Vorne und Hinten im Städtebau - archimaera

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Vorne und Hinten im Städtebau - archimaera
Christoph Mäckler,
Wolfgang Sonne
(Dortmund)

Vorne und Hinten im
Städtebau
Bezahlbarer Wohnraum steht heute ganz oben auf der politischen Agen-
da der Bundesrepublik Deutschland. Die Fachwelt betont, dass die Fehler
der Sechzigerjahre, der monofunktionale Wohnungsbau in Form von Groß-
siedlungen auf der grünen Wiese, nicht wiederholt werden dürfen. In vielen
Projekten lebt ungewollt die Siedlungsideologie weiter: gleichartige Woh-
nungen, allseitige Besonnung und Belüftung, mehr Grünraum als Straßen-
raum. Kurz: Es fehlt das Verständnis für das, was Stadt ausmacht, die Tren-
nung von Öffentlichkeit und Privatheit – und damit eine Unterscheidung
von Vorne und Hinten.

Im Siedlungsbau sind alle Seiten gleich; im Städtebau dagegen gibt es Vorder-
seiten, die den öffentlichen Raum definieren, und Rückseiten, die sich einem
privaten Raum zuwenden. Die Vorderseiten sind als Straßen- und Platzwände
anspruchsvoll gestaltet, um den Bedürfnissen der urbanen Öffentlichkeit ge-
recht zu werden. Die Rückseiten umfassen die Höfe und Gärten und machen
diese zu einem Innenraum, der von den Anliegern genutzt wird.

Das Verständnis für diese Differenzierung, für das Vorne und Hinten, das Öf-
fentliche und Private, gilt es wiederzugewinnen, wenn mit den neuen Wohn-
häusern tatsächlich urbane Quartiere entstehen sollen. Es muss untersucht
werden, mit welchen städtebaulichen und architektonischen Typen von Blö-
cken, Häusern, Grundrissen und Fassaden das allseits gewünschte urbane
Quartier erreicht werden kann. Anstelle von Zeilen, Solitären oder Groß-
strukturen bildet das mehrgeschossige Haus am Blockrand mit rückseitigen
Flügeln am Hof flexible Möglichkeiten, eine Differenzierung von öffentli-
chen und privaten Sphären auszubilden und unterschiedlichsten Ansprü-
chen zu genügen.

http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-52162
März 2021
#9 "Rückseiten"
S. 121-138
Vorne und Hinten im Städtebau - archimaera
Es ist der europäische Städtebau, der      sichtig und erreichbar sein sollten. Die
ganz wesentlich die Idee und die Pra-      Rückseite im Städtebau war völlig ver-
xis der Rückseite in der Architektur       schwunden, die Vorderseite hatte sich
ausgebildet hat. In der Landschaft frei-   zur Allseitigkeit gemausert. Der Traum
stehende Bauten wie der griechische        einer alles ausleuchtenden Aufklärung
Peripteraltempel, die bergbekrönende       schien städtebaulich verwirklicht.2
Burg, der Bauernhof, die Villa oder
der Monopteros im Landschaftspark          Doch mit diesem Sieg der Allseitigkeit
sind mehr oder weniger allansichtig        wurden auch die Verluste offenbar: Ge-
und haben tendenziell eher gleichge-       bäude hatten keine ansprechend und
wichtig gestaltete Seiten. Ganz anders     anspruchsvoll gestalteten Straßenfas-
die Bauten im Stadtgefüge: das Stadt-      saden mehr, mit denen sie einen öffent-
haus, das Rathaus, die Kirche und viele    lichen Stadtraum fassen und schmü-
andere städtische Bauaufgaben sind in      cken konnten. Und fast noch gravie-
das Netz der Stadt eingebunden und         render: Gebäude hatten keine Rücksei-
richten sich zumeist mit einer Seite –     ten mehr, die privater, informeller und
ihrer Vorderseite – zu diesem öffent-      vielfältiger sein konnten als die Fassa-
lichen Straßennetz hin aus. Und da,        den der Vorderseite. Die im deutschen
wo es eine definierte Vorderseite gibt,    Sprachgebrauch vorhandene Differen-
ist auch die Rückseite unvermeidbar:       zierung in "Straßenfassade und Hof-
Da die allermeisten Häuser einer Stadt     fassade" macht heute noch deutlich,
nur über eine Seite erschlossen werden     was dem Städtebau unserer Zeit ver-
müssen – die Vorderseite, die mit ih-      loren gegangen ist. Weggefallen ist vor
rem Eingang am öffentlichen Straßen-       allem der informelle, vielfältig nutz-
netz liegt –, können die Blöcke zwi-       bare Rückraum in der Stadt, der sich
schen den Straßen so groß sein, dass       in den Höfen im Blockinneren entfal-
mehrere Häuser auf einem Block liegen      ten konnte: vorbei die Möglichkeit für
können und dabei alle über eine Vor-       alternative Wohnformen in den Hoff-
derseite an der Straße ihren Zugang        lügeln von Stadtgebäuden und der da-
erhalten, während sie gleichzeitig eine    mit ermöglichten sozialen Mischung,
Rückseite zum Blockinneren ausbil-         vorbei die Möglichkeit zur vielfältigen
den. Dies ist die Blockrandbebauung,       gewerblichen Nutzung von Höfen und
die sich über alle Zeiten und Kultur-      der dadurch möglichen funktionalen
kreise als ein Grundprinzip des Städte-    Mischung, vorbei auch die Möglich-
baus finden lässt, da sie einem Grund-     keit, private und ruhige Gärten im
bedürfnis von Städten entspricht: ma-      Hof ungestört von Lärm und Gefahr
ximale Bebauungsfläche bei minimaler       der Straße anzulegen.3 Nur das private
Wegefläche unter der Bedingung der         Wohnhaus kennt noch heute das städ-
Erreichbarkeit aller einzelnen Häuser      tebauliche Prinzip der Trennung zwi-
zu schaffen.1                              schen der öffentlichen Straße und dem
                                           Privatgarten und man fragt sich, wa-
Im historischen Überblick sind es nur rum diese selbstverständliche Quali-
wenige Vertreter und kurze Zeiträume, tät nicht auch dem heutigen Mietwoh-
in denen versucht wurde, mit diesem nungsbau zugute kommen sollte.
Grundprinzip zu brechen. Zeitweise
galt die Rückseite der Stadt, der Hinter- Mit der Auflösung der Differenz von
hof, gar als das Böse schlechthin, das es Vorderseite und Rückseite – von Vor-
"quadratkilometerweise glattzurasieren" ne und Hinten – im Städtebau wurde
galt (Scheffler), das als "gebaute Gemein- zugleich eine Differenzierung zerstört,
heiten" zusammenfallen sollte (Taut) die zu den Grundbedingungen der
oder das schlicht "getötet" werden sollte Stadt überhaupt gehört: die Trennung
(Le Corbusier), wie die Vertreter ei- von Öffentlichkeit und Privatheit. Erst
ner Städtebaurevolution im 20. Jahr- die Städte ermöglichten die Entstehung
hundert meinten. Ihr Wunschbild war dieser getrennten Sphären, die für un-
die durchgrünte Siedlung, ihre bau- sere modernen Lebensentwürfe, Wert-
lichen Typen waren vorzugsweise die vorstellungen und Rechtssysteme so
Zeile und das Punkthaus – Bautypen, grundlegend sind. Soziologen haben
die den Straßenraum und die Block- dieses Phänomen mit unterschied-
begrenzung aufheben und im floa- lichen Begriffen beschrieben. 1903
ting space des allumfassend gedachten sprach Georg Simmel in seinem Vor-
Grünraums auch von allen Seiten an- trag "Die Großstädte und das Geistes-

