Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann
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Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann Jean-Marie Woehrling Ein elsässischer Freund der Badischen Heimat teilt uns seine Überlegungen über die Corona- Krise mit. Obwohl diese in erster Linie das Elsass betreffen, beziehen seine Beobachtungen und Einschätzungen auch Baden und ganz allgemein die Region am Oberrhein ein. Was wir gegenwärtig erleben, offenbart eine fähigkeit unseres zentralisierten Systems, eine Krise der Zivilisation, neben der unsere el- wirksame Bewältigung der Krise zu gewähr- sässischen Themen marginal erscheinen mö- leisten, und unseren Hoff nungen auf eine gen. Aber das wäre eine falsche Einschätzung, größere Subsidiarität, zwischen einer frag- denn es besteht ein offensichtlicher Zusam- würdigen Modernitätsgläubigkeit und unse- menhang zwischen den Auswüchsen der Glo- ren Bemühungen um die Bewahrung unserer balisierung, die das Virus offenlegt, und der Sprache und Kultur. Diese Krise offenbart da- fortschreitenden massiven Benachteiligung her mit aller Deutlichkeit, dass unser Enga- des Elsass, das wir lieben: zwischen der Un- gement für das »geistige Elsässertum« (René Schickele) alles andere als sinnlos ist, sie be- stätigt vielmehr im Gegenteil, dass sie die ge- eignete Grundlage für ein besseres Verständ- nis unserer Situation und für die Skizzierung wünschenswerter künft iger Entwicklungen darstellt. Globale Krise und lokale Antworten Die Gesundheitskrise hat globale Ausmaße angenommen und sie erfordert ein globales Management vieler Problemlagen, wie z. B. der medizinischen Erforschung des Virus. Die Fürsorge für die Kranken erfordert eine interregionale Solidarität, die über Verwal- René Schickele an der Rheingrenze (um 1930) tungs- und Staatsgrenzen hinausgeht. Wir Badische Heimat 2 / 3, 2020 Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann 361 361_Woehrling_Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann.indd 361 27.08.2020 12:23:30
Verbreitung der Infektionen im Grand Est (Quelle: ARS des Grand Est) sehen aber auch, dass viele Gesundheitspro- bleme am besten auf der regionalen und lo- Maskenmangel im Elsaß kalen Ebene gelöst werden, da nur Initiativen (Karikatur: Roland Peukert) vor Ort geeignet sind, für die sich ständig än- dernden Bedürfnisse auch passende Antwor- ten zu finden. Auf dieser Ebene haben sich die dehnung zu groß ist, um den Besonderheiten individuellen Engagements daher auch als be- des Elsass in der aktuellen Krisensituation sonders effizient erwiesen. Das Pflegepersonal Rechnung tragen zu können, und die andrer- in unseren elsässischen Krankenhäusern hat seits auch in ihrer Leistungskapazität zu be- Kompetenz und Hingabe bewiesen, wobei schränkt ist, um im Notfall die Verlagerung dieser Personenkreis sich in der Praxis häufig von Patienten in weniger betroffene Gebiete über die Hürden der Krankenhausbürokratie zu gewährleisten. Das Virus hat uns drastisch hinweggesetzt hat. vor Augen geführt, wie wenig der »Grand Est« einer gesellschaft lichen Realität entspricht: Während überall in den Medien zu hören war, Der Offenbarungseid der dass es der »Grand Est« sei, der stark betroffen Gebietsreform: Das Virus ist, waren die Fallzahlen über lange Zeit in 7 dokumentiert die Verbundenheit von 10 Departements mit den deutlich niedri- zwischen Elsass und Lothringen geren im Südwesten Frankreichs vergleichbar. Nur die Departements Elsass und Mosel wa- Die Krise offenbart somit in aller Klarheit die ren stark betroffen. Verlauf und Entwicklung Unzulänglichkeit des »Grand Est«, der 2015 der Epidemie dokumentieren so die wahren neugegründeten Region, die von ihrer Aus- regionalen Verbundenheiten, das historisch 362 Jean-Marie Woehrling Badische Heimat 2 / 3, 2020 361_Woehrling_Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann.indd 362 27.08.2020 12:23:32
