WARUM DER HYPE UM BEHAVIORAL ECONOMICS ZUM PROBLEM WIRD UND WAS SIE DAGEGEN TUN KÖNNEN - Behavioral Economics Guide 2021 - Vocatus AG

 
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Behavioral Economics Guide 2021

                  TIRED OF

BEHAVIORAL ECONOMICS?

 WARUM DER HYPE UM
BEHAVIORAL ECONOMICS
ZUM PROBLEM WIRD UND
 WAS SIE DAGEGEN TUN
       KÖNNEN.

  Ein Artikel von Prof. Dr. Florian Bauer & Manuel Wätjen
WARUM DER HYPE UM BEHAVIORAL ECONOMICS ZUM PROBLEM WIRD UND WAS SIE DAGEGEN TUN KÖNNEN - Behavioral Economics Guide 2021 - Vocatus AG
Die Anwendung von Behavioral Economics Effekten, die in akademischen Experi-
menten entdeckt wurden, wird im Marketing, Pricing und Vertrieb immer beliebter.
Es gibt jedoch immer mehr Belege dafür, dass ein einfaches „Copy&Paste“ der Effekte
in das reale Leben nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Dieser Artikel soll zeigen,
dass die Anwendung von Behavioral Economics Effekten nicht scheitert, weil die
Kunden Nudges (Verhaltensanstöße) zunehmend durchschauen oder weil Behavi-
oral Economics überhaupt nicht funktioniert, sondern weil die (Praxis)anwendung
von Behavioral Economics typischerweise die kontextuellen Aspekte der tatsächlich
zu beeinflussenden Entscheidung nicht ausreichend beachtet.

Im Artikel präsentieren wir ein Modell, das diese Aspekte berücksichtigt und dabei
hilft, effektivere verhaltensorientierte Anwendungsmöglichkeiten für Marketing,
Pricing und Vertrieb zu entwickeln.

In den letzten Jahrzehnten hat die Verhaltensökonomie        Am Beispiel B2B: Hier wurde die Übertragbarkeit der
(„Behavioral Economics“) nicht nur das wirtschaftswis-       BE-Effekte immer schon stärker in Frage gestellt. Das ba-
senschaftliche Denken revolutioniert, sondern auch das       siert auf der Annahme, dass professionelle Entscheider bei
betriebswirtschaftliche Handeln stark verändert. Der         komplexen Entscheidungen viel rationaler handeln müss-
Fokus auf den Entscheidungsprozess potenzieller Kun-         ten als Privatkunden.
den und damit einhergehend das größere Augenmerk auf
Touchpoints in der Customer Journey, macht Behavioral        So kann man den Eindruck bekommen, die Erkenntnisse
Economics zu einem Fundus an Ideen, wie man Entschei-        der Behavioral Economics wären ein Hype, der sich gera-
dungsverhalten systematisch beeinflussen kann. Denn          de totläuft (B2C) oder auf den es sich gar nicht erst lohnt,
letztlich stehen hinter jedem vorhersagbar irrationalen      aufzuspringen (B2B).
Entscheidungseffekt zusätzliche Potenziale zur Steige-       Diese Skepsis ist durchaus begründet. Das liegt aber nicht
rung von Conversion und Marge. Scheinbar muss man ja         daran, dass Behavioral Economics generell nicht (B2B)
nur die einzelnen Effekte aus der akademischen Literatur     oder nicht mehr (B2C) funktioniert, sondern daran, dass
auf die Praxis übertragen, um die Unternehmensergebnis-      man es sich bei der praktischen Anwendung zu einfach
se deutlich zu steigern.                                     macht: Man sieht in einem Buch oder gar einem wissen-
So groß die Begeisterung war und ist, mit denen die Er-      schaftlichen Artikel einen lustigen Effekt und versucht ihn
kenntnisse der Verhaltensökonomie in Marketing, Pricing      dann auf das eigene Marketing zu übertragen. Gerade im
und Vertrieb aufgenommen und umgesetzt wurden, so            eCommerce ist das ja schnell getan. Der Traffic ist oft groß
sehr mehren sich in letzter Zeit die Anzeichen, dass eine    und A/B-Tests sind schnell umgesetzt. Manchmal „funkti-
simple Übertragung akademischer Effekte nicht immer          oniert“ diese direkte Übertragung sogar und wird mit hö-
funktioniert (Smets, 2018):                                  heren Conversion Rates belohnt, manchmal passiert gar
                                                             nichts und manchmal geht der Schuss sogar nach hinten
Am Beispiel B2C: Aufdringlichkeit und das Ausmaß, in         los und man verkauft weniger als vorher.
dem die Effekte eingesetzt werden (S-M-L-Portfolios an       Warum funktionieren die Effekte manchmal, manchmal
jeder Ecke; künstliche Verknappung: „Nur noch 3 Zim-         aber auch nicht? Und liegt das wirklich daran, dass die
mer!“) sind nicht nur unglaubwürdig, sondern für viele       verhaltensökonomischen Erkenntnisse nicht (mehr) gültig
Kunden auch lästig geworden. Effekte, die in der Praxis so   sind, weil sich die Kunden daran gewöhnt haben oder weil
plump umgesetzt werden, führen dazu, dass Kunden das         sie noch nie gültig waren?
Vertrauen in die Anbieter verlieren (Shaw, 2019).            Wie wir in diesem Beitrag zeigen werden, gibt es zwei
                                                             Antworten auf diese Frage: Zum einen liegt die Antwort

