stadt- fließen und gesellschaftlich erfahrbar quartier auf einer affirmativen Defini- werden. Die Angst vor der Anonymi- tion des Urbanen im Unterschied zum tät zerbricht diese Form. In ihren hüb- Ländlichen auf. Während die Sied- schen, säuberlichen Gärten unterhal- lung ein letztlich biologisch begrün- ten sich die Leute über die Schrecken detes Kolonisationsmodell darstellt, von London oder New York; hier in basiert das Stadtquartier auf einem Highgate oder Scarsdale kennt man kulturellen Verständnis der Konven- seine Nachbarn; gewiß, es ist nicht viel tionen des Zusammenlebens. Wäh- los, aber dafür ist das Leben sicher. Das rend die Siedlung meist sozial ho- ist die Rückkehr ins Stammesleben."9 mogen als Nachbarschaft konzipiert ist, geht das Stadtquartier von poten- Doch städtisches Leben ist mehr als zieller sozialer Heterogenität und ei- vorstädtisches Stammesleben, es be- ner Differenzierung der öffentlichen steht aus der Differenzierung öffent- und privaten Sphäre aus. Während die licher und privater Verhaltensweisen Siedlung meist monofunktional Woh- und Räume. nen vorsieht, steht im Stadtquartier das Wohnen in einem Zusammen- Dieser sozialen und kulturellen Dif- hang mit vielen anderen Tätigkeiten. ferenzierung von Öffentlichkeit und Während in der Siedlung die Bau- Privatheit entspricht in der Stadt eine körper als Solitärbauten zumeist im räumlich-bauliche Differenzierung: Grünraum schwimmen, gestaltet das die Unterscheidung von Vorne und Stadtquartier mit den Wohnbauten Hinten. Im Siedlungsbau sind alle Sei- am Blockrand öffentliche Räume wie ten gleich; im Städtebau gibt es Vor- Straßen und Plätze. Während die Bau- derseiten, die den öffentlichen Raum ten der Siedlung meist schmucklose 124
Abb. 3: Öffentliche Vordersei- ten in der Stadt, Beispiel Gun- tramstraße in Freiburg. Foto Maximilian Meisse. Wände zum umgebenden Grünraum damit ein Stadtquartier entstehen. ausbilden, wenden sich die Häuser des Denn es ist die Stadt, in der die Ausdif- Stadtquartiers mit ihren gestalteten ferenzierung von öffentlicher und pri- Straßenfassaden an die städtische Öf- vater Sphäre entstanden ist, und erst fentlichkeit. Bautypen der Siedlung diese Ausdifferenzierung und Unter- sind das Reihenhaus, die freistehende scheidung macht unser individuell-li- Zeile oder das Punkthochhaus; städ- berales-gleichberechtigtes Leben mög- tische Wohnbautypen sind das Stadt- lich. Die Unterscheidung von öffentli- haus auf der Parzelle am Blockrand chen und privaten Räumen im Stadt- oder der Reformblock. 11 quartier bildet dafür die Basis. * Vorne Im Unterschied zur Siedlung folgt In Stadtquartieren wird der öffentliche Städtebau daher den nachstehenden Raum durch die Fassaden der Häuser Prinzipien: am Blockrand geformt. (Abb. 3) Differenz von Öffentlichkeit und Wenn Wohnhäuser aber stets so ge- Privatheit dacht werden, dass alle Fenster zu einem diffusen Grünraum orientiert Stadtquartiere setzen sich aus klar un- sein müssen, dann kann kein öffent- terschiedenen öffentlichen und pri- licher Stadtraum entstehen – und so- vaten Räumen zusammen. (Abb. 2) mit auch kein Stadtquartier. Städtebau- lich bedeutet dies: Städtische Wohn- Wohnsiedlungen dagegen schei- häuser wenden sich mit ihrer Straßen- nen von einem homogenen Gemein- fassade dem öffentlichen Raum zu. Ob schaftsraum zu träumen: entweder ist dies, wie in Abb. 3, in geschlossener alles total privat wie in den Einfami- oder in offener Bauweise geschieht, lienhausvororten, oder alles total öf- hängt vom gewünschten Charakter fentlich wie in den Siedlungsgebieten des Quartiers ab. Architektonisch be- des städtischen Wohnungsbaus. Das deutet dies: Private Stadthäuser haben Rückgrat des Stadtquartiers bilden eine Straßenfassade, mit der sie den aber, wie auch sonst in der Stadt, die Straßenraum gestalten. In der