Weckruf für die freie Welt - Internationale Politik
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Positionen Essay Weckruf für die freie Welt Die EU droht zu zerbrechen, in den USA hat die Abwahl Donald Trumps gerade noch das Schlimmste verhindert. Doch auch unter Joe Biden steht es um die Verteidigung der Werte des Westens gegen autoritäre Mächte schlecht. Freiheitsbewegungen wie in Belarus könnten eine Inspiration sein. Eine globale Allianz der Demokratien tut not. Von Richard Herzinger A n den Amtsantritt von US- Diese Gefahr ist mit der Entfernung Trumps von der Macht Präsident Joe Biden haben indes nur für den Augenblick gebannt, jedoch keineswegs sich hohe Erwartungen in überwunden. Der tragende Konsens der US-Demokratie die Erneuerung der westli- bleibt schwer erschüttert. So glaubt die Mehrheit der repu- chen liberalen Demokratie blikanischen Wählerschaft an Trumps Lüge vom großen geknüpft. Tatsächlich ist durch Donald Wahlbetrug, durch den Biden die Macht usurpiert habe, und Trumps Abwahl die Zerstörung nicht nur erkennt diesen nicht als legitimen US-Präsidenten an. In der demokratischen Ordnung der USA, einigen Bundesstaaten drücken die Republikaner Gesetze sondern auch des transatlantischen wie durch, die das Wahlrecht einschränken und ihnen künfti- des globalen Zusammenhalts der Demo- ge Mehrheiten garantieren sollen. Die „Grand Old Party“ kratien gerade noch rechtzeitig aufgehal- Abraham Lincolns, die so lange eine tragende Säule der ten worden. US-Demokratie war, hat sich zu weiten Teilen in eine an- Mit seiner aggressiven Verachtung für tidemokratische Kraft verwandelt, die autoritärer Willkür- demokratische Institutionen und Regeln herrschaft den Weg ebnet. Und in ihrem Windschatten brei- im Inneren, die in der Anstiftung zum ten sich rechtsterroristische Milizen aus, die mit äußerster Sturm auf das Kapitol gipfelte, drohte Gewaltbereitschaft zum Bürgerkrieg rüsten. Trump die Grundlagen der westlichen Aber nicht nur die nationalistische Rechte, auch eine im- Werteordnung dauerhaft und womöglich mer einflussreicher werdende Strömung der Linken trägt zur irreversibel zu beschädigen. Nicht anders Unterminierung der ideellen und institutionellen Grund- verhielt es sich mit seiner von persönlicher lagen der pluralistischen Demokratie bei. Verfechter einer Willkür und Vorteilsnahme bestimmten „postkolonialen“ Identitätspolitik negieren die universalen Außenpolitik sowie der Beweihräuche- Werte, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung rung autoritärer Führer wie Kim Jong-un, von 1776 niedergelegt sind, und implizieren, Rassismus sei Xi Jinping und, vor allem, Wladimir Putin. der US-Demokratie konstitutiv eingeschrieben. 98 | IP • September/Oktober 2021
Weckruf für die freie Welt Positionen Die massive Infragestellung der univer- an die Wurzeln elementarer Komponenten des Rechtsstaats salistischen Grundlagen der westlichen wie der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz. Und Demokratien aus verschiedenen ideologi- in Frankreich ist der Sieg der rechtsradikalen (und kremlna- schen Richtungen fällt mit dem Erstarken hen) Marine Le Pen bei der kommenden Präsidentschafts- autoritärer Mächte – allen voran Russland wahl eine reale Möglichkeit – was für den Fortbestand der und China – zusammen, die sich den Zer- EU verheerende Konsequenzen hätte. fall des westlichen Wertebewusstseins Angesichts dieser existenziellen Bedrohungen hatte Joe zunutze machen und ihn zugleich aktiv Biden das Ziel ausgegeben, nicht nur die extreme Polarisie- schüren. rung der US-Gesellschaft zu überwinden, sondern auch die D universalen Werte der amerikanischen Demokratie und ihre abei sind die Selbstzerstörungskräf- globale Verbreitung wieder zur Richtschnur der US-Außen- te der pluralistischen