Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

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Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz
YSAS
                                  Haus, A., & Ladner, A. (2020). Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über
                                  den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz. Swiss Yearbook
                                  of Administrative Sciences, 11(1), pp. 66–80. DOI: https://doi.org/10.5334/ssas.135

RESEARCH

Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse
über den Einfluss politischer Akteure auf die lokale
Politik in der Schweiz
Alexander Haus and Andreas Ladner
Universität Lausanne, CH
Corresponding author: Alexander Haus (alexander.haus@unil.ch)

Der Gemeindepolitik kommt in der Schweiz eine besondere Bedeutung zu, da die Gemeinden in
vielen wichtigen Politikbereichen engagiert sind. In den letzten Jahrzehnten hat sich das politische
Umfeld in den Gemeinden jedoch gewandelt. Die Stimmbeteiligung ist gesunken und die Parteien
sind teilweise aus dem lokalen Raum verschwunden. Entsprechend stellt sich die Frage, wer heute
die Gemeindepolitik bestimmt und wie sich die lokalen Machtverhältnisse über die Zeit verändert
haben. Zur Erfassung von Macht und Einfluss bedienen wir uns des Reputationsansatzes. Wir
stützen uns auf eine Befragung der Gemeinderäte im Jahr 2018 sowie den zwei Befragungen der
Gemeindeschreiber aus den Jahren 1998 und 2009. Die Auskunftspersonen wurden gebeten, eine
Reihe von lokalen Akteuren bezüglich ihrer Relevanz in der Lokalpolitik einzuschätzen. Unsere
Resultate zeigen, dass die Exekutivmitglieder und die Gemeindepräsidenten die einflussreichsten
Akteure sind, gefolgt von den Bürgerinnen und Bürger. Diese Bewertung hat sich seit den 1990er
Jahre kaum verändert und fällt bei beiden Gruppen von Befragten sehr ähnlich aus. In einem
weiteren Schritt identifizieren wir unterschiedliche Einflussmuster lokaler Politik, von denen
das interessenorganisierte Einflussmuster, bei welchem kollektive Akteure wie beispielsweise
Wirtschaftsverbände oder die politischen Parteien die lokale Politik prägen, am weitesten
verbreitet ist. Unsere Befunde weisen auf pluralistische Machtkonstellationen in den Gemeinden
hin, bei denen sich Macht und Einfluss auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen verteilen.

Schlagworte: Gemeindepolitik; Akteure; Reputationsansatz; Macht; Einflussmuster; Schweizer
Gemeinden; Faktorenanalyse

Politics on a local level is of particular importance in Switzerland, as municipalities are involved
in many important policy areas. In the last decades, however, the political environment has
changed. Voter participation has dropped and the parties have partially disappeared from the
local area. Accordingly, the question arises as to who determines local policy today and how
municipal power relations have changed over time. To capture power and influence, we rely on
the reputational approach. We draw on a survey of municipal councils in 2018 and two polls of
municipal secretaries from 1998 and 2009. The respondents were asked to assess a number of
local actors in terms of their influence on local politics. Our results show that local government
(municipal councils ensued by the mayor), is the most influential player in local politics, followed
by citizens. This ranking has changed little since the 1990s and has proved to be very similar
for both groups of respondents. In a further step, we identify different patterns of influence
of local politics, whereof the organized-interest pattern of influence, in which collective actors
such as economic associations or the political parties decisively shape local politics, dominates.
Our findings point to pluralistic constellations of power in the municipalities in Switzerland in
which power and influence are distributed among different population groups.

Keywords: local politics; actors; power; reputational method; patters of influence; Swiss
municipalities; factor analysis
Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz
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den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

La politique locale revêt une importance particulière en Suisse, les communes étant impliquées
dans de nombreux domaines politiques importants. Toutefois, au cours des dernières décennies,
le cadre politique au niveau local a changé. La participation électorale a diminué et les partis
politiques ont partiellement disparu du niveau régional. Une question qui se pose aujourd’hui
est celle de savoir ce qui détermine la politique locale et comment les relations de pouvoir au
niveau local ont évolué au fil du temps. Afin d’appréhender le pouvoir et l’influence, nous utilisons
l’approche de la réputation. Nous nous appuyons sur des données d’une enquête auprès des
membres de l’exécutif communal de 2018 et sur deux sondages de secrétaires municipaux 1998
et 2009. Les répondants ont été invités à évaluer un certain nombre d’acteurs locaux en ce qui
concerne leur pertinence dans la politique locale. Nos résultats montrent que les gouvernements
locaux (membre de l’exécutifs suivi de près par le maire/syndic) sont les acteurs les plus
influents, suivis des citoyens. De plus, cette hiérarchie a peu changé depuis les années 1990. En
outre, elle est très similaire pour les deux groupes de répondants. Dans une étape ultérieure,
nous identifions différents modèles d’influence de la politique locale. Le modèle dominant est
le modèle d’influence basé sur les intérêts organisés, dans lequel des acteurs collectifs tels
que les associations d’entreprises ou les partis politiques façonnent de manière décisive la
politique locale. Nos résultats révèlent ainsi des constellations pluralistes de pouvoir au sein
des communes, où le pouvoir et l’influence sont répartis entre différents groupes de population.

Mots clés: Politique locale; acteurs; pouvoir; approche de la réputation; modèle d’influence;
communes de Suisses; analyse factorielle

1. Einleitung und Fragestellung
Die Gemeindepolitik hat einen hohen Stellenwert in der Schweiz, da die Gemeinden eine starke Position im
politischen System einnehmen. Insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern verfügen die
Gemeinden über einen hohen Autonomiegrad (Ladner, Keuffer & Baldersheim 2016), und sie geniessen eine
weitreichende Finanzhoheit, wenn es um Ausgaben und Steuern geht. Die Gemeinden tragen nicht nur rund
ein Viertel der staatlichen Ausgabenlast (Schönenberger 2013: 570), sondern sie sind auch in vielen relevanten
Politikbereichen wie Verkehr, Energie, Soziale Sicherheit, Gesundheit, Umwelt, Kultur oder Sport involviert
und legen teilweise ihre eigenen Politiken fest. Gilt es wichtige politische Entscheidungen zu fällen, so ist die
Frage naheliegend, wer sich bei diesen Entscheidungen durchzusetzen vermag, respektive wer über die grösste
Macht in den Gemeinden verfügt. Auf der Basis von Umfragen unter den Schweizer Gemeindeschreibern
Ende der 1980er Jahre konnten die Studien von Ladner (1991) und Ladner (1994) die Gemeindeexekutiven
und die Gemeindepräsidenten als die beiden bestimmenden Akteursgruppen der Lokalpolitik in der
Schweiz identifizieren, während den Parteien und den Stimmbürgern ein geringerer Einfluss zugeschrieben
wurde. Weiter zeigten die Resultate, dass die Einflussstrukturen nicht gleichermassen über sämtliche
Gemeinden verteilt waren. Während in Städten hauptsächlich Interessengruppen und Parteien die lokalen
Machstrukturen prägten, dominierten in kleinen oder ländlichen Gemeinden die lokalen Regierungen oder
bestimmte Bevölkerungsgruppen wie die Bauern oder Alteingesessene die Gemeindepolitik.
  In den letzten Jahrzehnten haben sich nun aber die Rahmenbedingungen der Gemeindepolitik erheblich
gewandelt. In vielen Gemeinden hat das Interesse an lokaler Politik deutlich abgenommen, was sich an
den stetig tieferen Beteiligungsraten an lokalen Wahlen und Abstimmungen zeigt (Ladner 2016: 36, Kübler
et al. 2016). Zahlreiche Gemeinden bekunden zudem Schwierigkeiten, für die verschiedenen Exekutiv- und
Behördenämter ausreichend und genügend qualifizierte Freiwillige zu finden, was in manchen Augen das
Milizsystem in seinen Grundzügen bedroht (Müller 2018, Freitag, Bundi & Flick Witzig 2019). Eng verbunden
mit der Rekrutierungsproblematik ist das Verschwinden von zahlreichen Ortsparteien, vor allem in den
kleineren Gemeinden, was zur Folge hat, dass die Parteilosen immer zahlreicher sind (Ladner 2014).
  Angesichts des zunehmenden Rückzugs der Stimmberechtigten und der Lokalparteien aus der
Gemeindepolitik, wollen wir in diesem Artikel der Frage nachgehen, wie sich die Macht- und Einflussstrukturen
in den Gemeinden seit den 1990er Jahren verändert haben und welche Akteure heute die Gemeindepolitik
massgeblich beeinflussen.
  Mit dieser Untersuchung soll an die bestehende Literatur angeknüpft werden (Ladner 1991, Ladner 1994),
indem zum einen die Einflussverhältnisse lokaler Politik erstmals aus der Wahrnehmung der kommunalen
Regierungsverantwortlichen analysiert werden. Zum anderen beabsichtigen wir, die Entwicklung dieser
Einflussverhältnisse seit den 1990er Jahre aus Sicht der Gemeindeschreiber aufzuzeigen. Wir bringen damit
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eine etwas andere Optik – die Sicht der Verwaltung im Vergleich zur Sicht der Politikerinnen und Politiker –
in die aktuelle Analyse ein.
  Der Artikel beginnt mit der Beschreibung des Reputationsansatzes zur Erfassung von Machtstrukturen
in den Gemeinden. Danach stellen wir unsere Befragungen der Exekutivmitglieder im Jahr 2018 sowie
der Gemeindeschreiber der Jahre 1988 und 2009 vor und beschreiben das methodische Vorgehen dieser
Untersuchung. Anschliessend präsentieren wir die Resultate, in dem wir basierend auf den Daten der
Exekutivmitgliederbefragung 2018 zuerst die aktuellen Machtverhältnisse anhand von Mittelwertvergleichen
sowie identifizierten Einflussmustern (explorative Faktorenanalyse) aufzeigen. Sodann beschreiben wir mit
den Umfragedaten der Gemeindeschreiberbefragungen die Einflussveränderungen lokalpolitischer Akteure
über die Zeit (Mittelwertvergleiche). Im Schlussteil fassen wir die Ergebnisse zusammen und diskutieren sie
mit Blick auf die Erkenntnisse bestehender Studien und der Debatte zur Frage der Macht in den Gemeinden.

