Was sind kulturelle Gedächtnisräume? - Erinnern, Raum und das kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann

 
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Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023
https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023
© Author(s) 2023. This work is distributed under
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                       Was sind kulturelle Gedächtnisräume?
                        – Erinnern, Raum und das kulturelle
                      Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann
                                                        Elena Hubner
                        Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie, Leibniz Universität Hannover,
                                         Schneiderberg 50, 30167 Hannover, Germany
                            Correspondence: Elena Hubner (hubner@kusogeo.uni-hannover.de)

           Received: 26 January 2022 – Revised: 19 January 2023 – Accepted: 25 January 2023 – Published: 15 March 2023

       Kurzfassung. The study of places of memory is an expanding field in international geography, in which the
       concept of cultural memory by Aleida and Jan Assmann, which has its origins in German-language cultural
       studies, has received little attention. However, in a concentration of the concept on the specific concerns of
       a cultural-geographical study of places of memory lies the possibility – especially as an important intellectual
       style of German Theory – to explicitly ask about the mechanisms of origin and function of places of memory. The
       basic assumption of the concept is that cultural memory functions as a medial storehouse of experiences from
       the past. Based on the assumption that places of memory cannot be a storage, but only an anchor of memories,
       the article develops a space-oriented conception of cultural memory spaces derived from the basic features of
       cultural memory. The following four characteristics are elaborated: Cultural memory spaces are (1) dynamic and
       (2) present-related (3) supports of memory, (4) in which individual memories intertwine with cultural memory.

1   Einleitung                                                          Bildern und -Riten [. . . ], in deren ,Pflege‘ sie ihr
                                                                        Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollek-
Vergangenheit ist ein wesentlicher Bestandteil des mensch-              tiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht aus-
lichen Daseins sowie seiner Institutionen, Werte und Mus-               schließlich) über die Vergangenheit, auf das eine
ter des Gesellschaftlichen. Das Individuum bedarf eines Ge-             Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart
dächtnisses, um sich überhaupt als Teil einer menschlichen              stützt (Assmann, 1988:15).
Gemeinschaft zu fühlen (Assmann, 1995:51). Im gleichen
Maße benötigen Gesellschaften ein kollektives Gedächtnis,             Es theoretisiert die Verdichtung kollektiver Vergangen-
um sich auf Grundlage eines umfassenden Erfahrungsschat-           heitsbezüge zu einem identitätsstiftenden Erfahrungs- und
zes, der allen Mitgliedern eigen ist, als Gemeinschaft iden-       Wissensspeicher. Es hält Sinnelemente vornehmlich aus der
tifizieren zu können. Mit dem Konzept des kulturellen Ge-          Vergangenheit für den aktiven Gebrauch in der Gegenwart
dächtnisses, das seit Jahrzehnten vom Ehepaar Aleida und           bereit, die nach der Reaktivierung als Erinnerung das Selbst
Jan Assmann entwickelt und populär gemacht wird, leistet           der Erinnerungsgemeinschaft und seiner Mitglieder stützen.
die deutschsprachige Kulturwissenschaft einen entscheiden-         Ein Behälter für Erinnerungen ist das kulturelle Gedächtnis
den Beitrag, die hohe gesellschaftliche Bedeutsamkeit kol-         jedoch nur auf metaphorische Weise, denn aus sich selbst
lektiver Erfahrungsspeicherung auf wissenschaftlicher Ebe-         heraus kann es nichts bewahren. Das können nur mensch-
ne fassen zu können.                                               liche Individuen, indem sie im Gehirn neuronale Netze auf-
    Das kulturelle Gedächtnis beschreibt                           bauen (Piefke und Markowitsch, 2010:3). Erinnern – das ak-
                                                                   tive Wiederholen einer Erinnerung in das momentane Den-
     den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigen-                ken – kann demnach nur der Mensch. Das kulturelle Ge-
     tümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -                dächtnis benötigt daher externe Akteure. Zu seinem Träger

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wird Kultur. Sie übernimmt jene Speicherfunktion, die los-      dener Ritualtheorien hinzu, Maus (2015) u. a. die Praxistheo-
gelöst von subjektbezogenen Erinnerungsleistungen genera-       rie von Theodore Schatzki (1996) und Leipold (2022) die
tionsübergreifend Memoriawirkung entfaltet (Assmann und         Idee des alltäglichen Geographie-Machens (Werlen, 1999).
Assmann, 1994:114).                                             Kübler (2021) bildet eine Ausnahme. Sie nähert sich Erinne-
   Nahbar scheint das kulturelle Gedächtnis in materiellen      rungsorten aus der Perspektive der Frankfurter Schule. Eine
und immateriellen Erinnerungsräumen zu werden (Assmann,         gründliche Verarbeitung der Ideen über Kultur, Gesellschaft
2009:16); Denkmäler, Mahnmale oder historische Bauten           und Formen kollektiven Erinnerns, die Assmann und Ass-
schlagen scheinbar eine sichtbare Brücke in die Vergangen-      mann in ihrem Konzept des kulturellen Gedächtnisses entfal-
heit, die Gedächtniskontinuität sichert und Erinnern über       ten, fehlt in der geographischen Erinnerungsforschung bis-
einen langen Zeitraum sicherstellt. Wie solche Räume zu ih-     lang jedoch1 . Die deutschsprachige Humangeographie „ver-
rer Bedeutung und Relevanz gelangen, ist indes ein kom-         schüttet“ (Korf et al., 2022:85) das kulturelle Gedächtnis ge-
plexer Prozess, der seit den 1990er Jahren insbesondere         wissermaßen unter einem Sedimentberg weiterer konzeptio-
in der Geographie hinterfragt wird. Charlesworth (1994)         neller Ideen. Wenn jedoch nochmals auf einer grundlegenden
nähert sich räumlichem Erinnern über eine Analyse sym-          Ebene darüber nachgedacht werden soll, was Erinnerungs-
bolischer Räume. Alderman (1996) nimmt Straßennamen             räume überhaupt sind, bietet das Konzept argumentative Vor-
und die Aushandlung ihrer räumlich memorablen Wirkung           züge, die zwar vor allem im Konzeptionellen, aber auch mit
in den Blick. Till (2001) betrachtet Denkmäler als Aus-         einigen Einschränkungen in seiner Verortung in der deut-
handlungsfolie für nationale Erinnerungsdiskurse. In jünge-     schen Nachkriegsgeschichte liegen. Auch wenn das Konzept
rer Zeit rückt insbesondere die englischsprachige Geogra-       des kulturellen Gedächtnisses im deutschsprachigen Raum
phie die Fragilität und Vorläufigkeit verräumlichter Erinne-    als durchaus berühmt betrachtet werden kann – immerhin hat
rung in ihr Zentrum (DeSilvey, 2020; Rhodes, 2021). Wäh-        das Ehepaar 2018 den Friedenspreis des Deutschen Buch-
rend es in der anglo-amerikanischen Auseinandersetzung          handels erhalten –, bedarf es also der „Wiederaneignung“
häufig um Bedeutungszuschreibungen und Machverhältnis-          (Korf et al., 2022:85) und kann als Teil der German Theory
se geht, liegt der deutschsprachige Diskurs der geographi-      betrachtet werden. Nach einer gründlichen Re-Lektüre kann
schen Erinnerungsforschung quer dazu. Beginnend mit Pe-         dann in einem weiteren Schritt auf den Import in die interna-
termann (2007) wird eine ausgesprochen handlungsorien-          tionale Geographie, die das Konzept kaum referenziert, hin-
tierte Perspektive eingenommen. Einig ist man sich darin,       gearbeitet werden.
dass Räume, Orte oder Landschaften, die mit Erinnern as-           Der folgende Beitrag möchte daher einladen, das Kon-
soziiert sind, ausgehend von ihrer bloßen physischen Ma-        zept des kulturellen Gedächtnisses ernst zu nehmen und sei-
terialität keine „erinnernde“ (Maus und Petermann, 2019:4)      ne Argumentationsstränge mit einem geographischen Auge
oder gar eine die Erinnerung „stärkende Funktion“ (Peter-       zu durchleuchten. Der Gedanke, dass sich Gedächtnisinhal-
mann, 2007:25) erfüllen können. Vielmehr gehen Raum,            te nicht in Orte auslagern lassen (A. Assmann, 1999:21),
Ort, Denkmal, Landschaft nur durch aktives Handeln ein-         wird genutzt, um in Abgrenzung zu den bestehenden Be-
zelner oder mehrerer Menschen eine sinnstiftende Verbin-        griffen eine Vorstellung von kulturellen Gedächtnisräumen
dung mit kollektiven Vergangenheitsbezügen ein. Dass es         zu entwerfen, die aus dem Konzept des kulturellen Gedächt-
ungemein komplex ist, die Mechanismen zu beschreiben,           nisses heraus der Frage nachgeht, wie solche Gedächtnis-
die diese Verknüpfung hervorbringt, zeigt bereits die Man-      räume überhaupt funktionieren und welchen Dynamiken sie
nigfaltigkeit der Begriffe an, mit denen der Forschungs-        unterliegen. Daher wird im ersten Schritt aus den bisheri-
gegenstand beschrieben wird. Die Spannweite reicht von          gen Überlegungen der Kultur- und Sozialgeographie zu ver-
Ausdrücken wie „Erinnerungs- und Gedächtnisorte“ (Lei-          räumlichten Erinnerungen die zentrale Herausforderung für
pold, 2019:63), „Orte des Erinnerns“ (Bischoff und Denzer,
2009:5) über „monument[s]“ (Meusburger et al., 2011:10),           1 Symptomatisch für die Rezeption des kulturellen Gedächtnis-
„landscapes of memory“ (Maus, 2015:215), „memorial si-          ses in der deutschsprachigen Geographie scheint folgende Unge-
tes“ (Leggewie, 2011:123) bis hin zu „Gedenkräume“ (Pe-         nauigkeit zu sein: Leipold (2019:67) beschreibt das kulturelle Ge-
termann, 2007:17). Nichtsdestotrotz ist allen deutschsprachi-   dächtnis in Abgrenzung zum kommunikativen Gedächtnis, das auf
gen Beiträgen gemein, dass sie mit Hilfe der Geographie         die Reichweite mündlicher Kommunikationssituationen beschränkt
als dezidierter Raumwissenschaft der kultur-, geschichtswis-    ist, als „etwas Festes“. Er referenziert dabei auf eine Stelle im Werk
senschaftlichen und/oder sozialwissenschaftlich orientierten    „Das kulturelle Gedächtnis“ von Assmann (1992:52f.), der dort
                                                                aber über den festlichen Charakter kultureller Gedächtnisereignis-
Gedächtnisforschung (z. B.: Erll, 2017; Wischermann, 2002;
                                                                se schreibt: „Die Erinnerungsfiguren haben einen religiösen Sinn,
Gudehus et al., 2010) helfen möchten, das spannungsreiche       und ihre erinnernde Vergegenwärtigung hat oft den Charakter eines
Verhältnis von Erinnern und Raum aus einer raumorientier-       Festes. Das Fest dient [. . . ] auch der Vergegenwärtigung fundieren-
ten Perspektive zu beleuchten (Leipold, 2019:62). Dazu grei-    der Vergangenheit“. Es geht nicht um „etwas Festes“. Das kulturel-
fen sie fast ausnahmslos den Begriff des kulturellen Gedächt-   le Gedächtnis gibt keinen auf ewig gleichbleibenden Bestand von
nisses auf und reichern ihn mit weiteren Konzepten an: Peter-   Vergangenheitsbezügen weiter, sondern ist von Dynamik und Ver-
mann (2007) fügt ihm zum Beispiel ein Desiderat verschie-       schiebungen gekennzeichnet.

Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023                                                       https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023
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eine vertiefte Konzeptualisierung kultureller Gedächtnisräu-     sellschaftlichen Erinnerungsdiskurs weitgehend unempfind-
me abgeleitet – nämlich das Vermitteln zwischen Materia-         lich. Hinzu kommt ein Umstand, den Hintermann (2019:16)
lität und Erinnerung sowie zwischen Gesellschaft und In-         als „nationalen Containerraum“ beschreibt. Primäres Ziel
dividuum. Anschließend wird das Konzept des kulturellen          der Arbeit von Nora an französischen lieux de mémoire ist
Gedächtnisses vorgestellt und innerhalb der German Theo-         die neuerliche Erweckung der Erinnerungskraft der fran-
ry verortet, um sodann vier Charakteristika kultureller Ge-      zösischen Nation, indem er Vergangenheitsbezüge nationa-
dächtnisräume vorzustellen. Hauptaugenmerk wird dabei auf        ler Relevanz in Form ideeller Kristallisationen in den ge-
die Entstehungs- und Veränderungsanlässe von Gedächtnis-         sellschaftlichen Diskurs einbringt. Zielpunkt seiner Überle-
räumen gelegt, denn obwohl der prozesshafte Charakter von        gungen ist eine Nationalgemeinschaft, die die Gemeinschaft
Erinnerungsorten allgemein akzeptiert ist (Tyner et al., 2014;   nach innen unifiziert und nach außen abgrenzt. Erinnerungs-
Till und Kuusisto-Arponen, 2015; Pirker et al., 2019), kann      orte geraten so schnell unter den Verdacht der Exklusivität
das bisherige Verständnis mit der hier vorgestellten Konzep-     und Ausgrenzung (Hintermann, 2019:16). Vor diesem Hin-
tion von kulturellen Gedächtnisräumen entscheidend voran-        tergrund hat die geographische Erinnerungsforschung bis-
gebracht werden.                                                 lang zwei Bezugsmöglichkeiten mit leicht unterschiedlichen
                                                                 Schwerpunkten hervorgebracht. Während mit den Ideen des
                                                                 landscape symbolism (Lowenthal, 1975; Tuan, 1979; Cos-
2   Die Auseinandersetzung mit Erinnern und Raum                 grove, 1984; Duncan, 1990) vor allem die Verknüpfung von
    in der Kulturgeographie                                      Gesellschaft und Diskurs bearbeitet wird, heben die Arbei-
                                                                 ten, die mit den Überlegungen der non-representational-
Räume in direkter Weise als Speicher für Wissen und Er-          theory (NRT) (Thrift, 1996) arbeiten, den Zusammenhang
fahrung zu konzeptualisieren ist für die Geographie nicht        von Individuum und Materialität hervor.
möglich. Denn Räume können wie das kulturelle Gedächt-              Die am landscape symbolism orientierte geographische
nis auch kein Gedächtnis im eigentlichen Sinne aufbau-           Erinnerungsforschung (z. B. Till, 2001; Foote und Azarya-
en oder gar erinnern. Einleuchtend ist daher, dass mit ver-      hu, 2007; Dwyer und Alderman, 2008) versteht unter lands-
gangenen Erfahrungen assoziierte Räume Resultat (sozial-         cape2 einen Raumausschnitt, der aus menschlicher Aktivi-
)konstruktiver Prozesse an der Schnittstelle von Individu-       tät hervorgeht und gleichzeitig durch seine je spezifische
um, Gesellschaft, Materialität und Diskurs sein müssen           Ausgestaltung auf die Gesellschaft und ihre sozio-kulturelle
(Scharvogel und Rost, 2009). Um sich dieses sozialkon-           Ordnung zurückwirkt (Duncan und Duncan, 1988:120), oh-
struktiven Charakters aus gedächtnistheoretischer Sicht zu       ne deterministisch-essentialistische Kongruenzen zwischen
vergewissern, bezieht sich die Geographie (z. B. Johnson,        Raum und Gesellschaft vorzugeben. Im Sinne Noras defi-
1995; Petermann, 2007; Jones und Osborne, 2020) häu-             nierte Erinnerungsorte werden daher als scenic Ergebnis-
fig auf den Begriff lieux de mémoire des Historikers Pier-       se einer praktizierten und sozialen Erinnerungskultur aufge-
re Nora (1990). Dies sind Kristallisationspunkte kollektiv-      fasst, die wie ein Text gelesen und interpretiert werden kön-
nationaler Geschichte und Identität, die als Ersatz für unter-   nen (Johnson, 1995:62; Duncan und Duncan, 1988:119). Sie
gegangene milieux de mémoire (Nora, 1990:11) nationale Er-       werden zu objektiv sichtbaren Repräsentationen der kollekti-
innerung in Form von Denkmälern, Gebäuden, Liedern, Tex-         ven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, z. B. nach
ten und vieles mehr sicherstellen. Als „standard reference“      massiven Gewaltausbrüchen (Johnson, 2011; Tyner et al.,
(Legg, 2005:481) geographischer Arbeiten dienen die Über-        2014; Post, 2016) oder nach der Entstehung von neuen ideo-
legungen Noras zur theoretischen Vergewisserung, dass Er-        logischen Sinnzusammenhängen wie etwa beim Zusammen-
innern eine soziale Praxis ist, die produktiv auf die Herstel-
lung gemeinschaftsstiftender Identitäten wirkt (Crang und           2 Der deutschsprachige Begriff „Landschaft“ und sein englisches
Travlou, 2001:161) und im nicht-metaphorischen Raum Aus-         Pendant „landscape“ sind aufgrund unterschiedlicher Disziplinge-
druck findet (Mitchell, 2003:456). Aufgrund seiner räumli-       schichten nicht vollständig synonym zu verwenden. Die „Land-
chen Konnotation erfreut sich der Begriff „Erinnerungsorte“      schaft“ der deutschsprachigen Geographie ist in der Tradition von
großer Beliebtheit und wird oft unhinterfragt als universel-     Bobek (1948) eher ein naturräumlicher Ausschnitt der Erdoberflä-
le Bezeichnung für den Forschungsgegenstand übernommen.          che, auf den der Mensch durch sein Handeln Einfluss nimmt. Von
Vernachlässigt wird, dass Nora keinerlei Anspruch einer de-      dem Vorwurf, er unterschätze die Immaterialität menschlicher Ak-
zidierten Auseinandersetzung mit räumlichen Konstruktions-       tivität, die sich nicht im konkreten Raum abbilden lässt (Bartels,
                                                                 1974:18), konnte der Landschaftsbegriff nie vollständig befreit wer-
prozessen erhebt. Sein ,Raum‘-Verständnis ist so breit, dass
                                                                 den. Die „landscape“ des anglo-amerikanischen Diskurses betont
nahezu alles zu einem Erinnerungsort erhoben werden kann         dagegen, die vollständige Konstruiertheit jeglicher Raumwahrneh-
(Hagen, 2009:692), und sein Festlegen von Kristallisations-      mungen (Cosgrove, 1985:47ff.). Räumlichkeit kann überhaupt nur
punkten der Erinnerung endet genau dann, wenn die räum-          als landscape erfasst werden. Um diese Unterschiedlichkeiten zwi-
liche Kondensation abgeschlossen scheint (Michel und Pau-        schen der Verwendung im deutsch- und englischsprachigen Kontext
lus, 2017/2018:24). Aufgrund ihrer vordergründigen Verfes-       deutlich zu machen, wird der englische Begriff „landscape“ bewusst
tigung werden sie für soziokulturelle Veränderungen im ge-       beibehalten.