Additi- öffentlichen Straßen- und Platzräume. on bilden die Straßenfassaden der ein- Im Schatten dieser öffentlichen Räu- zelnen Häuser damit die Architektur me und davon strikt getrennt entfalten des städtischen Raumes. Wie in der sich private Hof- und Gartenräume Abbildung zu sehen, lassen sich lassen im Inneren des städtischen Blockes, sich öffentliche Gebäude mit der Aus- die fürs individuelle Wohnen zur Ver- bildung ihrer Fassade derart in ein fügung stehen. Nur wenn beides vor- Stadtgefüge einordnen, dass sie den handen ist – öffentlicher und privater Straßenraum abschließen und ihm ei- Raum – kann städtisches Leben und nen eigenen Charakter geben. 125
Abb. 4: Private Rückseiten in der Stadt, Beispiel Guntramstra- ße in Freiburg. Foto Maximilian Meisse. Hinten zungsverordnung, die prinzipiell von funktional unterschiedlich bestimm- Stadtquartiere bieten vielfältige pri- ten Gebieten ausgeht und damit nicht vate Räume im Hof. (Abb. 4) mehr der in der Leipzig Charta 2007 propagierten Idee der Mischnutzung Wenn das Stadthaus vorne Krawatte entspricht. In ein lebendiges Stadt- trägt, so darf es hinten in der Jogging- quartier gehören zum Wohnen noch hose daherkommen. Aus der Orientie- vielfältige weitere Nutzungen, um die rung der Wohnhäuser zum Blockrand funktionale wie soziale Mischung, wie ergibt sich ein privater Hofbereich im sie in den beliebten Stadtvierteln zu Blockinneren. Dieser Hof bzw. diese finden ist, zu gewährleisten: Geschäfte Höfe müssen nicht wie im Siedlungs- und Restaurants müssen die Möglich- bau "durchgrünt" und "durchwegt" keit haben, sich an der baulichen Kan- sein, sondern den Bewohnern für die te des Blocks zum öffentlichen Raum unterschiedlichsten Dinge vom Gärt- hin anzusiedeln. Auch eine Büronut- nern bis zum Werkeln, vom Wäsche- zung kann im städtischen Haus neben trocknen bis zum Abstellen, vom Son- der Wohnnutzung existieren. Im Hof nen bis zum Kinderspiel zur Verfü- kann der vielfältige Betrieb vom tradi- gung stehen. Die Rückseiten von Stadt- tionellen Handwerk bis zum digitalen häusern müssen nicht nach schicker Start-Up unterkommen und so zu ei- Architektenmanier durchdesignt sein ner erneuten Mischung von Wohnen – sie können sich informell den indi- und Arbeiten beitragen. Nicht in je- viduellen Bewohnerwünschen durch der Wohnstraße wird das Erdgeschoss An- und Umbauten anpassen. Gleich- auch durch Läden kommerziell nutz- zeitig können diese Höfe dem Gewerbe bar sein; aber es ist denkbar, durch ge- vom Start Up bis zum Supermarkt ei- werbliche Hofnutzung in kostengün- nen innerstädtischen Raum geben: Fast stiger Lage Möglichkeiten einer diver- alles, was heute noch autogerecht ins sifizierten Ökonomie von Migranten monofunktionale Gewerbegebiet ver- oder High-Tech-Yuppies zu schaffen. bannt wird, könnte im Hof stattfinden. Was passiert, wenn Hinten und Vorne 1. Vorne – Hinten: nicht getrennt werden, sondern öffent- Die Nutzungsmischung licher Straßenraum und privater Hof- raum ineinander übergehen, verdeut- Der allseitig gleiche Wohnungsbau un- licht Abb. 1. Dann muss man Schilder serer Zeit folgt noch immer den Idea- aufstellen, um einen Ort als nicht öf- len des Siedlungsbaus und ist damit fentlich zu kennzeichnen. Wäre der notgedrungen monofunktional: allein Hof geschlossen, müsste man dieses Wohnen – meist mit programmatisch Schild dort nicht einsetzen. Und man sozialer Homogenität – ist dort mög- müsste keine Zäune bauen, mit de- lich. Nach wie vor basieren die Plä- nen der Müll eingeschlossen werden ne für unsere Städte auf einer Baunut- muss. Das ist nur in offenen Bebau- 126