gewachsene Geflecht der engen sozialen und und folglich damit verbundener demokrati- ökonomischen Beziehungen, den traditions- scher Kontrollen ausgeprägt ist. Hätten un- bedingten Austausch zwischen den drei De- sere elsässischen Gebietskörperschaften im partements Haut-Rhin, Bas-Rhin und Mo- Gesundheits- und Krankenhaussektor über selle. Die Krise hat uns unsere Gemeinsam- mehr Befugnisse und Kompetenzen verfügt, keiten in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wäre die Krisenbewältigung deutlich effizien- Elsass und Lothringen bleiben deshalb auch ter gewesen. künftig Seite an Seite vereint. Die geradezu hypertroph aufgeblähte büro- kratische Struktur der Gesundheitsbehörde Grenzschließungen: »Agence Régionale d‘ Hospitalisation« (ARS) Ein Rückschlag für die grenz- des Grand Est war in der Krise völlig über- überschreitende Zusammenarbeit fordert. Im internationalen Vergleich hat sich aber auch gezeigt, dass dezentralisierte Sys- Im Oberrheingebiet hat das Management der teme mit einem großen Spielraum für lokale Gesundheitskrise aber leider auch die Zer- Entscheidungen bei der Krisenbeherrschung brechlichkeit einer Integration offenbart, von wesentlich effi zienter sind. Umgekehrt hat der wir glaubten, sie durch die bisherigen Ko- die Krise deutlich gemacht, wie zentralisiert operationserfolge schon gefestigt zu haben. und staatlich kontrolliert unser nationales Unter dem Vorwand, die Ausbreitung des Vi- Gesamtsystem und somit auch das Gesund- rus zu bekämpfen, wurden nationalistische heitssystem ist und wie schwach andrerseits Affekte wiederbelebt. Ohne jegliche Konsul- die Stellung gewählter lokaler Institutionen tation und ohne die folgenreiche Relevanz Drei Brücken verbinden Kehl und Straßburg (Foto: Frantisek Zvardon) Badische Heimat 2 / 3, 2020 Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann 363 361_Woehrling_Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann.indd 363 27.08.2020 12:23:33
Freundschaft oder zur grenzüberschreiten- den Zusammenarbeit über Nacht außer Kraft gesetzt worden seien. Auch die Europäische Union hat diese Entwicklung schweigend und sprachlos zur Kenntnis genommen. Auf bei- den Seiten der Grenze gab es keine gesund- heitspolitischen Absprachen. Wir stehen vor der Aufgabe, diese Integration – unter Be- rücksichtigung der Lehren, die wir aus diesen ernüchternden Misserfolgen ziehen müssen – wieder von neuem aufzubauen. »Life Valley«: Ein Zukunfts- projekt für den Oberrhein? Die Schließung der Grenzen hat auch die Soli- darität im medizinischen Bereich stark beein- trächtigt. Angesichts der kompletten Über- lastung der Klinik in Mulhouse wurden die Patienten zunächst ins ferngelegene Brest ver- Grenzkontrolle an der Trambrücke lagert, obwohl es in der benachbarten deut- Kehl–Straßburg (Foto: Stadtverwaltung Kehl) schen Region noch genügend Kapazitäten gab. Glücklicherweise konnte die Präsidentin des Oberrheinischen Conseil départemental, der Maßnahme zu hinterfragen, wurde die Brigitte Klinkert, ihre bestehenden Kontakte Grenze in aller Eile geschlossen, wodurch mit- nutzen, um die Aufnahme einer bestimmten ten in der Stadt, die den Eurodistrikt Straß- Anzahl von Patienten in Baden-Württemberg burg–Kehl bildet, eine sprichwörtliche Mauer zu erreichen. Diese Nothilfeaktion erweckte entstand. Aus streng epidemiologischer Sicht zwar den Anschein einer eher symbolisch- war es ebenso wenig gerechtfertigt, die Keh- kompensatorischen Geste, rettete aber das ler Brücke zu sperren, wie es gerechtfertigt Image der gutnachbarlichen Beziehungen gewesen wäre, den Verkehr am Landgraben zwischen dem Elsass und Baden-Württem- zu