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Vorne und Hinten im Städtebau - archimaera
Abb. 1: Privatweg mit einge-    leben" von der "Blasiertheit" des Groß-     sener, ringartiger Baublöcke" entsprach
zäuntem Müllplatz im offenen    städters, mit der er gleichsam seine in-    dieser Polarität:
Block. Deutsches Institut für   dividuellen Regungen hinter einer ein-
Stadtbaukunst.                  heitlichen Fassade verstecken könne.        "Der Baublock schuf zwei Räume, fast
                                Die typische Haltung des Großstädters       könnte man sagen, zwei Welten, die
                                im Verhalten sei die "Reserviertheit",      zwar innig aufeinander bezogen, aber
                                die erst eine "persönliche Freiheit" der    deutlich voneinander getrennt existier-
                                Individuen ermögliche.4                     ten: Erstens die Welt der öffentlichen
                                                                            Plätze und Straßen, in der die Kirchen
                                Die Differenzierung von Privatheit          und anderen öffentlichen Gebäude an
                                und Öffentlichkeit als Grundbedin-          hervorragenden, 'repräsentativen' Stel-
                                gung einer städtischen Lebensweise          len lagen. Zweitens die Welt der pri-
                                hat der Soziologe Hans-Paul Bahrdt          vaten Wohnbauten und ihrer Höfe und
                                in seinem Buch Die moderne Groß-            Gärten, deren privater Charakter da-
                                stadt 1961 als "unvollständige Integrati-   durch gesichert war, dass der Zugang
                                on" beschrieben.5 Im Unterschied zum        zu der privaten Zelle auf einem Umweg
                                Land- oder Hofleben habe der Städ-          über die öffentliche Straße erfolgte."8
                                ter die Möglichkeit, unterschiedlichen
                                sozialen Gruppen anzugehören. Da-           Für den Soziologen Bahrdt war die
                                raus ergebe sich die Unterscheidung         bauliche Unterscheidung in Vorder-
                                des Privaten und Öffentlichen als Cha-      seiten und Rückseiten das städtebau-
                                rakteristikum der Stadt: "Eine Stadt ist    liche Äquivalent zur sozialen Unter-
                                eine größere Ansiedlung von Menschen,       scheidung von öffentlicher und pri-
                                in der die sich aus dem Zusammenwoh-        vater Sphäre, die wiederum für die
                                nen ergebenden sozialen Kontakte und        Stadt konstitutiv ist. Kurz könnte man
                                Institutionalisierungen die Tendenz zei-    also auch sagen: Ohne Rückseiten kei-
                                gen, entweder privat oder öffentlich zu     ne Stadt.
                                sein."6 Dieser Trennung von sozialen
                                Sphären entsprach auch eine räum-           Die konstituierende Bedeutung des öf-
                                liche Trennung: "Die klassische Gestalt     fentlichen Lebens für die Stadtgesell-
                                der europäischen Stadt ist ein Ausdruck     schaft betonte der Soziologe Richard
                                der Tatsache, dass sich das Leben in ih-    Sennett in seinem epochalen Werk
                                nen nach der Grundformel der Polarität      über den Verfall und Ende des öffent-
                                und Wechselbeziehung von öffentlicher       lichen Lebens. Die Tyrannei der Inti-
                                und privater Sphäre ordnete."7 Insbe-       mität, dessen amerikanische Origi-
                                sondere die "Herausbildung geschlos-        nalausgabe 1977 erschien. Das Verwi-

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Abb. 2: Differenzierung öffent-
licher und privater Räume durch
Blockrandbebauung, Beispiel
Quartier St. Leonhard in Graz.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

                                  schen der Grenze zwischen Privatem        definieren, und Rückseiten, die sich
                                  und Öffentlichem sowie der Verfall        einem privaten Raum zuwenden. Die
                                  des öffentlichen Lebens durch eine di-    Vorderseiten sind als Straßen- und
                                  stanzlos übergreifende Privatheit di-     Platzwände anspruchsvoll gestaltet,
                                  agnostizierte er als zentrales Kultur-    um den Bedürfnissen der urbanen
                                  und Gesellschaftsproblem seiner Zeit:     Öffentlichkeit gerecht zu werden. Die
                                                                            Rückseiten sind oftmals informell und
                                  "Die Überzeugung, wahre zwischen- entsprechen den individuellen Wün-
                                  menschliche Beziehungen bestün- schen der privaten Nutzer.10
                                  den in Enthüllungen von Persönlich-
                                  keit zu Persönlichkeit, hat auch unser Grundlegend zum Verständnis dieses
                                  Verständnis für die Zwecke der Stadt Phänomens ist es, sich die wesentlichen
                                  verzerrt. Die Stadt ist das Instrument Unterschiede zwischen der Siedlung
                                  nichtpersonalen Lebens, die Guß- und dem Stadtquartier vor Augen zu
                                  form, in der Menschen, Interessen, Ge- stellen. Während die Siedlung auf eine
                                  schmacksrichtungen in ihrer ganzen Überwindung des Gegensatzes von
                                  Komplexität und Vielfalt zusammen- Stadt und Land zielt, baut das Stadt-
                                  fließen und gesellschaftlich erfahrbar quartier auf einer affirmativen Defini-
                                  werden. Die Angst vor der Anonymi- tion des Urbanen im Unterschied zum
                                  tät zerbricht diese Form. In ihren hüb- Ländlichen auf. Während die Sied-
                                  schen, säuberlichen Gärten unterhal- lung ein letztlich biologisch begrün-
                                  ten sich die Leute über die Schrecken detes Kolonisationsmodell darstellt,
                                  von London oder New York; hier in basiert das Stadtquartier auf einem
                                  Highgate oder Scarsdale kennt man kulturellen Verständnis der Konven-
                                  seine Nachbarn; gewiß, es ist nicht viel tionen des Zusammenlebens. Wäh-
                                  los, aber dafür ist das Leben sicher. Das rend die Siedlung meist sozial ho-
                                  ist die Rückkehr ins Stammesleben."9      mogen als Nachbarschaft konzipiert
                                                                            ist, geht das Stadtquartier von poten-
                                  Doch städtisches Leben ist mehr als zieller sozialer Heterogenität und ei-
                                  vorstädtisches Stammesleben, es be- ner Differenzierung der öffentlichen
                                  steht aus der Differenzierung öffent- und privaten Sphäre aus. Während die
                                  licher und privater Verhaltensweisen Siedlung meist monofunktional Woh-
                                  und Räume.                                nen vorsieht, steht im Stadtquartier
                                                                            das Wohnen in einem Zusammen-
                                  Dieser sozialen und kulturellen Dif- hang mit vielen anderen Tätigkeiten.
                                  ferenzierung von Öffentlichkeit und Während in der Siedlung die Bau-
                                  Privatheit entspricht in der Stadt eine körper als Solitärbauten zumeist im
                                  räumlich-bauliche Differenzierung: Grünraum schwimmen, gestaltet das
                                  die Unterscheidung von Vorne und Stadtquartier mit den Wohnbauten
                                  Hinten. Im Siedlungsbau sind alle Sei- am Blockrand öffentliche Räume wie
                                  ten gleich; im Städtebau gibt es Vor- Straßen und Plätze. Während die Bau-
                                  derseiten, die den öffentlichen Raum ten der Siedlung meist schmucklose

