Weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz - Umfrage 2012 Risiko, Vorkommen, Handlungsempfehlungen

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Umfrage 2012

Weibliche Genitalverstümmelung
in der Schweiz
Risiko, Vorkommen, Handlungsempfehlungen
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Schweizerisches Komitee für UNICEF
Baumackerstrasse 24
8050 Zürich
Telefon 044 317 22 66
Fax 044 317 22 77
info@unicef.ch
www.unicef.ch
                                                 FOTO: TITEL UNICEF/WCARO/GIACOMO IPIROZZI

Impressum
Weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz.
Risiko, Vorkommen, Handlungsempfehlungen.
Schweizerisches Komitee für UNICEF
Baumackerstrasse 24
CH-8050 Zürich

Zürich, 2013
Editorial

Weltweit sind rund 130 Millionen Frauen beschnitten und         Nun gilt es, gezielte Präventionsmassnahmen durchzu-
alle 15 Sekunden erleidet ein kleines Mädchen dieses            führen. Denn eine Strafnorm kann nur dann greifen, wenn
Schicksal. Die Konsequenzen für das Leben dieser Frauen         gleichzeitig die Verhinderung der Straftat ermöglicht wird.
und Mädchen sind vielschichtig: Schmerzen beim Harn-            Erfahrungen von UNICEF weltweit zeigen, dass Prävention
lassen und beim Geschlechtsverkehr, wiederkehrende              und Repression sich ergänzen müssen, will man die Praktik
Infektionen des Urintrakts, Risiken bei der Geburt für Mutter   überwinden. Um Präventionsbemühungen zielgerecht
und Kind, Fisteln sind nur einige Stichworte dazu.              auszurichten und Bedürfnisse zu klären, ist die Auslotung
Weibliche Genitalverstümmelung – eine Menschenrechts-           der Situation, zehn Jahre nach der ersten Befragung,
verletzung mit lebenslangen Folgen – wird in verschie-          Voraussetzung.
denen Ländern praktiziert. Weder der Koran noch die             Deshalb hat UNICEF Schweiz in Zusammenarbeit mit der
Bibel, noch die Thora verlangen die Beschneidung der            Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Ge-
weiblichen Genitalien. Und trotzdem ist die Überwindung         burtshilfe, der Schweizerischen Stiftung für die sexuelle
eine Herausforderung für Regierungen, Religionsführer           und reproduktive Gesundheit und TERRE DES FEMMES
und Akteure. Durch die veränderten Migrationsströme             Schweiz die Umfrage 2004 in leicht modifizierter Form im
sind heute nahezu alle Teile der Welt gefordert, Mädchen        Sommer 2012 wiederholt. Die Arbeit wurde von der
vor der Verletzung ihrer körperlichen Integrität zu schützen.   Arbeitsgruppe gegen weibliche Genitalbeschneidung in
Dies gilt auch für die Schweiz. Aufgrund neuester Schät-        der Schweiz begleitet. Die Umfrageergebnisse zeigen auf,
zungen muss davon ausgegangen werden, dass rund                 dass die weibliche Genitalverstümmelung nach wie vor
10 700 gefährdete oder betroffene Mädchen und Frauen in         ein Thema in den betroffenen Migrationsgemeinschaften
unserem Land leben.                                             ist und dass insbesondere Fachpersonen aus dem medi-
UNICEF Schweiz und weitere Organisationen haben sich in         zinischen und dem Sozialbereich, aber auch aus dem Asyl-
den letzten zehn Jahren intensiv dafür eingesetzt, dass die     bereich mit Betroffenen in Kontakt kommen und auf adä-
Informationen über die Konsequenzen der weiblichen Ge-          quate Informationen und Schulungen angewiesen sind.
nitalverstümmelung verbreitet und der Schutz der Mädchen        Präventionsmassnahmen zeigen Wirkung, doch deren
vertieft wird. Erste Umfragen im Jahr 2001 und 2004 zeigten     Weiterentwicklung ist nötig.
die Bedürfnisse auf. Guidelines für das Gesundheitspersonal     Die Umfrage wurde möglich dank tatkräftiger Unterstüt-
und Informationsmaterialien wurden in Zusammenarbeit            zung. Unser Dank geht an alle Partnerorganisationen, an
von Organisationen, Fachleuten und Migrationsfrauen             das Bundesamt für Gesundheit und das Bundesamt für
entwickelt, die rechtlichen Bedingungen geklärt. Ein expli-     Migration für die finanzielle Unterstützung. Danken möchten
zites Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung folgte.        wir FehrAdvice & Partners AG für die unentgeltliche Bear-
Artikel 124 StGB trat am 1. Juli 2012 in Kraft, ein wichtiger   beitung und Auswertung der Daten.
Meilenstein zur Überwindung der Praktik in der Schweiz
und zum Schutz von gefährdeten Mädchen.

                                                                Elsbeth Müller
                                                                Geschäftsleiterin, UNICEF Schweiz
Die Umfrage zu weiblicher Genitalverstümmelung
                                              unter Fachpersonen in der Schweiz wurde ermöglicht
                                              durch die grosszügige Unterstützung von:

                                              Die Umfrage wurde realisiert in Zusammenarbeit mit
                                              der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe,
                                              der Schweizerischen Stiftung für die sexuelle und reproduktive
                                              Gesundheit und TERRE DES FEMMES Schweiz.

                                              Danken möchten wir der Firma FehrAdvice & Partners AG
                                              für das grosszügige Engagement. FehrAdvice & Partners AG
                                              hat die Bearbeitung und Auswertung der Daten unentgeltlich
                                              vorgenommen.

                                              Unser Dank geht zudem an die nationale Arbeitsgruppe gegen weibliche
                                              Genitalbeschneidung in der Schweiz für die thematische Begleitung.

              Societé Suisse de Gynécologie et Obstétrique
gynécologie   Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe
     suisse   Società Svizzera di Ginecologia e Ostetricia
Inhaltsverzeichnis

    I.   Zusammenfassung                                ........................................................................................................ 5

    II. Organisation und Methode                                           .................................................................................... 8
         1. Ziel ............................................................................................................................................ 8
         2. Methode ................................................................................................................................. 8
         3. Terminologie ......................................................................................................................... 8
         4. Rücklauf – demographische Daten ............................................................................. 8

    III. Resultate und Ergebnisse                                       ...................................................................................... 10
         1. Erfahrungen mit weiblicher Genitalverstümmelung ......................................... 10
         2. Medizinischer Kontext .................................................................................................... 14
         3. Gesellschaftsrelevanter Kontext ................................................................................ 16
         4. Herausforderungen und Kenntnisse ........................................................................ 20

         Anhang 1 ................................................................................................................................... 22
         Anzahl gefährdeter und/oder betroffener Mädchen und Frauen
         in der Schweiz: statistische Annäherung .................................................................... 22
         Statistische Grundlagen ..................................................................................................... 23

         Anhang 2 ................................................................................................................................... 24
         Fragebogen .............................................................................................................................. 24

         Anhang 3 ................................................................................................................................... 28
         Offene Antworten zu Fragebogen .................................................................................. 28

3
I. Zusammenfassung

Ausgangslage                                                    nische Fachpersonen gaben zudem an, mit den Konsequenzen
Nach 2001 und 2004 führte UNICEF Schweiz ein drittes Mal        von akuten Komplikationen einer frischen Infibulation kon-
in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für      frontiert gewesen zu sein. Diese Tatsache deutet darauf hin,
Gynäkologie und Geburtshilfe, der Schweizerischen Stiftung      dass Frauen und Mädchen kurz vor oder während ihres Auf-
für die sexuelle und reproduktive Gesundheit und TERRE          enthalts in der Schweiz beschnitten wurden. Dass Beschnei-
DES FEMMES Schweiz die Umfrage zur weiblichen Genital-          dung auch bei den Mädchen vorkommt, zeigen zudem die Ant-
verstümmelung durch. Ziel war es, Aufschluss über die heutige   worten zur Frage nach den Altersgruppen. Während 2 Prozent
Situation zu erhalten und Voraussetzungen für Präventions-      der festgestellten Verstümmelungen bei Mädchen im Alter
massnahmen zu schaffen. Durch das Inkrafttreten der Strafnorm   von 0– 4 Jahren diagnostiziert wurden, sind es im Alter von
Artikel 124 StGB über das Verbot der weiblichen Genitalver-     5–9 Jahren bereits 6 Prozent, im Alter von 10 –14 Jahren 7
stümmelung in der Schweiz kommt dem Schutz vor Beschnei-        Prozent und zwischen 15 und 19 Jahren 12 Prozent. Ob die
dung eine besondere Rolle zu. Umso wichtiger sind Erkennt-      Mädchen vor oder nach ihrer Ankunft in der Schweiz
nisse über Erfahrungen von direkt involvierten Personen.        beschnitten wurden, bleibt offen.