Abb. 5: Joseph Stübben: Der Städtebau. 1890. ungsstrukturen des Mietwohnungs- se Hofseiten sind die Nischen, in denen baus der Fall. Die Kontrolle der Ge- Kleingewerbe, Wohnungen und son- meinschaft der Anlieger ist durch die stige Nutzungen untergebracht werden offene Bebauungsstruktur, in der öf- können. Es sind Nutzungsmischun- fentlich und privat nicht getrennt sind, gen, die im Inneren des Blocks in den verloren gegangen – und damit auch Höfen stattfinden können. Eine dieser eine Differenzierung der Tätigkeiten, Nutzungsmischungen ist der Kinder- die vor und hinter dem Haus stattfin- spielplatz, den wir heute in unserer Ge- den können. setzgebung sehr aufwendig und genau definieren und in seiner Größe festle- Wenn man in Josef Stübbens Buch gen. Im europäischen Städtebau ist der Der Städtebau nachschaut, dann fin- Hof ein Spielplatz für Kinder und ga- det man auf den ersten zwanzig Seiten rantiert die soziale Kontrolle. Die Men- nur Texte zum Wohnungsbau. (Abb. schen, die aus den Fenstern in den Hof 5) Stübben schreibt nicht über Stadt, schauen, sehen, was dort unten pas- sondern kümmert sich zunächst um siert. Gerade in unserer heutigen Ge- Wohnhaustypologien. Alle diese Häu- sellschaft, in der beide Ehepartner ar- ser haben hinten Anbauten. Sie stehen beiten und Kinder haben, wäre es eine europaweit in Madrid, London, Paris, wunderbare Situation, wenn das Kind Magdeburg, Köln, Brüssel, Budapest. im Hof spielen kann. Heute werden Alle diese Häuser sind Häuser, die eine diese Höfe von den Bewohnern adap- Rückseite und eine repräsentative Seite tiert. (Abb. 6) Man stellt Sandkisten zur Stadt haben. Diese Rückseiten, die- auf. Man bepflanzt diese Höfe. Sie sind Abb. 6: Der Wohnhof in einem geschlossenen Block in Berlin erlaubt private Nutzung. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. 127
Abb. 7: Offener Hof in Frank- furt-Riedberg: öffentliche und private Nutzungen stören einander. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. grün und bilden einen privaten Au- ßere Nutzungseinheiten wie Schulen, ßenraum für die Menschen, die um Vollsortimenter, oder sogar Busbahn- diesen Wohnhof herum leben, im Ge- höfe können im Blockinneren unter- gensatz zur offenen Bebauung, die alle gebracht werden. Ein Beispiel dafür möglichen Nutzungen hat, die sich in ist die Lessing-Oberschule in Berlin. ihrer Funktion aber nicht miteinander (Abb. 9) Die Abbildung zeigt, wie die vertragen. (Abb. 7) Hauptfassade der Schule in den öffent- Abb. 8 (links): Gewerbehof in lichen Raum der Straße weist. Man Berlin. Deutsches Institut für In der europäischen Stadt finden sich geht durch das Tor des Gebäudes an Stadtbaukunst. auch Gewerbehöfe, die wunderbar ver- der Straße hindurch und gelangt in Abb. 9 (unten rechts): Schulhof träglich mit dem Wohnen in diesen den Schulhof. Das Lärmproblem ist im Blockinneren, Lessing-Ober- Höfen übereinstimmen. (Abb. 8) Sie dadurch gelöst, dass der Schulhof vom schule, Schöningstraße in Ber- führen zu einer Nutzungsmischung im Schulgebäude komplett umschlossen lin. Philipp Meuser. Wohnviertel, die zu jeder Tageszeit Le- ist. Das Schulhaus ist also städtebau- Abb. 10 (rechts) : Großbetrieb bendigkeit und Vielfalt in einem Stadt- lich so in dem großen Block integriert, im Blockinneren, BVG-Betriebs- quartier garantieren, weil in diesen dass die Wohnbebauung mit ihren ru- hof, Müllerstraße in Berlin. Quartieren nicht nur gewohnt, son- higen Wohnhöfen perfekt genutzt wer- Philipp Meuser. dern auch gearbeitet wird. Auch grö- den kann. 128