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Abb. 3: Öffentliche Vordersei-
ten in der Stadt, Beispiel Gun-
tramstraße in Freiburg.
Foto Maximilian Meisse.

                                  Wände zum umgebenden Grünraum             damit ein Stadtquartier entstehen.
                                  ausbilden, wenden sich die Häuser des     Denn es ist die Stadt, in der die Ausdif-
                                  Stadtquartiers mit ihren gestalteten      ferenzierung von öffentlicher und pri-
                                  Straßenfassaden an die städtische Öf-     vater Sphäre entstanden ist, und erst
                                  fentlichkeit. Bautypen der Siedlung       diese Ausdifferenzierung und Unter-
                                  sind das Reihenhaus, die freistehende     scheidung macht unser individuell-li-
                                  Zeile oder das Punkthochhaus; städ-       berales-gleichberechtigtes Leben mög-
                                  tische Wohnbautypen sind das Stadt-       lich. Die Unterscheidung von öffentli-
                                  haus auf der Parzelle am Blockrand        chen und privaten Räumen im Stadt-
                                  oder der Reformblock. 11                  quartier bildet dafür die Basis.

                                                    *                       Vorne

                                  Im Unterschied zur Siedlung folgt In Stadtquartieren wird der öffentliche
                                  Städtebau daher den nachstehenden Raum durch die Fassaden der Häuser
                                  Prinzipien:                       am Blockrand geformt. (Abb. 3)

                                  Differenz von Öffentlichkeit und          Wenn Wohnhäuser aber stets so ge-
                                  Privatheit                                dacht werden, dass alle Fenster zu
                                                                            einem diffusen Grünraum orientiert
                                  Stadtquartiere setzen sich aus klar un-   sein müssen, dann kann kein öffent-
                                  terschiedenen öffentlichen und pri-       licher Stadtraum entstehen – und so-
                                  vaten Räumen zusammen. (Abb. 2)           mit auch kein Stadtquartier. Städtebau-
                                                                            lich bedeutet dies: Städtische Wohn-
                                  Wohnsiedlungen dagegen schei-             häuser wenden sich mit ihrer Straßen-
                                  nen von einem homogenen Gemein-           fassade dem öffentlichen Raum zu. Ob
                                  schaftsraum zu träumen: entweder ist      dies, wie in Abb. 3, in geschlossener
                                  alles total privat wie in den Einfami-    oder in offener Bauweise geschieht,
                                  lienhausvororten, oder alles total öf-    hängt vom gewünschten Charakter
                                  fentlich wie in den Siedlungsgebieten     des Quartiers ab. Architektonisch be-
                                  des städtischen Wohnungsbaus. Das         deutet dies: Private Stadthäuser haben
                                  Rückgrat des Stadtquartiers bilden        eine Straßenfassade, mit der sie den
                                  aber, wie auch sonst in der Stadt, die    Straßenraum gestalten. In der Additi-
                                  öffentlichen Straßen- und Platzräume.     on bilden die Straßenfassaden der ein-
                                  Im Schatten dieser öffentlichen Räu-      zelnen Häuser damit die Architektur
                                  me und davon strikt getrennt entfalten    des städtischen Raumes. Wie in der
                                  sich private Hof- und Gartenräume         Abbildung zu sehen, lassen sich lassen
                                  im Inneren des städtischen Blockes,       sich öffentliche Gebäude mit der Aus-
                                  die fürs individuelle Wohnen zur Ver-     bildung ihrer Fassade derart in ein
                                  fügung stehen. Nur wenn beides vor-       Stadtgefüge einordnen, dass sie den
                                  handen ist – öffentlicher und privater    Straßenraum abschließen und ihm ei-
                                  Raum – kann städtisches Leben und         nen eigenen Charakter geben.