Während sich die Umfrage im Jahr 20011 ausschliesslich auf      Betroffene: Wie bereits im Jahr 2004 kamen die befragten
die Gynäkologen und Gynäkologinnen beschränkte, wurden          Fachpersonen am meisten mit Betroffenen im Alter von 24 –
im Jahr 2004 2 auch Hebammen, Pädiater/-innen und Sozial-       34 Jahren in Kontakt. Auch hier widerspiegelt sich, dass die
stellen befragt. 2012 konnte die Befragung auf den Asylbe-      Konsequenzen der weiblichen Genitalverstümmelung rund
reich ausgedehnt werden.                                        um Schwangerschaft und Geburt virulent werden. So geben
                                                                auch 56 Prozent der Gynäkologen und Gynäkologinnen an,
Ergebnisse                                                      die Beschneidung anlässlich einer Schwangerschaftsvorsorge-
Kontakte: 36 Prozent der Umfrageteilnehmenden behan-            untersuchung festgestellt zu haben. Nicht anders stellt sich die
delten oder berieten in den letzten 12 Monaten beschnittene     Situation bei den Pädiatern/-innen dar. 46 Prozent stellen die
Frauen und Mädchen. Dabei sind berufsbedingte Erfahrungen       Beschneidung im Rahmen einer generellen Untersuchung fest.
in allen Fachbereichen zu erkennen, was dem Charakter des       Am häufigsten kamen Fachpersonen mit Betroffenen aus
Themas entspricht. In der französischsprachigen Schweiz         Somalia, Eritrea, Äthiopien und dem Sudan in Kontakt.
hatten deutlich mehr Fachpersonen mit Betroffenen Kontakt.
Hier bestätigt sich, was sich bereits in den Umfragen 2001      Typen von weiblicher Genitalverstümmelung: Zwar
und 2004 abzeichnete, und widerspiegelt die Tatsache, dass      wurde die Typologie der weiblichen Genitalverstümmelung
mehr Migrantinnen aus Ländern mit hohen Prävalenzraten in       durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2008 leicht
der Westschweiz leben.                                          präzisiert, was insbesondere die Klitoridektomie (Typ I) und
                                                                die Exzision (Typ II) betrifft. Der Vergleich zwischen 2004
Vorkommen: Gynäkologen/-innen und Hebammen hatten               und 2012 ist jedoch zulässig.
im Jahr 2012 signifikant häufiger Kontakt mit beschnittenen     Der Vergleich zeigt einen bemerkenswerten Rückgang der
Mädchen oder Frauen verglichen mit den anderen Berufs-          festgestellten Infibulation (Typ III) und stabile Zahlen für die
gruppen. Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein sensibles   Exzision (Typ II). Auffällig aber ist die Zunahme der Klitori-
und intimes Thema und wird häufig im Rahmen einer               dektomie (Typ I) um 25 Prozent von 19 Prozent auf 44 Prozent.
Schwangerschaft oder Geburt festgestellt. Insofern erstaunt
dieses Ergebnis nicht. Auffälliger hingegen ist die Zunahme     Setzt man die festgestellten praktizierten Typen von Genital-
von Kontakten mit beschnittenen Mädchen und Frauen bei          verstümmelung nach Klassifikation der WHO in Beziehung
den Pädiatern/-innen. Ihre Arbeit konzentriert sich auf das     zu den Ursprungsländern, zeigt sich das folgende Bild: In der
Kind. Die Resultate könnten darauf hinweisen, dass Pädiater/    Schweiz ist der Anteil Mädchen und Frauen aus Ursprungs-
-innen häufiger beschnittene Mädchen behandeln oder Mäd-        ländern mit praktizierender Infibulation und Exzision besonders
chen, die Gefahr laufen, beschnitten zu werden. Fünf medizi-    hoch. Auch hat der Anteil der Migrantinnen aus diesen Ländern

5
I. Zusammenfassung

in den vergangenen Jahren zugenommen. Ein hoher Anteil             Informationsbedarf: Trotz grossen Anstrengungen in den
Infibulation – der schmerzlichsten Form der Verstümmelung          letzten Jahren ist der Informationsbedarf bei den Fachper-
– und ein geringerer Anteil Klitoridektomie wären somit            sonen nach wie vor gross. Werden heute weniger die recht-
nachvollziehbar. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere            lichen Probleme von Fachpersonen aus dem medizinischen
Sprache: Die Anzahl Infibulation hat um zehn Prozentpunkte         Bereich als Herausforderung betrachtet, sind es vielmehr die
abgenommen, während die Klitoridektomie um 25 Prozent-             mangelnden Fertigkeiten bei psychologischen und sozialen
punkte zugenommen hat. Dieses Ergebnis könnte ein Indiz            Fragestellungen sowie die Gesprächsführung bei sensiblen
dafür sein, dass die Information und die Sensibilisierungsarbeit   Themen.
der letzten Jahre zu mehr Diagnosen von weiblicher Genital-        59 Prozent der Fachpersonen greifen zudem auf Informati-
verstümmelung, insbesondere des Typs I, führten. Diese Form        onsmaterialien zurück und 51 Prozent auf Beratungsstellen.
von Genitalverstümmelung ist schwierig zu erkennen. Möglich        Damit kommt den beiden Informationsangeboten eine wich-
ist auch, dass trotz zunehmender Einwanderung aus Staaten          tige Bedeutung zu. Unterschiede in der Nutzung von Hilfsan-
mit hoher Prävalenz für Infibulation die Beschneidung im           geboten sind im Vergleich der Berufsgruppen auszumachen.
Ursprungsland abgenommen hat und somit weniger beschnit-           Fachpersonen aus dem medizinischen Bereich nutzen vor
tene Frauen einwandern.    Weiter ist möglich, dass im Zuge der
                      Resilienz                                    allem Beratungsstellen (53 Prozent), gefolgt von interkul-
Diskussion um die Strafnorm Eltern von der schwersten Form         turellen Vermittlern/-innen (51 Prozent). Fachpersonen aus
der Beschneidung (Typ IV) zu einer leichteren Form (Typ I)         dem Sozialbereich nutzen vor allem Informationsmaterialien
übergingen. Eine abschliessende Interpretation lassen die          (67 Prozent), gefolgt von interkulturellen Vermittlern/-innen
Daten jedoch nicht zu.                                             (44 Prozent), und Personen aus dem Asylbereich nutzen in
                                                                   erster Linie Informationsmaterialien (89 Prozent), gefolgt von
Medizinische Probleme: Weibliche Genitalverstümmelung              Beratungsstellen (63 Prozent).
wird einerseits im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge-
untersuchungen sowie bei generellen medizinischen Unter-           Einbindung in Ausbildungslehrplan und in die Weiter-
suchen – insbesondere bei den Mädchen – festgestellt. Die          bildung: Bereits die Umfrage 2004 wies ein grosses Inte-
gesundheitlichen Probleme betreffen mit 32 Prozent vor allem       resse aus, die Wissensvermittlung über weibliche Genitalver-
die chronischen Schmerzen und die regelmässig wiederkeh-           stümmelung in die berufliche Aus- und Weiterbildung zu
renden Infektionen des Urintraktes (17 Prozent). 3 Prozent         integrieren. 2012 stieg die Anzahl der Ja-Stimmen um 5,9
der Umfrageteilnehmenden nannten Fisteln im Zusammen-              Prozent von 88 Prozent auf 93,9 Prozent. Damit kann von
hang mit der Genitalverstümmelung als Grund für die medi-          einem einheitlichen Wunsch der Fachpersonen ausgegangen
zinische Behandlung. 52 Prozent der medizinischen Fachper-         werden unabhängig vom Fachbereich. Auffällig ist, dass die
sonen mussten bereits einmal medizinische Konsequenzen             Thematik der weiblichen Genitalverstümmelung stärker in der
der Verstümmelung behandeln. 48 Prozent bemerkten, dass            Aus- und Weiterbildung des medizinischen Fachbereichs (50
sie keine medizinischen Probleme im Zusammenhang mit der           Prozent) verankert ist, gefolgt vom Sozialbereich (38 Prozent)
Beschneidung feststellten.                                         und vom Asylbereich (34 Prozent). Überdies zeigt sich eine
                                                                   Korrelation zwischen Fachpersonen aus dem Sozial- und
Was tun bei Verdachtsfällen: Über 90 Prozent der Fach-             Asylbereich mit besuchten Ausbildungskursen zur Thematik
personen aller Fachgebiete fühlen sich verpflichtet, Verdachts-    der weiblichen Genitalverstümmelung und der Beratung von
fälle bei Vormundschaftsbehörden, Sozialdiensten, Polizei oder     Frauen aus Ländern mit hohen Prävalenzraten. Die Zahlen
Kinderschutzgruppen zu melden. Auffällig ist die geringere         deuten darauf hin, dass der Besuch von Aus- und Weiterbil-
Ausprägung des Verpflichtungsgefühls in den französisch-           dung eine sinnvolle Präventionsmassnahme ist.
sprachigen Teilen der Kantone Wallis und Freiburg. Sie
weichen mit 80 Prozent im französischsprachigen Wallis und
67 Prozent im französischsprachigen Freiburg um signifikante
Prozentpunkte vom Durchschnitt der Kantone (96 Prozent) ab.