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bruch der Sowjetunion (Czepczyński, 2009) oder der deut-       3   Das kulturelle Gedächtnis in der German Theory
schen Wiedervereinigung (Stangl, 2008). Auch in postkolo-           und kulturelle Gedächtnisräume
nialen Zusammenhängen (Roy, 2014; Craggs, 2018) und in
der Bewältigung nationalsozialistischer Vergangenheit (Ha-      Alles im nachfolgenden Kapitel dient dem Beweis und der
gen, 2004, 2009; Till, 2005) werden Erinnerungsorte zum         Erklärung der Hauptthese des Beitrags: Materielle Gedächt-
Ausdruck einer bestimmten Sichtweise auf geschichtliche         nisräume sind vergleichbar mit einem Anker. Sie knüpfen Er-
Ereignisse errichtet.                                           innerungsgemeinschaften an vergangene Erfahrungen. Spei-
   Der non-repräsentationale Zugang kritisiert die Prämis-      chern können sie Erinnerungen nicht; für aktive Vergangen-
se, von symbolischen Repräsentationen auf gesellschaftli-       heitsbezüge Sorge tragen kann nur die Gemeinschaft und die
che Zusammenhänge zu schließen. Räume entziehen sich            ihr angehörenden Individuen. Aus den Vorstellungen des kul-
der direkten menschlichen Erkenntnis, da sie in einem In-       turellen Gedächtnisses wird hier eine Idee kultureller Ge-
teraktionsnetzwerk verschiedener verkörperter Erfahrungen       dächtnisräume entwickelt, die die veränderliche und sozial-
hervorgebracht werden (McCormack, 2017:7). Als ein spe-         individuelle Konstruktionsleistung räumlichen Erinnerns be-
zieller Zugang zur Welt sind nicht die Produkte menschli-       tont. Ein Anker hält sein Schiff im Meeresgrund an einer be-
chen Handelns, sondern das handelnde Interagieren mensch-       stimmten Position fest. Auf ähnliche Weise verankert ein kul-
licher und nicht-menschlicher Agens selbst die Erkenntnis-      tureller Gedächtnisraum Vergangenheitsbezüge im kollekti-
grundlage der NRT (Thrift, 2007:2; Lorimer, 2008:552). Er-      ven Bewusstsein einer Erinnerungsgemeinschaft. Der Anker
innernde Räumlichkeit wird hervorgebracht in visuellen, af-     übernimmt dabei lediglich die Funktion eines Hilfsmittels
fektiven, ästhetischen und atmosphärischen Wahrnehmungen        – ohne ein Schiff oder ohne den Meeresboden kann er sei-
(Sumartojo und Graves, 2018:329), bei denen zwischen dem        nen Zweck nicht erfüllen. Ein Gedächtnisraum kann folg-
materiellen Raumausschnitt und der Körperlichkeit des In-       lich auch nur als Stütze fungieren, die nur in Abhängigkeit
dividuums eine bedeutungsvolle Verbindung entsteht. Auf-        von Gesellschaft, Individuum und kulturellem Gedächtnis ih-
grund des Ansporns der NRT „more-than-human“ (Lorimer,          re erinnerungsstiftende Funktion entfalten kann. Wenn der
2005:83) oder „more-than-textual“ (Lorimer, 2005:83) zu         Anker auf Wellenbewegungen reagieren muss, um seine An-
sein, wird betont, dass Erinnerungsorte erst lebendige Orte     kerfunktion nicht einzubüßen, sind kulturelle Gedächtnisräu-
werden, wenn sie durch körperliche Aktivität oder gerichte-     me Veränderungen ausgesetzt, die sich aus der natürlichen
te Wahrnehmung eines Einzelnen belebt werden (McAuley,          Veränderlichkeit gesellschaftlicher Konfigurationen ergeben.
2006; Muzaini, 2015; Heath-Kelly, 2018). Sie bedürfen folg-     Anders als die metallene Materialität des Ankers muss der
lich praktischer und handelnd-tätiger Aktivierungen (Drozd-     Gedächtnisraum diese Veränderungen aber auf irgendeine
zewski et al., 2019:261; Rose, 2002), z. B. in Form von Ze-     Weise in sich aufnehmen und verarbeiten, um seinen stüt-
remonien, Ritualen (z. B. Petermann, 2007) oder alltäglichen    zenden Charakter nicht zu verlieren. Ohne diese permanen-
Praktiken (z. B. Maus, 2015).                                   ten Anpassungen erscheint er schnell als Artefakt, das ge-
   Eine strikte Grenze zwischen beiden Forschungssträngen       sellschaftliche Veränderungen verdeckt und verschleiert oder
gibt es nicht. Empirische Arbeiten finden sich meist im flie-   bewusst verdecken und verschleiern will.
ßenden Übergangsbereich zwischen dem landscape symbo-              Als kulturwissenschaftlicher Ansatz ist das Konzept des
lism und der NRT. Kritik, die der bisherigen Erinnerungs-       kulturellen Gedächtnisses daran interessiert, das Bestehen-
forschung entgegengebracht werden kann, trifft daher auch       bleiben von Erinnerungen über die Grenze von drei Gene-
beide Zugänge gleichermaßen. Je nach Schwerpunkt und            rationen hinweg zu erklären. Es nimmt an, dass Gemein-
Perspektivierung kann die Überbetonung des Individuums          schaften alle Wissens- und Erfahrungsbestände, die als so
bei gleichzeitiger Vernachlässigung gesellschaftlicher Struk-   wichtig erachtet werden, dass sie auch für nachfolgende
turen oder vice versa die Überbetonung gesellschaftlicher       Generationen von Relevanz sein sollen, in einem kollekti-
Strukturen bei gleichzeitiger Vernachlässigung individueller    ven Gedächtnis ablegen, um daraus eine Vorstellung von
Sinnkonstruktionen moniert werden. Und es kann entweder         der eigenen Identität zu entwickeln ( Assmann, 1988:15,
beanstandet werden, dass Repräsentationen zu viel Gewicht       1992:143; A. Assmann, 1999:15). Als Weiterentwicklung
bei der Herstellung von Erinnerungsorten und gegenwärti-        des sozialen Gedächtnisses nach Halbwachs (1966) ist das
gem, individuellem Erleben zu wenig Gewicht beigemessen         kulturelle Gedächtnis auf Permanenz gerichtet, die über
wird oder wiederum vice versa kann sich am Verharren al-        die Begrenztheit von Mündlichkeit hinausgeht. Auf mündli-
ler Raumkonstruktionen in der unmittelbaren Gegenwart bei       chen Austausch basiert das kommunikative Gedächtnis (Ass-
gleichzeitiger Geringschätzung repräsentationaler Bedeutun-     mann, 1992:48ff.). Es ist ein vorübergehender Behälter für
gen gestört werden. Herausforderung ist nun, einen Zugang       (Erfahrungs-)Wissen der rezenten Vergangenheit, das primär
zu finden, der es vermag, zwischen Individuum, Gesellschaft,    dem Stiften von (familiärer) Gemeinschaft dient. Um die
symbolischer Bedeutung und Materialität zu vermitteln. Da-      zeitliche Limitation des kommunikativen Gedächtnisses zu
zu wird das Konzept des kulturellen Gedächtnisses herange-      überwinden, sind formalisierte Formen des Austausches not-
zogen.                                                          wendig (Assmann, 1988:11). Diese sind im Gesamten der
                                                                kulturellen Äußerungen einer Gemeinschaft kodifiziert. In

Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023                                                    https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023
E. Hubner: Erinnern, Raum und das kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann                                               147

der Kultur – dem „historisch veränderliche[n] Zusammen-                 daß alle Sozialität, also alle Konstitutionsbe-
hang von Kommunikation, Gedächtnis und Medien“ (Ass-                    dingungen von Vergesellschaftung (und Gesell-
mann und Assmann, 1994:114) – sind also jene „Fixpunk-                  schaftsbildung) gebunden sind an die spezifisch
te“ (Assmann, 1992:52) vergangener menschlicher Hervor-                 kulturellen Sprach- und Symbolisationsfähigkei-
bringungen eingeschrieben, aus der die Gemeinschaft ihre je             ten, die die Lebensweise des Menschen auf allen
spezifische Eigenart gewinnt. Mittels dieser kollektiven Ver-           Ebenen bestimmen (Rehberg, 2014:395).
ständigung über einen gemeinsamen Erfahrungsraum bildet
sich eine „konnektive Struktur“ (Assmann, 1992:16), die die           Kulturelle Hervorbringungen konstruieren kein isolier-
Mitglieder der Erinnerungsgemeinschaft in einem größeren           tes, von anderen Gesellschaftsbereichen abgetrenntes Bedeu-
zeitlichen Zusammenhang verortet. Kultur ersetzt jene direk-       tungssystem, sondern wirken wesentlich auf die Ausformung
te Speicherfunktion, die im kommunikativen Gedächtnis die          der Gesellschaft selbst3 . Das Konzept des kulturellen Ge-
individuellen Gedächtnisleistungen und mündliche Kommu-            dächtnisses greift dieses geweitete Verständnis von Gesell-
nikationssituationen übernehmen. Mittels ausgewählter kul-         schaft als „Kulturerscheinung“ (Tenbruck, 1989:47) auf und
tureller Elemente wird die Vergangenheit zu einer Referenz-        bestimmt Kultur als entscheidenden Träger von Erinnerung4 .
fläche für die Gegenwart (Assmann, 2007:10), entlang de-              Zweitens greift das Konzept Herausforderungen und Dis-
rer die Gemeinschaft ihr Selbstverständnis von Einheit und         kussionen der deutschen Nachkriegsgeschichte auf. Es hat
Gemeinsamkeit entwickelt. In diesem Sinne stellt Kultur ei-        seine Ursprünge im geistigen Milieu der Bundesrepublik der
ne „Identitätsofferte [. . . ]“ (Assmann, 1993:240) dar, die im    1980er Jahre, als trotz vielzähliger Initiativen in den voran-
kulturellen Gedächtnis entfaltet wird.                             gegangenen Jahrzehnten das Erinnern der nationalsozialisti-
   Nicht immer ist es sinnvoll und es gelingt auch nicht im-       schen Vergangenheit den gesellschaftlichen Mainstream er-
mer, jeder vergangenen Erfahrung eine identische Aufmerk-          reicht. Während nach langem Schweigen (z. B. Mitscher-
samkeit zukommen zu lassen. Lebendig kann immer nur
                                                                      3 Parallelen zu den cultural studies des englischsprachigen
das gehalten werden, das über die Vergangenheit im Rah-
men der gegenwärtigen Situation noch rekonstruiert werden          Raums sind nicht zu übersehen. Auch sie untersuchen Kultur, aller-
kann (Assmann, 1988:13). A. Assmann (1999) unterteilt das          dings gehen sie von einem deutlich erweiterten Begriff aus, der auch
                                                                   Alltägliches jenseits von bildungsbürgerlichen Themen der Kunst,
kulturelle Gedächtnis daher in ein Speicher- und ein Funk-
                                                                   Religion, Literatur und Musik in das Verständnis von Kultur inklu-
tionsgedächtnis. Um das abzulegen, das nicht lebendig ge-
                                                                   diert (z. B. Hoggart, 1971). Das von Raymond Williams eingeführte
halten werden kann, weil es gegenwärtig als unbrauchbar            Konzept der structures of feeling (Williams, 1977:128ff.) erscheint
und neutral betrachtet wird, steht das Speichergedächtnis –        im vorliegenden Kontext bestens geeignet, die kulturellen Zusam-
ein verwahrender Modus des Gedächtnisses – zur Verfügung           menhänge der Gegenwart für das Verständnis kultureller Gedächt-
(A. Assmann, 1999:136). Im Funktionsgedächtnis (A. Ass-            nisräume fruchtbar zu machen.
mann, 1999:134) liegt dagegen das angeeignete Wissen einer             4 In der Geschichtswissenschaft, der originär mit Vergangenheit
Zeit, das aus dem Speichergedächtnis durch Selektion aus-          und Zeit beschäftigten Disziplin, findet der Gedächtnisbegriff in
gewählt und aktualisiert wurde (A. Assmann, 1999:136). Es          den 1980er Jahren erstaunlich wenig Resonanz. Erst als zum En-
ist ein bewusstes Gedächtnis, das dann Veränderungen unter-        de des Jahrzehnts die ,Aufarbeitung‘ der NS-Vergangenheit gesell-
liegt, wenn Inhalte aus dem Hintergrund, also dem Speicher-        schaftliche Notwendigkeit wird und als nach 1990 die Wiederver-
gedächtnis, aktiviert und in neue Zusammenhänge gesetzt            einigung die rezente Vergangenheit zu einem bestimmenden The-
                                                                   ma der Gegenwart macht (Jordan, 2018:170), verschiebt sich das
werden oder wenn Elemente an Bedeutsamkeit verlieren und
                                                                   geschichtswissenschaftliche Interesse auf Formen der Oral Histo-
schließlich in das Speichergedächtnis übergehen. Eine offene       ry, auf Zeitzeugenerinnerungen, aber auch auf die Rekonstruktion
Grenze zwischen beiden Gedächtnisformen garantiert, dass           von Geschichten der alltäglichen Lebenswelt. Eine regelrechte „Er-
Prozesse des Vergessens und Erinnerns ungehindert ineinan-         innerungswelle“ (Kansteiner, 2007:82) schwappte über die gesamte
dergreifen können.                                                 Disziplin hinweg und machte den Gedächtnisbegriff zu einer gern
   Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses kann in zwei-         genommenen Analysekategorie (Kansteiner, 2002). Auf epistemo-
facher Hinsicht als Teil der German Theory bestimmt wer-           logischer Ebene entbrennen innerhalb der Disziplin Diskussionen
den: Erstens folgt die Idee von Kultur als Rückgrat der sozia-     über Wahrheit und Objektivität historischer Quellen und der histo-
len Gestalt einer Gesellschaft dem Kulturverständnis, das im       rischen Wissenschaft überhaupt. Auf der einen Seite steht die War-
Zuge der Neubegründung der Kultursoziologie im deutsch-            nung vor einem Ausverkauf wissenschaftlicher Objektivität durch
sprachigen Raum in den 1980er Jahren entstanden ist.               eine einseitige Rekonstruktion individuell-subjektiver Vergangen-
                                                                   heitsbezüge (z. B. Wischermann, 1996:14). Auf der anderen Sei-
Es greift damit die „deutschsprachige [. . . ] Geistestradition“
                                                                   te wird der Blick darauf gelenkt, dass jede Darstellung von Ver-
(Korf et al., 2022:85) auf. Aufbauend auf Gedanken von             gangenheit eine soziale Konstruktionsleistung ist, die auf einer in-
z. B. Dilthey (1993), Simmel (1986) oder Weber (2016) wird         dividuellen Erinnerungsleistung beruht (Fried, 2012). Quellen der
die Ganzheitlichkeit von Kultur als übergeordnetes Bedeu-          Geschichtswissenschaft seien per se „kulturelle Artefakte“ (Erll,
tungssystem des menschlichen Lebens akzentuiert, um da-            2017:36), die unter bestimmten Bedingungen entstanden sind und
mit einen verstehenden Zugang zum Gesellschaftlichen zu            daher immer die spezifischen Bedingungen ihrer Entstehungszeit
entwickeln. In synthetisierender Manier wird herausgestellt,       widerspiegeln.

