Widerständige Praktiken - Iris Därmann / Michael Wildt - Hamburger Edition
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Iris Därmann / Michael Wildt Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken Widerständige Praktiken Eine Einleitung Seit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 hat das Recht auf Widerstand einen bemerkenswerten Siegeszug angetreten. Heute ist es in vielen demokratischen Staaten konstitutionell verankert. Es dient als letztes Mittel der Bürgerinnen und Bürger, die bestehende oder ursprüngliche staatliche Ordnung gegen eine Regierung, die die Verfassung bricht, zu verteidigen. Dabei ist die Legitimität des offenen Widerstands nur dann gegeben, wenn die Illegitimität der Regierung außer Frage steht. Aber auch innerhalb der Verfassungsordnung sind zahlreiche Formen des massenhaften, partikularen oder individuellen Protests möglich, mit denen Bürgerinnen und Bürger ihre Ablehnung politischer Entscheidungen oder ihre Unzufriedenheit mit bestehenden Einrichtungen oder Verfahren zum Ausdruck bringen können. Die Auseinandersetzung mit derartigen Formen oppositionellen Verhaltens steht im Zentrum der zeitgenössischen Protest- und Widerstandsforschung. Sie ist vornehmlich an öffentlich wirksamen Praktiken und sichtbaren Demonstrationen zivilen Ungehorsams sowie an symbolpolitisch vernehmbaren Akten des Auf begehrens interessiert, wie sie sich jüngst etwa in Hongkong, Belarus und Myanmar beobachten lassen. Die voraussetzungsreichen, auf juristischer, politischer, historischer und soziologischer Ebene geführten Debatten blenden jedoch für gewöhnlich Formen des Widerstands aus, die sich in extralegalen1 »Gewalträumen«2 – vielfach nur im Verborgenen und Unsichtbaren – ereignen und, wenn über- haupt, erst nachträglich zur Erscheinung gebracht und vernehmlich gemacht werden können: auf Sklavenschiffen und kolonialen Plantagen, in Gettos und Gefängnissen sowie in Vernichtungs-, Arbeits- oder Folterlagern – über- all dort also, wo Menschen entrechtet und mittels extremer Gewalt zu blo- ßen Verfügungsobjekten gemacht, auf ihre Körperlichkeit und Animalität reduziert und in äußerster Mittellosigkeit gefangen gehalten werden. An 1 So die Charakterisierung des Gefangenen- und Folterlagers Guantánamo bei Bernd Greiner, »Die Abschaffung der Lager. Lektionen nach zehn Jahren ›Anti-Terror-Krieg‹«, in: Bettina Greiner / Alan Kramer (Hg.), Die Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution, Hamburg 2013, S. 328–354. 2 Der Begriff »Gewalträume« findet sich bei Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 178 ff. Wir verwenden ihn hier in einem breiteren, nicht nur auf die Analyse der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager begrenzten Sinn, der auch andere Orte der gewaltsamen Unterdrückung und Entrechtung von Menschen umfasst. Mittelweg 36 2/2021 1
diesen den Blicken der Öffentlichkeit entzogenen Gewalträumen kann sich Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken Widerstand zumeist nur mithilfe von buchstäblichen body politics wie Hun- gerstreik, Selbstverstümmelung, Abtreibung oder Freitod sowie durch poli- tische Praktiken der Flucht, der Stimmerhebung oder des Bezeugens arti- kulieren. In Gewalträumen, die auf die rassistische Vernichtung menschlichen Lebens zielen, wird die Lebensrettung Einzelner, wird selbst das eigene Überleben von den Überlebenden als eine Form des Widerstands verstan- den.3 Das Selbstverständnis derer, die Widerstand praktiziert, die sich und andere aus der Ausgesetztheit und Verlorenheit an die Gewalt befreit ha- ben, setzt aus sich heraus einen originären Maßstab der Selbstbefreiung. Ausgehend von diesen Überlegungen geht es uns in dem vorliegenden Heft darum, die übliche disziplinäre Arbeitsteilung zwischen Gewalt- und Wider- standsforschung zu unterlaufen und die Aufmerksamkeit auf Formen von Widerständigkeit zu lenken, die für gewöhnlich unbemerkt bleiben oder übergangen