                                                                                                                               6
Handlungsempfehlungen
Die Umfrageergebnisse zeichnen verglichen mit 2004 ein
ähnliches Bild, wenn auch in bestimmten Bereichen die ein-
zelnen Aspekte eine stärkere Ausprägung erfahren haben. Die
Resultate weisen darauf hin, dass nach wie vor verschiedene
Handlungsfelder bestehen, will man Mädchen vor der weib-
lichen Genitalverstümmelung wirksam schützen.
Die Umfrage gibt keine Antwort auf die Frage nach den Grün-
den für die Beschneidung von Mädchen. Dies war auch nicht
das Ziel dieser Studie. Trotzdem widerspiegeln die Resultate
die Tatsache, dass Frauen und Mädchen von Genitalverstüm-
melung bedroht oder betroffen sind – auch in der Schweiz.
Eine wirkungsvolle Präventionsarbeit muss daher diesen
Aspekt berücksichtigen, will man Ressourcen zielgerichtet
einsetzen.
Frauen und Mädchen, die beschnitten sind oder Gefahr laufen,
beschnitten zu werden, werden vor allem von medizinischen
Fachpersonen und Fachleuten aus dem Sozial- und Asylbe-
reich betreut. Der Zugriff auf adäquate Informationen spielt
dabei eine wichtige Rolle. Die Korrelation zwischen genos-
sener Aus- und Weiterbildung und Betreuung von Betroffenen
zeigt, dass die Einbindung in die Lehrpläne vordringlich ist.
Dabei geht es nicht ausschliesslich um Wissensvermittlung.
Vielmehr ist die Gesprächsführung zu schulen, vor allem
wenn es darum geht, sensible Themen wie die weibliche
Genitalverstümmelung anzusprechen. Zudem sind psycho-
logische und soziale Aspekte zu behandeln, um die bestmög-
liche Beratung von betroffenen Frauen und Mädchen zu
ermöglichen.
Fachpersonen greifen zudem auf Beratungsstellen zurück.
Voraussetzung für eine qualitativ gute Betreuung der Betrof-
fenen ist auch hier die Möglichkeit zur Weiterbildung und der
Zugriff auf gutes Informationsmaterial.
Handlungsbedarf besteht in der Wissensvermittlung über
das geltende Melderecht und die geltende Meldepflicht in
den jeweiligen Kantonen unter Einbezug ethisch-rechtlicher
Fragen.

1   Jäger, F.; Schulze, S.; Hohlfeld, P.: Female genital mutilation in Switzerland:
    a survey among gynaecologists. Swiss Medical Weekly 2002; 132:259–264.
2   Schweizerisches Komitee für UNICEF (Hg.): Mädchenbeschneidung in der
    Schweiz. Umfrage bei Schweizer Hebammen, Gynäkologen/-innen,
    Pädiatern/-innen und Sozialstellen. Zürich 2005, sowie: Low, Nicola;
    Marti, Colette; Egger, Matthias (2005): Mädchenbeschneidung in der
    Schweiz: Umfrage von UNICEF Schweiz und der Universität Bern.
    Schweizerische Ärztezeitung; 86: Nr. 16, 970–973.

7
Il. Organisation und Methode

1. Ziel                                                              gruppen sowie den Erhebungsjahren sind im Text gekenn-
                                                                     zeichnet, entweder durch die Angaben der Odds Ratios oder
Die Umfrage 2012 wurde in Zusammenarbeit mit der Schwei-             Chi-Quadrat-Werte oder durch einen textlichen Hinweis zur
zerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der         statistischen Signifikanz, wenn der Unterschied mittels eines
Schweizerischen Stiftung für die sexuelle und reproduktive           Z-Tests ermittelt wurde. Das Signifikanz-Niveau bei den Z-Tests
Gesundheit und TERRE DES FEMMES Schweiz durchgeführt.                betrug durchgehend mindestens 5 Prozent.

Ziel der Studie war es, neue Erkenntnisse über Risiko, Vor-          3. Terminologie
kommen und Handlungsbedarf zu erhalten. Der folgende Be-
richt fasst die wichtigsten Ergebnisse thematisch zusammen,          Um die Darstellung der Grafiken zu optimieren, wurden
wobei statistisch signifikante Unterschiede eigens hervorge-         gewisse Berufsbezeichnungen in der Auswertung wie folgt
hoben sind. Zudem sind signifikante Unterschiede zwischen            abgekürzt:
den verschiedenen Berufsgruppen und zwischen den Umfragen              «Pflegefachfrau/Pflegefachmann mit Schwerpunkt Pädia-
2004 und 2012 erwähnt. Die offenen Antworten finden sich               trie»: neu «Pflegefachfrau/Pflegefachmann Pädiatrie»
im Anhang 1.                                                           «Interkulturelle/-r Übersetzer- und Vermittler/-in»: neu
                                                                       «Interkulturelle/-r Vermittler/-in»
2. Methode                                                             «Fachperson für sexuelle Gesundheit in Bildung und
                                                                       Beratung»: neu «Fachperson für sexuelle Gesundheit»
Die Umfrage wurde mittels eines Online-Fragebogens reali-
siert. Dank der Unterstützung verschiedener Berufsverbände           4. Rücklauf – demographische Daten
konnten 5950 Personen oder Stellen angeschrieben werden.
Der Versand des Fragebogens erfolgte im Juli 2012. Vier              Im Jahr 2012 wurden 5950 Fachpersonen und Fachstellen zur
Wochen später folgte ein Erinnerungsschreiben. Fachpersonen          Teilnahme an der Umfrage eingeladen. 1053 Personen haben
des Asylbereichs erhielten den Fragebogen von den Zustän-            an der Umfrage teilgenommen, davon 806 Frauen. Da nicht
digen der kantonalen Asylkoordination. Die Umfrageergeb-             alle Antwortbögen komplett ausgefüllt wurden bzw. aufgrund
nisse des Asylbereichs sind daher mit einer gewissen Vorsicht        von Umfrage-Filtern nicht alle Fragen beantwortet werden
zu lesen, da Selbstselektionseffekte nicht ausgeschlossen            mussten, kann die Anzahl der teilnehmenden Personen je nach
werden können.                                                       Frage abweichen. 47,2 Prozent der Umfrageteilnehmenden
Befragt wurden Pädiater/-innen, Hebammen, Gynäkologen/-              im medizinischen Bereich gehören zur Gruppe der Pädiater/
innen, Mütter- und Väterberater/-innen, Sozialarbeiter/-innen,       -innen, gefolgt von den Hebammen mit 24,3 Prozent und den
interkulturelle Übersetzer- und Vermittler/-innen, Fachpersonen      Gynäkologen/-innen mit knapp 20 Prozent (Grafik 1). Im
aus dem Asylbereich sowie Fachpersonen für sexuelle                  Sozialbereich beteiligten sich vor allem Mütter- und Väter-
Gesundheit in Bildung und Beratung. Die einzelnen Berufs-            berater/-innen (38,4 Prozent) sowie Sozialarbeiter/-innen (30,7
gruppen erhielten einen Fragebogen, der leicht modifiziert           Prozent) (Grafik 2). Im Asylbereich sind knapp 60 Prozent der
und auf ihren Fachbereich abgestimmt war.                            Umfrageteilnehmenden Sozialarbeiter/-innen, die restlichen
Die statistische Signifikanz der Unterschiede zwischen ein-          40 Prozent setzen sich aus verschiedenen Berufsgruppen
zelnen Teilnehmergruppen der Umfrage (Fachbereich, Berufs-           zusammen (Grafik 3). Unter diesen verschiedenen Berufs-
gruppe, Geschlecht usw.) wurde mit Chi-Quadrat-Tests bzw.            gruppen sind Migrationsfachpersonen und Personen aus dem
mit Z-Tests überprüft. Odds Ratios und 95 Prozent Vertrau-           Bereich Administration/Management besonders häufig ver-
ensintervalle wurden verwendet, um Richtung und Stärke des           treten (Anhang 1, Ergänzung zu Grafik 3).
Zusammenhangs zwischen den Antworten bezüglich des
Erhebungsjahres zu quantifizieren. Alle Antworten wurden
auf ihre statistische Signifikanz getestet. Die statistisch signi-
fikanten Unterschiede zwischen verschiedenen Teilnehmer-

                                                                                                                                  8
Grafik 1:      Umfrageteilnehmende im medizinischen
                   Bereich nach Berufsgruppe

                8.6% (52)
                                                 Pädiater/-in
                                                 Hebamme
                                                 Gynäkologe/-in
                                                 Andere
    19.9% (121)
                                   47.2% (287)

    24.3% (148)

                                                 (Total 608 Personen)

    Grafik 2:      Umfrageteilnehmende im Sozialbereich
                   nach Berufsgruppe

                                                 Mütter-/ Väterberater/-in
            17.3% (58)                           Sozialarbeiter/-in
                                                 Interkulturelle/-r
    6.8% (23)
                                                 Vermittler/-in
                                   38.4% (129)   Fachperson für sexuelle
    6.8% (23)                                    Gesundheit
                                                 Andere

                     30.7% (103)

                                                 (Total 336 Personen)

    Grafik 3:      Umfrageteilnehmende im Asylbereich
                   nach Berufsgruppe

                                                 Sozialarbeiter/-in
                                                 Andere

    40.9% (38)

                              59.1% (55)