2. Das Erfassen von Einfluss und Macht in den Gemeinden
Das Messen von Einfluss und Macht gehört zu den komplexeren Unterfangen der politischen Soziologie. Die
Blütezeit entsprechender Bemühungen geht zurück in die 1950er und 1960er Jahren in den USA. Gegenstand
heftiger Auseinandersetzungen war damals die Frage, inwiefern amerikanische Gemeinden demokratisch
regiert werden. Aus Sicht der Pluralisten, unter ihnen Dahl (1967), gab es keine allumfassende Machtposition
einer einzelnen Gruppe oder einem Akteur. Der Einfluss verteilt sich vielmehr auf unterschiedliche
Bevölkerungsgruppen, welche je nach Politikfeld und Thema ihr Gewicht und ihren Einfluss geltend machen.
Für die Elitisten wie zum Beispiel Hunter (1953) hingegen gleichen die Machverhältnisse in einer Gemeinde
einer Oligarchie. Nach ihren Vorstellungen kontrolliert eine verhältnismässig kleine Gruppe von Personen
die zentralen Bereiche des Gemeindelebens und sichert sich damit ihre lokale Machtstellung gegenüber
anderen Bevölkerungsgruppen und Akteuren. Eng mit der Debatte um die Machtverteilung verbunden, war
auch die Frage, nach welcher Methode sich die lokalen Einflussmuster am besten erforschen lassen.1
  Für diese Arbeit orientieren wir uns am Reputationsansatz (Hunter 1953), welcher hauptsächlich auf der
Zuschreibung von Macht und Einfluss basiert. Um die wesentlichen Beteiligten zu identifizieren, werden
im Reputationsansatz den wichtigsten Persönlichkeiten einer Gemeinde eine Liste von verschiedenen
Akteuren vorgelegt. Die Informanten bezeichnen die einflussreichsten Akteure beispielsweise mittels
einer Rangordnung. Danach werden die Antworten verglichen. Je öfter eine Person oder Gruppe genannt
wird, desto mehr Einfluss wird ihr nach diesem Verfahren attestiert (Hunter 1959). Der Reputationsansatz
eignet sich vor allem in Gemeinden und Städten, weil das Feld an potentiell relevanten Politikakteuren
relativ überschaubar ist im Gegensatz zur nationalen Ebene, wo diese Akteure heterogener und zahlreicher
vorhanden sind (Hoffmann-Lange 2018: 86). Zudem ist der Ansatz relativ unkompliziert und lässt sich im
Rahmen einer schriftlichen Umfrage umsetzen, was den Einbezug einer relativ grossen Zahl von Informanten
und Gemeinden erlaubt. So kann mit einem vertretbaren Aufwand ein umfangreiches Bild der lokalen
Machtverhältnisse in den Schweizer Gemeinden gezeichnet werden.2
  Das Verständnis von Macht und Einfluss in dieser Arbeit beruht auf einer hierarchischen Beziehung
(Zimmerling 2005: 100). Macht kennzeichnet sich dadurch, dass ein Akteur seinen Interessen in der
Gemeindepolitik massgebend Geltung verschafft, indem er Einfluss auf die Politik nimmt. Der politische
Einfluss als Subkategorie von Macht beschreibt demnach eine bestimmte Form der Machtausübung,
welche in der Gemeindepolitik von besonderer Bedeutung ist. Dies im Unterschied zu anderen Formen
von Machtausübung wie etwa Zwang oder Gewalt. Um den Einfluss von verschiedenen Akteuren auf die
Gemeindepolitik zu erfragen, wird im Reputationsansatz eine Liste der möglichen Akteure erstellt (Hunter
1959). Je nach Gemeinde oder politischem Standpunkt können hier die Einschätzungen auseinandergehen.
Für die einen sind es die Vereine, welche an den Gemeindeversammlungen für Mehrheiten sorgen. Für
andere zählen alteingesessene Familien zu den wichtigsten Einflussgruppen und für weitere wiederum ist es
der Gemeindepräsident, welcher aufgrund seiner herausragenden Stellung die Gemeindepolitik dominiert.
Oder es findet sich anekdotische Evidenz, welche auf die herausragende Bedeutung einzelner Funktionsträger
(Pfarrer, Lehrer, Notar, Arzt) oder Wirtschaftsgrössen (Bauunternehmer, zentraler Arbeitgeber) hinweisen.
Für unsere Untersuchung haben wir aufgrund unserer langjährigen Erfahrung mit Forschungsfragen im
Bereich der Gemeinden (Haus, Rochat & Kübler 2016, Ladner und Haus 2019, Ladner et al. 2013) und

 1
     Neben dem Reputationsansatz existieren zwei weitere Forschungsstrategien zur Erfassung von Macht und Einfluss (Drewe
     1974): Während sich der Entscheidungsansatz auf die politischen Entscheidungsprozesse und die Akteure, welche daran
     beteiligt sind, fokussiert, werden beim Positionsansatz diejenigen Akteure oder Gruppierungen zur politischen Elite gezählt,
     welche die Schlüsselpositionen in den politischen Institutionen besetzen.
 2
     Im Idealfall müssten wahrscheinlich eine Kombination der verschiedenen Methoden zur Anwendung kommen.
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den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

unserer Kenntnis der einschlägigen Literatur eine Auswahl an Akteuren getroffen, welche wir aus unserer
Wahrnehmung als potentiell relevant für die Gemeindepolitik erachten. Eine gewisse Willkür kann hier
nicht völlig ausgeschlossen werden. Da den Informanten aus Zeit- und Platzgründen nur eine begrenzte
Zahl potentiell wichtiger Akteure vorgelegt werden kann, besteht die Gefahr, dass eine gewisse politische
Elite vordefiniert wird und die Resultate einen zirkulären Charakter haben (Hoffmann-Lange 2018: 86)
  Ein weiterer Einwand gegen den Reputationsansatz betrifft die Auswahl der Informanten, welche den Einfluss
der Akteure einschätzen. Diese Auswahl birgt das Risiko, dass die Resultate verzerrt werden (Scott 2004: 86). Um
dieser Kritik zu begegnen, stützen wir uns auf zwei unterschiedliche Informantengruppen in den Gemeinden.
Die Exekutivmitglieder als politische, von der Bevölkerung gewählte Amtsträger und die Gemeindeschreiber
als Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung sind bestens über die politischen Verhältnisse in ihrer
Gemeinde informiert. Auch wenn ein gewisser Grad an Subjektivität bei der Beantwortung der Fragen nicht
völlig ausgeschlossen werden kann, so zeigen sich in den Daten zumindest keine systematischen Verzerrungen.3

