WER AVOCADO SAGT, MUSS AUCH BIONADE SAGEN - FELIX BARTSCH

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FELIX BARTSCH

 WER AVOCADO
SAGT, MUSS AUCH
 BIONADE SAGEN
    EINE GENTRIFICTION

        periplaneta
EINS
  Christoph rieb sich die Augen und rückte dann seine Hornbrille
zurecht. Gerade war sein Mitbewohner in sein Zimmer gestürmt
und hatte ihm gesagt, er solle dringend den Fernseher einschal-
ten, da sei was Großes am Laufen. Dann hatten sie beide herzlich
gelacht, wohl wissend, dass Fernsehen ja sowieso nur vorgefer-
tigte Meinungen für Vollidioten verbreitete und überhaupt völ-
lig bourgeois war, weshalb sie beide keinen Fernseher besaßen.
Da konnte man sich genauso gut einen rostigen Nagel durch die
Nase ins Gehirn treiben, das hätte eine ähnlich bildende und anre-
gende Wirkung.
  Nachdem das MegaHyperBook Stratosphere 2 unlimited, das
Omi ihrem kleinen Liebling vor dem Auszug in die große Stadt
geschenkt hatte, endlich hochgefahren war, öffnete Christoph
zielstrebig den Browser. Er begann, sich panisch durch die übli-
chen Blogs und Newsplattformen zu klicken, nur um überall die-
selbe Schreckensbotschaft über den Bildschirm flackern zu sehen.
Er schnaufte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Jedes
Mal zuckte sein gesamter Körper beim Lesen der Nachricht zusam-
men. Zwischendurch heiterte er sich mit lustigen Katzenvideos
auf. Katzen fand er einfach superniedlich, besonders, wenn sie
sich wie Menschen anzogen. Wer konnte schon einem Fellknäuel
widerstehen, das wie ein Steuerberater aussah? Richtig, niemand.
  Danach wieder Gänsehaut. Die Stadt war nicht mehr angesagt!
  „Fuck. Verdammte Scheiße“, stammelte er in seinen Dreitage-
bart, von dem niemals jemand erfahren durfte, dass er über drei
Wochen gebraucht hatte, bis er so wunderschön flaumartig seine
jungenhaften Gesichtszüge verdeckte. Dieser Bart war wie der
sanfte Hauch von Edelschimmel auf einem französischen Weich-
käse, ein Pelz gegen die Pubertät, und für gewöhnlich ging Chris-
toph entsprechend liebevoll mit diesem kostbaren Gut um. Nun
jedoch zupfte er mit zittrigen Fingern daran herum, sodass sich
schon fast kahle Stellen bildeten.

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Plötzlich war da diese Leere, dieses Nichts. Wie konnte das nur
passieren? Klar, es hatte Anzeichen gegeben, doch Christoph hatte
sie erhaben ignoriert, denn ihm selbst war es ja gut ergangen. In
den letzten Jahren hatte er sich unverwundbar gefühlt. Als Sir
Awesomeness McHammergeil war er schließlich immer am Puls
der Szene und angesagt. Irgendwo in einer Riege mit Chuck Norris,
Bruce Lee und Angela Merkel. Immerhin dachte Christoph ja auch
nicht permanent über die Folgen seines Zigarettenkonsums nach,
denn ausgestattet mit der Turbolunge 9000 konnte nichts schief
gehen. Es war nie Christophs Art gewesen, verfrüht den Teufel an
die Wand zu sprühen.
  Doch jetzt brach alles, was er bisher so halbherzig abgetan hatte,
über ihm zusammen. Christoph blickte fassungslos auf den Bild-
schirm. Da war dieser verdammte Kloß im Hals. Dieser Kloß, der
vom Schlucken nur noch dicker wurde und den es doch eigent-
lich nur in Erzählungen und mittelmäßigen Liebeskomödien gab,
wenn der schüchterne Losertyp dem viel zu heißen Mädchen
endlich seine Liebe gestand. Christoph hatte tausende von die-
sen Filmen gesehen. Nicht, weil er sie mochte, sondern weil es
eine beliebte Abendbeschäftigung in seiner WG war, sich bewusst
schlechten Filmen auszusetzen, um die Dialoge später in Konver-
sationen mit anderen Menschen zu rezitieren. Dabei fühlten sie
sich ein bisschen so wie Tyler Durden in Fight Club, der als Guerilla
im Kino Sexszenen in Kinderfilme schnitt. Nur eben, dass sie Dia-
loge aus Liebeskomödien in das echte Leben woben. Nur jetzt fehl-
ten ihm die passenden Worte, gingen ihm die Filmschnipsel aus.
  Er begann, mit dem rechten Bein zu wackeln. Auf und nieder mit
jedem Scrollen des Mausrades. Auf und nieder mit jeder gelesenen
Zeile auf dem Bildschirm. Auf und nieder bei jedem kurzen Ein-
und Ausatmen. Würde seine Mutter ihn jetzt sehen, sie hätte ihm
wieder in ihrer unvergleichlichen Art angedroht, seinen Fuß am
Boden festzunageln oder das Internet abzustellen. Doch gerade
würde selbst ein 50-cm-Stahlbolzen seinen Fuß nicht ruhighalten
können und die Trennung vom Internet seinen Tod bedeuten.