                                                          125
Abb. 4: Private Rückseiten in
der Stadt, Beispiel Guntramstra-
ße in Freiburg.
Foto Maximilian Meisse.

                                   Hinten                                     zungsverordnung, die prinzipiell von
                                                                              funktional unterschiedlich bestimm-
                                   Stadtquartiere bieten vielfältige pri-     ten Gebieten ausgeht und damit nicht
                                   vate Räume im Hof. (Abb. 4)                mehr der in der Leipzig Charta 2007
                                                                              propagierten Idee der Mischnutzung
                                   Wenn das Stadthaus vorne Krawatte          entspricht. In ein lebendiges Stadt-
                                   trägt, so darf es hinten in der Jogging-   quartier gehören zum Wohnen noch
                                   hose daherkommen. Aus der Orientie-        vielfältige weitere Nutzungen, um die
                                   rung der Wohnhäuser zum Blockrand          funktionale wie soziale Mischung, wie
                                   ergibt sich ein privater Hofbereich im     sie in den beliebten Stadtvierteln zu
                                   Blockinneren. Dieser Hof bzw. diese        finden ist, zu gewährleisten: Geschäfte
                                   Höfe müssen nicht wie im Siedlungs-        und Restaurants müssen die Möglich-
                                   bau "durchgrünt" und "durchwegt"           keit haben, sich an der baulichen Kan-
                                   sein, sondern den Bewohnern für die        te des Blocks zum öffentlichen Raum
                                   unterschiedlichsten Dinge vom Gärt-        hin anzusiedeln. Auch eine Büronut-
                                   nern bis zum Werkeln, vom Wäsche-          zung kann im städtischen Haus neben
                                   trocknen bis zum Abstellen, vom Son-       der Wohnnutzung existieren. Im Hof
                                   nen bis zum Kinderspiel zur Verfü-         kann der vielfältige Betrieb vom tradi-
                                   gung stehen. Die Rückseiten von Stadt-     tionellen Handwerk bis zum digitalen
                                   häusern müssen nicht nach schicker         Start-Up unterkommen und so zu ei-
                                   Architektenmanier durchdesignt sein        ner erneuten Mischung von Wohnen
                                   – sie können sich informell den indi-      und Arbeiten beitragen. Nicht in je-
                                   viduellen Bewohnerwünschen durch           der Wohnstraße wird das Erdgeschoss
                                   An- und Umbauten anpassen. Gleich-         auch durch Läden kommerziell nutz-
                                   zeitig können diese Höfe dem Gewerbe       bar sein; aber es ist denkbar, durch ge-
                                   vom Start Up bis zum Supermarkt ei-        werbliche Hofnutzung in kostengün-
                                   nen innerstädtischen Raum geben: Fast      stiger Lage Möglichkeiten einer diver-
                                   alles, was heute noch autogerecht ins      sifizierten Ökonomie von Migranten
                                   monofunktionale Gewerbegebiet ver-         oder High-Tech-Yuppies zu schaffen.
                                   bannt wird, könnte im Hof stattfinden.
                                                                              Was passiert, wenn Hinten und Vorne
                                   1. Vorne – Hinten:                         nicht getrennt werden, sondern öffent-
                                   Die Nutzungsmischung                       licher Straßenraum und privater Hof-
                                                                              raum ineinander übergehen, verdeut-
                                   Der allseitig gleiche Wohnungsbau un-      licht Abb. 1. Dann muss man Schilder
                                   serer Zeit folgt noch immer den Idea-      aufstellen, um einen Ort als nicht öf-
                                   len des Siedlungsbaus und ist damit        fentlich zu kennzeichnen. Wäre der
                                   notgedrungen monofunktional: allein        Hof geschlossen, müsste man dieses
                                   Wohnen – meist mit programmatisch          Schild dort nicht einsetzen. Und man
                                   sozialer Homogenität – ist dort mög-       müsste keine Zäune bauen, mit de-
                                   lich. Nach wie vor basieren die Plä-       nen der Müll eingeschlossen werden
                                   ne für unsere Städte auf einer Baunut-     muss. Das ist nur in offenen Bebau-

                                                           126
Abb. 5: Joseph Stübben: Der
Städtebau. 1890.

                                ungsstrukturen des Mietwohnungs-           se Hofseiten sind die Nischen, in denen
                                baus der Fall. Die Kontrolle der Ge-       Kleingewerbe, Wohnungen und son-
                                meinschaft der Anlieger ist durch die      stige Nutzungen untergebracht werden
                                offene Bebauungsstruktur, in der öf-       können. Es sind Nutzungsmischun-
                                fentlich und privat nicht getrennt sind,   gen, die im Inneren des Blocks in den
                                verloren gegangen – und damit auch         Höfen stattfinden können. Eine dieser
                                eine Differenzierung der Tätigkeiten,      Nutzungsmischungen ist der Kinder-
                                die vor und hinter dem Haus stattfin-      spielplatz, den wir heute in unserer Ge-
                                den können.                                setzgebung sehr aufwendig und genau
                                                                           definieren und in seiner Größe festle-
                                Wenn man in Josef Stübbens Buch            gen. Im europäischen Städtebau ist der
                                Der Städtebau nachschaut, dann fin-        Hof ein Spielplatz für Kinder und ga-
                                det man auf den ersten zwanzig Seiten      rantiert die soziale Kontrolle. Die Men-
                                nur Texte zum Wohnungsbau. (Abb.           schen, die aus den Fenstern in den Hof
                                5) Stübben schreibt nicht über Stadt,      schauen, sehen, was dort unten pas-
                                sondern kümmert sich zunächst um           siert. Gerade in unserer heutigen Ge-
                                Wohnhaustypologien. Alle diese Häu-        sellschaft, in der beide Ehepartner ar-
                                ser haben hinten Anbauten. Sie stehen      beiten und Kinder haben, wäre es eine
                                europaweit in Madrid, London, Paris,       wunderbare Situation, wenn das Kind
                                Magdeburg, Köln, Brüssel, Budapest.        im Hof spielen kann. Heute werden
                                Alle diese Häuser sind Häuser, die eine    diese Höfe von den Bewohnern adap-
                                Rückseite und eine repräsentative Seite    tiert. (Abb. 6) Man stellt Sandkisten
                                zur Stadt haben. Diese Rückseiten, die-    auf. Man bepflanzt diese Höfe. Sie sind

Abb. 6: Der Wohnhof in einem
geschlossenen Block in Berlin
erlaubt private Nutzung.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

                                                        127
Abb. 7: Offener Hof in Frank-
furt-Riedberg: öffentliche und
private Nutzungen stören
einander.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

                                  grün und bilden einen privaten Au-        ßere Nutzungseinheiten wie Schulen,
                                  ßenraum für die Menschen, die um          Vollsortimenter, oder sogar Busbahn-
                                  diesen Wohnhof herum leben, im Ge-        höfe können im Blockinneren unter-
                                  gensatz zur offenen Bebauung, die alle    gebracht werden. Ein Beispiel dafür
                                  möglichen Nutzungen hat, die sich in      ist die Lessing-Oberschule in Berlin.
                                  ihrer Funktion aber nicht miteinander     (Abb. 9) Die Abbildung zeigt, wie die
                                  vertragen. (Abb. 7)                       Hauptfassade der Schule in den öffent-
Abb. 8 (links): Gewerbehof in                                               lichen Raum der Straße weist. Man
Berlin. Deutsches Institut für    In der europäischen Stadt finden sich     geht durch das Tor des Gebäudes an
Stadtbaukunst.                    auch Gewerbehöfe, die wunderbar ver-      der Straße hindurch und gelangt in
Abb. 9 (unten rechts): Schulhof   träglich mit dem Wohnen in diesen         den Schulhof. Das Lärmproblem ist
im Blockinneren, Lessing-Ober-    Höfen übereinstimmen. (Abb. 8) Sie        dadurch gelöst, dass der Schulhof vom
schule, Schöningstraße in Ber-    führen zu einer Nutzungsmischung im       Schulgebäude komplett umschlossen
lin. Philipp Meuser.              Wohnviertel, die zu jeder Tageszeit Le-   ist. Das Schulhaus ist also städtebau-
Abb. 10 (rechts) : Großbetrieb    bendigkeit und Vielfalt in einem Stadt-   lich so in dem großen Block integriert,
im Blockinneren, BVG-Betriebs-    quartier garantieren, weil in diesen      dass die Wohnbebauung mit ihren ru-
hof, Müllerstraße in Berlin.      Quartieren nicht nur gewohnt, son-        higen Wohnhöfen perfekt genutzt wer-
Philipp Meuser.                   dern auch gearbeitet wird. Auch grö-      den kann.