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in der Natur der akademischen empirischen Behavioral           allenfalls Anregungen für die Entwicklung einer Theorie
Economics, auf deren Grundlage die vielzitierten Effekte       sein, aber sie können diese niemals ersetzen. In dieser Hin-
gefunden wurden. Zum anderen liegt es an der typischen         sicht ist es der Verhaltensökonomie eindrucksvoll gelun-
Art und Weise, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in die       gen, zu zeigen, dass Menschen nicht rational entscheiden.
Praxis übertragen werden. Wir werden zeigen, dass die
Kombination von Erfahrungshintergrund, Situation und           Was Behavioral Economics jedoch noch nicht geschafft
Heuristiken (verdichtet in einer Typologie von Entschei-       hat ist, dem Modell der rationalen Entscheidungsfindung
dungsstrategien) hilft, die Probleme des Transfers von         ein alternatives Modell gegenüberzustellen, das alle expe-
akademischen Erkenntnissen in die Praxis zu lösen.             rimentellen Befunde mit möglichst wenigen Annahmen
                                                               erklären kann („Ockhams Rasiermesser“).
                                                               Nur ein solches Modell würde es den Marketingexperten
Hintergrund: Das Ziel der empiri-                              erlauben, Interventionen zu planen, von denen man - vo-
                                                               rausgesetzt, die Theorie ist gültig - erwarten könnte, dass
schen Behavioral Economics                                     sie eine Wirkung im beabsichtigten Sinne zeigen (z. B. die
                                                               Entscheidungen der Menschen in eine bestimmte Rich-
Der akademischen Behavioral Economics geht es nicht in
                                                               tung zu beeinflussen).
erster Linie darum, dem Praktiker zu helfen, neue Mar-
ketingtricks zu finden. Stattdessen war und ist sie auf ein
einziges Ziel ausgerichtet: Sie will das Modell der rationa-
len Entscheidungsfindung widerlegen, das der neoklassi-        Die konzeptionelle Konsequenz:
schen Wirtschaftstheorie zugrunde liegt.                       „Homo Heuristicus“ als neues
Die akademische Forschung konzentriert sich also auf die       Paradigma
Modellfalsifikation und hat ein ganz anderes Ziel als die
praktische Anwendung. Es geht darum zu widerlegen,             Da ein alternatives empirisch basiertes Modell des mensch-
dass Menschen immer rational entscheiden und immer             lichen Entscheidungsverhaltens noch fehlt, haben sich Po-
ihren Nutzen maximieren. Man möchte darlegen, dass             pulärwissenschaft und die Praxis schnell auf den „Homo
Menschen nicht immer perfekt informiert sind oder im-          Heuristicus“ (alias „Homer Simpson“; Gigerenzer & Brigh-
mer stabile und transparente Präferenzen haben.                ton, 2009) als Gegenmodell zum „Homo Economicus“ (ali-
Damit ist die Behavioral Economics im Wesentlichen ein         as „Mr. Spock“) oder „Econ“ (Thaler, 2005) geeinigt. Die-
„negatives“ Unterfangen, das uns wiederholt zeigt, wie         ses Modell ist plakativ und intuitiv.
Menschen nicht entscheiden. Doch die Effekte, anhand           Jedoch ist das Modell negativ in dem Sinne, dass es nicht
derer dies gezeigt wird, verkörpern weder die eigentliche      nur den „Homo Oeconomicus“ falsifizieren soll, sondern
wissenschaftliche Botschaft noch erheben sie durch ihren       vor allem auf die Unzulänglichkeiten des menschlichen
selektiven Nachweis Anspruch auf Allgemeingültigkeit.          Wahrnehmungs- und Entscheidungsapparates hinweist
Sie sind lediglich ein Mittel zum Zweck und aus streng         (man denke nur an die Begriffe „Biases“ oder „Fehlverhal-
akademischer Sicht völlig legitim.                             ten“; siehe Tversky & Kahneman, 1974 bzw. Thaler, 2005).
                                                               Während dieses Modell sehr einfach zu verstehen ist, er-
Experimentelle Ergebnisse - und das sind sehr viele - zei-     schwert es aber auch die Akzeptanz der Behavioral Eco-
gen uns nicht, wie die Dinge sind, sondern bestenfalls,        nomics: Die Tatsache, dass Kunden voreingenommen sind
wie sie nicht sind. Nimmt man beispielsweise Poppers           und sich falsch verhalten können, mag uns zum Schmun-
berühmten schwarzen Schwan (Popper, 1963): Selbst,             zeln bringen, ist aber schwer zu vermitteln, vor allem,
wenn man sein ganzes Leben lang nur weiße Schwäne              wenn Geschäftskunden und professionelle Einkäufer in
sieht, bedeutet das nicht, dass man behaupten sollte, dass     Betracht gezogen werden.
alle Schwäne weiß sind. Aber sobald man einen schwar-
zen Schwan sieht, kann man sicher sagen, dass nicht alle
Schwäne weiß sind. Im besten Fall bedeutet das, dass wir
mit jeder empirischen Beobachtung oder jedem Expe-
riment lernen, welches Modell der Welt falsch ist, aber
niemals, welches das Richtige ist. Der Zweck von Experi-
menten ist nicht, eine Theorie zu entwickeln, sondern sie
zu falsifizieren. Experimentelle Ergebnisse können also