Gesellschaf- politik zu machen. Für den kommenden Dezember plant er ten bekanntlich keineswegs auf die einen Gipfel der Demokratien, um die demokratischen Ge- USA beschränkt. In einigen europäischen sellschaften gegen autoritäre Herausforderungen zu wapp- Staaten sind die demokratischen Instituti- nen und ihren Umgang mit inneren und äußeren Feinden onen bereits weitgehend unterhöhlt. In Un- der rechtsstaatlich verfassten pluralistischen Gesellschaften garn hat Viktor Orbán ein halbautoritäres, zu koordinieren. kleptokratisches Herrschaftssystem errich- Doch von einer wirksamen Offensive zur Erneuerung des tet, in Polen legt die PiS-Regierung die Axt Zusammenhalts der Demokratien und zur Stärkung ihrer Bild nur in Printausgabe verfügbar Das Scheitern des Westens in Afghanistan: Als eine US-Militärmaschine am 16. August vom Flughafen in Kabul startet, versuchen verzweifelte Menschen, an Bord zu gelangen, um vor den Taliban zu fliehen. IP • September/Oktober 2021 | 99
Positionen Essay Position im weltpolitischen Kräfteverhält- die unheilvolle Linie Trumps fortgesetzt, ohne Rücksicht auf nis kann bisher keine Rede sein. Das ist die Folgen, die USA so weit und so schnell wie möglich aus gewiss nicht alleine Joe Biden anzulasten. internationalen Verpflichtungen herauszuziehen. Zu erwarten, er könnte im Alleingang und Obwohl für jeden klar denkenden Beobachter offensicht- in kürzester Zeit die westliche Welt zu alter lich sein musste, dass das von Trump im Frühjahr 2020 mit Stärke und Selbstsicherheit zurückführen, den Taliban geschlossene Abkommen diesen nur als tak- wäre völlig überzogen. Zumal von euro- tischer Schachzug diente, um den US-Truppenabzug zu päischer Seite kaum aktives Engagement beschleunigen, hat Biden diese faktische Kapitulations- festzustellen ist, Bidens ambitionierte erklärung vor der radikalislamischen Terrorgruppierung Ziele durch eigene Anstrengungen vor- nicht revidiert. Er verschob den US-Rückzug nur um einige anzubringen. Deutschland etwa macht Monate, jedoch ohne ein auch nur annähernd tragfähiges weiterhin keinerlei Anstalten, das Zwei- Sicherheitskonzept für die Zeit danach zu entwickeln. Prozent-Ziel der NATO zu erfüllen und Dass die Taliban keine Machtteilung akzeptieren und sie damit mehr zur Verteidigungskraft des nach dem Abzug der westlichen Truppen ihren Vormarsch Westlichen Bündnisses beizutragen. zur Rückeroberung der Herrschaft über das gesamte Land Insgesamt zeigt das Gros der Europäer massiv intensivieren würden, war vorauszusehen. Doch bisher keine Bereitschaft, der autoritären Biden redete die Dramatik der Lage bis zuletzt schön. Der Herausforderung konsequenter als bisher schnelle Sieg der Taliban stellt für ihn, wie für den gesamten die Stirn zu bieten. Weder die Vergiftung Westen, ein moralisches und strategisches Desaster dar. Alexej Nawalnys noch die Schlüsselrolle So begreiflich es ist, dass die USA die militärische Last Moskaus bei der Unterdrückung der Pro- in Afghanistan nicht länger allein tragen wollten, nachdem testbewegung in Belarus oder die immer sich ihre NATO-Partner längst aus den Kampfeinsätzen massiveren Kriegsdrohungen Moskaus verabschiedet hatten: Mit dem US-Rückzug wurde die af- gegen die Ukraine haben die EU dazu ghanische Zivilgesellschaft, in erster Linie die Frauen und bewegen können, schärfere Sanktionen Mädchen, sehenden Auges totalitärer islamistischer Willkür gegen den Kreml zu verhängen. Nament- ausgeliefert. Ihre Errungenschaften der vergangenen zwei lich Deutschland und Frankreich setzen Jahrzehnte sind nun der Auslöschung preisgegeben. Das sogar verstärkt auf eine „Normalisierung“ Motto „America is back“, das Biden über seine Außenpoli- der Beziehungen zu Moskau. tik gestellt hat, klingt vor diesem Hintergrund wie blanker Und das