                                                          128
Abb. 11: Joseph Stübben: Der
Städtebau. 1890.

                               Ein weiteres Beispiel ist der Omni-         Blockrand/ an der Blockecke, zur Stra-
                               busbetriebshof der BVG in Berlin mit        ße/ zum Hof, nach Norden/ nach Sü-
                               4.000 Quadratmetern Grundfläche             den, im Tal/ am Hang, zur Autostra-
                               (Abb. 10). In dieser 14.000 Quadratme-      ße/ zur Fußgängergasse etc. Mehr noch:
                               ter großen Halle ließen sich problemlos     mit ihrer Grundrissausbildung und ih-
                               14 Rewe-Märkte, ein IKEA-Möbelhaus          rer Haustypenbildung muss die Woh-
                               oder Ähnliches unterbringen. Ein-           nung ihrerseits charakteristische städ-
                               geschlossen wird die Anlage von 300         tische Orte schaffen. An Stelle von Zei-
                               Wohneinheiten mit Zwei- und Drei-           len, Solitären oder Großstrukturen bil-
                               zimmerwohnungen. Der den Betriebs-          det das mehrgeschossige Wohn- und
                               hof umgebende Wohnungsbau entwi-            Geschäftshaus am Blockrand mit rück-
                               ckelt die notwendige Stadtverträglich-      seitigen Flügeln am Hof flexible Mög-
                               keit zum öffentlichen Raum der Stra-        lichkeiten, eine Differenzierung von öf-
                               ße hin. Es ist eine Anlage, die sich per-   fentlichen und privaten Sphären aus-
                               fekt in den städtischen Raum einfügt.       zubilden und unterschiedlichsten An-
                               Es ist eine städtische Situation, mit der   sprüchen zu genügen.
                               man jedes Gewerbegebiet ad acta le-
                               gen könnte. Wenn wir über Nutzungs-         Zunächst ist da einmal der Stadt-
                               mischung im städtischen Raum nach-          grundriss, der eine Differenzierung in
                               denken, müssen solche Situationen neu       öffentliche Räume (meist Straßen und
                               gedacht werden. Dieser Busbahnhof ist       Plätze) und private Räume (meist Blö-
                               nicht einmal 100 Jahre alt und funktio-     cke) schaffen muss. Auf dem Bild von
                               niert noch heute perfekt.                   Joseph Stübben (Abb.11) zeigen die
                                                                           grauen Flächen die private Bebauung,
                               Es sind die Rückseiten der Stadt – die      die weißen Flächen aber bilden den öf-
                               Höfe im Blockinneren –, die funktio-        fentlichen Raum, die Straßen und die
                               nale Mischung und soziale Vielfalt er-      Plätze, die das Wesentliche im Stadt-
                               möglichen, die zu den Grundcharak-          grundriss sind. Diese sind ganz klar he-
                               teristika des Städtischen zählen.           rausgearbeitet und man erkennt schon
                                                                           in diesem einfachen, zweidimensio-
                               2. Vorne – Hinten:                          nalen Schwarzplan die Klassifizierung
                               Der Grundriss des Hauses                    der öffentlichen Räume, der Plätze und
                                                                           der Straßen, die von der schmalen Gas-
                               Der auf gleichmäßige Ost-West-Beson-        se bis zum Boulevard rangieren. Und
                               nung ausgerichtete Wohnungsgrundriss        man erkennt öffentliche Bauwerke und
                               ist städtebaulich völlig unflexibel und     Plätze, auf die die Straßen zulaufen
                               führt konsequenter Weise zur Stadtau-       und an denen sie enden.
                               flösung durch Zeilenbau und Punkt-
                               häuser. Wohnungsgrundrisse müssen Dagegen kann man in der Darstel-
                               aber flexibel auf unterschiedliche städ- lung noch nicht erkennen, wie die Be-
                               tebauliche Lagen reagieren können: am bauung des Blockes, wie die Haus-

                                                        129
Abb. 12: Joseph Stübben: Der
Städtebau. 1890.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

Abb. 13: Freistehende Punkt-
häuser und Zeilen ohne Vorder-
und Rückseiten, ohne öffent-
liche und private Räume.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

                                 grundrisse geplant sind: Die Innen-       denen Jahrhunderten. (Abb. 12) Alle
                                 räume der Blöcke sind noch nicht de-      den Block formenden Haustypen wei-
                                 finiert. Tatsächlich findet in den mei-   sen auf ihrer Rückseite Anbauten auf.
                                 sten innenstädtischen Quartieren eine     Es handelt sich um Hof-, oder Flügel-
                                 geschlossene Blockrandbebauung mit        häuser. In den beiden Beispielen aus
                                 Flügelhäusern statt, die einen Hofbe-     Köln erscheinen die Anbauten dieser
                                 reich im Inneren des Blockes freilässt:   Flügelhäuser in ihrer Grundrissform
                                                                           fast wahllos, weil sie sich im Inneren
                                   Blockrandbebauung, weil so das Haus     des Blockes nicht einem städtischen
                                   am leichtesten von der Straße aus       Kontext unterzuordnen haben. Haus-
                                   zu erreichen ist;                       typen unserer Zeit dagegen kennen
                                                                           keine Anbauten. Sie haben eine Soli-
                                   geschlossene Bebauung, weil so je-      tärform, die kein Vorne und Hinten
                                   des Haus direkt an den Nachbarn         kennt. (Abb. 13). Mit diesem Mangel
                                   angebaut werden kann und kein           aber entsteht auch der Mangel an öf-
                                   wertvoller Boden verloren geht.         fentlichen und privaten Räumen, an
                                                                           sozialen Räumen, den Begegnungs-
                                 Eine weitere Zeichnung von Joseph         räumen unserer demokratischen Ge-
                                 Stübben zeigt Blöcke aus verschie-        sellschaft.