Abb. 11: Joseph Stübben: Der Städtebau. 1890. Ein weiteres Beispiel ist der Omni- Blockrand/ an der Blockecke, zur Stra- busbetriebshof der BVG in Berlin mit ße/ zum Hof, nach Norden/ nach Sü- 4.000 Quadratmetern Grundfläche den, im Tal/ am Hang, zur Autostra- (Abb. 10). In dieser 14.000 Quadratme- ße/ zur Fußgängergasse etc. Mehr noch: ter großen Halle ließen sich problemlos mit ihrer Grundrissausbildung und ih- 14 Rewe-Märkte, ein IKEA-Möbelhaus rer Haustypenbildung muss die Woh- oder Ähnliches unterbringen. Ein- nung ihrerseits charakteristische städ- geschlossen wird die Anlage von 300 tische Orte schaffen. An Stelle von Zei- Wohneinheiten mit Zwei- und Drei- len, Solitären oder Großstrukturen bil- zimmerwohnungen. Der den Betriebs- det das mehrgeschossige Wohn- und hof umgebende Wohnungsbau entwi- Geschäftshaus am Blockrand mit rück- ckelt die notwendige Stadtverträglich- seitigen Flügeln am Hof flexible Mög- keit zum öffentlichen Raum der Stra- lichkeiten, eine Differenzierung von öf- ße hin. Es ist eine Anlage, die sich per- fentlichen und privaten Sphären aus- fekt in den städtischen Raum einfügt. zubilden und unterschiedlichsten An- Es ist eine städtische Situation, mit der sprüchen zu genügen. man jedes Gewerbegebiet ad acta le- gen könnte. Wenn wir über Nutzungs- Zunächst ist da einmal der Stadt- mischung im städtischen Raum nach- grundriss, der eine Differenzierung in denken, müssen solche Situationen neu öffentliche Räume (meist Straßen und gedacht werden. Dieser Busbahnhof ist Plätze) und private Räume (meist Blö- nicht einmal 100 Jahre alt und funktio- cke) schaffen muss. Auf dem Bild von niert noch heute perfekt. Joseph Stübben (Abb.11) zeigen die grauen Flächen die private Bebauung, Es sind die Rückseiten der Stadt – die die weißen Flächen aber bilden den öf- Höfe im Blockinneren –, die funktio- fentlichen Raum, die Straßen und die nale Mischung und soziale Vielfalt er- Plätze, die das Wesentliche im Stadt- möglichen, die zu den Grundcharak- grundriss sind. Diese sind ganz klar he- teristika des Städtischen zählen. rausgearbeitet und man erkennt schon in diesem einfachen, zweidimensio- 2. Vorne – Hinten: nalen Schwarzplan die Klassifizierung Der Grundriss des Hauses der öffentlichen Räume, der Plätze und der Straßen, die von der schmalen Gas- Der auf gleichmäßige Ost-West-Beson- se bis zum Boulevard rangieren. Und nung ausgerichtete Wohnungsgrundriss man erkennt öffentliche Bauwerke und ist städtebaulich völlig unflexibel und Plätze, auf die die Straßen zulaufen führt konsequenter Weise zur Stadtau- und an denen sie enden. flösung durch Zeilenbau und Punkt- häuser. Wohnungsgrundrisse müssen Dagegen kann man in der Darstel- aber flexibel auf unterschiedliche städ- lung noch nicht erkennen, wie die Be- tebauliche Lagen reagieren können: am bauung des Blockes, wie die Haus- 129
Abb. 12: Joseph Stübben: Der Städtebau. 1890. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. Abb. 13: Freistehende Punkt- häuser und Zeilen ohne Vorder- und Rückseiten, ohne öffent- liche und private Räume. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. grundrisse geplant sind: Die Innen- denen Jahrhunderten. (Abb. 12) Alle räume der Blöcke sind noch nicht de- den Block formenden Haustypen wei- finiert. Tatsächlich findet in den mei- sen auf ihrer Rückseite Anbauten auf. sten innenstädtischen Quartieren eine Es handelt sich um Hof-, oder Flügel- geschlossene Blockrandbebauung mit häuser. In den beiden Beispielen aus Flügelhäusern statt, die einen Hofbe- Köln erscheinen die Anbauten dieser reich im Inneren des Blockes freilässt: Flügelhäuser in ihrer Grundrissform fast wahllos, weil sie sich im Inneren Blockrandbebauung, weil so das Haus des Blockes nicht einem städtischen am leichtesten von der Straße aus Kontext unterzuordnen haben. Haus- zu erreichen ist; typen unserer Zeit dagegen kennen keine Anbauten. Sie haben eine Soli- geschlossene Bebauung, weil so je- tärform, die kein Vorne und Hinten des Haus direkt an den Nachbarn kennt. (Abb. 13). Mit diesem Mangel angebaut werden kann und kein aber entsteht auch der Mangel an öf- wertvoller Boden verloren geht. fentlichen und privaten Räumen, an sozialen Räumen, den Begegnungs- Eine weitere Zeichnung von Joseph räumen unserer demokratischen Ge- Stübben zeigt Blöcke aus verschie- sellschaft. 130