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Das war es nun also, das Ende? Mit der ganzen Lebensart, die er
in den letzten Jahren so in sich aufgesogen hatte, sollte es plötz-
lich vorbei sein?
  In den Blogs wurde der Niedergang der einstigen Szenehoch-
burg Deutschlands sauber protokolliert. Es hatte schon vor eini-
gen Jahren angefangen, als immer mehr junge Menschen zum
Studieren in das Mekka der Kreativität einfielen. Jahr für Jahr bran-
deten neue Ersti-Wellen gegen die Stadtmauern wie Orks gegen
die Wälle von Helms Klamm. Sie alle hofften, weit weg von ihren
Kuhdörfern am Puls der Zeit leben zu können. Doch nachdem die
letzte Altbauwohnung bis obenhin mit Studenten vollgestopft
und sogar der letzte Drei-Quadratmeter-Müllcontainer zu einer
hippen und alternativen Low-Budget-Unterkunft umfunktioniert
worden war, stand man vor einem Problem: Die Stadt war schlicht
und einfach voll und bot keine Perspektiven mehr.
  Zu viele und immer kritischere Stimmen stritten miteinander
und verhinderten eine sinnvolle Weiterentwicklung der Szene-
kultur. Gleichzeitig führte der geradezu lächerlich hohe Konsum
von Szenegetränken und Drehtabak zu Ressourcenknappheiten.
So begannen schon vor zwei Jahren die Krisen, angefangen mit
dem großen Mate-Engpass von 2018. Laut Internetberichten kam
es damals schon zu ersten Ausschreitungen und Gewalttaten. Um
an das süß-koffeinhaltige flüssige Gold zu kommen, sollten sich
Jugendliche zu Gangs zusammengeschlossen und in alter Wes-
ternbanditenmanier die Zulieferer überfallen haben. Die Medien
berichteten von Baumstämmen auf der Straße und maskierten
Ganoven mit Luftgewehren. Das hielt Christoph aber bis heute für
einen urbanen Mythos.
  Doch das war nicht der einzige Bereich, in dem sich das dro-
hende Ende frühzeitig abgezeichnet hatte. Dem Fortbewegungs-
mittel Nummer eins, dem Longboard, wurde bereits vor einem
Jahr mit der Einführung von einigen rollbrettfreien Zonen ein
erster Dämpfer verpasst. In diesen Zonen war es wegen diffu-
ser Gründe wie Lärmbelästigung und der fragwürdigen Ästhetik