                                                 (Total 93 Personen)

9
IlI. Resultate und Ergebnisse

1. Erfahrungen mit weiblicher Genital-
                                                                  Grafik 4:               Kontaktrate nach Fachbereich
verstümmelung
                                                                 100%
Berufliche Erfahrungen im Kontakt mit beschnittenen               90%

Mädchen und Frauen                                                80%

372 von 1025 Umfrageteilnehmenden haben angegeben,                70%

                                                                  60%
durch ihre Berufstätigkeit mindestens einmal in Kontakt mit
                                                                  50%                                                                                                                                      42%
                                                                                           40%
beschnittenen Mädchen oder Frauen gekommen zu sein. Im                                     (244)
                                                                                                                                                                                                           (38)
                                                                  40%
medizinischen Bereich waren dies 40 Prozent, im Sozialbe-         30%
                                                                                                                                                      27%
                                                                                                                                                      (90)
reich 27 Prozent.                                                 20%
Die Kontaktrate im Asylbereich liegt mit 42 Prozent erstaun-      10%

lich hoch. Allerdings wurden die Umfrageteilnehmenden im           0%
                                                                                          Medizinischer                                           Sozialbereich                                               Asylbereich
Asylbereich – anders als die übrigen Teilnehmenden – nicht                                Bereich
direkt angeschrieben, sondern durch die kantonalen Asylko-
ordinatoren auf die Umfrage hingewiesen. Selbstselektions-
effekte könnten daher ein Grund für die hohe Kontaktrate
sein. Vorstellbar ist etwa, dass Asylkoordinatoren verstärkt
Fachpersonen ansprachen, von denen sie vermuteten, dass           Grafik 5:               Kontaktrate nach Berufsgruppe

sie Kontakt mit beschnittenen Mädchen oder Frauen hatten         100%
(Grafik 4, chi: p = 0.000).                                       90%
                                                                                           79%
                                                                  80%                      (95)
                                                                                                               66%               65%
Kontakt mit Betroffenen nach Berufsgruppe                         70%                                          (102)             (15)                 60%
                                                                                                                                                      (3)
Gynäkologen/-innen und Hebammen hatten im Vergleich zu            60%

                                                                  50%
den anderen Berufsgruppen statistisch signifikant am häu-
                                                                  40%                                                                                                 31%
figsten beschnittene Mädchen oder Frauen behandelt. Dies ist                                                                                                          (48)              23%
                                                                                                                                                                                                                                                     28%
                                                                  30%                                                                                                                                                                                (27)
nicht weiter erstaunlich, da diese Berufsgruppe Frauen vor,                                                                                                                             (34)                  19%
                                                                                                                                                                                                                             15%         13%
                                                                  20%                                                                                                                                         (5)
                                                                                                                                                                                                                             (42)        (1)
während und nach der Geburt betreut. Bei den Berufsgruppen        10%

Pflegefachfrau/-mann und Pflegefachfrau/-mann Pädiatrie ist        0%
                                                                                                /-in                   e                   it              nn                     n               -in                 -in        /-in         rie             re
                                                                                           ge                  mm                     he              ma                   r/-i             er/                 er/          ter          iat            de
die Fallzahl sehr tief. Ein Quervergleich mit den Ergebnissen                    k   olo             He
                                                                                                          ba
                                                                                                                        e   su
                                                                                                                                 nd
                                                                                                                                            a   u/-
                                                                                                                                                           ar   be
                                                                                                                                                                     ite
                                                                                                                                                                               be
                                                                                                                                                                                      rat
                                                                                                                                                                                                erm
                                                                                                                                                                                                         ittl
                                                                                                                                                                                                                      Pä
                                                                                                                                                                                                                         dia         nP
                                                                                                                                                                                                                                       äd           An
                                                                              nä                                     eG                 hfr            ial                 ter                                                     n
                                                                         Gy                                    ell                   fac            z             ä            /            -r V                            /-m
                                                                                                                                                                                                                                a
der anderen Berufsgruppen ist daher nicht möglich (Grafik 5).                                             xu                eg
                                                                                                                                 e               So         r-/V           lle                                           au
                                                                                                     se               Pfl                               tte            ure                                           hfr
                                                                                            f   ür                                                   Mü          k ult                                            fac
                                                                                         on                                                                  e r                                              e
                                                                                  er s                                                                   Int                                             eg
                                                                              p                                                                                                                    Pfl
                                                                           ch
                                                                        Fa
Kontaktrate im medizinischen Bereich im Vergleich zum
Jahr 2004
Alle drei Berufsgruppen aus dem medizinischen Bereich           Ob dies auf die verstärkte Immigration aus Ländern mit hohem
haben im Jahr 2012 deutlich häufiger beschnittene Mädchen       Vorkommen zurückzuführen ist, auf eine verstärkte Sensibili-
oder Frauen behandelt verglichen mit dem Jahr 2004. Besonders   sierung der Pädiater/-innen oder ob mehr Mädchen beschnitten
deutlich stieg der Anteil bei Pädiatern/-innen und Hebammen.    werden, lässt sich daraus nicht ableiten.
Gynäkologen/-innen sind weiterhin statistisch signifikant am    Im Durchschnitt hatten mehr weibliche als männliche Fach-
häufigsten mit weiblicher Genitalverstümmelung konfrontiert     personen Kontakt mit beschnittenen Frauen. Hier gilt zu be-
(Grafik 6).                                                     achten, dass überdurchschnittlich viele männliche Umfrage-
Erstaunen muss der Anstieg bei den Pädiatern/-innen von 6 auf   teilnehmer Pädiater waren und diese im Vergleich zu anderen
15 Prozent, denn diese Fachgruppe kümmert sich um die medi-     Berufsgruppen seltener angaben, mit beschnittenen Mädchen
zinische Versorgung von Kindern. Die Zunahme würde bedeuten,    oder Frauen in Kontakt gekommen zu sein.
dass Pädiater/-innen mehr beschnittene Mädchen behandeln.

                                                                                                                                                                                                                                                               10
Grafik 6:    Kontaktrate im medizinischen                                  2004            Grafik 8:   Kontaktrate nach Sprachregion
               Bereich 2004 und 2012                                         2012
  100%                                                                                       100%

     90%                                                                                     90%

     80%             79%                                                                     80%

     70%                                    66%                                              70%
               61%
     60%                                                                                     60%

     50%                                                                                     50%         47%
     40%                              38%                                                    40%
                                                                                                                        34%              33%
     30%                                                                                     30%

     20%                                                                                     20%
                                                                   15%
     10%                                                     6%                              10%

     0%                                                                                       0%
               Gynäkologe/-in         Hebamme                Pädiater/-in                                Französisch   Deutsch           Italienisch

                                                                                           Überdies ist zu beachten, dass möglicherweise eher diejenigen
  Grafik 7:    Kontaktrate nach Kanton                                                     Fachpersonen geneigt waren, an der Umfrage teilzunehmen,
  100%
               (Kantone, in welchen weniger als 10 Teilnehmende berufstätig sind,          welche bereits mit weiblicher Genitalverstümmelung konfron-
               wurden nicht in die Statistik aufgenommen, da dort keine aussage-
     90%                                                                                   tiert worden sind, als solche, die bisher noch keine Erfahrungen
               kräftigen Beobachtungen möglich sind.)
     80%                                                                                   mit dem Thema gemacht haben.
     70%

     60%
                                                                                           Regionale Unterschiede im Kontakt mit beschnittenen
     50%
                                                                                           Mädchen und Frauen
     40%
                                                                                           Kantonale Unterschiede in Bezug auf die Häufigkeit von
     30%

     20%
                                                                                           Kontakten zu beschnittenen Mädchen oder Frauen lassen sich
     10%                                                                                   nur minimal feststellen. Einzig die Kantone, welche eine
     0%                                                                                    besonders hohe Kontaktrate aufweisen, unterscheiden sich
                nf  lis  rg   rn   en     dt dt rn   ch    in  rg       rn  ft yz au e n
              Ge Wal eibu othu Gall Waa l-Sta Be Züri Tess nbu Luze dsch chw arg ünd       statistisch signifikant von den Kantonen, welche eine beson-
                    Fr Sol St.           se                ue          La
                                                                          n S   A ub
                                      Ba                Ne       s el-          Gr
                                                                                   a
                                                              Ba                           ders niedrige Kontaktrate aufweisen (Grafik 7). Fachpersonen
                                                                                           in französischsprachigen Kantonen begegnen weiblicher
                                                                                           Genitalverstümmelung häufiger (Grafik 8; chi: p = 0.001).
                                                                                           Eine Erklärung dafür könnte sein, dass der Anteil Migrantinnen
Durchschnittliche Anzahl der Begegnungen                                                   aus Ländern mit hohen Prävalenzraten in der Romandie höher
in den letzten 12 Monaten                                                                  ist.
Sowohl im Jahr 2004 als auch im Jahr 2012 wurden durch-
schnittlich 1,4 Frauen mit Genitalverstümmelung medizinisch
behandelt. Damit lässt die im Vergleich zu 2004 scheinbar
gestiegene Kontaktrate nicht zwangsläufig darauf schliessen,
dass auch tatsächlich mehr Fälle in den letzten 12 Monaten
beobachtet wurden. Eine mögliche Erklärung könnte auch
sein, dass sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine beschnit-
tene Frau zu behandeln, je länger eine Fachperson im Beruf
tätig ist.