3. Datengrundlage und Vorgehen
Als Datengrundlage für diese Untersuchung dient uns zum einen unsere Vollerhebung unter den Schweizer
Exekutivmitgliedern), welche wir Ende 2017 respektive anfangs 2018 mittels Onlinefragebogen durchgeführt
haben und bei der von 12’922 angeschriebenen Gemeinderäten 60.5 Prozent geantwortet haben, und das
über alle Kantone jeweils zu ähnlichen Teilen (ZHAW & IDHEAP 2018). Im Weiteren verwenden wir die Daten
unserer zwei schriftlichen Befragungen der Gemeindeschreiber. In der Vollerhebung von 1988 antworteten
von 3’022 angeschriebenen Gemeindeschreiber 81.6 Prozent (Ladner 1991) und in derjenigen von 2009
57.0 Prozent von 2’596 angeschriebenen Gemeindeschreiber (Ladner et al. 2013).
  In den drei Umfragen wurde den Informanten jeweils eine Liste mit potentiell relevanten Akteuren
vorgelegt und dazu jeweils die gleichartige Frage gestellt: „Wie stark schätzen Sie den Einfluss folgender
Organisationen, Gruppen oder Verbände auf die lokale Politik in Ihrer Gemeinde ein?“ 4 Die Befragten wurden
gebeten, für jeden Akteur die Einflussstärke auf einer Skala von 1 (keinen Einfluss) bis 7 (starken Einfluss)
anzugeben. Weiter konnten sie angeben, ob ein Akteur in ihrer Gemeinde nicht existiert. Die Daten aus
diesen Befragungen lassen sich somit gut miteinander vergleichen und erlauben es uns, einen relativ
umfassenden Einblick in die lokalen Machtverhältnisse zu geben.
  Für unsere Analyse vergleichen wir zunächst anhand arithmetischer Mittelwerte den Einfluss einzelner Akteure
aus Sicht der kommunalen Regierungsmitglieder. Angesichts der sehr heterogenen Gemeindelandschaft in der
Schweiz gehen wir davon aus, dass je nach Gemeinde unterschiedliche Kombinationen von Akteuren Einfluss
auf die Lokalpolitik nehmen. Mittels einer explorativen Faktorenanalyse (Wolff & Bacher 2010) überprüfen wir
deshalb die Antworten der Exekutivmitglieder auf bestimmte Einflussmuster und betrachten die Verbreitung
dieser Muster in den Gemeinden. Im Weiteren testen wir anhand einer Korrelationsanalyse den Zusammenhang
zwischen Anzahl bestehender Parteien und den Einfluss der Parteien aus Sicht der Exekutivmitglieder. Während
die erste Gruppe der Informanten – die Exekutivmitglieder – über die aktuellen Machtverhältnisse Auskunft
geben, vergleichen wir anhand der zweiten Gruppe – der Gemeindeschreiber – die Mittelwerte gleicher Akteure
zu den beiden Umfragezeitpunkten 1988 und 2009 und zeigen deren Veränderung auf.

4. Einfluss und Macht lokaler Akteure aus Sicht der Exekutivmitglieder
4.1. Der Einfluss einzelner Akteure auf die Gemeindepolitik
Der stärkste Einfluss auf die Gemeindepolitik hat gemäss der durchschnittlichen Einschätzung der
Exekutivmitglieder der Gemeinderat, dicht gefolgt vom Gemeindepräsidenten (vgl. Tabelle 1). Diesen
beiden Akteuren wird mit Antwortmittelwerten von 5.5 bis 5.9 (Maximalwert = 7) ein mittleres bis starkes
Gewicht in der Bestimmung lokalpolitischer Belange zugeschrieben. Einen ähnlich hohen Stellenwert
messen die Exekutivmitglieder der Legislative zu, das heisst den Gemeindeparlamenten. Diese Bewertung
gilt allerdings nur für diejenigen Gemeinden mit einem lokalen Parlament. Während es grundsätzlich in
allen Gemeinden eine Exekutive und einen Präsidenten gibt, sind Parlamente nur in knapp einem Viertel

 3
     Verschiedene Mittelwertvergleiche zeigen, dass es bei der Einschätzung der Einflussstärken lokaler Akteure nahezu keine ­Abweichungen
     gibt, wenn die Mittelwerte z.B. nach Parteizugehörigkeit oder Geschlecht analysiert werden. Eine Ausnahme bilden die parteilosen
     Gemeinderäte: Sie schätzen z.B. den Einfluss von lokalen Vereinen und Parteien wesentlich tiefer ein, als ­Exekutivmitglieder, welche
     einer Partei angehören. Auch bei den Gemeindeschreibern zeigen sich keine Unterschiede in der E­ influssbewertung lokaler Akteure,
     wenn deren Mittelwerte nach Parteizugehörigkeit betrachtet werden (Ladner 1994: 318).
 4
     Es handelt sich um Frage 37 der Exekutivmitgliederbefragung 2018. In der Gemeindeschreiberbefragung 1998 war es Frage 42
     und in der Gemeindeschreiberbefragung 2009 Frage 29. Die Fragen wurden jeweils in französischer und italienischer Sprache
     übersetzt.
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                                                         den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

Tabelle 1: Der Einfluss von einzelnen Akteuren auf die Gemeindepolitik (nach Mittelwerten absteigende
  Aufstellung, übrige Angaben in Prozent).

         Akteursgruppe                        Gibt es          Kein            Mittlerer          Starker      Mittelwert
                                               nicht         Einfluss          Einfluss           Einfluss
                                                  –          1      2      3      4         5      6     7         X̄
         Gemeindeexekutive                         0,6       0,8    0,8    1,6   10,2   14,6 33,5 38,1                  5,9
         Gemeindepräsident/-in                     0,3       2,1    2,3    3,2   15,7   16,6      28,1 31,6             5,5
         Gemeindeparlament                        77,4       0,9    0,4    1,0    3,7       4,1    6,4   6,2            5,4
         Bürger/innen                              0,5       1,0    3,7    8,5   29,3   22,6 20,7 13,7                  4,9
         lokale Vereine                               1,2    6,6    6,0    8,2   29,8   16,3      18,1 13,7             4,5
         langjährige Einwohner/-innen                 1,8    8,4    7,6 10,2     24,4   19,3      18,3   9,9            4,4
         politische Parteien                      11,4      12,9    7,6    8,3   16,1   13,6      16,8 13,2             4,3
         Rechnungsprüfungskommission                  7,9    7,7    8,0 12,1     25,9   16,6      14,9   6,9            4,2
         Bauern                                    2,2       8,2   11,5 16,2     24,8      17,0   14,3   6,0            4,0
         Wirtschaft                                2,9       7,4   11,1 16,2     29,1      17,2   12,3   3,9            3,9
         Aktionskommittees                        18,8      13,2    9,9 12,3     19,3      12,1    9,0   5,3            3,7
         lokale Geschäfte                          2,3      13,0   14,1 18,0     27,7   14,3       8,2   2,4            3,5
         Presse                                    4,6      17,9   18,3 18,2     19,9   10,8       7,1   3,2            3,2
                   1
         Quartiere                                    7,4   20,9   18,3 18,1     19,7       9,3    4,7   1,6            3,0
         Wirtschaftsverbände                      20,4      22,8   14,2 13,4     16,5       7,5    4,1   1,1            2,9
         Kirche                                    2,6      27,8 25,2 19,0       16,3       6,1    2,4   0,6            2,6
         Gewerkschaften                           27,5      34,6   14,7    9,6    9,1       2,9    1,3   0,3            2,1
                                                                        Prozentwerte
Bemerkungen: Nmin 7’159, Nmax 7’642, Frage 37 der Exekutivmitgliederbefragung 2018 (vgl. Kapitel 3). Da uns der
  ­Einfluss einzelner Akteure interessiert und nicht deren Verbreitung in den Gemeinden, haben wir für die B   ­ erechnung
   des Mittelwertes nur diejenigen Fälle berücksichtigt, in welchen der Akteur vorhanden ist. Bei den Akteuren
   ­Gemeindeexekutiven, Gemeindepräsident sowie Bürger/innen und langjährige Einwohner/innen sind die Antworten
    «gibt es nicht» kaum plausibel. Es kann sein, dass in diesen Fällen «starker Einfluss» mit «gibt es nicht» verwechselt
    wurde (Antwortkategorien in der Umfrage unmittelbar nebeneinander aufgeführt).