                                                                                                                         3
Die praktische Konsequenz:                                      seines agilen Ansatzes zum Zeitgeist der Unternehmensor-
„Nudging“ als Imperativ und                                     ganisation. Das allein ist aber keine Erfolgsgarantie. Erfolg-
                                                                reiche Interventionen beruhen auf validen Modellen. Hier
„Copy&Paste“ als Methode
                                                                gilt das berühmte Zitat von Einstein in besonderer Weise:
Wissenschaftliche Experimente der Behavioral Economics          „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ In diesem
sind keine positivistische Handlungsanleitung für die Praxis    Sinne machen wir uns in den folgenden Abschnitten auf
- und waren auch nie als solche gedacht. Der „Nudging“-         den Weg zu einem konsistenten Entscheidungsmodell, das
Hype hat genau diesen Positivismus aber zur Religion er-        den Praktikern die Anwendung der Erkenntnisse in der
hoben (auch wenn dies vielleicht nicht die Absicht der ur-      Praxis ermöglicht und erleichtert.
sprünglichen Autoren war).
Nun wird die zentrale Erkenntnis der Behavioral Econo-
mics nicht mehr in der Widerlegung des rationalen Ent-          Von der akademischen Behavioral Eco-
scheidungsmodells oder anderer Grundannahmen der
                                                                nomics zum praktischen Behavioral
neoklassischen Wirtschaftstheorien gesehen. Sie wird viel-
mehr in dem selektiven Ergebnis an sich gesehen, das eins
                                                                Marketing
zu eins in die Praxis übertragen wird – mit der Erwartung,      Von Vorurteilen zu Heuristiken
dass sich die experimentell herausgearbeiteten Effekte, die     Lassen Sie uns mit der folgenden Frage beginnen: Warum
unter Laborbedingungen gefunden wurden, auch in der             machen Menschen eigentlich vorhersehbare Fehler bei ih-
Praxis Wirkung zeigen werden.                                   ren Entscheidungen? Warum lernen wir nicht einfach, die
Die Tatsache, dass viele der publizierten Effekte einander      „richtigen“ Entscheidungen zu treffen?
widersprechen können, macht deutlich, dass dies der fal-        Warum wir so entscheiden, wie wir es tun, führt uns un-
sche Ansatz ist. Nehmen wir die Frage, wie viele Optionen       weigerlich zu der größeren Frage, warum wir so sind, wie
man einem Kunden anbieten muss, um ihn zum Kauf zu              wir sind: Wir sind so, weil die Mechanismen der Evolution
bewegen: Nur eine Option, um „Paradoxon of Choice“ zu           uns so geformt haben. Unsere gesamte Konstitution hat
vermeiden? Zwei Optionen, um eine als „Anker“ zu nut-           sich angesichts der Umwelt, in der wir leben, einfach als
zen? Drei Optionen für den „Goldilocks“-Effekt? Behavio-        ausreichend gut angepasst erwiesen. Das ist es auch, was
ral Economics hat keine Antwort auf diese Frage, da dies        mit der Phrase „survival of the fittest“ gemeint ist. Verein-
nie das Ziel der Forschungsbemühungen war. Jeder dieser         facht ausgedrückt sind die Eigenschaften, die am besten
Effekte widerspricht für sich genommen einer oder mehre-        überleben und mit größerer Wahrscheinlichkeit vererbt
ren Grundannahmen der Rational-Choice-Theorie und hat           werden, diejenigen, die am besten an die vorherrschenden
somit aus akademischer Sicht einen Erkenntniswert - aus         Umweltbedingungen angepasst sind. Dabei handelt es sich
praktischer Sicht jedoch keinen konkreten Nutzen. Dieses        nicht um eine aktive Auswahl oder Entwicklung in Rich-
Paradoxon führt zu folgender Überlegung: Je mehr Effekte        tung eines „idealen“ Ziels, sondern um eine passive Selek-
gefunden werden, desto schwieriger wird es, sie anzuwen-        tion. So sind jene Merkmale, die in der Vergangenheit ein
den, denn desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Effek-   Hindernis für das Überleben und die Vererbung waren, ein-
te widersprechen.                                               fach ausgestorben.
Das macht den Nudging-Hype zu einem zweischneidigen             Zum Beispiel nehmen wir Licht, Lautstärke und viele
Schwert: Es ist zwar schön, mit jeder neuen wissenschaftli-     anderen Reize nicht absolut wahr, wie ein physikalisches
chen Publikation mehr Ideen für die Implementierung zu          Messinstrument, sondern relativ: Je heller das Licht ist,
bekommen (wissenschaftliche Journale fragen explizit nach       desto mehr zusätzliche Lichtintensität brauchen wir, um
solchen Vorschlägen), aber wir sollten nicht vergessen, dass    einen Unterschied zu bemerken. Das ist zwar nicht optimal
diese oberflächliche Ableitung oft mehr Risiken als Chan-       im Sinne von „Objektivität“, aber extrem effizient, weil es
cen birgt. Das größte Risiko besteht darin, dass aufgrund       uns erlaubt, mit einem viel größeren Bereich von Hellig-
einer inadäquaten und letztlich erfolglosen Übertragung         keitsunterschieden umzugehen. Deshalb konnten unsere
das gesamte Thema der Behavioral Economics entweder             Vorfahren den Säbelzahntiger sowohl in der Dämmerung
als nicht hilfreich oder als nicht mehr brauchbarer Hype        als auch bei hellem Sonnenschein noch wahrnehmen und
abgetan wird.                                                   rechtzeitig weglaufen. Insofern hat sich diese verzerrte Hel-
„Nudging“ via „Copy&Paste“ macht Spaß und passt dank            ligkeitswahrnehmung zu einem Überlebensvorteil entwi-