https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023                                                          Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023
148                              E. Hubner: Erinnern, Raum und das kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann

lich und Mitscherlich, 2009) die Aufarbeitung der Nazi-          vergewisserung von Individuen und Kollektiven manifestie-
Verbrechen zur nationalen Aufgabe erklärt wird (z. B. Rürup,     ren“ (Fried, 2008:163f.).
2014), bedroht gleichzeitig das Erlöschen personengebunde-          Indem sie einen sichtbaren Zusammenhang zwischen dem
ner Gedächtnisse das Erinnern. Das Konzept des kulturel-         räumlich-materiellen Ort und dem zu Bewahrenden herstel-
len Gedächtnisses präsentiert sodann Wege einer subjektun-       len, geben sie vor, ein authentisches Abbild früherer Wirk-
gebundenen Speicherung über Generationengrenzen hinweg           lichkeiten zu evozieren. In Wahrheit sind sie jedoch höchst
und stellt damit dem Verdrängen und Vergessen der deut-          unzuverlässige Zeugen (Dwyer, 2004:422). Sie verbergen
schen Nachkriegsgesellschaft sinnstiftendes Erinnern entge-      mehr, als dass sie bezeugen (DMitchell, 2002:385), da sie
gen. Zugleich präsentiert es sich als Alternative zum Kon-       historische Ereignisse in verdichteter Form im Modus der Er-
zept der Erinnerungsorte. Wenn Nora eine identitätsstiftende     innerung darstellen. Genauso wie Inhalte und Intentionen des
Verfestigung der französischen Nation bezweckt, indem er         erinnernden Blicks in die Vergangenheit immer Kinder des
auf Glorreiches und Heroisches der Vergangenheit zielt, ver-     aktuellen Lebensvollzugs sind, sind auch Räume des Erin-
fehlt dies die deutsche Zurückhaltung in nationalen Selbst-      nerns mehr Zeugen ihrer Entstehungszeit als der Geschichte,
beschreibungen in diesem Bereich. Stattdessen wird im kul-       auf die sie verweisen. Sie sind daher bei weitem keine unpro-
turellen Gedächtnis mahnendes Erinnern an den National-          blematischen Repräsentationen von Geschichte (Dwyer und
sozialismus und die Shoah verankert und so zur Grundlage         Alderman, 2008:168). Um den veränderlichen und vorläufi-
nationalen Selbstverständnisses gemacht (z. B.: Steinmeier,      gen Charakter von mit Erinnerung assoziierten Räumen zu
2020; vgl. auch: Zifonun, 2004). Auch wenn A. Assmann            betonen, wird fortan in Abgrenzung zu den Begriffen „Erin-
in den vergangenen Jahren bemüht ist, das Konzept des kul-       nerungsort“ und „Erinnerungslandschaft“ auf Basis des Kon-
turellen Gedächtnisses für Formen geteilter oder „dialogi-       zepts des kulturellen Gedächtnisses der Ausdruck kulturel-
sche[r] Erinnerung“ (Assmann, 2018:137) zu öffnen, um die        ler Gedächtnisraum verwendet. Bei gleichzeitiger Spezifi-
„gegenseitige Anschlussfähigkeit nationaler Geschichtsbil-       zierung auf die Belange räumlichen Erinnerns lassen sich
der“ (Assmann, 2018:137) hervorzuheben5 , zeigt sich hier        aus dem Konzept die folgenden vier Eigenschaften kulturel-
eine entscheidende Schwachstelle des kulturellen Gedächt-        ler Gedächtnisräume herausarbeiten:
nisses: Es haftet an einer Erinnerungsgemeinschaft, die sich
mittels ihrer Schwerpunktsetzungen in kollektiven Bezügen         1. Kulturelle Gedächtnisräume sind Stützen des Gedächt-
zur Vergangenheit nach außen abgrenzt und nach innen ein             nisses. Sie sind keine Medien des Gedächtnisses, da
gemeinschaftliches Selbstbild verleiht. So tritt nationale Ab-       ihnen konkrete Sinnanhaftungen fehlen, die über das
grenzung gewissermaßen durch die Hintertüre wieder in das            Symbolische hinausgehen. Wichtigstes Speichermedi-
Konzept hinein und geteilte Vergangenheitsbezüge, die Pro-           um des kulturellen Gedächtnisses sind Texte. Texte
vinzialisierungen im Denken überwinden und zu „inklusiver            agieren bis auf ganz wenige Ausnahmen (z. B. baro-
Solidarität“ (Assmann, 2020:303) führen können, finden nur           cke Figurengedichte) auf symbolisch-sprachlicher Ebe-
schwerlich Platz in kulturellen Gedächtnissen.                       ne. Unter Voraussetzung konstanter Interpretationsbe-
   Die Idee, Räume zu gestalten, die der Erinnerung an Per-          dingungen sind sie daher bestens als Speichermedium
sonen (Nipperdey, 1968:534) und etwas später auch an be-             von Sinn geeignet. Anders als Texte sprechen Gedächt-
sondere Geschehnisse (Nipperdey, 1968:574) gewidmet sind,            nisräume aber nicht aus sich selbst heraus. Sie funktio-
setzt sich durch, als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-         nieren auf einer doppelten, zirkulären Vermittlungsebe-
derts mit der Konstituierung der geschichtlichen Welt (Kosel-        ne: Die materielle Ebene der Formensprache bleibt ohne
leck, 1989:181) und der Entdeckung der Erinnerung (A. Ass-           die symbolisch-sprachliche Ebene bedeutungslos. Und
mann, 1999:89) ein neues Bewusstsein für Vergangenheit               die Symbolik bleibt ohne räumliches Empfinden und
und für eine nationale Gemeinschaft entsteht. Die aus ver-           eine Aktivierung des individuellen Gedächtnisses be-
gangenen Ereignissen abgeleitete Gewissheit über nationa-            deutungslos. Als individuelle Verkörperungen der kul-
le Herkunft und über eine nationale Grundstimmung wird               turellen Erinnerungspraxis (Schwartz, 1996:909) neh-
in diesen Orten im Boden verankert und soll für Gegen-               men sie die Rolle eines Vermittlers ein. Sie haben die
wart und Zukunft auf ewig festgehalten werden. Die Mate-             Funktion eines Ankers, der Erinnerungen und die Er-
rialisierungen patriotischer und nationaler Bewusstheit sind         innerungsgemeinschaft mit samt ihren Mitgliedern ver-
in der Regel fiktive Räume, die (zumeist) absichtsvoll er-           täut. Das kulturelle Gedächtnis übernimmt mit seinen
richtet worden sind, um dauerhafte Erinnerung zu gewähr-             speziellen Medien die speichernde Erhaltung kulturel-
leisten. Es sind „,Orte‘, an denen sich in Form von Erin-            len Sinns und das Individuum leistet die individuelle
nerung gegenwärtiges Selbstverständnis und aktuelle Selbst-          Praktik des kontinuierlichen Erinnerns. Das kulturelle
                                                                     Gedächtnis speichert Vergangenheitsbezüge, Erinnern
                                                                     erhält das Gedächtnis lebendig und ein kultureller Ge-
   5 Diese Gedanken hat A. Assmann besonders in der Debatte um       dächtnisraum ist die Stütze, die zum aktiven Erinnern
den Historiker Achille Mbembe stark gemacht, um ihr Argument         immer wieder animiert. Benutzt ein Schiff seinen An-
der Vergleichbarkeit geschichtlicher Ereignisse zu stützen.          ker nicht, lässt die Meeresströmung das Schiff davon-

Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023                                                     https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023
E. Hubner: Erinnern, Raum und das kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann                                     149

    treiben. Benutzt eine Gemeinschaft ihre kulturellen Ge-        formter und verarbeiteter Weise gespeichert (Assmann,
    dächtnisräume nicht bzw. gelingt es ihr nicht, ihre Mit-       1992:58). In ihm verdichtet sich die Vergangenheit
    glieder zum Benutzen seiner kulturellen Gedächtnisräu-         zu „symbolischen Figuren“ (Assmann, 1992:52). Noch
    me zu ermuntern, treibt die Erinnerung an den Rand des         stärker als das kulturelle Gedächtnis ist ein kulturel-
    Funktionsgedächtnisses. Bald tritt dann Vergessen ein.         ler Gedächtnisraum keine Mnemotechnik, die auf ei-
    Trotz ihrer Tendenz zur Verräumlichung sind kulturelle         ne möglichst exakte Ablage und Rückholung von Wis-
    Gedächtnisräume also Räume, deren Bedeutungsgehalt             sen zielt. Vielmehr ist er ein gegenwartsbezogener Or-
    deutlich über das hinausgeht, was die bloße Materialität       ganismus, der „durch das, was wir gemeinsam erin-
    des Raumes oder ein einmal formulierter Kommentar              nern und vergessen“ (A. Assmann, 1999:62), für ei-
    vermitteln könnte. Entscheidend sind die Erinnerungs-          ne bestimmte Generation gemeinschaftsstiftend wirkt.
    praxis der Gemeinschaft und die Aneignung derselben            Kulturelle Gedächtnisräume sind folglich in ihrer Qua-
    durch das Individuum. Anders formuliert: Während das           lität, aber auch in ihrer Quantität eingeschränkt. An-
    kulturelle Gedächtnis dem Erinnern dient, indem es Er-         ders als die auf detaillierte Rekonstruktionen ausge-
    innerungen speichert, aktivieren kulturelle Gedächtnis-        richtete Geschichtswissenschaft kann es im kulturellen
    räume das Gedächtnis, ohne Erinnerungen zu speichern.          Gedächtnis zu Widersprüchlichkeiten und Ungenauig-
                                                                   keiten, Generalisierungen und Nuancierungen kommen.
 2. In kulturellen Gedächtnisräumen verschränkt sich das
                                                                   Dies hat aber nichts mit Unzuverlässigkeiten oder Fehl-
    Außen des kulturellen Gedächtnisses mit dem Innen des
                                                                   funktionen von Speichern zu tun, sondern trägt dem
    individuellen Gedächtnisses. Das kulturelle Gedächtnis
                                                                   Zweck des kulturellen Gedächtnisses und dem kultu-
    gibt eine gesellschaftlich ausgehandelte „ Wertperspek-
                                                                   rellen Gedächtnisraum Rechnung. Sie sind von den Be-
    tive“ (Assmann, 1988:14) als Rahmen einer Interpre-
                                                                   findlichkeiten und Bedürfnissen der Gegenwart geprägt,
    tation der Vergangenheit und des symbolischen Gehal-
                                                                   die den Vergangenheitsbezügen durch Verdichtung, Se-
    tes des Gedächtnisraumes vor (Assmann und Assmann,
                                                                   lektion und Vergessen Relevanz und Horizont verlie-
    1994:114). Unter der Annahme, Raum sei ein sozia-
                                                                   hen. Die im kulturellen Gedächtnis verwahrten Sinn-
    les Konstrukt, bringt dies die spezifische Räumlichkeit
                                                                   elemente setzen sich von wissenschaftlich erarbeitetem
    eines kulturellen Gedächtnisraumes hervor, die typisch
                                                                   und gelerntem Wissen über die Vergangenheit ab, ohne
    für die soziale Praxis des Erinnerns zu einem gegenwär-
                                                                   eine konträre Position einzunehmen. Entscheidend ist,
    tigen Moment ist. Zwar dient ein kultureller Gedächt-
                                                                   dass die Vergangenheitsbezüge mit identitätsstiftenden
    nisraum dem Kontinuieren eines kollektiven Horizonts,
                                                                   Aspekten angereichert sind. Dementsprechend sind kul-
    aktivieren kann diesen Anspruch aber nur das Individu-
                                                                   turelle Gedächtnisräume keine steinernen Geschichts-
    um. Es ermöglicht Erinnern einerseits durch Stärkung
                                                                   bücher. Ihre Bedeutsamkeit leitet sich weniger aus dem
    der kollektiven Gedächtnisinhalte im individuellen Ge-
                                                                   Zweck, Vergangenes für die Zukunft zu bewahren, son-
    dächtnis und andererseits durch handelnden Umgang
                                                                   dern aus der Relevanz für die Gegenwart ab. Sie nehmen
    mit dem Raum. Erst indem das Individuum im Umgang
                                                                   also immer den exklusiven Standpunkt einer raumzeit-
    mit dem Gedächtnisraum Vergangenes aktiv zurückholt,
                                                                   lich begrenzten Gruppe ein.
    kann er seinen Zweck, eine Brücke in die Vergangen-
    heit zu schlagen, erfüllen. Raum und Gedächtnis neh-
                                                                4. Kulturelle Gedächtnisräume sind dynamisch. Zwar gilt
    men die Form einer affektiv gesteuerten Identitätsbil-
                                                                   zunächst Folgendes: So wie das kulturelle Gedächt-
    dung an – wobei der Raum die sinnlich affektive Ebe-
                                                                   nis bei fortschreitender Zeit Kontinuität sichert, vermit-
    ne aktiviert und seine Inhalte über den Kanal des kul-
                                                                   telt ein kultureller Gedächtnisraum einstweilen Perma-
    turellen Gedächtnisses und die darin verankerten Ver-
                                                                   nenz, Ordnung und Sicherheit. Er ist – bildlich gespro-
    gangenheitsbezüge mobilisiert werden. Im Prozess des
                                                                   chen – ein Fels in der Brandung. Wenn seinem sozio-
    Erlebens werden die zirkulierenden Erinnerungen an-
                                                                   kulturellen Umfeld keine Verschiebungen widerfahren,
    gereichert mit selbstbezogenen Sinnstiftungen, die die
                                                                   bleiben größere Veränderungen innerhalb seiner ihm
    rein sprachlich-diskursive Ebene verlassen und auf ein
                                                                   zugrundeliegenden Sinnkonstruktion aus. Grundmecha-
    asemiotisches Empfinden einstellen. Das geschichtliche
                                                                   nismus des menschlichen Daseins ist jedoch ein stän-
    Ereignis erhält identitätsstiftende Relevanz, sodass sich
                                                                   diges Ablösen von verschiedenen Generationen. Daher
    das Individuum im Zeitfluss und in der Gegenwart ver-
                                                                   ist es ganz natürlich, dass im kulturellen Gedächtnis
    orten kann. Indem kulturelle Gedächtnisräume so zur
                                                                   im Rahmen der gegenwärtigen Wert- und Moralvorstel-
    Überwindung der „Dualismen von Individuum und Ge-
                                                                   lungen einer Generation die Auffassungen über vergan-
    sellschaft“ (J. Assmann, 1999:15) beitragen, werden sie
                                                                   gene Ereignisse „sporadisch und enerviert“ (A. Ass-
    zu Werkzeugen eines aktiven Umgangs mit kulturellen
                                                                   mann, 1999:18) umgestaltet oder neu ausgearbeitet wer-
    Gedächtnisinhalten.
                                                                   den (A. Assmann, 1999:29). Jede Generation muss die
 3. Kulturelle Gedächtnisräume sind gegenwartsbezogen.             Frage nach einem angemessenen Umgang mit ihrer Ver-
    Im kulturellen Gedächtnis werden Ereignisse in ge-             gangenheit und mit den vorgefundenen Gedächtnisräu-