                                                         130
Abb. 14 (oben): Albert Geul:         Diese Begegnungsräume finden sich        dem Gesamtgrundriss der Stadt un-
Die Anlage der Wohngebäude mit       nicht nur im geschlossenen Block,        terordnet. Das Haus ist Teil des Stadt-
besonderer Rücksicht auf das städ-   sondern natürlich auch in der offe-      raums. Betrachtet man den Grund-
tische Wohn- und Miethaus.           nen Blockrandbebauung wie in Dres-       riss im Inneren, erkennt man, dass er
Leipzig 1885.                        den-Striesen. (Abb. 15) Die Häuser       eine fantastische, klare und einfache
                                     sitzen am Blockrand und bilden ei-       Ordnung hat. Trotz der Schiefwink-
Abb. 15 (oben links): Offene         nen Hof im Blockinneren. In dem Mo-      ligkeit und trotz der Tatsache, dass
Blockrandbebauung mit Dif-           ment, wo dieser Block aber im Inneren    von den vier Fassaden drei als Brand-
ferenzierung öffentlicher und        mit Häusern versehen wird, (Abb. 16)     wände komplett geschlossen sind, ist
privater Räume, Beispiel             wird das Innere und das Äußere des       keines der Zimmer ein ungestalteter
Dresden-Striesen.                    Blockes zu einer Funktionseinheit, die   Restraum, sondern jeder Raum hat
Abb. 16 (oben rechts) : Frei-        das Vorne und Hinten auflöst und eine    eine ganz klare Grundrissfigur und
stehende Bebauung im Block           Nutzungsdiversität unmöglich macht.      ist mit Tageslicht versorgt. Vorne gibt
ohne Differenzierung öffent-                                                  es die Straßenfassade, die sehr klar in
licher und privater Räume,           Die Flexibilität dieser Prinzipien zeigt der Flucht des Straßenraums zu ste-
Beispiel Frankfurt-Riedberg.         sich im Grundriss eines städtischen hen kommt.
Abb. 15 & 16 Deutsches Institut      Hauses,12 der in seiner äußeren Form
für Stadtbaukunst.                   völlig verzogen ist. (Abb. 14) Der Im Deutschen Institut für Stadtbau-
                                     Grund für diese verzogene Form ist kunst werden zeitgenössische Typolo-
                                     der Grundstückszuschnitt, der sich gien von Hof – und Flügelhäusern auf

                                                             131
Abb. 17 (oben): Haustypen der
Stadt.

Abb. 18 (rechts): Typ 6A, Erd-
geschoss.
Abb. 19 (ganz rechts): Typ 6A,
Obergeschoss.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

                                 der Grundlage des geförderten Woh-        Ein wesentlicher Punkt in der Erarbei-
                                 nungsbaus erarbeitet. Grundlage sind      tung der Flügelhäuser ist der Umgang
                                 dabei Haustypen, die sich im Stadt-       mit dem sogenannten "Berliner Zim-
                                 grundriss der europäischen Stadt fin-     mer" – ein Wohnraum der das Vorder-
                                 den (Abb. 17). Es gibt verschiedene Ty-   haus am Blockrand mit dem Hinter-
                                 pen, die Vorderhaus und Hinterhaus        haus verbindet. In Typ 6 (Abb. 18, 19)
                                 sehr unterschiedlich anordnen und in      findet sich eine Durchfahrt zum rück-
                                 geschlossene und offene Bebauungen        wärtigen Hofhaus. In diesem Typ kann
                                 unterteilt sind. Die nachfolgenden Bei-   das Vorderhaus oder das Hofhaus bei-
                                 spiele verdeutlichen die Bandbreite der   spielsweise frei finanziert werden, wäh-
                                 möglichen Lösungen.                       rend im Wechsel dazu das andere Haus

                                                         132
Abb. 21: Typ 8, Obergeschoss,
Kombination von vier Häusern.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

Abb. 20: Typ 8, Erdgeschoss.                                                   mente von Typ 8, entsteht ein Hof von
Deutsches Institut für Stadt-                                                  über 500 Quadratmetern.
baukunst.
                                                                               Typ 9 (Abb. 22, 23, 24) ist ein Gewer-
                                                                               behof-Typ, hinter dessen rückwär-
                                                                               tige Brandwand Gewerbebauten ent-
                                                                               stehen können. In dem neuen Bochu-
                                                                               mer Stadtquartier "Havkenscheider-
                                                                               höhe" wird dieser Flügelhaustyp zum
                                                                               ersten Mal in Kombination mit ei-
                                                                               ner Quartiersgarage realisiert wer-
                                    einen geförderten Grundriss aufweist,      den: Der öffentliche Straßenraum (das
                                    sodass soziale Mischung auf nur einer      Vorne) wird von Wohnhäusern einge-
                                    Parzelle realisiert werden kann. Je nach   fasst, hinter denen sich der Grundriss
                                    Belichtungsmöglichkeiten und Hof-          der Quartiersgarage (das Hinten) als
                                    größe können die Bebauungen auch           Hochgarage entwickelt.
                                    verschiedene Höhen aufweisen.
                                                                            Diese für Bochum und Frankfurt am
                                    Der Typ 8 (Abb. 20, 21) legt die An- Main entwickelten Haustypen geben
                                    bauten in die Mitte des Hauses. Das dem Stadtquartier zurück, was die Zei-
                                    "Um-die-Ecke-Führen" der Wohnungen
                                    hat zum Ergebnis, dass es in den Ecken
                                    keine Belichtungsprobleme, aber auch
                                    keinen Brandüberschlag gibt. Der
                                    Hausgrundriss hat kein Berliner Zim-
                                    mer und entspricht den Richtlinien des
                                    geförderten Wohnungsbaus. Dieser
                                    Haustyp wird in dem neuen Frankfur-
                                    ter Stadtquartier "Römerhof" realisiert
                                    werden. Kombiniert man mehrere Ele-

Abb. 22: Typ 9, Erdgeschoss.
Abb. 23 (rechts oben): Typ 9, er-
stes Obergeschoss.
Abb. 24 (rechts): Typ 9, zweites
Obergeschoss.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