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ckelt und konnte an die nächste Generation weitergegeben        Entscheidungen zu treffen – und – sie hat sich in vielen Si-
werden, da der Tiger unsere Vorfahren nicht gefressen hat.      tuationen als gut genug erwiesen. Doch während dieselbe
Der Kontrasteffekt und der Relativitätseffekt der Behavio-      Entscheidungsregel in einer Situation zu einem nutzenma-
ral Economics lassen sich auf genau diese Wahrnehmungs-         ximierenden Ergebnis führen kann, kann sie in einer ande-
heuristik zurückführen.                                         ren Situation zu einem vorhersehbaren Entscheidungsfeh-
So wie unser Körper nicht auf ein Optimum ausgelegt ist,        ler führen.
ist auch unser Entscheidungsapparat nicht auf Nutzenma-         Die „Irrationalität“ einer gegebenen Heuristik liegt also da-
ximierung ausgelegt, sondern funktioniert in den meisten,       rin begründet, dass sie sich in vielen Situationen als „gut
aber nicht in allen Situationen „gut genug“ („satisficing“      genug“, in andere Situationen übertragen hingegen als un-
statt „optimizing“; Simon, 1956). Entscheidungsregeln, die      zureichend erwiesen hat. Betrachten wir z.B. das folgen-
sich in bestimmten Situationen als „gut genug“ erwiesen         de Beispiel der Scoring-Heuristik (Bauer, 2000): In vielen
haben, werden als „Heuristiken“ gespeichert, die man sich       Fällen reicht es aus, Angebote nach ihren einzelnen Eigen-
als bewusste oder unbewusste Faustregeln vorstellen kann.       schaften auf einer binären Skala (besser/schlechter) zu be-
Sie ermöglichen es uns, Entscheidungen auch mit begrenz-        werten und diese Einzelurteile zu einem Gesamturteil zu
ten Kapazitäten, Fähigkeiten, Zeit und Energie zu treffen.      summieren. In manchen Situationen führt dies jedoch zu
Die Kernaussage der Behavioral Economics ist nicht, dass        einer systematischen Fehleinschätzung (Abbildung 1).
Menschen immer irrationale und fehleranfällige Entschei-
dungen treffen, sondern dass ihre kognitiven Kapazitäten        Obwohl beide Angebote in beiden Auswahlsituationen glei-
immer begrenzt sind. Daher wenden Menschen ständig              che (absolute) Kosten haben, bedeutet die Nullsummen-
Heuristiken an, um überhaupt Entscheidungen treffen zu          verschiebung von 270 DKK von den Gerätekosten zu den
können.                                                         Ratenkosten, für Angebot 2 in Auswahl 2, sodass Angebot
Die Anwendung von Heuristiken hat nichts mit Inkompe-           1 in zwei von drei Preiselementen „gewinnt“. Folglich wird
tenz zu tun (was die Begriffe „Biases“ und „Fehlverhalten“      Angebot 1 in Wahl 2 als billiger wahrgenommen und im
suggerieren). Sie ist vielmehr eine praktische und effiziente   Experiment bevorzugt, obwohl die effektiven Kosten immer
(und in der Tat die einzig mögliche) Art, die Menge an In-      noch gleich sind.
formationen zu verarbeiten und schlussendlich überhaupt