11
IIl. Resultate und Ergebnisse

Typen von weiblicher Genitalverstümmelung
Wie 2004 wurde auch 2012 nach dem Typ weiblicher Genital-          Grafik 9:    Festgestellte Typen von weiblicher
                                                                                Genitalverstümmelung 2012
verstümmelung gefragt. 2012 diente die neue Klassifikation         100%
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Massstab für die         90%

Bezeichnung und Beschreibung der verschiedenen Genital-            80%

verstümmelungstypen. Die WHO präzisierte diese Klassifika-         70%
                                                                                                63%
                                                                                                           60%
tion im Jahr 2008 und dabei insbesondere die Typen I und II.       60%

                                                                   50%
Die Einteilung in vier Typen erfuhr keine Veränderung.                          44%
                                                                   40%

                                                                   30%
Diese aktuelle Klassifikation unterscheidet vier Arten der weib-   20%
                                                                                                                                    12%
lichen Genitalverstümmelung:                                       10%
                                                                                                                          3%
   Klitoridektomie (Typ I): Teilweise oder vollständige Ent-        0%
                                                                                Klitoridek-     Exzision   Infibulation   Anderer   Nicht
   fernung der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut.                           tomie (Typ I)   (Typ II)   (Typ III)      Typ       bekannt
   Exzision (Typ II): Teilweise oder vollständige Entfernung
   der Klitoris und der kleinen Schamlippen, mit oder ohne
   Entfernung der grossen Schamlippen.
   Infibulation (Typ III): Verengung der Vaginalöffnung und
   Schaffung eines Verschlusses durch Ausschneiden und Zu-         Grafik 10:   Festgestellte Typen von weiblicher
                                                                                Genitalverstümmelung 2004
   sammenfügen der kleinen Schamlippen und/oder der grossen        100%
   Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der Klitoris.             90%

   Typ IV: Alle anderen schädlichen Eingriffe, die die weib-       80%
                                                                                                           70%
   lichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen            70%
                                                                                                62%
   Zweck dienen, zum Beispiel: Einstechen, Durchbohren,            60%

                                                                   50%
   Einschneiden, Ausschaben und Ausbrennen oder Verätzen.
                                                                   40%

                                                                   30%
Wie bereits 2004 wurden Exzision (Typ II) und Infibulation         20%          19%
(Typ III) am häufigsten genannt. Auffällig ist der Rückgang        10%                                                              10%
                                                                                                                          1%
der festgestellten Infibulation um 10 Prozentpunkte und die         0%
                                                                                Klitoridek-     Exzision   Infibulation   Anderer   Nicht
Zunahme der Klitoridektomie (Typ I) um 25 Prozentpunkte.                        tomie (Typ I)   (Typ II)   (Typ III)      Typ       bekannt

Die Abnahme der festgestellten Infibulation könnte darauf
hindeuten, dass trotz stärkerer Einwanderung aus Ländern mit
hohen Prävalenzraten des Typs III (Grafik 12) diese schmerz-
hafte Form weniger praktiziert wird. Die starke Zunahme der
Klitoridektomie (Typ I) zwischen 2004 und 2012 (Grafiken 9
und 10) kann unterschiedlich erklärt werden. So könnte die
Sensibilisierung der medizinischen Fachpersonen zu einem
besseren Erkennen der Klitoridektomie geführt haben. Möglich
wäre auch, dass die Information und Sensibilisierung der
Migrationsbevölkerung dazu führte, dass die Klitoridektomie
(Typ I) einer schmerzhafteren Form vorgezogen wurde.

                                                                                                                                              12
Grafik 11:    Altersgruppen der betroffenen                                                   Grafik 13:   Herkunftsland der betroffenen
                Mädchen und Frauen                                                                           Mädchen und Frauen 2004
 100%                                                                                          100%

     90%                                                                                        90%

     80%                                                                                        80%

     70%                                                                                        70%
                                                                   63%                                       65%
     60%                                                                                        60%

     50%                                                                                        50%
                                                         45%
     40%                                                                                        40%
                                                                                                                       32%
     30%                                                                                        30%

     20%                                                                                        20%                              20%
                                                                            15%                                                                      16%
                                             12%                                                                                           11%
     10%                  6%         7%                                                         10%
                 2%                                                                  4%
     0%                                                                                          0%
           Jahre 0–4      5–9        10–14   15–19       20–24     25–34    35–4 4   45 und                  Somalia   Äthiopien Eritrea   Anderes   Nicht
                                                                                     älter                                                 Land      bekannt

                                                                                              sind statistisch signifikant (Grafik 12). Im Vergleich zu 2004
  Grafik 12:     Herkunftsland der betroffenen                                                scheint der Anteil an beschnittenen Mädchen und Frauen aus
                 Mädchen und Frauen 2012
 100%
                                                                                              Eritrea gestiegen und der Anteil der Mädchen und Frauen aus
     90%                                                                                      Somalia und Äthiopien leicht gesunken zu sein (Grafik 13).
     80%

     70%                                                                                      Statistisch signifikant mehr Fachpersonen aus der französisch-
                 59%
     60%
                                                                                              sprachigen Schweiz haben angegeben, mit betroffenen Personen
     50%                   50%
                                                                                              aus Äthiopien in Kontakt gekommen zu sein.
     40%

     30%                               28%
     20%
                                                                                              Die Länder Sudan und Ägypten wurden in der Umfrage 2012
                                                   14%                               12%
     10%                                                                                      mit berücksichtigt. Insbesondere das Herkunftsland Sudan
                                                                           5%
                                                                 2%
     0%                                                                                       wurde mit 14 Prozent häufig angegeben. In der Gruppe anderes
                Somalia    Eritrea     Äthiopien Sudan           Ägypten Anderes Nicht
                                                                         Land    bekannt
                                                                                              Land befinden sich vornehmlich westafrikanische Herkunfts-
                                                                                              länder.

Altersgruppen der betroffenen Mädchen und Frauen
Die an der Umfrage teilnehmenden Fachpersonen kamen wie
im Jahr 2004 vor allem mit Betroffenen im Alter von 20–34
Jahren in Kontakt (Grafik 11).

Herkunftsländer der Betroffenen
Ein Grossteil der beschnittenen Mädchen und Frauen stammt
aus Ländern, die ein hohes Vorkommen von Genitalverstüm-
melung aufweisen. 59 Prozent der Fachpersonen gaben an,
Mädchen oder Frauen aus Somalia betreut zu haben, die Hälfte
der Umfrageteilnehmenden nannte Eritrea als Ursprungsland,
gefolgt von Äthiopien mit 28 Prozent. Diese Unterschiede

13
IIl. Resultate und Ergebnisse

2. Medizinischer Kontext
                                                                  Grafik 14:   Zeitpunkt der Feststellung der Genital-
                                                                               verstümmelung durch Gynäkologen/-innen
Feststellung der Genitalverstümmelung                             100%
Bei den Gynäkologen/-innen wurden weibliche Genitalver-           90%

stümmelungen am häufigsten bei Voruntersuchungen wäh-             80%

rend der Schwangerschaft (56 Prozent) und bei generellen          70%

Untersuchungen (50 Prozent) festgestellt. 31 Prozent der          60%                         56%
                                                                  50%          50%
Gynäkologen/-innen gaben zudem an, eine weibliche Geni-
                                                                  40%
talverstümmelung bei einer Geburt festgestellt zu haben           30%
                                                                                                                31%
(Grafik 14).                                                      20%
Bei den Pädiatern/-innen stellten 46 Prozent die Genitalver-      10%                                                       9%

stümmelung in einer generellen Untersuchung fest. 39 Prozent       0%
                                                                               Bei einer      Bei einer         Bei einer   Anderes
gaben an, die Verstümmelung in einem anderen Zusammen-                         generellen     Vorsorgeunter-    Geburt
hang festgestellt zu haben. Dieses Resultat ist mit dem ärzt-                  Untersuchung   suchung
                                                                                              während der
lichen Fachgebiet zu erklären, da Schwangerschaftsvorsorge-                                   Schwangerschaft

untersuchungen und Geburten nicht zum Fachbereich der
Pädiater/-innen gehören (Grafik 15).
Im Gegensatz dazu stehen die Hebammen, die die Genitalver-
stümmelungen zu 65 Prozent bei einer Geburt feststellen           Grafik 15:   Zeitpunkt der Feststellung der Genital-
                                                                               verstümmelung durch Pädiater/-innen
konnten sowie zu 40 Prozent bei einer Vorsorgeuntersuchung        100%
während der Schwangerschaft (Grafik 16). Im Rahmen der            90%
offenen Antworten gaben Hebammen ausserdem an, Genital-           80%