aller Gemeinden anzutreffen, vor allem in der französischen und italienischen Schweiz (Ladner & Haus
2019).5 In der überwiegenden Mehrheit der Gemeinden, hauptsächlich in der Deutschschweiz, werden
die politischen Belange durch Stimmbürgerinnen und Stimmbürger direkt an der Gemeindeversammlung
verhandelt und entschieden.6
   Die Bürgerinnen und Bürger zählen nach Einschätzung der Gemeinderäte zu den viertwichtigsten
Akteuren in der Gemeindepolitik. Zu ihrer Bedeutung beitragen dürfte sicherlich der Umstand, dass sie
über die Gemeindeversammlung respektive über die direktdemokratischen Instrumente einen zusätzlichen
Einfluss auf die Lokalpolitik nehmen können. An den Versammlungen sind zudem oftmals langjährige
Einwohnerinnen und Einwohner im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen wie junge Einwohner,
Neuzugezogene oder Frauen eher übervertreten (Ladner 2016: 44), was dazu geführt haben könnte, dass
diese Gruppe an sechster Stelle der bedeutenden Akteure liegt (vgl. Tabelle 1). Interessant ist, dass in Bezug
auf die Einflussstärke der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger keine Unterschiede zwischen Parlaments-
und Versammlungsgemeinden bestehen, zumindest in den grösseren, vergleichbaren Gemeinden.78 Dies

  5
       In der Schweiz verfügen 461 von 2’212 Gemeinden oder 23% der Gemeinden ein Gemeindeparlament (Stand 2019).
  6
       In vereinzelten Gemeinden gibt es einzig Urnenabstimmungen, vor allem in einigen Gemeinden im Kanton Luzern. Es gibt zudem
      auch Gemeinden, welche das Versammlungs- und Parlamentssystem kennen, hauptsächlich in den Gemeinden des Kantons
      Graubünden.
  7
       Der durchschnittliche Einfluss der Bürger/innen in Gemeinden mit mehr als 10’000 Einwohnende wird in Gemeinden mit
      ­Versammlungssystem mit 4.88 (N = 237) und in Gemeinden mit Parlament mit 4.56 (N = 299) bewertet.
  8
       Quartiere betrifft die subkommunale Ebene wie zum Beispiel in der Stadt Zürich die Kreise 1 bis 12.
Haus und Ladner: Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über                                      71
den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

deutet darauf hin, dass die Einführung eines Parlaments nicht zwingend mit dem Transfer von Macht und
Einfluss einhergeht. So sehen es zumindest die Vertreter der kommunalen Exekutiven.
   Zwischen den Bürgerinnen und Bürger und den langjährigen Einwohnerinnen und Einwohner reihen
sich die lokalen Vereine als einflussreichste Kollektivakteure in der Rangliste der Tabelle 1 ein. Über
die Frage, inwiefern die Vereine die Lokalpolitik massgeblich beeinflussen, zum Beispiel durch selektive
Mobilisierung bei bestimmten lokalen Abstimmungen, gibt es unterschiedliche Meinungen und Ansichten.
Aus der Perspektive der Exekutivmitglieder können lokale Vereine als wichtige Wahlkampfstütze dienen,
über welche sie Stimmen generieren, gerade auch über die Parteigrenzen hinaus. Rund drei Viertel der
Exekutivmitglieder sind mindestens in einem Verein aktiv (Geser et al. 2011: 39). Aber auch für Vereine ist es
lukrativ, eine Vertretung, welche ihre Interessen bei vereinsrelevanten Entscheidungen wahrnimmt, in der
lokalen Regierung zu haben. Unzutreffend ist jedoch die Annahme, dass die Lokalpolitik durch die Vereine
bestimmt wird.
   Die Parteien folgen an siebter Stelle, was diejenigen Befunde unterstreicht, welche den lokalen Parteien
nur mehr einen begrenzten Stellenwert in der Lokalpolitik beimessen (vgl. Ladner 2011, Geser 2003). Rund
40 Prozent der Exekutivmitglieder und Gemeindepräsidenten sagen, dass sie keiner Partei angehören,
hauptsächlich in Gemeinden mit weniger als 2’000 Einwohnende (Geser et al. 2011: 48). Eine Ausnahme
bildet der Kanton Tessin, in welchem die Gemeindepolitik traditionell politisierter und stärker durch
Parteien bewirtschaftet wird (Koch & Rohner 2016: 149). Die Tessiner Gemeinderäte beurteilen in unserer
Umfrage von 2018 die Bedeutung der Parteien durchschnittlich höher als ihre Kollegen in den anderen
Sprachregionen. Etwas im Widerspruch zur These des lokalen Parteienrückgangs ist der Umstand, dass
nur etwas mehr als jedes zehnte Exekutivmitglied in unserer Umfrage angibt, dass in der Gemeinde keine
Parteien existieren (vgl. Tabelle 1). Dies dürfte damit zusammenhängen, dass sich die Befragten generell zur
Bedeutung der Parteien äussern und nicht immer berücksichtigten, ob diese in ihrer Gemeinde überhaupt
mit eigenen Lokalsektionen vertreten sind. Die Einflussstärke der Parteien hängt wesentlich vom örtlichen
Parteienwettbewerb ab. Je mehr Parteien in einer Gemeinde vorhanden sind, desto einflussreicher sind
sie aus Sicht der Gemeinderäte, was sich mit einem statistisch signifikanten Zusammenhang von 0.59
(Korrelationskoeffizient) aus unseren Umfragedaten belegen lässt.9 Ähnlich den Lokalparteien wird der
Rechnungsprüfungskommission, als lokales Kontrollorgan der Exekutive, sowie den Bauern als Akteurgruppe
mit Partikuliarinteressen ein mittlerer Einfluss attestiert. Aufgrund der nach wie vor zahlreichen, ländlich
geprägten Gemeinden bilden die Landwirte über die Gesamtheit der Gemeinden gesehen eine bedeutende
Bevölkerungsgruppe in der Lokalpolitik.
   Untersucht man die Akteure der unteren Hälfte in Tabelle 1, welche einen eher geringen Einfluss auf die
Gemeindepolitik ausüben, so fällt auf, dass sich die Wirtschaft, das lokale Gewerbe und die Wirtschaftsverbände
auf den hinteren Plätzen einreihen. In zahlreichen Gemeinden wie zum Beispiel in Pendlergemeinden oder
ländlichen Gemeinden sind im Verhältnis zur Wohnbevölkerung eher weniger Arbeitsplätze angesiedelt als in
den Zentrumsgemeinden oder Städten, weshalb der Stellenwert der Wirtschaft insgesamt betrachtet als eher
gering wahrgenommen wird. Ebenfalls als weniger einflussreich gesehen werden lokale Interessengruppen
wie Quartiere oder Aktionskommittees und die Presse. Nahezu keine Bedeutung haben die in der Regel
überlokal organisierten Akteure wie die Kirche oder die Gewerkschaften.
   Die Schweizer Gemeindelandschaft charakterisiert sich durch ihre grosse Vielfalt, was sich besonders in den
sehr unterschiedlichen Einwohnerzahlen der Gemeinden bemerkbar macht. Wir haben deshalb anhand der
sieben bedeutendsten Akteure in Tabelle 1 sowie den Wirtschaftsverbänden überprüft, inwiefern sich die
Einschätzungen zum Einfluss in den verschiedenen Gemeindegrössenklassen verändert. Unsere Resultate in
Abbildung 1 zeigen, dass der Gemeinderat und der Gemeindepräsident über alle Gemeindegrössenklassen
hinweg einen relativ konstant hohen Einflusswert aufweisen, wobei analog der Rangierung in Tabelle 1
die Regierung jeweils vor dem Präsidenten liegt. Besonders stark verändert sich hingegen die Stellung der
Parteien wie in Abbildung 1 gut ersichtlich ist. Während sie in den Kleinstgemeinden so gut wie keine
Relevanz haben, gewinnen sie mit zunehmender Gemeindegrösse an Macht. Ab 2’000 Einwohnerinnen
und Einwohner bestimmen Parteien erheblich mit, und in den Gemeinden ab einer Bevölkerungszahl von
10’000 sowie in den Städten ist ihr Einfluss sehr gross, und zwar ungefähr gleich stark wie derjenige des
Parlaments, in dem die Parteien die Politik debattieren und gestalten. In mittleren und kleinen Gemeinden
liegt der Stellenwert des Parlaments hingegen teilweise beträchtlich über demjenigen der Parteien, was
damit zusammenhängen könnte, dass in diesen Gemeindeparlamenten viele parteilose Abgeordnete sitzen
und die Parteien kaum ein funktionierendes Eigenleben haben. Die Stärke des Einflusses von Bürgerinnen