Abb. 14 (oben): Albert Geul: Diese Begegnungsräume finden sich dem Gesamtgrundriss der Stadt un- Die Anlage der Wohngebäude mit nicht nur im geschlossenen Block, terordnet. Das Haus ist Teil des Stadt- besonderer Rücksicht auf das städ- sondern natürlich auch in der offe- raums. Betrachtet man den Grund- tische Wohn- und Miethaus. nen Blockrandbebauung wie in Dres- riss im Inneren, erkennt man, dass er Leipzig 1885. den-Striesen. (Abb. 15) Die Häuser eine fantastische, klare und einfache sitzen am Blockrand und bilden ei- Ordnung hat. Trotz der Schiefwink- Abb. 15 (oben links): Offene nen Hof im Blockinneren. In dem Mo- ligkeit und trotz der Tatsache, dass Blockrandbebauung mit Dif- ment, wo dieser Block aber im Inneren von den vier Fassaden drei als Brand- ferenzierung öffentlicher und mit Häusern versehen wird, (Abb. 16) wände komplett geschlossen sind, ist privater Räume, Beispiel wird das Innere und das Äußere des keines der Zimmer ein ungestalteter Dresden-Striesen. Blockes zu einer Funktionseinheit, die Restraum, sondern jeder Raum hat Abb. 16 (oben rechts) : Frei- das Vorne und Hinten auflöst und eine eine ganz klare Grundrissfigur und stehende Bebauung im Block Nutzungsdiversität unmöglich macht. ist mit Tageslicht versorgt. Vorne gibt ohne Differenzierung öffent- es die Straßenfassade, die sehr klar in licher und privater Räume, Die Flexibilität dieser Prinzipien zeigt der Flucht des Straßenraums zu ste- Beispiel Frankfurt-Riedberg. sich im Grundriss eines städtischen hen kommt. Abb. 15 & 16 Deutsches Institut Hauses,12 der in seiner äußeren Form für Stadtbaukunst. völlig verzogen ist. (Abb. 14) Der Im Deutschen Institut für Stadtbau- Grund für diese verzogene Form ist kunst werden zeitgenössische Typolo- der Grundstückszuschnitt, der sich gien von Hof – und Flügelhäusern auf 131
Abb. 17 (oben): Haustypen der Stadt. Abb. 18 (rechts): Typ 6A, Erd- geschoss. Abb. 19 (ganz rechts): Typ 6A, Obergeschoss. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. der Grundlage des geförderten Woh- Ein wesentlicher Punkt in der Erarbei- nungsbaus erarbeitet. Grundlage sind tung der Flügelhäuser ist der Umgang dabei Haustypen, die sich im Stadt- mit dem sogenannten "Berliner Zim- grundriss der europäischen Stadt fin- mer" – ein Wohnraum der das Vorder- den (Abb. 17). Es gibt verschiedene Ty- haus am Blockrand mit dem Hinter- pen, die Vorderhaus und Hinterhaus haus verbindet. In Typ 6 (Abb. 18, 19) sehr unterschiedlich anordnen und in findet sich eine Durchfahrt zum rück- geschlossene und offene Bebauungen wärtigen Hofhaus. In diesem Typ kann unterteilt sind. Die nachfolgenden Bei- das Vorderhaus oder das Hofhaus bei- spiele verdeutlichen die Bandbreite der spielsweise frei finanziert werden, wäh- möglichen Lösungen. rend im Wechsel dazu das andere Haus 132
Abb. 21: Typ 8, Obergeschoss, Kombination von vier Häusern. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. Abb. 20: Typ 8, Erdgeschoss. mente von Typ 8, entsteht ein Hof von Deutsches Institut für Stadt- über 500 Quadratmetern. baukunst. Typ 9 (Abb. 22, 23, 24) ist ein Gewer- behof-Typ, hinter dessen rückwär- tige Brandwand Gewerbebauten ent- stehen können. In dem neuen Bochu- mer Stadtquartier "Havkenscheider- höhe" wird dieser Flügelhaustyp zum ersten Mal in Kombination mit ei- ner Quartiersgarage realisiert wer- einen geförderten Grundriss aufweist, den: Der öffentliche Straßenraum (das sodass soziale Mischung auf nur einer Vorne) wird von Wohnhäusern einge- Parzelle realisiert werden kann. Je nach fasst, hinter denen sich der Grundriss Belichtungsmöglichkeiten und Hof- der Quartiersgarage (das Hinten) als größe können die Bebauungen auch Hochgarage entwickelt. verschiedene Höhen aufweisen. Diese für Bochum und Frankfurt am Der Typ 8 (Abb. 20, 21) legt die An- Main entwickelten Haustypen geben bauten in die Mitte des Hauses. Das dem Stadtquartier zurück, was die Zei- "Um-die-Ecke-Führen" der Wohnungen hat zum Ergebnis, dass es in den Ecken keine Belichtungsprobleme, aber auch keinen Brandüberschlag gibt. Der Hausgrundriss hat kein Berliner Zim- mer und entspricht den Richtlinien des geförderten Wohnungsbaus. Dieser Haustyp wird in dem neuen Frankfur- ter Stadtquartier "Römerhof" realisiert werden. Kombiniert man mehrere Ele- Abb. 22: Typ 9, Erdgeschoss. Abb. 23 (rechts oben): Typ 9, er- stes Obergeschoss. Abb. 24 (rechts): Typ 9, zweites Obergeschoss. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. 133
Abb. 25: Formstrenge Vorder- fassade, informelle Rückseite, Beispiel Royal Crescent in Bath. Wikimedia Commons. lenbebauung nicht in der Lage ist zu re- baut ist. So bleibt als zweite Wand zum alisieren: auf kleinsten Flächen entste- Außenraum nur die Wand zum Block- hen Flügel- und Hofhäuser, in denen inneren – zum Hof -, die als Rückfas- die soziale Vielfalt und funktionale sade keinerlei repräsentativen und ge- Mischung der europäischen Stadt wie- stalterischen Anspruch vertreten muss der möglich wird. und insofern eigentlich gar keine Fas- sade ("Gesicht") bildet. 3. Vorne – Hinten: Die Fassade Von der Ausnahme her lässt sich die- se Regel noch besser verstehen. Nur Im floating space mit allseits gleichen wenige Privatgebäude in der Stadt bil- Wohnqualitäten sind alle Fassaden den tatsächlich im Hof ihre eigent- gleich; der heutige Siedlungs-Woh- liche, architektonisch anspruchsvolle nungsbau kennt keine Vorder- und und sozial repräsentative Fassade aus. Rückfassaden. Meist gut gemeint, wird Es sind die Adelspaläste, die sich in den auch um jüngste Wohnungsbaupro- Stadtkörper einfügen, aber dennoch jekte die vom Architekten designte die Distinktion der Adelsschicht aus- Fassade um das ganze Haus herum- drücken wollen. So zeigen etwa italie- gezogen. Doch die Kosten dieser ge- nische Renaissancepaläste wie der Pa- stalterischen Gleichberechtigung sind lazzo Medici in Florenz oder der Palaz- hoch: Die öffentliche Seite des Hauses zo Farnese in Rom an der Außenfassa- verliert ihre Besonderheit, einen privi- de ein konventionelles Mauerwerk, mit ligierten öffentlichen Raum auszubil- dem sie sich in die Bürgerstadt einglie- den; die private Seite des Hauses ver- dern. Im Hof aber zeigen sie die moder- liert ihre Freiheit, informell den un- ne Manier der antiken Säulenordnung, terschiedlichen und wandelbaren Vor- mit der sie für die gebildete Schicht der stellungen der Bewohner entsprechen Hofgesellschaft ihren besonderen Sta- zu können. Individualistische Balkon- tus anzeigen. Ganz ähnlich ist es beim kaskaden zur Straße sind ebenso un- Pariser Stadtpalast des Barock, bei dem städtisch wie formstrenge Hoffassa- der Cour d'honneur hinter einer meist den unwohnlich sind. einfachen Mauer die eigentliche archi- tektonische Prachtentfaltung bietet. Das städtische Haus hat eigentlich nur Nur da, wo die höfische Gesellschaft in eine Fassade: die Straßenfassade, mit die bürgerliche Stadtgesellschaft ein- der es sich dem öffentlichen Raum zu- bricht, wird die Hoffassade zur eigent- wendet, von dem es erschlossen wird. lichen Hauptfassade. Beim Bürgerhaus, Bei verdichteter städtischer Bauweise der Bauaufgabe der Stadtgesellschaft, mit geschlossener Blockrandbebauung dagegen bildet die Hofseite nur eine können die beiden seitlichen Wände Rückseite. Die wesentliche Gestaltung gar keine Fassaden ausbilden, da hier findet zur Straße im Kontext der ande- direkt das jeweilige Nachbarhaus ange- ren Bürgerhäuser statt. 134