verstümmelungen nach der Geburt oder im Wochenbett fest-          70%

gestellt zu haben.                                                60%

                                                                  50%
                                                                               46%
                                                                  40%                                                       39%
Klinische Probleme im Zusammenhang
                                                                  30%
mit der Genitalverstümmelung
                                                                  20%
                                                                                                                17%
Chronische Schmerzen sowie wiederkehrende Infektionen             10%
                                                                                              5%
des Urintraktes sind mit 32 Prozent bzw. 17 Prozent die am         0%

häufigsten erfassten klinischen Probleme im Zusammenhang                       Bei einer
                                                                               generellen
                                                                                              Bei einer
                                                                                              Vorsorgeunter-
                                                                                                                Bei einer
                                                                                                                Geburt
                                                                                                                            Anderes

mit der Genitalverstümmelung. Hervorzuheben ist, dass 2                        Untersuchung   suchung
                                                                                              während der
Prozent der Fachpersonen im medizinischen Bereich, die                                        Schwangerschaft

bereits Betroffene behandelt haben, akute Komplikationen
einer frischen Infibulation feststellten. In absoluten Zahlen
entspricht dies fünf medizinischen Fachpersonen. Diese Zahlen   Defibulation
deuten darauf hin, dass die Verstümmelung erst kurz vor dem     32 Prozent der Gynäkologen/-innen gaben an, bereits gebeten
Aufsuchen des Arztes erfolgte.                                  worden zu sein, eine Defibulation durchzuführen, d.h. die zu-
48 Prozent der medizinischen Fachpersonen gaben an, keine       sammengewachsenen Schamlippen aufzuschneiden (Grafik
Probleme im Zusammenhang mit der Genitalverstümmelung           18). Verglichen mit der Umfrage 2004 blieben die Zahlen stabil.
festgestellt zu haben (Grafik 17). Im Rahmen der offenen        Feststellbar ist ein regionaler Unterschied. In der französisch-
Antworten wurden weiter Probleme bei einer Geburt sowie         sprachigen Schweiz wurde statistisch signifikant häufiger um
sexuelle und psychische Probleme genannt.                       die Durchführung einer Defibulation gebeten.

                                                                                                                                      14
Grafik 16:   Zeitpunkt der Feststellung der Genital-                                Grafik 18:   Nachfrage nach Defibulation                    2004
               verstümmelung durch Hebammen                                                        2004 und 2012                                  2012
  100%                                                                               100%

     90%                                                                              90%

     80%                                                                              80%

     70%                                                                              70%
                                                      65%
     60%                                                                              60%

     50%                                                                              50%

     40%                          39%                                                 40%
                                                                                                   32% 32%
     30%                                                                              30%

                                                                         18%                                        21%
     20%                                                                              20%                                 16%
     10%                                                                              10%                                                9%
                                                                                                                                   6%
               2%
     0%                                                                                0%
               Bei einer          Bei einer Vorsorge- Bei einer          Anderes                   Gynäkologe/-in   Hebamme        Pädiater/-in
               generellen         untersuchung        Geburt
               Untersuchung       während der
                                  Schwangerschaft

  Grafik 17:   Festgestellte klinische Probleme                                       Grafik 19:   Nachfrage nach Reinfibulation                  2004
                                                                                                   2004 und 2012                                  2012
  100%                                                                               100%

     90%                                                                              90%

     80%                                                                              80%

     70%                                                                              70%

     60%                                                                              60%

     50%                                                                   48%        50%
                                                                                                                    42%
     40%                                                                              40%
               32%
     30%                                                                              30%          27% 27%                26%
     20%
                                                                  21%                 20%
                          17%
     10%                                                                              10%                                                9%
                                        3%
                                                   2%                                                                              0%
     0%                                                                                0%
               Chronische Wieder-     Fisteln      Akute        Andere KeineKeine                  Gynäkologe/-in   Hebamme        Pädiater/-in
               Schmerzen kehrende                  Komplika-
                          Infektionen              tionen einer
                          des Urin-                frischen
                          traktes                  Infibulation

Reinfibulation                                                                      Prozent angestiegen (Grafik 19). Insgesamt 8 Fachpersonen
Da zur Verhinderung von Geburtskomplikationen bei einer                             gaben an, auf Wunsch der Patientin schon einmal eine Reinfi-
infibulierten Frau eine Defibulation vorgenommen werden                             bulation durchgeführt zu haben.
muss, wünschen sich einige Frauen nach der Geburt eine
Reinfibulation und damit ein Wiederzunähen der Öffnung.
Der Anteil der Frauen, die Hebammen um eine Reinfibulation
nach einer Geburt gebeten haben, ist 2012 um 16 Prozent
gesunken verglichen mit 2004 (odds ratio 2.1, 95 Prozent CI
1.2 bis 3.8, p = 0.006). Jedoch ist der Anteil der Pädiater/-innen,
die um eine Reinfibulation gebeten worden sind, von 0 auf 9

15
IIl. Resultate und Ergebnisse

  Grafik 20:   Bereits von Fällen in der                2004            Grafik 21:   Hinweis auf eine bevorstehende Genital-
               Schweiz gehört                           2012                         verstümmelung erhalten
  100%

  90%          88%                                                                                                             Nein
                      84%
  80%                                                                                                                          Ja
  70%
                                                                                            30%
  60%

  50%

  40%                                                                                                    70%
  30%

  20%
                                      16%
                                12%
  10%

   0%
               Nein             Ja

3. Gesellschaftsrelevanter Kontext
                                                                        Grafik 22:   Hinweise zu Auslandstaten

Informationen über Genitalverstümmelungsfälle                           100%
in der Schweiz                                                          90%

Nur 16 von 1005 antwortenden Personen berichteten, gefragt              80%
                                                                                     73%
worden zu sein, wo die Durchführung einer Genitalverstüm-               70%

melung in der Schweiz möglich sei – ein ähnlich niedriger               60%

                                                                        50%
Stand wie im Jahr 2004. Drei medizinische Fachpersonen
                                                                        40%
wurden gebeten, eine Genitalverstümmelung durchzuführen.
                                                                        30%                         27%
Insgesamt 16 Prozent der Befragten (157 von 1005 Befragten)             20%
haben hingegen bereits von Genitalverstümmelungsfällen in                10%

der Schweiz gehört – rund 4 Prozent mehr als im Jahr 2004                0%
                                                                                     Nein           Ja
(odds ratio 1.4, 95 Prozent CI 1.1 bis 1.8, p = 0.004) (Grafik 20).

Hinweise auf bevorstehende und erfolgte Genital-
verstümmelungen
30 Prozent der Umfrageteilnehmenden berichteten, informiert           Genitalverstümmelung als Asylgrund
worden zu sein, dass ein Mädchen oder eine Frau dem Risiko            In der Umfrage 2012 wurden die Fachpersonen des Asylbe-
einer bevorstehenden Genitalverstümmelung ausgesetzt ist              reichs gefragt, ob betroffene Frauen die weibliche Genitalver-
(Grafik 21). Es besteht jedoch kein statistisch signifikanter         stümmelung als Asylgrund angegeben haben, was 14 Prozent
Unterschied hinsichtlich der verschiedenen Berufsgruppen.             (5 Personen) bestätigten (Grafik 23). 46 Prozent verneinten
Auch ist nicht ersichtlich, ob die bevorstehende Genitalver-          die Frage.
stümmelung in der Schweiz oder im Ausland erfolgen sollte.
                                                                      Thematisierung der weiblichen Genitalverstümmelung
Hinweise zu Auslandstaten                                             Im Jahr 2012 gaben 34 Prozent der Fachpersonen im Sozial-
27 Prozent der Umfrageteilnehmenden (270 von 1005 Antwor-             bereich sowie 44 Prozent der Fachpersonen aus dem Asylbe-
tenden) hatten Kenntnisse von Fällen, in denen Mädchen für            reich an, das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung
eine Beschneidung ins Ausland gebracht wurden (Grafik 22).            mit Personen aus Ländern mit hohem Vorkommen zu thema-

                                                                                                                                      16
Grafik 23:   Fälle, in denen die Genitalverstümmelung als         Grafik 25:   Verpflichtungsgefühl des medizinischen Fachpersonals,
               Asylgrund angegeben wurde                                         bei Verdachtsfällen Meldung zu erstatten
  100%                                                              100%
                                                                                 96%
                                                                                                     93%                     92%
     90%                                                            90%

     80%                                                            80%

     70%                                                            70%

     60%                                                            60%

     50%                                                            50%
               46%
     40%                                      40%                   40%

     30%                                                            30%

     20%                                                            20%
                              14%
     10%                                                            10%

     0%                                                              0%
               Nein           Ja              Unbekannt                          Pädiater/-in        Gynäkologe/-in          Hebamme

  Grafik 24:   Thematisierung der weiblichen Genital-               Grafik 26:   Verpflichtungsgefühl des medizinischen Fachpersonals,
               verstümmelung nach Fachbereich                                    bei Verdachtsfällen Meldung zu erstatten nach Kanton
  100%                                                              100%         96%
     90%                                                            90%

     80%                                                            80%                              80%

     70%                                                            70%                                                      67%
     60%                                                            60%

     50%                                                            50%
               44%
     40%                                                            40%
                               34%
     30%                                                            30%

     20%                                                            20%

     10%                                                            10%

     0%                                                              0%
               Asylbereich    Sozialbereich                                      Andere Kantone      Wallis                  Freiburg
                                                                                                     (französischsprachig)   (französischsprachig)

                                                                                 (Kantone, in welchen 10 und weniger Teilnehmende die Frage
                                                                                 beantwortet haben, wurden nicht in die Statistik aufgenommen,
                                                                                 da dort keine aussagekräftigen Beobachtungen möglich sind.)

tisieren (Grafik 24). Somit schenken Fachpersonen im Asyl-
bereich der Problematik signifikant mehr Aufmerksamkeit als
Fachpersonen im Sozialbereich (chi: p = 0.099). Diese Ergeb-      Vergleicht man die Kantone, fällt auf, dass das Verpflichtungs-
nisse könnten darauf hindeuten, dass die Bemühungen des           gefühl bei Fachpersonen im französischsprachigen Teil der
Bundesamts für Migration um bessere Information in den            Kantone Wallis und Freiburg statistisch signifikant weniger
Empfangs- und Durchgangszentren zu greifen beginnen.              stark ausgeprägt ist (Grafik 26).