 9
     Berechnung: Pearson Korrelationskoeffizient = 0.593, p < 0.01, N = 4’663.
72                                        Haus und Ladner: Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über
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und Bürger auf die Lokalpolitik ändert sich kaum, unabhängig davon ob die Einschätzung durch einen
Gemeinderat einer Kleinstgemeinde oder einem Regierungsmitglied einer Stadt mit 20’000 und mehr
Einwohnende erfolgt (vgl. Abbildung 2). Etwas anders sieht die Lage bei den Alteingesessenen aus. In den
grossen Gemeinden und Städten haben sie weniger Gewicht als in mittleren und kleinen Gemeinden.
  Ebenfalls aufsteigend ist die Relevanz der lokalen Vereine ab einer Gemeindegrösse von 2’000 und
mehr Einwohnenden. Besonders in den Städten ist die Bedeutung besonders hoch, was daran liegen kann,
dass die Wahlen dort am umstrittensten sind, und somit die Vereine als wichtige Wählerbasis aus Sicht
der Exekutivmitglieder besonders bedeutend sind. Der Einfluss der Wirtschaftsverbände zu guter Letzt,
stellvertretend für überlokal organisierte Interessengruppen, vergrössert sich kontinuierlich mit zunehmender
Bevölkerungszahl. In Zentrumsgemeinden und Städten, wo sich zahlreiche Unternehmen und Arbeitsplätze
befinden, hat die lokale Wirtschaftspolitik eine besondere Tragweite, weshalb den Wirtschaftsinteressen – und
auch gewerkschaftlichen Interessen – ein relativ grosser Einfluss auf die Gemeindepolitik zugeschrieben wird.

Abbildung 1: Einfluss ausgewählter Akteursgruppen in den Gemeinden: Gemeindepräsident, Gemein­
 deexekutive, Gemeindeparlament und politische Parteien nach Gemeindegrösse (Mittelwerte, Skala
 1 = Kein Einfluss, 7 = Grosser Einfluss).

Abbildung 2: Einfluss ausgewählter Akteursgruppen in den Gemeinden Bürger/innen, lokale Vereine,
 Wirtschaftsverbände und langjährige Einwohner/innen nach Gemeindegrösse (Mittelwerte, Skala 1 = Kein
 Einfluss, 7 = Grosser Einfluss).
Haus und Ladner: Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über                                                             73
den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

4.2. Drei unterschiedliche Einflussmuster lokaler Akteure
Angesichts der grossen Unterschiede zwischen den Gemeinden ist zu erwarten, dass es unterschiedliche
Einflussmuster gibt, das heisst, dass je nach Gemeinde eine bestimmte Konstellation von Akteuren Einfluss
auf die Lokalpolitik ausübt. Um die relevanten Akteursstrukturen lokaler Politik zu identifizieren, orientieren
wir uns an der Vorgehensweise von Ladner (1991, 1994). Mit einer explorativen Faktorenanalyse können auf
verhältnismässig einfache Art und Weise charakteristische Antwortmuster von Informanten zu Einfluss und
Macht lokaler Akteure gefunden werden. Ziel ist es, die Komplexität der Antworten der Exekutivmitglieder
zu den 17 abgefragten Akteuren in Tabelle 1 auf ein paar wenige Faktoren (Einflussmuster) zu reduzieren.10
Allerdings haben wir zwei Akteure nicht in die Analyse miteinbezogen. Zum einen das Parlament, weil es
im Gegensatz zu allen anderen Akteuren nur in einem kleinen Teil der Gemeinden existiert. Andererseits
die Rechnungsprüfungskommission, weil sie eine reine Kontrollfunktion hat und sich als kommunale
Aufsichtsstelle neutral verhalten muss. Die Resultate unserer Faktoranalyse in Tabelle 2 ergeben drei
spezifische Einflussmuster (Faktoren).11

Tabelle 2: Drei unterschiedliche Einflussmuster lokaler Akteure in den Schweizer Gemeinden
  (Faktorladungen).

                        Akteursgruppen                                 Faktor 1      Faktor 2       Faktor 3
                                                                     Interessen-     Ländlich Behörden-
                                                                     organisiert              orientiert
                        Wirtschaftsverbände                                    ,79          ,09            ,03
                        Gewerkschaften                                         ,73          ,06           –,08
                        Presse                                                 ,68          ,23            ,05
                        Quartiere                                              ,61           ,31          –,02
                        politische Parteien                                    ,61         –,17            ,32
                        Kirche                                                 ,54          ,42           –,04
                        Aktionskommittees                                      ,52          ,08             ,19
                        Wirtschaft                                             ,50          ,48             ,15
                        lokale Geschäfte                                       ,47           ,41           ,20
                        Bauern                                                 ,02          ,79           –,08
                        Bürger/innen                                           ,10          ,62             ,19
                        langjährige Einwohner/-innen                           ,13          ,56             ,19
                        lokale Vereine                                         ,29          ,37            ,29
                        Gemeindeexekutive                                      ,02           ,12           ,81
                        Gemeindepräsident/-in                                  ,06           ,18           ,76
                        Eigenwerte                                            4,59         1,56           1,23
                        erklärte Varianz 49.18%: Anteil davon:              23,36         15,07          10,75
Bemerkungen: Kursiv-fett hervorgehobenen Akteure gelten als Bestandteil der jeweiligen Faktoren. Berücksichtigt
  werden nur Faktorenwerte, welche eine Korrelation mit dem jeweiligen Faktor von grösser als |0,40| ausweisen und
  einem der drei Faktoren eindeutig zugeordnet werden können. N = 7’267, Principal Component Analysis, Varimax. Da
  uns in dieser Analyse nicht nur der Einfluss einzelner Akteure interessiert, sondern auch deren Bedeutung auf lokaler
  Ebene insgesamt, wurde «gibt es nicht» (=0) als «kein Einfluss» (=1) recodiert.