                                                            133
Abb. 25: Formstrenge Vorder-
fassade, informelle Rückseite,
Beispiel Royal Crescent in Bath.
Wikimedia Commons.

                                   lenbebauung nicht in der Lage ist zu re-   baut ist. So bleibt als zweite Wand zum
                                   alisieren: auf kleinsten Flächen entste-   Außenraum nur die Wand zum Block-
                                   hen Flügel- und Hofhäuser, in denen        inneren – zum Hof -, die als Rückfas-
                                   die soziale Vielfalt und funktionale       sade keinerlei repräsentativen und ge-
                                   Mischung der europäischen Stadt wie-       stalterischen Anspruch vertreten muss
                                   der möglich wird.                          und insofern eigentlich gar keine Fas-
                                                                              sade ("Gesicht") bildet.
                                   3. Vorne – Hinten:
                                   Die Fassade                                Von der Ausnahme her lässt sich die-
                                                                              se Regel noch besser verstehen. Nur
                                   Im floating space mit allseits gleichen    wenige Privatgebäude in der Stadt bil-
                                   Wohnqualitäten sind alle Fassaden          den tatsächlich im Hof ihre eigent-
                                   gleich; der heutige Siedlungs-Woh-         liche, architektonisch anspruchsvolle
                                   nungsbau kennt keine Vorder- und           und sozial repräsentative Fassade aus.
                                   Rückfassaden. Meist gut gemeint, wird      Es sind die Adelspaläste, die sich in den
                                   auch um jüngste Wohnungsbaupro-            Stadtkörper einfügen, aber dennoch
                                   jekte die vom Architekten designte         die Distinktion der Adelsschicht aus-
                                   Fassade um das ganze Haus herum-           drücken wollen. So zeigen etwa italie-
                                   gezogen. Doch die Kosten dieser ge-        nische Renaissancepaläste wie der Pa-
                                   stalterischen Gleichberechtigung sind      lazzo Medici in Florenz oder der Palaz-
                                   hoch: Die öffentliche Seite des Hauses     zo Farnese in Rom an der Außenfassa-
                                   verliert ihre Besonderheit, einen privi-   de ein konventionelles Mauerwerk, mit
                                   ligierten öffentlichen Raum auszubil-      dem sie sich in die Bürgerstadt einglie-
                                   den; die private Seite des Hauses ver-     dern. Im Hof aber zeigen sie die moder-
                                   liert ihre Freiheit, informell den un-     ne Manier der antiken Säulenordnung,
                                   terschiedlichen und wandelbaren Vor-       mit der sie für die gebildete Schicht der
                                   stellungen der Bewohner entsprechen        Hofgesellschaft ihren besonderen Sta-
                                   zu können. Individualistische Balkon-      tus anzeigen. Ganz ähnlich ist es beim
                                   kaskaden zur Straße sind ebenso un-        Pariser Stadtpalast des Barock, bei dem
                                   städtisch wie formstrenge Hoffassa-        der Cour d'honneur hinter einer meist
                                   den unwohnlich sind.                       einfachen Mauer die eigentliche archi-
                                                                              tektonische Prachtentfaltung bietet.
                                   Das städtische Haus hat eigentlich nur     Nur da, wo die höfische Gesellschaft in
                                   eine Fassade: die Straßenfassade, mit      die bürgerliche Stadtgesellschaft ein-
                                   der es sich dem öffentlichen Raum zu-      bricht, wird die Hoffassade zur eigent-
                                   wendet, von dem es erschlossen wird.       lichen Hauptfassade. Beim Bürgerhaus,
                                   Bei verdichteter städtischer Bauweise      der Bauaufgabe der Stadtgesellschaft,
                                   mit geschlossener Blockrandbebauung        dagegen bildet die Hofseite nur eine
                                   können die beiden seitlichen Wände         Rückseite. Die wesentliche Gestaltung
                                   gar keine Fassaden ausbilden, da hier      findet zur Straße im Kontext der ande-
                                   direkt das jeweilige Nachbarhaus ange-     ren Bürgerhäuser statt.

                                                           134
terraced house. In größter architekto-
                                                                           nischer Strenge bildet beispielsweise
                                                                           der Royal Crescent in Bath eine mo-
                                                                           numentale Vorderseite aus, während
                                                                           die Rückseite in geradezu demonstra-
                                                                           tiver Informalität sich von Haus zu
                                                                           Haus unterschiedlich und anspruchs-
                                                                           los gibt. (Abb. 25) Hier entspricht
                                                                           die Differenz von Vorderfassade und
                                                                           Rückwand nicht nur der Differenz
                                                                           von öffentlichem Raum zu privatem
                                                                           Raum, sondern zugleich auch der sozi-
                                                                           alen Differenz von Adels- und Bürger-
                                                                           schicht zur Schicht der einfachen Be-
                                                                           diensteten, die den Service des Hauses
                                                                           rückwärtig über die lane abwickelten.

                                                                           Doch bedarf es gar nicht dieser beson-
                                                                           deren gesellschaftlichen Situation, um
                                                                           eine Rückseite ganz anders als eine
                                                                           Vorderseite auszubilden. Es gibt im
                                                                           deutschen Sprachgebrauch die Begriffe
                                                                           Straßenfassade und Hoffassade, Stra-
                                                                           ßenfenster und Hoffenster. Sie zeigen,
                                                                           wie verbreitet diese Unterschiede auch
                                                                           in Städten in Deutschland waren und
                                                                           sind. Ein schönes Beispiel dafür bildet
                                                                           das Bremer Haus. (Abb. 26) Man stel-
                                                                           le sich vor, man würde einen solchen
                                                                           Block heute in einem städtebaulichen
                                                                           Wettbewerb als Architekt oder Planer
                                                                           aufzeichnen: ein Block, 160 Meter lang
                                                                           und 35 Meter tief. Jeder würde sagen,
                                                                           das sei völlig undenkbar. Wenn man
                                                                           sich aber dieses Bild ansieht (Abb. 27),
                                                                           dann sieht man, dass durch die Ver-
                                                                           einzelung der Häuser, durch die ein-
                                                                           zelnen, unterschiedlichen Architek-
                                                                           turen dieser parzellierten Blöcke eine
                                                                           Vielfalt erzeugt wird, die uns diese
                                                                           160 Meter nicht mehr als etwas Trost-
                                                                           loses, Langweiliges oder Monotones
                                                                           darstellt. Jedes Haus erzählt mit einem
                                                                           eigenen Anspruch von einer gewissen
                                                                           Würde des Wohnens hin zum öffentli-
                                                                           chen Straßenraum.

                                                                           Der Anblick der Rückseiten lässt kaum
                                                                           den Gedanken aufkommen, dass es
                                                                           sich um denselben Block handelt. (Abb.
Abb. 26 (ganz oben): Lange        "Vorne hui – hinten pfui" mag man he-    28) Nicht nur ist jedes Haus anders,
Blocks in Bremen-Neustadt.        rabschätzend dazu sagen; "vorne Ar-      sondern auch jede Rückfassade bildet
Hajo Diez.                        chitektur – hinten Bauen" kann man es    in sich keine architektonische Kompo-
Abb. 27: Wohlgestaltete Vorder-   sachlich beschreiben; "vorne Regel und   sition aus. Dies mag der allumfassend
seite zur öffentlichen Straße,    Benimm – hinten Freiheit und laisser     gestalten wollende Architekt bedauern
Bremen-Neustadt.                  faire" könnte man es wertschätzend       – aber es stellt eine ungeheure Qualität
Abb: 28: Formlose und wandel-     formulieren: die Rückseite gehört zum    dar: Es erlaubt, dass sich das Haus an
bare Rückseite zum privaten       Stadthaus wie die Vorderseite. Kaum      der Rückseite den individuellen Wün-
Hof, Bremen-Neustadt.             ein Beispiel vermag die Differenz die-   schen seiner Bewohnerinnen und Be-
Abb. 27, 28: Landeshauptstadt     ser zwei Welten so deutlich zu mar-      wohner immer wieder anpassen kann.
Hannover.                         kieren wie der Bautyp des britischen     Mal wird ein Balkon angebaut, mal ein

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Abb. 29: Reihenhäuser in Sied-
lungsbauweise, öffentliche und
private Seite sind vermischt.
Deutsches Institut für Stadt-
baukunst.