                                                                                                                      Abbildung 1

                                                                                                                              5
Von Heuristiken zu Entscheidungsstrategien                    funktarife zur Auswahl stehen, eher für einen Mittelklas-
Um zu verstehen (und zu beeinflussen), wie Menschen           setarif entscheiden. Schlechte Erfahrungen machen also
Entscheidungen treffen, d.h. um Behaviroal Economics          den Einsatz von Heuristiken, die sich auf die Risikomini-
in der Praxis anzuwenden, müssen wir verstehen, wann          mierung konzentrieren, wahrscheinlicher. In Situationen,
Menschen welche Heuristiken anwenden (Situations- und         in denen unsichere Kunden aufgrund vieler Entscheidungs-
Erfahrungshintergrund) und wie bestimmte Heuristiken          optionen ein hohes Risiko für Fehlentscheidungen wahr-
aktiviert werden (durch das Design der Entscheidungsar-       nehmen, kann die Hervorhebung von Mittelklassetarifen
chitektur).                                                   (Design der Entscheidungsarchitektur) die Goldilocks-
Betrachten wir den vielzitierten Decoy-Effekt (Ariely &       Heuristik aktivieren oder verstärken.
Wallsten, 1995):                                              Obwohl also nicht alle Heuristiken in allen Situationen re-