werden. Die etablierte Arbeitsteilung hat dazu geführt, dass die Gewaltforschung sich in der Untersuchung von Gewalträumen und Ge- waltdynamiken bislang vor allem auf die »Vollkommenheit«, »Absolut- heit« und »Uneingeschränktheit« von Gewalt konzentriert hat,4 während in der Widerstandsforschung die Beschäftigung mit vernehmbaren For- men des Protests überwog. Ohne die Bedeutung erfolgreicher Rebellionen, Revolten oder Revolutionen schmälern zu wollen, geht es uns im Folgen- den gerade darum, auch den verstreuten, niedrigschwelligen, passivieren- den und gescheiterten Widerstandspraktiken Aufmerksamkeit zu schen- ken und sie nicht in ihrer Unsichtbarkeit zu belassen.5 Denn noch im Schei- tern sind sie mikropolitische Ereignisse und Gesten humaner Resistenz, die die Dynamik der Gewalt unterbrechen und die Gewaltakteure – und sei es auch nur einen Wimpernschlag lang – irritieren, indem sie kraft ihrer 3 Martin Gilbert, The Holocaust. The Jewish Tragedy, London 1986, S. 174. Vgl. dazu auch Esther Gitman, »Courage to Resist. Jews of the Independent State of Croatia Fight Back«, in: Julius H. Schoeps / Dieter Bingen / Gideon Botsch (Hg.), Jüdischer Widerstand in Europa (1933–1945). Formen und Facetten, Berlin / Boston, MA 2018, S. 106–125, hier S. 108. 4 Siehe dazu exemplarisch u. a. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Kon- zentrationslager, Frankfurt am Main 1993, S. 27–40; Birgitta Nedelmann, »Gewalt- soziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung«, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt (= Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), Opladen 1997, S. 59–85; Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 133. 5 Im Folgenden greifen wir teilweise zurück auf Überlegungen aus Iris Därmann, »Wider- stands- und Gewaltforschung, überkreuz«, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4 (2019), 1, S. 5–42. Zu den body politics, widerständigen Passivierungen und aisthetischen »Flucht- linien« in den Gewalträumen des transatlantischen Sklavenhandels und den deutschen Vernichtungslagern siehe auch die entsprechenden Ausführungen in dies., Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie, Berlin 2020. 2 Mittelweg 36 2/2021
selbst dasjenige schützen, behaupten oder wiederherstellen, auf dessen Zer- Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken störung Gewalt abzielt: menschliches Leben in Würde, Freiheit und Gleich- heit. I. Zweifellos war das ausgehende 18. Jahrhundert die Zeitenwende zu einer neuen politischen Mündlichkeit und Mündigkeit.6 Mit der sukzessiven Ein- führung des Wahl- und Stimmrechts und des Zugangs zu politischen Äm- tern sowie mit Prozeduren der Abstimmung hatten sich die männlichen Bürger in den USA und in Teilen Westeuropas rechtlich verbriefte Formen der politischen Beteiligung erkämpft. Dieser Fortschritt war ebenso bedeut- sam wie unvollkommen. Er vollzog sich unter Ausschluss aller Frauen, des Proletariats,7 von Jüdinnen und Juden sowie von Millionen versklavter Men- schen in Europa und vor allem in den europäischen Kolonien. Was Letztere betraf, so steigerte sich diese Ambivalenz im Zuge der Französischen Revo- lution zu einem fundamentalen Konflikt. Maßgeblichen Anteil daran hatte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, welche die Konstituante am 26. August 1789 verabschiedete: So wurden mit der Verkündung der Grund- rechte von »Freiheit, Eigentum, Sicherheit« und dem »Recht auf Wider- stand gegen Unterdrückung« in Artikel II einerseits alle Menschen für frei erklärt, während die Sklaven andererseits weiterhin als unveräußerliches »menschliches Eigentum« der Sklavenhalter in den französischen Kolo- nien galten.8 In der Frage der Sklaverei entpuppte sich die Französische Revolution als ein halbiertes Projekt. Die universalen Menschenrechte wurden den versklavten Menschen vorenthalten und zwischen Frankreich und Saint- Domingue rassistisch aufgeteilt. Auch nach der Französischen Revolution blieb der Code Noir, jenes von Ludwig XIV . im März 1685 erlassene und bis 1848 gültige Dekret, das die gewaltsame Behandlung, Entrechtung und Fol- 6 »[M]an denkt bei mündig an einen zusammenhang mit mund os [lat., I.D. / M.W. ], und braucht es demgemäsz.« Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch [1885], Bd. 12: Sechster Band: L – Mythisch, bearb. von Moriz Heyne, hrsg. von der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissen- schaften zu Göttingen, Leipzig 1983, Sp. 2688. Dazu Brigitta Bernet, »Mündigkeit und Mündlichkeit. Sprachliche Vergesellschaftung um 1900«, in: Figurationen 9 (2008), 1, S. 47–60; sowie Manfred Sommer, »Mündigkeit. Begriff und Metapher«, in: ders., Identität im Übergang. Kant, Frankfurt am Main 1988, S. 117–139. 7 Das Proletariat hatte sich in einer wahren »Artikulationsexplosion« in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Bürgertum vernehmlich gemacht. Dazu Ulla Pruss- Kaddatz, Wortergreifung. Zur Entstehung einer Arbeiterkultur in Frankreich, Frankfurt am Main 1982, S. 14. 8 Oliver Gliech, Saint-Domingue und die Französische Revolution. Das Ende der weißen Herrschaft in einer karibischen Plantagenwirtschaft, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 288. Mittelweg 36 2/2021 3
ter der Versklavten in den französischen Kolonien gesetzesförmig machte, Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken weiterhin gültig.9 Als sich die Unruhen auf Saint-Domingue ausweiteten und schließlich im August 1791 in der Haitianischen Revolution gipfelten, setzten »die Abgeordneten« der Nationalversammlung die »Erklärung der Menschenrechte für die Kolonien außer Kraft« und sprachen »den Kolo- nialversammlungen das Recht zu […], für die gens de couleur eigene Rasse- gesetze zu erlassen«.10 Lange bevor die ›Stimme‹ ein politisches Gewicht erhalten und ein ein- getragenes Recht für männliche weiße Europäer werden sollte, waren exit und voice die wohl wichtigsten Widerstandspraktiken der Selbstbefreiung und der politischen Artikulation.11 Flucht ist eine politische Raumpraxis des Verschwindens und eine Zeitpraxis der Abwesenheit, die mit wachsen- der räumlicher Entfernung und zeitlicher Absenz den Gewaltraum selbst in die Flucht schlagen kann.12 Voice wiederum hat viele Stimmlagen, wenn es sich um das »Wahrsprechen«13 und eine widerständige Wortergreifung handelt. Exit und voice, fugitiver und performativer Widerstand, sind Künste des Neinsagens und des Neintuns. Widerstände ereignen sich nicht im luft- leeren Raum, sie reagieren vielmehr auf spezifische Gewaltverfahren, auf Gewalträume, Gewaltorganisationen und Gewalthaber. Aktiver wie passi- vierender Widerstand haben daher stets ein Wogegen. Widerstand beginnt nicht bei sich selbst, sondern erwächst aus der Unerträglichkeit gewaltsam erzeugten Leids. Er erweist sich nicht nur als eine responsive, sondern zugleich als eine genuin demokratische Praktik, die absolute Gewalt punk- tuell schwächen und teilen kann. Widerstand ist Gewaltenteilung in statu nascendi. 9 Louis Sala-Molins, Le code noir ou le calvaire de Canaan [1987], Paris 2007; Joan Dayan, »Codes of Law and Bodies of Color«, in: New Literary History. A Journal of Theory and Interpretation 26 (1995), 2, S. 283–308; Laurent Dubois, »Slavery in the French Caribbean, 1635–1804«, in: David Eltis / Stanley L. Engerman (Hg.), The Cambridge World History of Slavery, Bd. 3: AD 1420–AD 1804, Cambridge 2011, S. 431–449. 10 Gliech, Saint-Domingue, S. 310. 