blockieren oder Kontrollen am Pass von berg. In jedem Falle hat uns aber der Ver- Saverne einzuführen. Diese geradezu brutal lauf der Pandemie gezeigt, wie notwendig es anmutende Schließung der Grenze hat über- ist, die gesundheitsbezogene Integration am lebte nationalistische und fremdenfeindliche Oberrhein als eine Zukunftsaufgabe anzuge- Reflexe zu neuem Leben erweckt, von denen hen und so die wechselseitige Abschottung wir gehofft hatten, sie für immer hinter uns unserer Gesundheitssysteme schrittweise zu gelassen zu haben. Man konnte den Eindruck überwinden. Vor einiger Zeit lancierte der gewinnen, dass die zahlreichen Verträge Wirtschaftsexperte Alexis Lehmann die Idee und Abkommen zur deutsch-französischen eines »Life Valley«, eines »Tals am Oberrhein«, 364 Jean-Marie Woehrling Badische Heimat 2 / 3, 2020 361_Woehrling_Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann.indd 364 27.08.2020 12:23:33
ragenden Ausstattung mit Labors über be- trächtliche Kapazitäten, um in großem Um- fang Tests durchzuführen. Maßnahmen, die durch dezentrale Institutionen durchgeführt werden, ermöglichen eine viel größere Fle- xibilität, eine regionale Angepasstheit sowie pragmatische Lösungen vor Ort. Dezent- ralität stärkt die Eigeninitiative, die Eigen- verantwortung, somit auch das solidarische Handeln vor Ort, nicht zuletzt aber auch den Meinungspluralismus und somit den Wett- Demonstration gegen die Grenzschließung streit um die besten Lösungen bei existenti- auf der Kehler Rheinseite am Europatag (Foto: Eurojournalist.eu / Florence Grandon ellen Entscheidungen im Gesundheitsbereich. (France Télévisions)) Dies sollte kein Anlass sein, die Institutionen unseres eigenen Landes an den Pranger zu stellen, vielmehr sehen wir Elsässer es als das die Integration im Gesundheitssektor zur unsere Aufgabe an, als Vermittler einen of- treibenden Kraft einer neuen gemeinsamen fenen Dialog zwischen unseren beiden Län- Dynamik machen sollte. Wenn wir die Krise dern in Gang zu bringen, um so unsere Er- überwunden haben, muss dieses Thema da- fahrungen und unsere Vorstellungen im Be- her mit aller Dringlichkeit auf die Agenda reich des Gesundheitswesens künft ig besser der grenzüberschreitenden Kooperation am auszutauschen. Oberrhein gesetzt werden. Mehr noch als die Bereiche von Kultur oder Wirtschaft sollte das Thema Gesundheitswesen in seiner vol- Autonomie hat Zukunft len Bandbreite zu einem Kernanliegen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Krise auch unserer Region werden. jenen Elsässerinnen und Elsässern, für die der Begriff »lokale Autonomie« eher negativ kon- notiert ist, gezeigt hat, dass ein solches Kon- Vom Elsass aus gesehen: zept zuvörderst eine positive Seite hat. Ohne Unterschiede bei der lokale Autonomie ist eine interregionale So- Krisenbewältigung in lidarität weder denkbar noch machbar, sie ist Frankreich und Deutschland vielmehr die Grundvoraussetzung derselben. Für die nächste Gesundheitskrise wird es Wir Elsässer wissen sehr wohl um die Un- gut sein, rheinübergreifend zu planen: z. B. terschiede, die die Herangehensweisen zur einen eigenen Vorrat an Masken zu haben, Bewältigung der Krise zwischen Frankreich damit wir nicht darauf warten müssen, dass und Deutschland gekennzeichnet haben: Die irgendeine Verwaltung sie in China bestellt. deutschen Krankenhäuser sind im Bereich Oder man kann daran denken, diese von ei- der Reanimation viel besser ausgestattet, die genen handwerklichen Textilfirmen in der Bundesländer verfügen dank ihrer heraus- Region herstellen zu lassen. Auch wenn dies Badische Heimat 2 / 3, 2020 Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann 365 361_Woehrling_Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann.indd 365 27.08.2020 12:23:33