terraced house. In größter architekto- nischer Strenge bildet beispielsweise der Royal Crescent in Bath eine mo- numentale Vorderseite aus, während die Rückseite in geradezu demonstra- tiver Informalität sich von Haus zu Haus unterschiedlich und anspruchs- los gibt. (Abb. 25) Hier entspricht die Differenz von Vorderfassade und Rückwand nicht nur der Differenz von öffentlichem Raum zu privatem Raum, sondern zugleich auch der sozi- alen Differenz von Adels- und Bürger- schicht zur Schicht der einfachen Be- diensteten, die den Service des Hauses rückwärtig über die lane abwickelten. Doch bedarf es gar nicht dieser beson- deren gesellschaftlichen Situation, um eine Rückseite ganz anders als eine Vorderseite auszubilden. Es gibt im deutschen Sprachgebrauch die Begriffe Straßenfassade und Hoffassade, Stra- ßenfenster und Hoffenster. Sie zeigen, wie verbreitet diese Unterschiede auch in Städten in Deutschland waren und sind. Ein schönes Beispiel dafür bildet das Bremer Haus. (Abb. 26) Man stel- le sich vor, man würde einen solchen Block heute in einem städtebaulichen Wettbewerb als Architekt oder Planer aufzeichnen: ein Block, 160 Meter lang und 35 Meter tief. Jeder würde sagen, das sei völlig undenkbar. Wenn man sich aber dieses Bild ansieht (Abb. 27), dann sieht man, dass durch die Ver- einzelung der Häuser, durch die ein- zelnen, unterschiedlichen Architek- turen dieser parzellierten Blöcke eine Vielfalt erzeugt wird, die uns diese 160 Meter nicht mehr als etwas Trost- loses, Langweiliges oder Monotones darstellt. Jedes Haus erzählt mit einem eigenen Anspruch von einer gewissen Würde des Wohnens hin zum öffentli- chen Straßenraum. Der Anblick der Rückseiten lässt kaum den Gedanken aufkommen, dass es sich um denselben Block handelt. (Abb. Abb. 26 (ganz oben): Lange "Vorne hui – hinten pfui" mag man he- 28) Nicht nur ist jedes Haus anders, Blocks in Bremen-Neustadt. rabschätzend dazu sagen; "vorne Ar- sondern auch jede Rückfassade bildet Hajo Diez. chitektur – hinten Bauen" kann man es in sich keine architektonische Kompo- Abb. 27: Wohlgestaltete Vorder- sachlich beschreiben; "vorne Regel und sition aus. Dies mag der allumfassend seite zur öffentlichen Straße, Benimm – hinten Freiheit und laisser gestalten wollende Architekt bedauern Bremen-Neustadt. faire" könnte man es wertschätzend – aber es stellt eine ungeheure Qualität Abb: 28: Formlose und wandel- formulieren: die Rückseite gehört zum dar: Es erlaubt, dass sich das Haus an bare Rückseite zum privaten Stadthaus wie die Vorderseite. Kaum der Rückseite den individuellen Wün- Hof, Bremen-Neustadt. ein Beispiel vermag die Differenz die- schen seiner Bewohnerinnen und Be- Abb. 27, 28: Landeshauptstadt ser zwei Welten so deutlich zu mar- wohner immer wieder anpassen kann. Hannover. kieren wie der Bautyp des britischen Mal wird ein Balkon angebaut, mal ein 135
Abb. 29: Reihenhäuser in Sied- lungsbauweise, öffentliche und private Seite sind vermischt. Deutsches Institut für Stadt- baukunst. Abb. 30 (unten): Reihenhäu- ser in Stadtbauweise, öffent- licher Raum vor dem Haus, pri- vater Raum hinter dem Haus, Sankt-Leonhards-Garten in Braunschweig. Stadt Braunschweig. Wintergarten; der eine baut das Dach Seiten auch gleich aus. Doch das ist aus, der andere noch ein Zimmer an. nicht der Kern des Problems: Es wer- Und während hinten das Haus den le- den auch die öffentliche und die pri- bendigen Wechsel erlaubt, kann es an vate Sphäre zusammengelegt. Die öf- der Vorderseite die wohlgeordnete Ge- fentliche Erschließung für die eine stalt im Verhältnis zu den Nachbar- Zeile liegt direkt neben der privaten bauten beibehalten. Die Rückseiten er- Gartennutzung der anderen Zeile. Da- möglichen die Freiheiten, die eine städ- mit kommen zwei Funktionen zusam- tische Bebauung braucht, um langfri- men, die nicht zusammengehören und stig bestehen zu können. die nicht zusammen funktionieren: Der Gartenzaun mit seiner Nothecke zeigt Statt eines solchen erwiesenermaßen das städtebauliche Versagen an. Dabei funktionierenden Städtebaus legen wir ist die städtebaulich befriedigende An- heute Reihenhäuser zumeist als Sied- lage von Reihenhäusern keineswegs lungsbauten an. Immer stur in dersel- eine Frage von modern versus histo- ben Weise als Zeilen ausgerichtet, wer- risch: Ein schönes Beispiel aus Braun- den im Zwischenraum zwischen den schweig von Klaus Theo Brenner zeigt, Bauten das Vorne und das Hinten zu- wie Vorne und Hinten auch heute im sammengelegt. (Abb. 29) Tatsächlich Reihenhausbau funktionieren: (Abb. sehen diese Reihenhäuser auf beiden 30) Vorne befindet sich der öffentliche 136