                                                                                                                    Abbildung 2

In Wahl 1, mit einer offensichtlich unterlegenen Option       levant sind, besteht beim Treffen vom Kaufentscheidungen
(nur Print), bevorzugen die Leute die Bündeloption von E-     offensichtlich eine gewisse Systematik. Dies spiegelt sich in
Paper und Print-Produkt besonders. Entfernt man jedoch        der Tatsache wider, dass verschiedene Heuristiken zu ganz-
die reine Print-Option (die niemand wollte!), fehlt der Kö-   heitlichen Entscheidungsstrategien kombiniert werden (z.
der (Decoy), der die Kombination als ein gutes Geschäft er-   B. Reduktion von Unsicherheit), dass bestimmte Entschei-
scheinen lässt, was zu einer Verschiebung der Präferenzen     dungsstrategien in bestimmten Entscheidungssituationen
hin zur billigeren reinen E-Paper-Option in Wahl 2 führt.     wahrscheinlicher sind (z.B. Kauf eines Handytarifs im Ver-
In der Marketing-Praxis kann dieser Effekt jedoch oft nicht   gleich zum Lebensmitteleinkauf ) und dass in solchen Situa-
wiederholt werden, weil die Situation eine andere ist. Wäh-   tionen unterschiedliche Heuristiken (z.B. Goldilocks, Band-
rend man im Experiment bei diesen Angeboten die gleiche       wagon) aktiviert werden.
Wahl treffen würde (Präferenz), könnte man in einer tat-      Für praktische Zwecke legt dies nahe, Kunden nach ihren
sächlichen Kaufsituation, wenn man zwei Produkte von          Entscheidungsstrategien zu segmentieren, um vorherzu-
sehr unterschiedlichem Wert für den gleichen Preis erhält,    sagen, welche BE-Effekte für welche Aufgabenstellung im
skeptisch und so vom Kauf abgehalten werden (tatsächli-       Marketing am besten geeignet sind und um die Fehler eines
ches Verhalten).                                              allzu einfachen „Copy&Paste“-Ansatzes zu vermeiden.
Denken Sie als weiteres Beispiel an den „Goldilocks“-Effekt
(De Ridder, 2008). Wer Erfahrungen mit Datendrosselung
oder hohen Roaming-Kosten bei zu günstigen Mobilfunk-
tarifen gemacht hat und bei zu teuren Tarifen abgezockt
wurde, wird sich in Situationen, in denen mehrere Mobil-

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Von Entscheidungsstrategien zur                                                                 •     Die Verwendung der GRIPS Typen hat nachweislich das
Entscheidungstypologie                                                                                Entscheidungsverhalten beeinflusst: In vielen Projekten
Die GRIPS Typologie (Bauer & Wätjen, 2018) ist eine Mög-                                              über verschiedene Branchen hinweg konnten wir durch
lichkeit, Kunden entsprechend ihrer Entscheidungsprozes-                                              die typspezifische Anwendung von verhaltensökono-
se zu segmentieren, um so die Anwendung der Behavioral                                                mischen Effekten signif kante Umsatz- und Margenstei-
Economics auf Marketing, Pricing und Verkauf zu ermög-                                                gerungen nachweisen:
lichen.
                                                                                                            o Bankwesen, Filiale: Erhöhung der Rate an den
Drei Aspekte zeigen die Gültigkeit und Praxisrelevanz dieser                                                geplanten Beratungsterminen um den Faktor 3
Entscheidungstypologie:                                                                                     o Energie, Mailing: Senkung der Abwanderungs-
                                                                                                            rate um 31 %.
•     Die GRIPS Typen (Abblidung 3) ersetzen das negative                                                   o Versicherung, Filiale: Senkung der durchschnitt-
      Modell des „Homo Heuristicus“ durch ein positives Mo-                                                 lichen Rabatte um 44 %
      dell, wie Menschen wirklich entscheiden.                                                              o Printmedien, Call-Center: Steigerung der
•     Die GRIPS Typen reagieren zwar unterschiedlich auf                                                    Konversionsraten um 148 %
      verhaltensökonomische Effekte (Abbildung 4, S. 8),                                                    o Telekommunikation, Call-Center: Steigerung
      aber die Differenzierung nach Situationen löst auch                                                   der Konversionsraten um 35 %
      die Widersprüche auf, die sich aus dem allzu einfachen
      „Copy&Paste“-Ansatz ergeben (Fußnote 1).