Abb. 30 (unten): Reihenhäu-
ser in Stadtbauweise, öffent-
licher Raum vor dem Haus, pri-
vater Raum hinter dem Haus,
Sankt-Leonhards-Garten in
Braunschweig.
Stadt Braunschweig.

                                 Wintergarten; der eine baut das Dach       Seiten auch gleich aus. Doch das ist
                                 aus, der andere noch ein Zimmer an.        nicht der Kern des Problems: Es wer-
                                 Und während hinten das Haus den le-        den auch die öffentliche und die pri-
                                 bendigen Wechsel erlaubt, kann es an       vate Sphäre zusammengelegt. Die öf-
                                 der Vorderseite die wohlgeordnete Ge-      fentliche Erschließung für die eine
                                 stalt im Verhältnis zu den Nachbar-        Zeile liegt direkt neben der privaten
                                 bauten beibehalten. Die Rückseiten er-     Gartennutzung der anderen Zeile. Da-
                                 möglichen die Freiheiten, die eine städ-   mit kommen zwei Funktionen zusam-
                                 tische Bebauung braucht, um langfri-       men, die nicht zusammengehören und
                                 stig bestehen zu können.                   die nicht zusammen funktionieren: Der
                                                                            Gartenzaun mit seiner Nothecke zeigt
                                 Statt eines solchen erwiesenermaßen        das städtebauliche Versagen an. Dabei
                                 funktionierenden Städtebaus legen wir      ist die städtebaulich befriedigende An-
                                 heute Reihenhäuser zumeist als Sied-       lage von Reihenhäusern keineswegs
                                 lungsbauten an. Immer stur in dersel-      eine Frage von modern versus histo-
                                 ben Weise als Zeilen ausgerichtet, wer-    risch: Ein schönes Beispiel aus Braun-
                                 den im Zwischenraum zwischen den           schweig von Klaus Theo Brenner zeigt,
                                 Bauten das Vorne und das Hinten zu-        wie Vorne und Hinten auch heute im
                                 sammengelegt. (Abb. 29) Tatsächlich        Reihenhausbau funktionieren: (Abb.
                                 sehen diese Reihenhäuser auf beiden        30) Vorne befindet sich der öffentliche

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Platz mit seinen Straßen und nach hin-               wieder wechselnder Vielfalt verwirkli-
ten haben die einzelnen Häuser ihre                  chen, ohne dass der kontextuelle Kon-
Gärten zu den rückseitigen Gärten der                sens des öffentlichen Lebens an der
bestehenden Häuser, die ihnen gegen-                 Vorderseite aufgegeben werden muss.
überstehen.                                          In den rückwärtigen Höfen lassen sich
                                                     Grün- und Erholungsräume für die
Welchen Aspekt der städtischen Bebau-                Stadtbewohner anlegen, ohne dass der
ung man auch anschaut – ob Nutzung,                  Straßenraum als urbaner Raum "ge-
Grundriss oder Fassade – die Differen-               tötet" werden muss. Die rückseitigen
zierung in Vorne und Hinten, in Vor-                 Höfe ermöglichen alternative Wohn-
derseite und Rückseite, in öffentlichen              formen, die die soziale Vielfalt im
und privaten Raum bildet das zentrale                Stadtquartier steigern helfen. Desweite-
Spannungsfeld, in dem sich städtisches               ren bieten Höfe im Blockinneren Platz
Leben und städtische Kultur überhaupt                und Gelegenheit für vielfältiges Arbei-
erst entwickeln kann. Umgekehrt be-                  ten und Gewerbe bis hin zum groß-
deutet das, dass städtebauliche und ar-              flächigen Handel – all dies sind Funkti-
chitektonische Konzepte, die die Rück-               onen, die wir wieder in die Stadt brin-
seiten aus der Stadt verdrängen, auflö-              gen müssen, um eine nachhaltige Stadt
sen oder vernichten wollen, zugleich                 der kurzen Wege zu realisieren. Und
an der Substanz des Städtischen mit all              nicht zuletzt sind es beschattete Innen-
seinen politischen, ökonomischen, ge-                höfe, die in Zeiten des Klimawandels
sellschaftlichen und kulturellen Wer-                kühle Inseln im Stadtgefüge schaffen.
ten nagen. An den Rückseiten der Häu-                Kurz: Ohne Rückseiten ist keine gute
ser kann sich privates Leben in immer                Stadt zu haben.

Anmerkungen:                        Angela Rammstedt, Otthein          Tyrannei der Intimität. Frankfurt
                                    Rammstedt (Hg.): Georg Simmel      a. M. 1983, S. 382.
1 Wolfgang Sonne: "Bau-             Gesamtausgabe, Bd. 7, Aufsätze
block". In: Vittorio Magnago        und Abhandlungen 1901-1908,        10 Werk. Archithese
Lampugnani, Konstanze               Band I. Frankfurt a. M. 1995, S.   (Stadt-Rückseiten), H. 31-32,
Domhardt, Rainer Schützeichel       116.                               1979.
(Hg.): Enzyklopädie zum gestal-
teten Raum. Im Spannungsfeld        5 Hans Paul Bahrdt: Die mo-        11 Wolfgang Sonne: "Städ-
zwischen Stadt und Landschaft.      derne Großstadt. Soziologische     tebau versus Siedlungsbau.
Zürich 2014, S. 38-49.              Überlegungen zum Städtebau.        Der urbane Kontext zu den
                                    Reinbek bei Hamburg 1961.          Werkbundsiedlungen im 20.
2 Wolfgang Sonne: Urbanität                                            Jahrhundert". In: Deutscher
und Dichte im Städtebau des 20.  6 Hans Paul Bahrdt: "Entstäd-         Werkbund Berlin (Hg.): Bauen
Jahrhunderts. Berlin 2014.       terung oder Urbanisierung.            und Wohnen. Die Geschichte der
                                 Soziologische Gedanken zum            Werkbundsiedlungen. Tübingen
3 Christoph Mäckler, Wolfgang Städtebau von morgen". In:               2016, S. 56-79.
Sonne (Hg.): Konferenz zur       Baukunst und Werkform, Bd. 12,
Schönheit und Lebensfähigkeit    1956, S. 653-657, S. 653.             12 Georg Ebbing, Christoph
der Stadt 8. Vorne – Hinten. Wie                                       Mäckler (Hg.): Der Eckgrundriss.
wird aus Wohnhäusern Stadt?      7 Ebd., S. 655.                       Bücher zur Stadtbaukunst, Band
Berlin 2018.                                                           2. Sulgen 2013.
                                 8 Ebd.
4 Georg Simmel: "Die
Großstädte und das Geistes-      9 Richard Sennett: Verfall und
leben". In: Rüdiger Kramme,      Ende des öffentlichen Lebens. Die

                                  137
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