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der Straßensurfer untersagt worden, Longboards zu verwenden.
Zunächst waren es nur die reicheren Viertel gewesen. Dort wurde
das Verbot aber mit eiserner Faust durchgesetzt. Berichte von
Rentnern, die jugendliche Rollbrettfahrer mit Gehhilfen, Stöcken
oder Schrotflinten, Souvenirs aus dem lang zurückliegenden Russ-
landurlaub, von den Beinen holten, waren keine Seltenheit. Die
Jugendlichen fühlten sich durch diese Nachdrücklichkeit ziemlich
vor den Kopf gestoßen und waren von der Rolle, beides im wahrs-
ten Sinne des Wortes.
  Kritischer wurde es aber erst, als sich die Zonen ausweiteten
und immer weniger Spots für das lässige Herumgerolle übrigblie-
ben. Im Endeffekt schien das alles nur ein ausgetüftelter Plan der
Stadtverwaltung zu sein, um von der Fülle hipper Jugendlichen in
irgendeiner Weise finanziell profitieren zu können. Da machten die
meisten jungen (Neu-)Hauptstädter noch gute Miene zum bösen
Spiel. Als dann jedoch vor wenigen Wochen wegen gigantischer
Absatzzahlen eine Zusatzsteuer für gebrauchte Schallplatten ein-
geführt wurde, die je nach Rauschfaktor des schwarzen Vinyls bis
zu zehn Euro betragen konnte, schwoll den meisten (männlichen)
Jugendlichen der Sack derartig an, dass die Skinny-Jeans in der
nächsten Streetwear Collection als Baggy-Pants neu vertrieben
werden konnte. Die Jünger der Stadt hatten die Faxen dicke.
  Gleichzeitig wollte sich weiterhin jeder Zugezogene in der neuen
Heimat beweisen und die neusten Trends aufzuspüren, bevor
es sie überhaupt gab. Egal, wie absurd sie klangen, Hauptsache
exklusiv, abgefahren und unpopulär. Sobald sich mehr als fünfzig
Leute für etwas interessierten, wurde es fallengelassen und der
nächste heiße Scheiß gesucht. Besonders die Gastronomie hatte
darunter zu leiden und so öffneten beinahe täglich neue Läden
mit den absurdesten Geschäftsideen.
  Zuletzt hatte ein Restaurant aufgemacht, in dem man selbst
seine Zutaten mitbringen musste – und diese dann auch selbst
zubereitete. Aber nicht jeder Gastronom hatte solche bahnbre-
chenden Ideen und so schloss und eröffnete man immer wieder

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dieselben Cafés, Clubs und Szenekneipen, bis irgendwann nach
einer Vielzahl an Namen alle Kombinationsmöglichkeiten aus
Buchstaben und Zahlen durchdekliniert waren. So kam es zum
Leerstand. Einem Leerstand, den noch mehr Zugezogene ausnutz-
ten, um sich Wohnraum unter den Nagel zu reißen – in der Not
schläft ein Erstsemester-Student auch mal in einem alten Backofen
oder baut sich eine Hütte aus Barhockern. Ein Teufelskreis, diese
Zuwanderung.
  Heute hatte nun also offiziell der letzte Club der Stadt die Pfor-
ten geschlossen und somit den letzten Nagel in den Sarg der
Stadt geschlagen. Das XYI8Y92 hatte sich immerhin wackere vier
Wochen gehalten und überzeugte lange durch sein Konzept: In
Ermangelung eines finanziellen Etats und als Protest gegen die
aberwitzigen GEMA-Gebühren, aufgrund derer so mancher Gas-
tronom sich schon gezwungen sah, sein Erstgeborenes zu ver-
hökern, verzichtete der Betreiber auf Musik. Unter dem Motto
Peter Pan Revival Club musste man sich also den Soundtrack für
die fetzige Feierei selbst vorstellen. Das fand Anklang, schließ-
lich beschritt dieses Konzept neue Wege und sprach das Kind im
Jugendlichen an.
  Nun aber war die Party vorbei, hatte die GEMA doch einen Weg
gefunden, zumindest eine Unterlassung der gedanklichen Rezi-
tation geschützten Liedgutes einzuklagen. Kurz gesagt: Im Kopf
der Besucher schallte nun statt der neusten Indie Band ein großer
„Dieses Lied ist in ihrem Land nicht verfügbar“-Sprechchor. Und
dazu wackelte es sich eher schlecht mit der Hüfte.
  Christoph ließ den Kopf in die Hände fallen. Er atmete schwer
durch die Finger, sodass bei jedem Atemzug ein leises Pfeifen ent-
stand. Da war diese Ohnmacht. Diese schreckliche Ohnmacht, die
er schon damals gespürt hatte, als seine Lieblingsband auf ein-
mal eine erfolgreiche Radiosingle herausgebracht hatte und nicht
mehr nur in ramschigen Kaschemmen vor 20 Gästen auftrat.
  Er fühlte sich beraubt. Man hatte ihm nicht nur seine Stadt weg-
genommen, sondern auch seine Identität. Was war er denn abseits