 10
      Faktoren sind statistische Konstrukte, welche nicht direkt gemessen und deshalb als latente Variablen bezeichnet werden. Sie
      fassen die Informationen in den Ursprungsvariablen (abgefragten Akteure) zusammen. Aufgrund ihrer Korrelation mit den
      Ursprungsvariablen (Faktorladungen) versucht man den Faktoren einen inhaltlichen oder theoretischen Namen zu geben. In der
      Namensgebung kann somit eine gewisse Willkür nicht ausgeschlossen werden (Ladner 1994: 316).
 11
      Ursprünglich zeigten die Ergebnisse vier Faktoren. Um die Interpretierbarkeit der Resultate zu vereinfachen, entschlossen
      wir uns, drei Faktoren zu extrahieren. Der Eigenwert des vierten Faktors lag mit 1.031 zudem sehr knapp an der Grenze des
      «­Kaiser-Kriteriums», welches besagt, dass nur Faktoren extrahiert werden sollen, deren Eigenwert grösser als 1.0 ist (Bortz und
      Schuster 2010: 415).
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   Das erste Muster, welches wir als interessenorganisiertes Einflussmuster (Faktor 1) bezeichnen, umfasst
eine Reihe kollektiver Akteure, die Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Presse, Quartiere, politischen
Parteien, Kirche, Aktionskommittees und die Wirtschaft. Diese Akteure vertreten mit Ausnahme der
Quartiere Interessen, welche vor allem auch überlokal stark organisiert sind oder zumindest wie im Fall
der Märkte für die Wirtschaft erhebliche Bezüge zur Aussenwelt der Gemeinde haben. Ihre Positionen und
ihr Verhalten in gemeindepolitischen Fragen ist nicht einzig durch die örtlichen Gegebenheiten geprägt,
sondern auch von der Ausrichtung ihrer übergeordneten Organisationen. Diese Akteurskonstellation
entspricht am ehesten derjenigen, welche auch auf kantonaler und nationaler Ebene vorzufinden ist.
   Im zweiten Muster (Faktor 2), welches wir ländliches Einflussmuster nennen, sind es vor allem die Vertreter
der Landwirtschaft, die Bürgerinnen und Bürger sowie die langjährigen Einwohnerinnen und Einwohner,
welche auf die Gemeindepolitik direkt Einfluss nehmen, das heisst ohne über Politikvermittler wie die
örtlichen Parteien oder bestimmte Interessengruppen gehen zu müssen. Kennzeichnend zudem ist, dass
in diesen Machtstrukturen vielerorts kein Parlament vorhanden ist, sondern die Politik durch eine direkte
Beteiligung der Gemeindebevölkerung, hauptsächlich durch die Teilnahme an den Gemeindeversammlungen
und vereinzelt auch an Urnengängen, stattfindet. In diesen oftmals kleineren ländlichen Gemeinden sind die
Bevölkerungsstrukturen relativ homogen, so dass sich verschiedene Interessengruppen kaum herausbilden
und organisieren.
   Dem dritten identifizierten Einflussmuster (Faktor 3) geben wir den Namen Behördenorientiert. Die
zentralen Akteure dieses Musters bilden die Gemeindeexekutive und der Gemeindepräsident. In diesen
Strukturen entspricht die Gemeindepolitik am Ehesten einer Sachpolitik, bei welcher die Behörden in
möglichst sachlichen Abwägungen ihre Geschäfte und Vorlagen den Stimmberechtigten zur Verhandlung
und Entscheidung vorlegen, während Parteien und Interessengruppen weniger dominant sind und kaum
eine (Partei-)Politisierung der Lokalpolitik stattfindet. Dies hat auch Auswirkungen auf die politische
Teilnahme der Stimmberechtigten, welche angesichts der eher unumstrittenen Sachpolitik tendenziell tiefer
ausfällt. Während sich die behördlichen Akteure hauptsächlich mit der staatlichen Leistungserbringung
respektive dem Output der Politik beschäftigen, heben die zwei anderen Muster die Inputgeber der Politik,
wie beispielsweise Bürgerinnen und Bürger, Parteien oder Interessengruppen, hervor.
   Die Wirtschaft und die lokalen Geschäfte sind nicht eindeutig einzuordnen in Tabelle 2, da sie
statistisch – aber auch theoretisch – sowohl zum interessenorganisierten Muster wie auch zum Ländlichen
gezählt werden können. Gerade in peripheren Regionen kann das örtliche Gewerbe sehr bedeutend sein,
beispielsweise für immobile Menschen oder als wichtige lokale Arbeitgeber. In keines der Einflussmuster
lassen sich die lokalen Vereine verorten. Sie haben in allen drei Strukturen eine gewisse Bedeutung,
allerdings ist diese im Vergleich zu den anderen Akteuren nicht sehr ausgeprägt. Diese Schwierigkeiten
zeigen, dass die Grenzen zwischen den Mustern durchaus verschwimmen können und eine klare Zuordnung
nicht unbedingt die Realität widerspiegeln muss.1213
   Die bisherigen Analysen können nur wenig über den Stellenwert der Erklärungsmuster bezogen auf
die Anzahl Gemeinden und die Verbreitung in der Bevölkerung sagen. Die Resultate in Tabelle 3 zeigen
hierzu ein differenziertes Bild. Während das ländliche Einflussmuster, allen voran die Landwirte, in rund 40
Prozent der Gemeinden die Lokalpolitik wesentlich prägen, sind es in je rund 30 Prozent der Gemeinden

Tabelle 3: Bedeutung der Einflussmuster nach Anzahl Gemeinden und Einwohnerzahl in der Schweiz
  (N = 2’121 Gemeinden).12

                  Einflussmuster             Anzahl          in % Einwohner in % Ø Gemeinde-
                                           Gemeinden13            (31.12.16)        grösse
                  Interessenorganisiert                642      30     5 427 493      67            8 454
                  Ländlich                             860      41     1 105 479      13            1 285
                  Behördenorientiert                   619      29     1 675 319      20            2 706
                  Total                               2121     100     8 208 291     100            3 870

 12
    Da nicht von allen Gemeinden Exekutivmitglieder an der Umfrage 2018 teilnahmen, liegt die Totale Einwohnerzahl unter der
    Schweizer Gesamtbevölkerung von 8.4 Millionen im Jahr 2016.
 13
    Die Antworten der Exekutivmitglieder wurden aufgrund des grössten Faktorscores einem der drei Einflussmuster zugeordnet.
		 Für diese Analyse wurden die Antworten der Exekutivmitglieder auf Gemeindeebene aggregiert. In gut 70% der Gemeinden haben
    mehr als die Hälfte der Exekutive geantwortet.
Haus und Ladner: Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über                                      75
den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

Abbildung 3: Verbreitung der drei Einflussmuster in den unterschiedlichen Sprachregionen (in % der
 antwortenden Exekutivmitglieder je Sprachregion).