                                                                                                                                                                                   Abbildung 3

1 Zum Beispiel ist die Schnäppchenjagd (oder das Bestreben, den Transaktionsnutzen einer        erschweren. Dies steht im Gegensatz zum Verlustaversiven. Der „Decoy-Effekt“ macht ihn

Kaufentscheidung zu optimieren) eine inhärent konsistente Entscheidungsstrategie. Wir kön-      weniger entscheidungsfreudig, weil er skeptischer ist und das „Paradox of Choice“ wirkt sich

nen vorhersagen, dass der „Decoy-Effekt“ für einen Schnäppchenjäger gut funktioniert, weil er   auf ihn aus, weil die Zahl der möglichen Fehlentscheidungen steigt (Siehe Abbildung 4, s. 8).

den Entscheidungskontext so verändert, dass die Option einen offensichtlich hohen Transakti-

onsnutzen hat. Und dass das „Paradox of Choice“ für den Schnäppchenjäger keinen negativen

Effekt hat, weil mehrere Optionen die Entscheidung für seine Entscheidungsstrategie nicht

                                                                                                                                                                                           7
Abbildung 4

Von B2C zu B2B
Kehren wir zu unserer zweiten Ausgangsfrage zurück: Sind       kosteneffizienten Kaufentscheidung, sondern zur Entschei-
professionelle Entscheider rationaler als private Kunden?      dung zugunsten des Anbieters, der den größten Rabatt ge-
Gelten die Erkenntnisse der Behavioral Economics im B2B        währt.
Bereich überhaupt? Die Antwort ist ja, denn:
                                                               Wenn wir das negative Modell des „Homo Heuristicus“,
Erstens haben sich Heuristiken entwickelt und sind in un-      alias „Homer Simpson“ aufgeben und stattdessen ein po-
serem Wahrnehmungsapparat fest verankert. Ein Beispiel         sitives Modell, z. B. die GRIPS Typologie, verwenden, ist
hierfür ist der Kontrasteffekt, wonach wir Unterschiede (z.    die Akzeptanz der Gültigkeit der Behavioral Economics im
B. hell/dunkel) stärker wahrnehmen als sie tatsächlich sind.   B2B-Bereich deutlich höher.
Sind zwei Preise unterschiedlich hoch, wird der günstigere
Preis als niedriger wahrgenommen als er ist, während der
teurere Preis als höher wahrgenommen wird. Diesem Ef-          Zusammenfassung und Implikationen
fekt können sich auch Geschäftskunden nicht entziehen.
                                                               Dieser Artikel zeigt, dass das unreflektierte Sammeln von
Zweitens ist B2B manchmal formal an wichtigeren Ent-           immer mehr Effekten aus den Behavioral Economics der
scheidungen mit teureren Konsequenzen beteiligt. Dennoch       Implementierung in die Praxis mehr schadet als es ihr hilft:
sind B2B-Entscheidungsträger selten persönlich haftbar         Das negative, vereinfachte „Homo Heuristicus“-Modell ist
und haben daher oft nicht den gleichen Anspruch, die           ein Hindernis für die Akzeptanz der Gültigkeit der Beha-
„richtige“ Entscheidung zu treffen wie bei privaten Konsu-     vioral Economics, insbesondere im B2B Sektor. Zudem
mentscheidungen. Wenn sie es doch tun, ist die „richtige“      sorgt die Anwendung von „Nudging“ via ‚Copy&Paste‘
Entscheidung nicht unbedingt die rationale, sondern die-       für Enttäuschungen, da nicht jeder Effekt in jeder Situation
jenige, die der Entscheider intern am besten vertreten und     funktioniert und sogar immer mehr Widersprüche erzeugt
verkaufen kann.                                                werden können.
                                                               Die gute Nachricht ist, dass die Kombination aus Erfahrung,
Drittens schafft die Entscheidungsstruktur oft falsch ausge-   Situation und Heuristik die Widersprüche des Copy&Paste-
richtete Anreize und strukturelle Irrationalitäten. Die Mo-    Ansatzes auflöst und erklärt, warum welche Effekte in wel-
tivation von Käufern durch ausgehandelte Rabatte führt         chen Situationen funktionieren.
beispielsweise nicht unbedingt zur optimalen langfristigen,