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dieser Stadt? Nichts als ein mittelmäßiger Designstudent, der
schon viel zu lange ohne klares Ziel im Bachelorstudium vor sich
hindümpelte. Aber in dieser Stadt, da war er Teil einer Bewegung,
einer Generation, die nur auf den richtigen Moment wartete, um
ihr schier unglaubliches Potential zu entfalten. Er wollte auf keinen
Fall wie sein Vater in einem 9-to-5-Job festhängen und sich jeden
Tag dieselbe Krawatte fest um den Hals schnüren, nur um die Seele
irgendwie im Körper einzusperren. Das war nicht sein Stil. Aber
das verstand man auf dem Land nun mal nicht und auch sonst
nirgendwo. Und das alles sollte jetzt vorbei sein? In seinem Kopf
spielten sich wirre Szenarien ab, in denen ihn sein Vater bereits
für eine Banklehre bei der Sparkasse angemeldet hatte und sich
freute, dass sein Sohnemann endlich in die väterlichen Fußspu-
ren trat. Er sah sich schon mit einer bäuerlichen Magd des 17. Jahr-
hunderts verheiratet und zu Zwangsarbeit im Bergwerk verurteilt.
  Auf einmal fühlte er eine Phantomkrawatte, die ihm Stück für
Stück den Hals abschnürte. „Ich gehe nicht wieder in die Kohle-
miene“, schrie Christoph und machte sich keuchend auf die Suche
nach frischer Luft.
  Er fand sie auf dem Balkon, irgendwo zwischen ein paar leeren
Kästen Sterni Export und alten Weinflaschen. Dieser Balkon hatte
für Christoph immer etwas Beruhigendes gehabt, war ein Anker,
der ihm Halt gab. Wie oft hatte er hier schon nach einer langen,
durchtanzten Nacht der Sonne beim Aufgehen zugesehen und
sich dabei mit wie fremdgesteuerten Fingern eine Zigarette nach
der anderen gedreht. Doch heute spürte er beim Blick Richtung
Horizont nichts. Die Sonne lachte hämisch auf seine Misere hinab.
Es war fast schon, als hätte sie einen lodernden Finger, mit dem sie
ihn immer wieder neckisch in die Seite pikte und dabei dümmlich
vor sich hin grinste. Eindeutig, die Sonne war ein Arschloch. Und
jeder andere, der auch nur einen Funken Fröhlichkeit ausstrahlte,
auch.
  Plötzlich riss Malte die Balkontür auf.
  Er hatte seinen Vollbart zu einem dichten Zopf geflochten und

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hielt eine Bibel in der linken und den Schnaps in der rechten Hand.
Tränen liefen ihm aus den blutunterlaufenen Augen.
  „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein
Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trös-
ten mich“, schluchzte er zwischen zwei Schlucken Weinbrand, nur
um dann unter Tränen auf den mit Kissen bedeckten Europaletten
niederzusinken. Für Christoph war es eine vollkommen neue Situ-
ation. In all den Jahren des gemeinsamen Wohnens hatte er Malte
noch nie weinen sehen. Bis dato war er schlicht davon ausgegan-
gen, dass Malte über keine Tränendrüsen verfügte und stattdessen
in seinen Augenringen Schnaps schmuggelte. Malte war auch ein-
fach nicht der Typ für Tränen, mit seinen kurzgeschorenen Haaren,
den Fitnessstudio-Designermuskeln und tätowierten Oberarmen.
  Er selbst war auch völlig überrascht von seinem emotionalen
Ausbruch. Von Wut über Trauer bis hin zu Verzweiflung wechselte
seine Gefühlslage im Tempo eines Stroboskoplichtes. Das letzte
Mal, dass er derart aufgelöst war, lag schon Jahrzehnte zurück und
hatte mit der Absetzung von Heidi im Vorabendprogramm zu tun
gehabt. Davon hatte er aber bis dato niemandem erzählt. Es sollte
schließlich keiner wissen, dass unter seiner harten Schale nur ein
kleiner Junge steckte, der gerne einmal der Ziegenpeter gewor-
den wäre. Gott, was hätte er diese Heidi gerne flach gelegt.
  Für Christoph war Malte immer eine Naturgewalt gewesen, die
sich mehr schlecht als recht als Mensch verkleidete. Und jetzt lag
er da, hämmerte mit den bowlingkugelgroßen Fäusten auf die Kis-
sen und hörte nicht auf zu schluchzen, als hätte man ihm gerade
am ersten Schultag sein Milchgeld abgenommen. Dabei war
er doch sowieso laktoseintolerant. Christoph saß daneben und
schwieg ob der Tragik und Komik der Situation. So verbrachten sie
noch einige Stunden, irgendwie am Rand der Klippe. Und im Hin-
tergrund sang ein Vogel sein Lied, in der Hoffnung, ein fickbares
Weibchen zu finden.

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