Vorgehen bei Verdachtsfällen
Bei Verdachtsfällen fühlen sich alle drei medizinischen Berufs-
gruppen mit über 90 Prozent verpflichtet, bei den Vormund-
schaftsbehörden, Kinderschutzgruppen, Sozialdiensten oder
der Polizei Meldung zu erstatten (Grafik 25).

17
IIl. Resultate und Ergebnisse

  Grafik 27:     Zugriff auf Hilfsangebote                                                            Grafik 29:       Genutzte Hilfsangebote im
                                                                                                                       medizinischen Bereich
  100%                                                                                               100%

   90%                                                                                                90%

   80%                                                                                                80%

   70%                                                                                                70%
                 62%
   60%                                                                                                60%
                                                                                                                                        51%                53%
   50%                                                                                                50%           46%
   40%                                        38%                                                     40%

   30%                                                                                                30%                                                                     27%
   20%                                                                                                20%
                                                                                                                                                                                                 14%          15%
   10%                                                                                                10%

    0%                                                                                                 0%
                                                                                                                               s-                  le                  lle
                                                                                                                                                                           n
                                                                                                                                                                                         utz
                                                                                                                                                                                             -
                                                                                                                                                                                                      ite
                                                                                                                                                                                                          n             re
                 Nein                         Ja                                                                          on
                                                                                                                     ati lien                  rel                 ste                sch pen      se              de
                                                                                                                 r m         a           u ltu nnen            g s                e r    p      eb            An
                                                                                                             f o       e r i        e r k /-i              u n                 n d ru          W
                                                                                                          In         t            t          r           t                   i       g
                                                                                                                ma              In ittle              ra                   K
                                                                                                                                  rm              Be
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  Grafik 28:    Art der genutzten Hilfsangebote                                                       Grafik 30:        Genutzte Hilfsangebote im Sozialbereich

  100%                                                                                               100%

  90%                                                                                                 90%

  80%                                                                                                 80%

  70%                                                                                                 70%           67%
  60%          59%                                                                                    60%
                                             51%
  50%                                                                                                 50%
                             45%                                                                                                        44%                42%
  40%                                                                                                 40%

  30%                                                                                                 30%

  20%                                                        20%                                      20%
                                                                                       15%                                                                                    16%                             16%
                                                                            11%
  10%                                                                                                 10%
                                                                                                                                                                                                 5%
   0%                                                                                                  0%
                     s-               lle           len
                                                                        -
                                                                     utz n
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                                                                                                                                                                       utz n
                                                                                                                                                                                     n                                  re
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                                                                            se         An                          ati en          tur en       ste                 ch
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                                                                                                                                                                              se                              An
        f o rm erial     e r k     /          u            n d     r                                         f o rm riali erkul /-inn ungs                   n d     r
      In mat          Int ittler          rat           Ki       g                                        In       te     Int ittler        rat           Ki       g
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Zugriff auf Hilfsangebote                                                                           Genutzte Hilfsangebote nach Fachbereich
Insgesamt gaben 38 Prozent aller Umfrageteilnehmenden an,                                           Bei Fachpersonen aus dem sozialen und dem medizinischen
im Kontakt mit betroffenen oder gefährdeten Mädchen und                                             Bereich ist eine ähnliche Nutzung der verschiedenen Hilfs-
Frauen Hilfsangebote in Anspruch genommen zu haben (Grafik                                          angebote feststellbar. Fachpersonen aus dem Asylbereich hin-
27). Dabei wurde vor allem auf Informationsmaterialien (59                                          gegen bevorzugen Informationsmaterialien und den Zugriff
Prozent), Beratungsstellen (51 Prozent) und interkulturelle                                         auf Beratungsstellen (Grafik 29–31).
Vermittler/-innen (45 Prozent) zurückgegriffen. Zum Teil wurde                                      Im medizinischen Bereich haben Hebammen im Vergleich zu
auch die Hilfe von Kinderschutzgruppen und Webseiten in                                             Gynäkologen/-innen und Pädiatern/-innen häufiger auf Infor-
Anspruch genommen (Grafik 28). Fachpersonen im medizini-                                            mationsmaterial zurückgegriffen (chi: p = 0.001).
schen Bereich haben dabei deutlich seltener auf Hilfsangebote
zurückgegriffen als Fachpersonen aus dem Sozial- und Asyl-
bereich (chi: p = 0.002).

                                                                                                                                                                                                                             18
Grafik 31:           Genutzte Hilfsangebote im Asylbereich

 100%

     90%          89%

     80%

     70%
                                                            63%
     60%

     50%

     40%

     30%
                                       21%
     20%                                                                                        16%                 16%
     10%

     0%                                                                          0%
                       s-                    le                   lle
                                                                      n                 tz-               ite
                                                                                                                n             re
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19
IIl. Resultate und Ergebnisse

  Grafik 32:   Herausforderungen für Fachpersonen                                     Grafik 33:    Herausforderungen für Fachpersonen
               des medizinischen Bereichs                                                           des Sozialbereichs
  100%                                                                                100%

  90%                                                                                 90%

  80%          78%                                                                    80%
                                 74%                                                               75%
  70%                                                68%                              70%                         69%
  60%                                                                                 60%                                          58%
  50%                                                                                 50%                                                         48%
  40%                                                                                 40%

  30%                                                                                 30%

  20%                                                                                 20%

  10%                                                                   10%           10%
                                                                                                                                                                8%
   0%                                                                                  0%
               Psychologische/   Gesprächsführung    Ausländer- und      Andere                    Gesundheit-    Psycholo-        Gesprächs-     Ausländer-      Andere
               soziale           bei sensiblen       asylrechtliche      Bereiche                  liche/         gische/soziale   führung bei    und asylrecht- Bereiche
               Fragestellungen   Themen              Fragen im Zusam-                              medizinische   Frage-           sensiblen      liche Fragen im
                                 (wie spreche ich    menhang mit                                   Aspekte        stellugen        Themen (wie    Zusammenhang
                                 dieses Thema an?)   weiblicher Genital-                                                           spreche ich    mit weiblicher
                                                     verstümmelung                                                                 dieses Thema   Genitalver-
                                                                                                                                   an?)           stümmelung

4. Herausforderungen und Kenntnisse
                                                                                      Grafik 34:    Herausforderungen für Fachpersonen
                                                                                                    des Asylbereichs
Herausforderungen im Berufsalltag                                                     100%
Für viele Fachpersonen stellen die psychologischen Fragestel-                         90%

lungen und die Gesprächsführung bei sensiblen Themen grosse                           80%

Herausforderungen dar. Insbesondere sind die Berufsgruppen                            70%            69%
                                                                                                                        64%
                                                                                      60%
dort gefordert, wo fachfremdes Wissen gefragt ist. Es ist zu ver-                                                                           57%
                                                                                      50%
muten, dass psychologische und soziale Fragestellungen sowie
                                                                                      40%
die Gesprächsführung für Fachpersonen aus dem medizinischen                           30%
Bereich herausfordernd sind, während es den Fachpersonen aus                          20%

dem Sozial- und Asylbereich an Wissen zu gesundheitlichen und                         10%                                                                      9%

medizinischen Aspekten der weiblichen Genitalverstümmelung                             0%
                                                                                                     Gesundheitliche/   Psychologische/     Gesprächsführung Andere
fehlt (Grafiken 32–34). Zu berücksichtigen ist, dass die Berufs-                                     medizinische       soziale             bei sensiblen     Bereiche
                                                                                                     Aspekte            Fragestellung       Themen
gruppen jeweils zu fachspezifischen Aspekten befragt wurden                                                                                 (wie spreche ich
und unterschiedliche Antwortmöglichkeiten zur Verfügung hatten.                                                                             dieses Thema an?)