8
Abbildung 5

                                                              Die Autoren
Die Entscheidungstypologie GRIPS ist (sicher nicht das ein-   Professor Dr. Florian Bauer studierte Psychologie und
zige, aber wahrscheinlich das am besten bewiesene in der      Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität
Praxis) ein positives Modell, das Entscheidungsverhalten      Darmstadt (TU Darmstadt), dem Massachusetts Institute
vorhersagt und beeinflusst, da es Entscheidungsstrategi-      of Technology (MIT) und der Harvard University, bevor
en (und die damit verbundenen typischen Heuristiken)          er an der TU Darmstadt promovierte. Nach seiner vier-
segmentiert.                                                  jährigen Tätigkeit als Strategieberater bei Booz Allen Ha-
                                                              milton, gründete er 1999 zusammen mit drei Partnern das
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die zentrale Her-      Beratungsunternehmen Vocatus AG. Prof. Dr. Bauer ist ein
ausforderung für die Anwendung der Behavioral Economics       gefragter Experte zu den Themen Preispsychologie und
in der Praxis darin besteht zu verstehen, welche Entschei-    Behavioral Pricing und hat zahlreiche Artikel und Bücher
dungsstrategien in welchen Entscheidungssituationen           zur Preisstrategie und Preisforschung verfasst. Außerdem
aktiviert werden. So können wir diesen Entscheidungskon-      ist er Honorarprofessor an der Technischen Universität
text (Entscheidungsarchitektur) im Marketing, im Pricing      München.
und im Vertrieb aktiv gestalten, um die Wahrscheinlichkeit
zu beeinflussen, dass Menschen bestimmte Heuristiken                   Kontakt: florian-bauer@vocatus.de
verwenden.

                                                              Manuel Wätjen ist Mitglied des Management-Teams bei
                                                              Vocatus und beschäftigt sich mit der Anwendung von Be-
                                                              havioral Economics auf Portfolio-, Produkt- und Preis-
                                                              strategien im B2B- und B2C-Bereich. Er studierte Sozial-
                                                              wissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in
                                                              München und der University of Queensland in Brisbane
                                                              und arbeitete als Markenstrategieberater, bevor er 2010 zu
                                                              Vocatus kam.

                                                                      Kontakt: manuel-waetjen@vocatus.de

                                                                                                                          9
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Über Vocatus
Vocatus entwickelt innovative Preisstrategien und Vertriebskonzepte auf Basis von Behavioral Economics. Für ihre inno-
vativen Studien und praxisnahen Konzepte wurde die Beratung bereits vielfach ausgezeichnet – unter anderem zum 6. Mal
in Folge von dem Wirtschaftsmagazin brand eins als „Beste Berater“.Vocatus informiert Sie regelmäßig über aktuelle Trends,
innovative Methoden und relevante Erkenntnisse für Entscheider.

Weitere Veröffentlichungen finden Sie auf https://www.vocatus.de/veroeffentlichungen/ sowie auf dem Behavioral Pricing &
Selling Blog des Unternehmens: https://www.vocatus.de/pricing-selling-blog/.

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