Verhältnis zu China, von dem Hohn. viele EU-Staaten in hohem Maße ökono- Auch gegenüber Putins Russland hat Biden Rückzie- misch abhängig sind, betrachtet man wei- her gemacht – im Widerspruch zu seiner Ankündigung, terhin primär unter dem Aspekt profitab- er werde dem globalen Aggressionskurs des Kreml ent- ler wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Die schieden entgegentreten. Der vermeintliche Kompromiss wachsende politische und militärische Be- zwischen Washington und Berlin zu Nord Stream 2 bedeutet drohung, die von Peking ausgeht, nimmt in Wahrheit die Kapitulation des US-Präsidenten vor dem man nur am Rande zur Kenntnis. Bestreben der deutschen Regierung, die Realisierung von D Putins geostrategisch motiviertem Gaspipeline-Projekt um och hat auch Joe Biden selbst bereits nahezu jeden Preis und gegen massive Widerstände auch zu Anfang seiner Präsidentschaft aus Europa durchzudrücken. Biden hat damit vitale Interes- außenpolitische Signale gesetzt, sen der Ukraine (und indirekt Polens sowie der baltischen die seinen Absichtserklärungen diamet- Staaten) seinem dringlichen Wunsch nach harmonischen ral zuwiderlaufen. Das gilt vor allem für Beziehungen zu Deutschland geopfert, das er offenbar zu den überstürzten Truppenrückzug aus seinem maßgeblichen, priv ilegierten Bündnispartner in Afghanistan. Hier hat der neue Präsident Europa auserkoren hat. 100 | IP • September/Oktober 2021
Weckruf für die freie Welt Positionen Unentschlossen zeigt sich Biden über- ansieht. Doch die Front gegen eine autoritäre Macht zu stär- dies in der Reaktion auf die fortgesetzten ken, indem man einer anderen gegenüber die Zügel schlei- Cyberkriegsattacken Moskaus auf US-Ein- fen lässt, klingt nicht gerade nach einem überzeugenden richtungen. Zwar spielt Biden im Gegen- strategischen Konzept – zumal Russland und China ihre satz zu Trump das Ausmaß der Bedrohung, gegen den Westen gerichteten Kräfte in wachsendem Maße das diese Operationen für die Sicherheit koordinieren. E der USA bedeuten, zumindest nicht her- unter. Kürzlich warnte er sogar davor, die ine problematische Seite weist auch der einzige Punkt Cyberangriffe aus Russland, aber auch aus auf, in dem die EU und die neue US-Regierung naht- China könnten einen realen „Krieg zwi- los übereinzustimmen scheinen: der Kampf gegen die schen Großmächten“ auslösen. Doch hat Klimaerwärmung. Weil diese als die ultimative Menschheits- er bisher auf effektive Gegenmaßnahmen frage betrachtet wird, die alle anderen weltpolitischen Pro- verzichtet, die Putin diesbezüglich deut bleme überrage, kann sie zum Vorwand genommen werden, liche Grenzen aufzeigen. eine allzu harsche Konfrontation mit autoritären Mächten Stattdessen verhalf Biden dem russi- zu vermeiden. Schließlich brauche man diese ja für das ge- schen Präsidenten mit dem Gipfeltreffen meinsame globale Vorgehen in Sachen Klimaschutz. in Genf im Juni, das er dem Kreml-Herr- Diese Logik führt jedoch in die Irre. Denn niemand sollte scher ohne Vorbedingungen gewährte, zu glauben, dass kriminelle Regime wie die in Moskau und einem spektakulären Prestigeerfolg. Biden Peking aus Verantwortung für ein abstraktes Gesamtwohl legte Putin dort eine Liste mit 16 Sektoren der Menschheit von ihren aggressiven geostrategischen Ab- der US-Wirtschaft vor, denen für die Inf- sichten Abstriche machen würden. rastruktur der USA entscheidende Bedeu- Gegen die globale autoritäre Herausforderung können die tung zukomme und die der Kreml daher Demokratien nur bestehen, wenn sie jenseits aller vorhan- nicht ins Visier nehmen dürfe, ohne mit denen Gegensätze untereinander fester zusammenstehen, Gegenschlägen rechnen zu müssen. Pu- um die ihnen gemeinsamen Werte und Normen offensiv zu tin aber beeindrucken keine Ermahnun- verteidigen. Dazu bedarf