https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023                                                   Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023
150                                E. Hubner: Erinnern, Raum und das kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann

      men neu beantworten6 . Ein einmal errichteter Gedächt-         hervorzuheben und damit Ideen vom Selbstbild der Gruppe
      nisraum und die ihn betreffenden und zirkulierenden Er-        weiterzutragen (Schwartz, 1991:222).
      innerungen unterliegt daher auch ständiger Anpassung              Gerichtet auf die Gegenwart dient die Errichtung eines
      und Veränderung im Rahmen der eben gerade aktuel-              kulturellen Gedächtnisraumes dem sofortigen und sichtba-
      len Bedürfnisse. „Ressource der Erneuerung kulturellen         ren Überschreiben des vorhandenen Selbstbildes. Neue Ge-
      Wissens“ (A. Assmann, 1999:140) kann das Speicher-             dächtnisinhalte werden gebildet, um sich einer „neuen“ Ver-
      gedächtnis sein. Da es deutlich mehr Wissen enthält, als       gangenheit bewusst zu werden. In Krisenfällen entsteht die
      eine Gruppe überhaupt lebendig halten kann, und da-            Notwendigkeit, sich des eigenen Selbstbildes sofort zu ver-
      mit auch keine Schwerpunkte setzt, ist ihm immer eine          gewissern. Dann entstehen kulturelle Gedächtnisräume, die
      Distanzierung zur aktuellen Identitätskonstruktion inne-       vorhandene Bedeutungsstrukturen reproduzieren. Fällt dage-
      wohnend. Als Außenhorizont kann es ihm daher gelin-            gen eine Bedeutungsstruktur weg, kann sich das Bedürfnis
      gen, Relativierungen und Veränderungen zu erzeugen,            nach einer möglichst schnellen Überschreibung des vorhan-
      die die Vorstellungen über die eigene Vergangenheit,           denen Selbstbildes entwickeln. Um die nähere Vergangenheit
      Gegenwart und Zukunft zu jedem Zeitpunkt neu auslo-            zu überdecken, entstehen dann z. B. durch Überschreibun-
      ten lassen. Bestehende Gedächtnisräume erfahren dann           gen kulturelle Gedächtnisräume, die entweder der Rückho-
      auf zwei Ebenen Veränderungen: Zum einen werden                lung einer weit zurückliegenden Vergangenheit dienen, um
      die im Zusammenhang mit ihnen zirkulierenden Erin-             sich so auf seine historischen Wurzeln zu berufen, oder die
      nerungen an die gegenwärtigen Befindlichkeiten ange-           ein völlig neues Bild des Selbst konstruieren. Dabei geht es
      passt und zum anderen wird die Materialität durch bau-         auf nationalem Maßstab darum, eine Deutungslücke im ge-
      liche Veränderungen angepasst. Gedächtnisräume müs-            meinschaftlichen Selbstverständnis durch das Definieren ei-
      sen nachgerade Brüche, Diskontinuitäten und Verän-             nes nationalen Mythos zu schließen.
      derungen abbilden, um nicht zu einem bedeutungslo-                Erinnern beziehungsweise das Herstellen eines kulturel-
      sen Anachronismus zu werden, der nur bewahrt wird,             len Gedächtnisraumes ist dann auf die Zukunft gerichtet,
      weil seine Erhaltung Tradition ist und nicht, weil er          wenn die vorhandenen Vorstellungen über die Vergangen-
      noch Relevanz für das gemeinschaftliche Zusammen-              heit nicht mehr mit den gegenwärtigen Bedingungen kon-
      leben hätte. Fundamentale Erschütterungen des Erle-            gruent sind. Es entstehen neue Gedächtnisräume. Wesent-
      bens, z. B. Traditionsbrüche, Erosionen der kulturellen        lich für das Selbstbild einer Gesellschaft ist zunächst eine
      Selbstständigkeit (Assmann, 1992:293) oder drohende            Vorstellung davon, wie Vergangenheit und Gegenwart von-
      Identitätsverluste (Assmann, 1992:193) – oder noch-            einander getrennt werden können (Le Goff, 1992:27). Insbe-
      mal bildlich: eine Sturmflut –, führen zu einer einge-         sondere die Definition von Gegenwart beruht dabei auf ei-
      henden Beschäftigung mit der Vergangenheit. Dies löst          ner „Zäsur auf kollektiver Ebene“ (Le Goff, 1992:27), die
      schließlich Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses           dann zu setzen ist, „wenn keine Augenzeugen mehr leben
      und aller Gedächtnisräume aus. Neue Gedächtnisinhalte          und direkt vermittelnde Ohrenzeugen nicht mehr zu befragen
      werden aktiviert, andere verlieren ihre gesellschaftliche      sind“ (Koselleck, 1989:185). So wie die Gesellschaft eine
      Relevanz, (Wieder-)Erinnern und Vergessen setzt ein            Vorstellung von ihrer Gegenwart hat, entwickelt sie auf Basis
      (Assmann, 1992:65), sodass alte Gedächtnisräume ihre           dieser Abgrenzung im kulturellen Gedächtnis ein bestimm-
      Bedeutung verlieren, bestehende Gedächtnisräume pa-            tes Bewusstsein über ihre eigene Vergangenheit. Gelingt es
      limpsestartig überschrieben werden oder neue Gedächt-          nicht, diese Gedächtniselemente über gesellschaftliche Ver-
      nisräume entstehen.                                            änderungen hinweg weiter zu erhalten, wird die gesellschaft-
                                                                     liche Einheit und Kontinuität so stark unterdeterminiert sein
Unterschieden nach verschiedenen Zeithorizonten lassen               (Schwartz, 1991:222), dass eines gesellschaftliche „Erneue-
sich die Dynamiken eines kulturellen Gedächtnisraumes fol-           rung zugleich als unvermeidlich und sozial erwünscht erach-
gendermaßen beschreiben (vgl. Tabelle 1).                            tet wird“ (Le Goff, 1992:37). Diese zunächst oft unbewuss-
   Gerichtet auf die Vergangenheit dient die Konstruktion            te und nicht konkretisierbare Widersprüchlichkeit öffnet das
und Belebung eines kulturellen Gedächtnisraumes der Si-              Fenster für Prozesse der gesellschaftlichen Veränderung, in
cherstellung von Kontinuität. Zwar erfordert dies das Einpas-        denen „neue“ Vergangenheitsbezüge zusammengestellt wer-
sen bestehender Gedächtnisinhalte in die immer neu entste-           den und ihren räumlichen Ausdruck in neuen Gedächtnisräu-
hende gesellschaftliche Umgebung, eine grundlegende Ver-             men finden. Orientiert an Wünschen für die Zukunft dient
änderung von Bedeutungselementen im kollektiven Gedächt-             Erinnern und das Herstellen eines kulturellen Gedächtnisrau-
nis findet jedoch nicht statt. Räumliche Erinnerungsvorgänge         mes dann der Mahnung, der Abgrenzung von den Vorfahren
werden genutzt, um vorhandene Gedächtnisinhalte dauerhaft            oder dem Definieren eines wünschenswerten Selbstbildes.
   6 Im deutschsprachigen Erinnerungsdiskurs prominent platzie-         Finden kulturelle Gedächtnisräume im gerade aktuellen
ren konnte eine aktuelle Auseinandersetzung mit dieser Frage kürz-   Funktionsgedächtnis keine Verwendung mehr, zirkuliert über
lich Per Leo (2021) mit seinem Buch „Tränen ohne Trauer. Nach        sie gar kein Wissen mehr, dann verlieren sie ihre Relevanz.
der Erinnerungskultur“.                                              Sie büßen ihre Verankerung im aktuellen Leben ein und

Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023                                                         https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023
E. Hubner: Erinnern, Raum und das kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann                                              151

Tabelle 1. Übersicht über dynamische Veränderungsprozesse von kulturellen Gedächtnisräumen (eigener Entwurf).

werden funktionslos. Obwohl das einem Vergessensprozess                aus ständigem und ausdauerndem gesellschaftlichen sowie
gleichkommt, entsteht dabei keine Lücke in der Gedächtnis-             individuellen Engagement hervor. Ihre Bedeutung ist daher
landschaft. Vergessen ist nicht als defizitäre oder fehlerhaf-         nicht auf ewig manifestiert, sondern abhängig von den je ak-
te Form von Erinnerung zu verstehen; vielmehr ist es eine              tuellen Bedürfnissen der Gegenwart im ständigen Wandel be-
notwendige Ergänzung von Erinnerung (Assmann, 2016:17).                griffen. Kulturelle Gedächtnisräume sind nicht deshalb per
Im Gedächtnis regelt sich, welche älteren anstelle neuer Er-           se funktionierend, weil sie eine Erinnerungsgemeinschaft in
eignisse weiter in den Hintergrund rücken oder gar vom                 der Vergangenheit einmal hervorgebracht haben, sondern sie
Funktions- in das Speichergedächtnis übergehen (Assmann,               stützen das Erinnern, wenn sie in ständigen Aktualisierun-
2016:18). Verschwindet ein kultureller Gedächtnisraum, ist             gen an die spezifischen Erfahrungen der Gegenwart ange-
das also kein Verlust, sondern eine notwendige Anpassung               passt und dabei immer wieder auf ein Neues hervorgebracht
der Gedächtnislandschaft an aktuelle Bedürfnisse.                      werden.
   Besonders wichtig ist zu beachten, dass alle hier be-
schriebenen Dynamiken keine normative Richtung vorge-
                                                                       4   Fazit
ben. Jede Veränderung eines Gedächtnisraumes kann genau-
so als Verbesserung, als Erfüllung einer notwendigen Er-               Der Themenkomplex ,Erinnern und verräumlichte Erinne-
weiterung oder als Verschlechterung, als Vorzug einer lie-             rungen‘ ist in der Kultur- und Sozialgeographie zu einem
derlichen Einengung erlebt werden7 . Das kann in Abhän-                wichtigen Beschäftigungsfeld geworden, das aus vielfältigen
gigkeit von je spezifischen Machtbeziehungen, Abhängig-                Blickwinkeln betrachtet wird (Maus, 2015). Zwar kann das
keiten und Involvements nur im konkreten Fall entschieden              Konzept des kulturellen Gedächtnisses im deutschsprachi-
werden: Wer hat zu welchem Zweck die Veränderung in-                   gen Raum nicht nur im wissenschaftlichen Bereich, sondern
tendiert? Welcher Vergangenheitsbezug wird betont, welcher             auch in gesellschaftlichen Erinnerungsdebatten als durchaus
abgeschwächt, welcher gar negiert?                                     populär bezeichnet werden, im internationalen Kontext aber
   Um das Vorausgegangene zusammenzufassen: Kulturelle                 werden theoretische Überlegungen in erster Linie bei Nora
Gedächtnisräume dienen zwar dem Erinnern, indem sie Er-                gemacht, viel seltener bei A. und J. Assmann. Voraussetzung
innerungsprozesse initiieren und stützen, aber sie sind kei-           für eine Internationalisierung des Konzeptes im Bereich der
ne Speichermedien vergangener Erfahrungen. Ihre volle Wir-             Geographie ist es, den Sedimentberg, den die deutschspra-
kung entfalten sie, wenn sie wie das kulturelle Gedächtnis             chige Geographie aufgeschüttet hat, abzutragen. Nach Frei-
in ständiger Benutzung sind und permanenter Revision aus-              legung der basalen Grundlagen des Konzeptes zeigt sich,
gesetzt werden. Kulturelle Gedächtnisräume sind daher ver-             dass mit seiner Hilfe ein vertieftes Verständnis über kulturel-
gleichbar mit der Gartenarbeit (Richardson, 2005) „incom-              le Gedächtnisräume und ihre grundsätzlichen Funktionsme-
pletions in process“ (Stenner et al., 2012:1724). Sie gehen            chanismen erarbeitet werden kann. Räume, die dem Erinnern
   7 So weisen zum Beispiel Tyner et al. (2012) auf die ruinöse Wir-   gewidmet sind, haben zwar den Zweck, Geschichten aus der
kung von Veränderungen in der Erinnerungslandschaft am Beispiel        Vergangenheit in der Gegenwart präsent zu halten, speichern
von Kambodscha hin, und Matrínez (2022) zeigt inhaltliche Aus-         können sie diese Erinnerungen jedoch nicht; sie können nur
sparrungen im Erinnerungsdiskurs Estlands auf.                         als Anker für im gesellschaftlichen Diskurs zirkulierende Er-

https://doi.org/10.5194/gh-78-143-2023                                                            Geogr. Helv., 78, 143–155, 2023
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