Platz mit seinen Straßen und nach hin- wieder wechselnder Vielfalt verwirkli- ten haben die einzelnen Häuser ihre chen, ohne dass der kontextuelle Kon- Gärten zu den rückseitigen Gärten der sens des öffentlichen Lebens an der bestehenden Häuser, die ihnen gegen- Vorderseite aufgegeben werden muss. überstehen. In den rückwärtigen Höfen lassen sich Grün- und Erholungsräume für die Welchen Aspekt der städtischen Bebau- Stadtbewohner anlegen, ohne dass der ung man auch anschaut – ob Nutzung, Straßenraum als urbaner Raum "ge- Grundriss oder Fassade – die Differen- tötet" werden muss. Die rückseitigen zierung in Vorne und Hinten, in Vor- Höfe ermöglichen alternative Wohn- derseite und Rückseite, in öffentlichen formen, die die soziale Vielfalt im und privaten Raum bildet das zentrale Stadtquartier steigern helfen. Desweite- Spannungsfeld, in dem sich städtisches ren bieten Höfe im Blockinneren Platz Leben und städtische Kultur überhaupt und Gelegenheit für vielfältiges Arbei- erst entwickeln kann. Umgekehrt be- ten und Gewerbe bis hin zum groß- deutet das, dass städtebauliche und ar- flächigen Handel – all dies sind Funkti- chitektonische Konzepte, die die Rück- onen, die wir wieder in die Stadt brin- seiten aus der Stadt verdrängen, auflö- gen müssen, um eine nachhaltige Stadt sen oder vernichten wollen, zugleich der kurzen Wege zu realisieren. Und an der Substanz des Städtischen mit all nicht zuletzt sind es beschattete Innen- seinen politischen, ökonomischen, ge- höfe, die in Zeiten des Klimawandels sellschaftlichen und kulturellen Wer- kühle Inseln im Stadtgefüge schaffen. ten nagen. An den Rückseiten der Häu- Kurz: Ohne Rückseiten ist keine gute ser kann sich privates Leben in immer Stadt zu haben. Anmerkungen: Angela Rammstedt, Otthein Tyrannei der Intimität. Frankfurt Rammstedt (Hg.): Georg Simmel a. M. 1983, S. 382. 1 Wolfgang Sonne: "Bau- Gesamtausgabe, Bd. 7, Aufsätze block". In: Vittorio Magnago und Abhandlungen 1901-1908, 10 Werk. Archithese Lampugnani, Konstanze Band I. Frankfurt a. M. 1995, S. (Stadt-Rückseiten), H. 31-32, Domhardt, Rainer Schützeichel 116. 1979. (Hg.): Enzyklopädie zum gestal- teten Raum. Im Spannungsfeld 5 Hans Paul Bahrdt: Die mo- 11 Wolfgang Sonne: "Städ- zwischen Stadt und Landschaft. derne Großstadt. Soziologische tebau versus Siedlungsbau. Zürich 2014, S. 38-49. Überlegungen zum Städtebau. Der urbane Kontext zu den Reinbek bei Hamburg 1961. Werkbundsiedlungen im 20. 2 Wolfgang Sonne: Urbanität Jahrhundert". In: Deutscher und Dichte im Städtebau des 20. 6 Hans Paul Bahrdt: "Entstäd- Werkbund Berlin (Hg.): Bauen Jahrhunderts. Berlin 2014. terung oder Urbanisierung. und Wohnen. Die Geschichte der Soziologische Gedanken zum Werkbundsiedlungen. Tübingen 3 Christoph Mäckler, Wolfgang Städtebau von morgen". In: 2016, S. 56-79. Sonne (Hg.): Konferenz zur Baukunst und Werkform, Bd. 12, Schönheit und Lebensfähigkeit 1956, S. 653-657, S. 653. 12 Georg Ebbing, Christoph der Stadt 8. Vorne – Hinten. Wie Mäckler (Hg.): Der Eckgrundriss. wird aus Wohnhäusern Stadt? 7 Ebd., S. 655. Bücher zur Stadtbaukunst, Band Berlin 2018. 2. Sulgen 2013. 8 Ebd. 4 Georg Simmel: "Die Großstädte und das Geistes- 9 Richard Sennett: Verfall und leben". In: Rüdiger Kramme, Ende des öffentlichen Lebens. Die 137
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