kollektive Interessengruppen und Parteien oder der Gemeinderat (inklusive dem Gemeindepräsidenten),
welche vor allem bestimmen. Betrachtet man allerdings die Bevölkerungszahl, welche von den einzelnen
Einflussmustern betroffen ist, verschiebt sich die Relevanz erheblich zu den interessenorganisierten
Akteuren. Diese beeinflussen massgeblich die Gemeindepolitik von gegen zwei Drittel der Einwohnerinnen
und Einwohner der Schweiz, während die ländlichen und behördenorientierten Strukturen für total rund ein
Drittel der Menschen im Land die Lokalpolitik prägen.
   Die Ergebnisse in Tabelle 3 verdeutlichen weiter, dass die Gemeindegrösse einen erheblichen Einfluss
auf die Strukturierung der lokalen Macht- und Einflussverhältnisse hat. Das ländliche Einflussmuster
ist besonders in Kleinstgemeinden mit einer durchschnittlichen Bevölkerungszahl von rund 1’300
Einwohnerinnen und Einwohner dominant, während das behördenorientierte Einflussmuster in leicht
grösseren Gemeinden mit einer Bevölkerungszahl von rund 3’000 vorzufinden ist. In der Grössenordnung
von durchschnittlich rund 8’500 Einwohnerinnen und Einwohner dominiert das interessenorganisierte
Einflussmuster. In grossen Gemeinden und Städten kommt es zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher
Bevölkerungsgruppen und einer grösseren Zahl von Arbeitsplätzen, was zu einer stärkeren Präsenz diverser
Interessengruppen führt. Zudem ist der politische Wettbewerb wesentlich schärfer als in Kleingemeinden,
weshalb die Parteien einen grösseren Einfluss in den Städten aufweisen.
   Ein weiteres wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Gemeinden ist ihre unterschiedliche kulturelle
Prägung, welche sich beispielsweise mit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sprachgebiet erfassen
lässt. Vergleicht man die Bedeutung in den Sprachregionen, so zeigt sich, dass die drei identifizierten
Einflussmuster in der französisch- und deutschsprachigen Schweiz ähnlich gleichmässig zu je rund 30
Prozent verbreitet sind (vgl. Abbildung 3). Einzig in der Westschweiz dominiert das behördenorientierte
Einflussmuster etwas mehr, was darauf zurückgeführt werden kann, dass das Staatsverhältnis eher
hierarchisch geprägt ist und mehr Aufgaben auf kantonaler Ebene angesiedelt sind als in den anderen
Regionen.
   Im Tessin hingegen ist das interessenorientierte Einflussmuster sehr stark verbreitet, weil nicht zuletzt
die Gemeindeebene relativ stark durch die verschiedenen Parteien vor Ort sowie weiteren organisierten
Akteuren politisiert ist. Es ist daher auch nicht überraschend, dass in der italienischen Schweiz das ländliche
Pattern kaum vorkommt, da die Stimmberechtigten weniger direkt Einfluss auf die Politik nehmen, sondern
mehr indirekt über die zahlreichen Tessiner Lokalparlamente.

5. Veränderung von Macht und Einfluss aus Sicht der Gemeindeschreiber
1988–2009
Die Befragungen der Gemeindeschreiber 1988 und 2009 unterstützen die Befunde aus der Exekutivbefragung.
Zudem belegen sie, dass sich die Machtstrukturen in den Gemeinden insgesamt nicht wesentlich
verändert haben. Die Rangliste was den Einfluss der einzelnen Akteurgruppen anbelangt, bleibt auf den
76                                          Haus und Ladner: Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über
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vorderen Plätzen unverändert. Auch aus Sicht der Gemeindeschreiber wird die Lokalpolitik dominiert von
Gemeindeexekutive und Gemeindepräsidentin oder Gemeindepräsident, gefolgt von den Stimmbürgerinnen
und Stimmbürgern und den Parteien. Dies gilt über die Zeitspanne 1990 bis 2010 hinweg. Den übrigen
Akteuren wird im Durchschnitt weniger als ein mittlerer Einfluss attestiert (vgl. Tabelle 4).
  Die Einflussstrukturen in den Gemeinden über die Jahrtausendwende hinweg zeigen insgesamt
ein relativ stabiles Bild. Schaut man jedoch etwas genauer hin, so zeigen sich allerdings geringfügige
Veränderungen. Um möglichst aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, wurden für die untenstehende
Figuren (Abbildungen 4–9) lediglich diejenigen Gemeinden berücksichtigt, welche an beiden
Befragungen teilgenommen haben. Gruppiert in drei Grössenklassen verfeinert sich der Einblick in den
Wandel der Lokalpolitik und bisherige Erkenntnisse aus der Exekutivmitgliederbefragung 2018 werden
teilweise bekräftigt.
  Die Aussagen der Gemeindeschreiber bestätigen zum Beispiel den Bedeutungsverlust der Parteien in
den kleinen Gemeinden. Nicht nur spielen die Lokalparteien in den Gemeinden mit weniger als 2’000
Einwohnerinnen und Einwohner eine deutlich weniger wichtige Rolle, auch ihr Einfluss ist über die Jahre
hinweg zurückgegangen. Etwas weniger ausgeprägt trifft dies auch auf die grössten Gemeinden zu, während
in den mittleren Gemeinden der Einfluss der Parteien eher etwas angestiegen ist.
  Am meisten Einfluss haben – gemäss Aussagen der Gemeindeschreiber – die Gemeindeexekutiven und
zwar in allen Gemeindegrössenkategorien (vgl. Abbildungen 4–6). Dabei ist der Einfluss in den kleinsten
Gemeinden konstant geblieben, während er in den mittleren eher etwas zu- und in den grössten Gemeinden

Tabelle 4: Einfluss ausgewählter Akteure auf die Lokalpolitik 1988 und 2009 (Durchschnittswerte).

                             Ausgewählte Akteure        1988     2009 Veränderung
                             Gemeindexekutive              5,1      5,4              0,3
                             Gemeindepräsident/-in         4,7      5,1              0,4
                             Stimmbürger/-innen            4,2      4,7              0,5
                             Parteien                      3,6      3,7              0,1
                             Bauern                        3,1      3,2              0,1
                             Gewerbe                       2,3      3,1              0,8
                             Private Unternehmungen        1,7      2,7                1
                             Presse                        1,7      2,6              0,9
                             Kirche                        1,6      2,1              0,5
                             N                           2259     1354
Bemerkungen: Bei den hier abgebildeten Zahlen werden «nicht vorhanden» und «keinen Einfluss» gleichgesetzt (d.h. sie
  erhalten den Wert 1).

Abbildungen 4–6: Wandel der Einflussverhältnisse lokalpolitischer Akteure (Exekutive, Gemeindepräsident,
 Bürger, Parteien) 1988–2009 nach Gemeindegrösse.
Haus und Ladner: Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über                                         77
den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz

Abbildungen 7–9: Wandel der Einflussverhältnisse lokalpolitischer Akteure (Gewerbe, private Unternehmer,
 Presse/Medien, Bauern, Bürgergruppen) 1988–2009 nach Gemeindegrösse.

etwas abgenommen hat. Die Gemeindepräsidenten haben demgegenüber vor allem in den kleinsten und
mittleren Gemeinden an Bedeutung gewonnen, während in den grössten Gemeinden auch ihr Einfluss etwas
rückläufig ist. Ein ähnliches Muster – allerdings auf einem etwas tieferen Niveau – zeigt sich auch bei den
Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Beim Einfluss der anderen Akteure, der – wie wir gesehen haben –
deutlich tiefer liegt, zeigt sich nicht ganz unerwartet, mit zunehmender Gemeindegrösse ein Rückgang bei
den Bauern, wobei vor allem in den grösseren Gemeinden über die Zeit hinweg, den Bauern leicht mehr
Einfluss attestiert wird (vgl. Abbildungen 7–9). Das Gewerbe, private Unternehmer aber auch die Medien
haben an Einfluss zugelegt. Diese Zunahme ging allerdings auf einem deutlich tieferen Einflussniveau von
statten. Bei den Bürgergruppen ist der Trend demgegenüber weniger eindeutig.