In der Rubrik offene Antworten werden von den Fachpersonen
des medizinischen und des Sozialbereichs kulturelle Frage-
stellungen als Herausforderung genannt. Umfrageteilnehmende
des medizinischen Bereichs verweisen zudem auf verschiedene                         Weibliche Genitalverstümmelung als Thema
medizinische Probleme im Zusammenhang mit der Genital-                              in der Aus-/Weiterbildung
verstümmelung. Sie erachten die Vermittlung von juristischem                        50 Prozent der Fachpersonen aus dem medizinischen Bereich,
Wissen als Herausforderung. Im Sozialbereich stand vor allem                        38 Prozent der Fachpersonen aus dem Sozialbereich und 34
das Kindeswohl im Zentrum. Zudem erachten sie Präventions-                          Prozent der Fachpersonen aus dem Asylbereich berichteten, dass
massnahmen als wichtiges Instrument. Die Tabuisierung der                           das Thema weibliche Genitalverstümmelung Teil ihrer Aus- bzw.
weiblichen Genitalverstümmelung durch die Betroffenen stellt                        Weiterbildung war. Dabei ist der Anteil im medizinischen Be-
für verschiedene Fachpersonen im Asylbereich eine Hürde dar.                        reich statistisch signifikant höher als im Sozial- und Asylbereich

                                                                                                                                                                         20
(Grafik 35). Auch hier gilt zu beachten, dass die Ergebnisse im
Asylbereich durch Selbstselektionseffekte verzerrt sein könnten.     Grafik 35:   Weibliche Genitalverstümmelung als Thema
                                                                                  in der Aus-/Weiterbildung nach Fachbereich
Verknüpft mit den Angaben zu Aus- bzw. Weiterbildungs-              100%
gängen, hat einzig bei den Fachpersonen im Bereich «sexuelle         90%

und reproduktive Gesundheit» eine statistisch signifikante           80%

Mehrheit angegeben, das Thema in der Ausbildung behandelt            70%

zu haben. Bei den übrigen Berufsgruppen gab jeweils eine             60%

                                                                     50%          50%
Mehrheit der Fachpersonen an, dass das Thema weibliche
                                                                     40%                          38%
Genitalverstümmelung im Verlauf ihrer Aus- bzw. Weiterbil-                                                        34%
                                                                     30%
dung nie behandelt wurde.                                            20%
Bei Fachpersonen des medizinischen Bereichs wurde das                10%

Thema am häufigsten während oder nach der Spezialisierung             0%
                                                                                  Medizinischer   Sozialbereich   Asylbereich
behandelt. Unter den einzelnen Berufsgruppen im medizini-                         Bereich
schen Bereich zeigen sich statistisch signifikante Unterschiede.
So haben Hebammen am häufigsten (69 Prozent), Gynäkolo-
gen/-innen am zweithäufigsten (55 Prozent) und Pädiater/
-innen (41 Prozent) deutlich weniger oft angegeben, das
                                                                     Grafik 36:   Wunsch, das Thema in die                      2004
Thema weibliche Genitalverstümmelung in der Aus-/Weiter-
                                                                                  Aus-/Weiterbildung aufzunehmen                2012
bildung behandelt zu haben.                                         100%
                                                                                                         94%
                                                                     90%                          88%
Aufnahme des Themas in Aus- und Weiterbildung                        80%

Der Wunsch, das Thema weibliche Genitalverstümmelung in              70%

die Aus- oder Weiterbildung aufzunehmen, ist bei allen               60%

                                                                     50%
Berufsgruppen konstant sehr stark ausgeprägt (Grafik 36).
                                                                     40%
Dies lässt darauf schliessen, dass sowohl das Interesse als auch
                                                                     30%
das Bedürfnis gross ist, das Thema zu vertiefen. Verglichen mit      20%
2004 hat der Wunsch nach Aufnahme in die Weiterbildung               10%
                                                                                  12%
                                                                                        6%
zugenommen (odds ratio 2.0, 95 Prozent CI 1.5 bis 2.7, p =            0%
                                                                                     Nein               Ja
0.000).

Fachpersonen des Sozial- und Asylbereichs, in deren Aus- bzw.
Weiterbildung die weibliche Genitalverstümmelung themati-
siert wurde, haben das Thema statistisch signifikant häufiger      Fachpersonen, die sich hingegen bereits in ihrer Aus- und
bei Klientinnen aus Ländern mit hohen Prävalenzraten ange-         Weiterbildung mit dem Thema befasst hatten, gaben statis-
sprochen. Es scheint, dass sich eine vertiefte Auseinander-        tisch signifikant öfters den Wunsch an, das Thema in die Aus-
setzung mit dem Thema in der Ausbildung positiv auf die            bzw. Weiterbildung zu integrieren. Unklar ist jedoch, ob sie
Betreuung von betroffenen und gefährdeten Mädchen und              generell die Aufnahme des Themas in ihre Aus- und Weiter-
Frauen auswirkt.                                                   bildung als bereichernd empfanden oder ob sie sich mögli-
                                                                   cherweise eine Vertiefung wünschten.
Fachpersonen, in deren Aus- und Weiterbildung die weibliche
Genitalverstümmelung nicht behandelt wurde, hatten ein
leicht niedrigeres Interesse an der Behandlung dieses Themas
in ihrer Ausbildung. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass sie
weniger Kontakt mit Betroffenen hatten.

21
Anhang 1

Anzahl gefährdeter und/oder betroffener                            Erhebung der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung 4
Mädchen und Frauen in der Schweiz:                                 vorgenommen. So wurden im Jahr 2001 die sich im Asylprozess
                                                                   befindenden Personen separat erfasst. Neu sind diese Personen
statistische Annäherung
                                                                   entweder in der ständigen oder in der nichtständigen Wohn-
                                                                   bevölkerung berücksichtigt abhängig von der Anzahl Aufent-
Erstmals wurde im Jahr 2001 in Zusammenarbeit1 mit der             haltsjahre in der Schweiz. Die im Jahr 2012 erhobene Zahl
Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts-          schliesst die Daten zur ständigen und die Daten zur nicht-
hilfe die Anzahl der in der Schweiz lebenden und von weibli-       ständigen Wohnbevölkerung 5 ein. Nicht berücksichtigt in der
cher Genitalverstümmelung betroffenen und gefährdeten              Berechnung sind Frauen und Mädchen aus praktizierenden
Mädchen und Frauen erhoben. Die statistische Annäherung            Ländern, die über das Schweizer Bürgerrecht verfügen.
ermittelte die Zahl von 6700 Betroffenen und Gefährdeten.

Die veränderten Migrationsströme in den letzten Jahren führten
dazu, dass insbesondere der Anteil Migrantinnen aus den
Ländern Eritrea und Sudan zugenommen hat und jener aus
Äthiopien und Somalia leicht zurückging. Damit verändert
sich auch die Anzahl betroffener Mädchen und Frauen. Denn
das Vorkommen von weiblicher Genitalverstümmelung in
Eritrea beträgt 89 Prozent, in Somalia 98 Prozent, im Sudan
89 Prozent und in Äthiopien 74 Prozent. Die Zunahme der
eingewanderten Frauen aus diesen Ländern wirkt sich daher
direkt auf die Anzahl von weiblicher Genitalverstümmelung
betroffener Frauen und Mädchen aus. Die Zahl sagt jedoch
nichts aus über die Anzahl tatsächlich beschnittener Mädchen
und Frauen. Vielmehr handelt es sich um weibliche Personen,
die beschnitten sind oder Gefahr laufen, beschnitten zu werden.

10 700 Frauen und Mädchen
sind beschnitten oder laufen Gefahr,
beschnitten zu werden

10 700 Frauen und Mädchen in der Schweiz sind beschnitten          1
                                                                       Jäger, F.; Schulze, S.; Hohlfeld, P.: Female genital mutilation in Switzerland:
oder laufen Gefahr, beschnitten zu werden. Diese Zahl beruht           a survey among gynaecologists. Swiss Medical Weekly 2002; 132:259–264.
                                                                   2
                                                                       Vgl. Bundesamt für Statistik, Statistik der Bevölkerung und der Haushalte
auf den Daten des Bundesamts für Statistik zur ausländischen
                                                                       (STATPOP).
weiblichen Wohnbevölkerung.2 Sie wurden in Bezug gesetzt           3
                                                                       United Nations Children’s Fund, The State of the World’s Children 2012,
mit den Prävalenzraten in den Ursprungsländern der Migran-             New York 2012.
tinnen. Als Quelle für die Prävalenzraten dienen die im jährlich   4
                                                                       Aufgrund einer Neudefinition der ständigen Wohnbevölkerung sind
erscheinenden UNICEF Bericht «Zur Situation der Kinder in              Personen im Asylprozess mit einer Aufenthaltsdauer von mindestens
der Welt» 3 publizierten Daten.                                        zwölf Monaten neu in der ständigen Wohnbevölkerung erfasst. Personen
                                                                       im Asylprozess, die weniger als zwölf Monate in der Schweiz leben, sind
                                                                       Teil der nichtständigen Wohnbevölkerung.
Ein direkter Vergleich mit der im Jahr 2001 ermittelten Anzahl     5
                                                                       Berücksichtig werden sämtliche Personen der ständigen Wohnbevölkerung
Betroffener ist nur bedingt möglich. Das Bundesamt für                 sowie Personen mit Ausweisen F oder N der nichtständigen ausländischen
Statistik hat in der Zeitperiode 2001–2012 Änderungen in der           Wohnbevölkerung.

                                                                                                                                                   22
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