es allerdings mehr als nur verba- gen, die nicht durch handfeste Aktionen ler Beteuerungen. Ein Gipfeltreffen der Demokratien, wie untermauert sind. Demgemäß dürfte er es Joe Biden plant, könnte ein guter Anfang sein; es reicht Bidens Vorhaltungen eher als einen Frei- jedoch bei Weitem nicht aus. Notwendig ist der Aufbau per- fahrtschein gewertet haben, andere Ziele manenter globaler Strukturen zur Verstetigung praktischer als die von Biden genannten ohne Risiko Koordination der demokratischen Nationen im Umgang mit attackieren zu können – was kurz darauf inneren wie äußeren Bedrohungen. auch prompt geschehen ist. Der erste Schritt zu einer solchen engen Kooperation der Weit davon entfernt, die Europäer zu Demokratien wäre die Einsicht, dass die Weltpolitik heute von einer härteren Haltung gegenüber dem einer epochalen Konfrontation zwischen den offenen Gesell- Kreml zu bewegen, scheint sich Bidens schaften und ihren autoritären Antipoden bestimmt wird. Und Russland-Politik eher der nachgiebigen dass diese nicht Halt machen werden, bevor die liberale De- Linie Berlins und Brüssels anzugleichen. mokratie überall auf der Welt beseitigt ist. Das bedeutet auch, Experten diagnostizieren, dass sich der dass der Westen gerade jetzt den Kampf für die Durchsetzung US-Präsident in diesem Punkt gegenüber einer auf universalen Rechtsnormen und Werten beruhenden den europäischen Partnern zugänglich liberalen Weltordnung nicht aufgeben darf – im eigenen Über- zeige, um sie für eine gemeinsame härte- lebensinteresse. Spräche man einem großen Teil der Mensch- re Politik gegenüber China zu gewinnen, heit die Berechtigung ab, diese Werte und Normen für sich zu das er offenbar als den gefährlicheren reklamieren, gäbe es auch keinen zwingenden Grund mehr strategischen Widersacher des Westens dafür, dass sie ausgerechnet im Westen gelten sollten. IP • September/Oktober 2021 | 101
Positionen Essay Bild nur in Printausgabe verfügbar Flagge der Freiheit: Vom zivilgesellschaftlichen Protest wie hier in Belarus gehen Impulse für die Erneuerung des Westens aus. Ein globaler Zusammenschluss der als Traumtänzerei abtun. Veritable „Interessen“, so hört man Demokratien könnte als eine Fraktion in- vonseiten vermeintlicher „Realisten“ immer wieder, zählten nerhalb der Vereinten Nationen agieren, im Zweifelsfall allemal mehr als hehre Prinzipien. Doch es deren Handlungsoptionen zur Sicherung ist kurzsichtig, das Konzept einer realistischen Interessen- elementarer Menschenrechte sowie des politik auf das Gebot der Maximierung kurzfristiger ökono- Völkerrechts im Sicherheitsrat derzeit mischer und machtpolitischer Vorteile zu reduzieren und durch Russland und China systematisch Werte, Normen und Prinzipien demokratischer Außenpolitik blockiert und torpediert werden. In Ex- als bloßes idealistisches Beiwerk abzutun. Die Geschichte tremfällen könnte ein solches Gremium zeigt, dass die Stabilität und Prosperität der Demokratien Interventionen zur Verhinderung von Ver- am größten waren, wenn sie ungeachtet ihrer Differenzen brechen gegen die Menschheit eine breite- an einem Strang zogen. re Legitimation geben, wenn ein solches Zu Recht haben die amerikanischen Strategieanalysten Eingreifen durch ein Veto Moskaus und Daniel Fried und Ash Jain jüngst daran erinnert, dass die Pekings unmöglich gemacht wird. Atlantik-Charta Roosevelts und Churchills von 1941 die Es wird freilich nicht an Stimmen feh- Basis für die demokratische Nachkriegsordnung gelegt hat. len, die ein solches Projekt von vornherein Diesem Vorbild gemäß sollten die führenden Demokratien 102 | IP • September/Oktober 2021