lich begrüßen. Das Lokale bedarf aber auch auf nichtökonomischen Feldern des Zusam- menlebens einer umsichtigen und nachhalti- gen Förderung, vor allem auf dem Gebiet der regionalen Sprache und Kultur. Allerdings muss diese Sprache und Kultur erst noch ei- nen zukunftsweisenden Weg finden, um sich dauerhaft behaupten zu können. Insgesamt und aufs Ganze gesehen benötigen wir eine stärkere Vernetzung zwischen den verschie- denen Komponenten, die unsere »Identität« zu einer Einheit formen. Hierzu gehören Ge- schichte, Literatur, Traditionen, Stadtent- wicklung, lokale Gesetzgebung, Solidaritäts- systeme, lokale Autonomie, Zweisprachigkeit, lokale Ökologie usw. All diese Teilelemente sind miteinander verbunden und voneinan- der abhängig, doch werden sie in der Praxis zumeist voneinander isoliert und so auch von Karikatur von Tomi Ungerer ihren Protagonisten als abgeschottete Berei- che behandelt. Schieben wir dieser Entwick- lung einen Riegel vor, die darauf abzielt, diese Kosten und Investitionen erfordert, so müs- unterschiedlichen Komponenten unseres Zu- sen wir uns dennoch darauf vorbereiten, Kri- sammenlebens auseinanderzudividieren! sen dieser Art künftig besser in den Griff zu bekommen, indem wir auf unserer regionalen Ebene Vorsorge treffen. Wertschätzung der eigenen Kultur und Öffnung zur Welt Rehabilitierung des Lokalen Zwischen biologisch-ökologischer und kultu- reller Belastbarkeit besteht eine existenzielle Die Ausgangssperre hat uns aber auch zum Interdependenz. Unsere Sprache und un- Nachdenken über das bei uns vorherrschende sere Kultur sind sowohl Nährboden wie auch Wertesystem angeregt. Hier gilt es umzusteu- Wegweiser für unser Zusammenleben von ern. Wir haben gelernt, den Stellenwert der morgen. Sie sorgen für einen Vorrat an Resi- lokalen Beziehungsgeflechte und Netzwerke, lienz, der auch härtere Zeiten meistern hilft. seien sie wirtschaft licher, kultureller, sozialer Die kulturelle und insbesondere die sprach- oder persönlich-privater Natur, neu zu entde- liche Vielfalt ermöglicht eine Beziehung und cken. Diese Rehabilitierung des Lokalen zeigt Öffnung zur Welt, die für jede Kultur spezi- sich gegenwärtig etwa in der sprunghaft ge- fisch ist und die zugleich die Voraussetzung stiegenen Nachfrage nach lokalen Produkten, beinhaltet, sich in die nähere räumliche Um- z. B. in der Landwirtschaft, die wir natür- gebung einfügen zu können. 366 Jean-Marie Woehrling Badische Heimat 2 / 3, 2020 361_Woehrling_Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann.indd 366 27.08.2020 12:23:33
Für uns als Bürger des Oberrheingebiets ist diese Krise im etymologischen Wortsinne auch Anschrift des Autors: Jean-Marie Woehrling, als Wendepunkt zu verstehen: Es ist eine Zeit Präsident der Vereinigung der Einsicht. Wir können bewusster, geein- Culture et Bilinguisme – ter und auch überzeugter daraus hervorgehen, René Schickele-Gesellschaft wenn wir auf der Basis unseres kulturellen Er- 5, Boulevard de la Victoire bes diese Krise zum Anlass nehmen, unsere Zu- 67000 Strasbourg E-Mail: jmwoehrl@noos.fr kunft nach innen und außen neu zu gestalten. Die Chronik beleuchtet die Freiburger Stadtgeschichte der letzten 50 Jahre im Hinblick ihrer ökologischen Entwicklung. Von Umweltschutz bis Verkehrs- Sven von Ungern-Sternberg (Hg.) politik gibt es Wissenswertes aus FREIBURG AUF DEM WEG ZUR erster Hand. »GREEN CITY« Ein Buch zum Stadtjubiläum rombach Ein Buch zum 900-jährigen Stadtjubiläum von Freiburg. 540 S., S Halbleinen, 34,– € H lbl i zahlr. hl Abb. Abb ISBN 978-3-7930-5190-9 www.rombach-verlag.de Badische Heimat 2 / 3, 2020 Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann 367 361_Woehrling_Was das Elsass aus der Coronavirus-Krise lernen kann.indd 367 27.08.2020 12:23:33
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