6. Fazit und Diskussion
In diesem Artikel sind wir der Frage nachgegangen, welche Akteure heute die Gemeindepolitik massgeblich
beeinflussen und wie sich Macht und Einfluss dieser Akteure seit den 1990er Jahren verändert haben.
Im Wesentlichen gelangen wir zur Erkenntnis, dass es in den letzten Jahrzehnten trotz den veränderten
Rahmenbedingungen in der Gemeindepolitik kaum zu Verschiebungen in den Macht- und Einflusskonstellationen
lokaler Politik gekommen ist. Die Exekutiven und der Gemeindepräsident werden konstant als die ein­
flussreichsten Akteure in der Gemeindepolitik eingestuft, sowohl von den Gemeindeschreibern als auch von
den Exekutivmitgliedern, und zwar auf einem ähnlichen Niveau über alle Umfragezeitpunkte hinweg. Einzig
in den grösseren Gemeinden mit einer Bevölkerungszahl von 10’000 und mehr scheinen sie etwas an Macht
eingebüsst zu haben. Insgesamt nehmen die Behörden eine herausragende Position in der Lokalpolitik ein, was
sie vielerorts im Sinne der Bevölkerung zu nutzen wissen, denn das Vertrauen in ihre Arbeit ist relativ gross, wie
verschiedene Studien gezeigt haben (u.a. Denters et al. 2014, Haus, Rochat & Kübler 2016).
   Interessant ist die Einschätzung des Einflusses der Bürgerinnen und Bürger, welche unabhängig
von der Gemeindegrösse nahezu identisch ausfällt. In kleinen Gemeinden, in welchen die Bürgerinnen
und Bürger – verstanden als Stimmberechtigte – zahlreich an Wahlen und Abstimmungen respektive
Gemeindeversammlungen partizipieren, wird deren Einfluss praktisch gleich hoch eingestuft wie in
grösseren Gemeinden und Städten, in denen sich die Stimmberechtigen tendenziell weniger stark am
politischen Geschehen beteiligen und Gemeindeparlamente die Regel sind.
   Der Rückzug der Parteien hauptsächlich aus den kleineren Gemeinden widerspiegelt sich auch in unseren
Resultaten. Einen bedeutenden Einfluss haben die Parteien in Gemeinden ab einer Bevölkerungszahl
von 2’000, während in kleineren Gemeinden das Gewicht der Parteien in den vergangenen Jahren etwas
abnahm. Interessant ist die Bedeutung der Vereine, welche aus Sicht der Exekutivmitglieder leicht über
derjenigen der Parteien liegt. Da Vereine über die Parteigrenzen hinaus Wirkung entfalten können, wie
beispielsweise bei Wahlen, ist es möglich, dass sie in ihrer Bedeutung auch etwas höher eingestuft werden.
Spezifische Interessenvertreter wie Wirtschaft, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, lokales Gewerbe
oder Kirche sowie die Presse haben aus der Perspektive einzelner Akteure insgesamt wenig Einfluss auf
die Gemeindepolitik. Aus Sicht der Gemeindeschreiber haben jedoch die Wirtschaft (private Unternehmen,
Gewerbe) und die Presse in allen Gemeinden an Einfluss auf die Lokalpolitik gewonnen.
78                                         Haus und Ladner: Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über
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   Betrachtet man die identifizierten Einflussmuster lokalpolitischer Akteure, zeichnet sich ein etwas
anderes Bild ab. In bevölkerungsreichen Gemeinden und Städten findet Politik vor allem in Strukturen
mit organisierten Interessen statt, in denen die Bevölkerung nicht direkt Einfluss nimmt, sondern indirekt
über verschiedene Interessenvertreter und Politikvermittler. Bei den ländlichen Einflussstrukturen sind
es hingegen die Landwirte, Bürgerinnen und Bürger sowie langjährige Einwohnerinnen und Einwohner,
welche die Gemeindepolitik stark beeinflussen. In mittelgrossen Gemeinden bestimmen wiederum vor
allem die Behörden in Form von Gemeinderat und Gemeindepräsident. Zu vergleichbaren Einflussmuster
gelangte Ladner (1991, 1994) in seiner Untersuchung anfangs der 1990er Jahre. Er befragte in dieser Studie
andere Informanten (die Gemeindeschreiber) zum Einfluss ähnlicher Akteure wie in dieser Arbeit. Seine drei
identifizierten Einflussmuster entsprechen in hoher Übereinstimmung den in dieser Arbeit festgestellten
Machstrukturen. Während sein interessensegmentiertes Einflusspattern zu Beginn der 1990er Jahre für
rund 57 Prozent der Gemeindebevölkerung die prägenden lokalen Akteursstrukturen bildeten (Ladner
1994: 318), decken die organisierten Interessen heute, aus Sicht der Exekutivmitglieder, bereits zwei Drittel
der lokalen Bevölkerung ab. Die Gemeinderäte (inkl. Gemeindepräsident/in) dominieren hingegen, was die
relative Bevölkerungsreichweite anbelangt, heute etwas weniger als noch Ende des 20. Jahrhunderts. Das
traditionell-agrarische Einflussmuster von Ladner (1994) lässt sich zwar nicht direkt mit unserem Ländlichen
vergleichen, dennoch scheint das Muster, in dem Bauern und Alteingesessene das Sagen haben, eher etwas
an Bedeutung gewonnen zu haben.
   Mit Blick auf die Debatte zwischen Elitisten und Pluralisten zeigt sich zwar, dass die Mehrheit der Gemeinden
gut erkennbare Machtstrukturen (Einflussmuster) aufweisen, bei denen eine bestimmte Gruppe oder
Elite, wie etwa die Mitglieder der Exekutive, der Gemeindepräsident oder die Bauern einen massgeblichen
Einfluss auf die Gemeindepolitik ausüben. Es handelt sich dabei aber kaum um ein spezifisches Segment
der Bevölkerung, wie dies die Elitisten mit ihrer Vorstellung von den oligarchischen Verhältnissen in
der Lokalpolitik postulieren. Der Zugang zu politischen Ämtern ist relativ offen. Für ein Grossteil der
Bevölkerung in der Schweiz findet die Gemeindepolitik unter pluralistischen Machtkonstellationen statt,
sei es durch verschiedenste organisierte Interessengruppen wie Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften
oder durch Quartiere sowie lokale politische Parteien, was insgesamt eher der These der Pluralisten recht
gibt. Diese Erkenntnisse sind auch methodisch von Interesse, weil der Reputationsansatz in der Kritik
steht, per se nur kleine Gruppen von Eliten als Resultat hervorzubringen aufgrund seiner Vorgehensweise
(Hoffmann-Lange 2018: 87).
   Die Anwendung des Reputationsansatzes hat in dieser Arbeit zudem ein gewichtiger Vorteil aufgezeigt.
Er erlaubt es, eine Annäherung an die «wahren» politischen Machtverhältnisse in den Gemeinden zu geben,
in dem er den effektiven Einfluss und nicht etwa die formelle Macht von einzelnen, politischen Akteuren
erfasst, wie es im Positionsansatz (vgl. Mills 1956) der Fall ist. Mit dem Reputationsansatz sind auch gewisse
Nachteile verbunden. Zum einen ist es möglich, dass die Informanten Macht und Einfluss mit Popularität
verwechseln. Andererseits beruht im Falle der Exekutivmitgliederbefragung die Beurteilung des Einflusses
auf einer Selbsteinschätzung, was die Zweifel an der Objektivität dieser Informanten nährt, wenn sie sich
selbst an der Spitze der einflussreichsten Akteure sehen, wie es in dieser Arbeit der Fall ist. Es ist zudem
nicht auszuschliessen, dass weitere, potentiell wichtige Akteure in den Umfragen nicht abgefragt wurden.
Zumindest haben die Resultate aber gezeigt, dass die Wahrnehmungen der Gemeindeschreiber eine relativ
hohe Übereinstimmung mit denjenigen Einschätzungen der Exekutivmitglieder aufweisen, und dass über
einen längeren Zeithorizont hinweg.

Konkurrierende Interessen
Die Autoren haben keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Literaturverzeichnis
Bortz, J., & Schuster, C. (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler (7. Auflage). Heidelberg:
   Springer. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-642-12770-0
Dahl, R. A. (1967). Who governs? Democracy and Power Structure in an American City. New Haven,
   London: Yale University Press.
Denters, B., Goldsmith, M., Ladner, A., Mouritzen, P. E., & Rose, L. E. (2014). Size and Local Democracy.
   Cheltenham, UK/Northampton USA: Edward Elgar. DOI: https://doi.org/10.4337/9781783478248
Drewe, P. (1974). Lokale Machtstrukturen: Alter Kontroversen, neue Ansätze. In P. Atteslander & B. Hamm
   (Eds.), Materialien zur Siedlungssoziologie (pp. 336–364). Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Freitag, M., Bundi, P., & Flick Witzig, M. (2019). Milizarbeit in der Schweiz. Basel: NZZ Libro.
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