Weckruf für die freie Welt Positionen aller Kontinente heute gemeinsam eine und Ansporn sein sollten, sich des Wertes ihrer demokrati- Grundsatzerklärung formulieren, in der schen Errungenschaften wieder stärker bewusst zu werden. sie ihren Entwurf für eine gerechtere und Dem Druck der immer brutaleren Repression mit mas- friedlichere Welt offensiv darlegen. senhaften willkürlichen Verhaftungen, Verschleppungen, O Folter und Mord konnte die belarussische Demokratiebewe- b die politischen und gesellschaft- gung indes nicht auf Dauer standhalten. Dabei wäre Luka- lichen Eliten des so verstandenen schenko ohne die massive Rückendeckung und Anleitung Westens noch die Kraft und den durch Putins Russland längst nicht mehr an der Macht. Das Willen zu einem solchen Aufbruch auf- Putin-Regime agiert, von Belarus bis Venezuela, von Syrien bringen können und wollen, ist indes bis Kuba, mittlerweile weltweit als Schutzmacht von Dik- fraglich. Kein Roosevelt, Churchill oder taturen und Spezialist für die Reanimierung von Autokra- John F. Kennedy ist in Sicht, der die westli- tien, die bereits abgewirtschaftet zu haben schienen – als chen Gesellschaften aufrütteln und ihnen eine Art Mastermind bei der Zerschlagung demokratischer vermitteln würde, dass sie für die Vertei- Bestrebungen. digung ihrer Freiheit notfalls auch einen Tragischerweise ist es demokratischen Massenbewegun- Preis zu zahlen bereit sein müssen. Es be- gen in autoritären und totalitären Staaten in den vergan- darf daher einer gesamtgesellschaftlichen genen Jahren oft ähnlich ergangen wie der in Belarus. In Besinnung auf die Essenz dessen, was das Hongkong etwa wurde die Erhebung gegen die Gleichschal- Leben in einer Demokratie im Gegensatz tung rigoros zerschlagen und die Sonderverwaltungszone zur Diktatur wertvoll und verteidigens- unter dem Bruch internationalen Rechts im Rekordtempo wert macht. dem totalitären System der Volksrepublik China einverleibt. Impulse für eine solche innere Erneu- Doch stets erhebt sich die antidiktatorische Protestwelle erung des Westens gehen heute vor allem irgendwo auf der Welt aufs Neue. Die Aufstandsbewegung von den zivilgesellschaftlichen Protest- des Maidan in der Ukraine 2013/14, die im Gegensatz zu so bewegungen in verschiedenen Teilen vielen anderen ein kleptokratisches Regime erfolgreich zum der Welt aus, die sich dem grassierenden Einsturz brachte, hat sich die treffende Bezeichnung „Revo- Autoritarismus in immer neuen Anläufen lution der Würde“ gegeben. Ist doch die Sehnsucht danach, entgegenstellen. Ein ebenso unerwartetes in Würde zu leben, das zentrale Movens, das Menschen unter wie beeindruckendes Beispiel dafür hat größten Gefahren immer wieder gegen Unterdrückung und jüngst Belarus gegeben. Die Erhebung ge- Willkür aufstehen lässt. Selbst wenn sie unter großen Opfern gen das Regime Alexander Lukaschenkos scheitern, bleibt von diesem Aufbegehren die Erfahrung, der gehört zu den großen Momenten in der Entmündigung durch die Diktatur einen Moment der Selbst- Geschichte europäischer Freiheitsbewe- bestimmung entgegengesetzt zu haben. Die Erneuerung des gungen. Mit bewunderungswürdigem Westens aber beginnt damit, dieser Erfahrung erheblich Mut und Beharrungsvermögen hat sich mehr Empathie entgegenzubringen – und mit der Wieder- die belarussische Demokratiebewegung belebung des Bewusstseins, dass ein dauerhaftes Leben in in immer neuen, strikt friedlichen Mas- Selbstbestimmung und Würde nur unter demokratischen sendemonstrationen der Willkürherr- Verhältnissen denkbar ist. schaft entgegengestellt. Dabei spielten mehr als je zuvor in einem demokratischen Bürgeraufstand Frauen die führende Rolle. Auch damit wurden hier Maßstäbe für die Erneuerung der demokratischen Idee gesetzt, die auch Dr. Richard Herzinger den westlichen Gesellschaften Inspiration arbeitet als Publizist in Berlin. IP • September/Oktober 2021 | 103
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