11 »Voice« bezeichnet in der Terminologie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaft- lers Albert O. Hirschman sprachliche Handlungsoptionen, mit denen Mitglieder von Organisationen, Firmen, Unternehmen, Parteien oder Gewerkschaften, aber auch Staatsbürgerinnen und -bürger Unzufriedenheit, Beschwerde, Protest oder Widerspruch aktiv zum Ausdruck bringen können, um organisationale Verände- rungen zu erwirken. Demgegenüber beschreibt der Begriff »exit« widerständige Praktiken wie Abbruch, Nichterscheinen, Abwanderung, Emigration oder Flucht. Siehe ders., Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, übers. von Leonhard Walentik, Tübingen 1974, S. 25, 28, 29 ff. 12 Zu den zeitlichen und räumlichen Implikationen der episodischen und permanenten Flucht als politische Praxis der Selbstbefreiung siehe Neil Roberts, Freedom as Marronage, Chicago, IL / London 2015, S. 98–103. 13 Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, übers. von Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2009, S. 259, 436. 4 Mittelweg 36 2/2021
Unter Bedingungen von Todesangst, physischer Auszehrung und sexu- Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken eller Erniedrigung, von Folter, Hunger, Durst, Erschöpfung und Entrech- tung nehmen exit und voice polyphone, verstreute, flache, niedrigschwellige, aisthetische, verzweifelte und selbstzerstörerische Formen an. Die Gewalt ist in den menschlichen Körper eingedrungen, sie wird von diesem Kör- per selbst abgewehrt14 und mithilfe dieses Körpers, das heißt kraft body politics des Nichtessens und des Hungerstreiks, der Schlaf losigkeit und des Traums, durch Suizid und Überleben, Bezeugen und Zeigen, exit und voice, bekämpft. Diese schwachen und selbstschwächenden Widerstandsprakti- ken15 der voices of the voiceless gegen bestrafende, sexualisierte, rassistische, vernichtende Gewalt sind nicht nichts, zumal wenn sie eine Spur hinter- lassen haben.16 Man kann sie im Gegenteil als mikrorevolutionäre Ereig- nisse im emphatischen Sinne bezeichnen, da sie den Instanzen des sozialen, des physisch und psychisch leidenden Körpers eine politisch-performative Stimme verleihen und der organisierten Gewalt so etwas entgegensetzen, das diese in ihrem ungehemmten Lauf auf hält, unterbricht oder zumindest irritiert.17 Praktiken der Flucht haben in unseren Breitengraden keinen guten Ruf. Wer flieht, der tritt, so scheint es, den Rückzug an und will sich nicht mit offenem Visier den bestehenden Herausforderungen stellen. Die histori- schen Wurzeln dieser Diskreditierung reichen weit zurück bis in die Frühe Neuzeit. Seit der Einführung stehender Heere wird Deserteuren Feigheit und Pflichtvergessenheit nachgesagt, Desertion mit harten Körperstrafen ge- ahndet18 und der militärische Dienst zwecks Erschwerung der Fahnenflucht 14 Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, übers. von Walter Seitter, Berlin 1976, S. 106. 15 Widerstandsforschung kann sich nicht allein auf die weapons of the weak im Sinne James Scotts richten, sondern muss auch die schwachen Waffen und selbstschwächenden Prak- tiken in den Blick nehmen. Vgl. ders., Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven, CT / London 1985. 16 Die indische Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak hat in ihrem gleichnamigen Essay die Frage aufgeworfen: Can the Subaltern Speak? Sofern sie sich kein Gehör verschaffen und kein Gehör finden könnten, müsse diese Frage verneint werden, so Spivak, die damit die politische Artikulationsfähigkeit der Subalternen auf problematische Weise vom Erfolg ihrer entsprechenden Bemühungen abhängig macht. Siehe dies., Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, mit einer Einl. von Hito Steyerl, Wien/Berlin 2008, S. 119, 122. 17 Zum Begriff der »Mikrorevolution« im Hinblick auf die »befreite Rede« in der psycho- analytischen Praxis, in der der Widerstandsbegriff seit der Preisgabe der Hypnose und der Einführung der talking cure eine wichtige Rolle spielt, siehe Jacques Derrida, Seelen- stände der Psychoanalyse. Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit, Vortrag vor den États Généraux de la Psychanalyse am 10. Juli 2000 im Grand Amphithéâtre der Sorbonne in Paris, übers. von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt am Main 2002, S. 39. 18 Um die Grauzone zwischen unerlaubter Abwesenheit (mit Rückkehrabsicht) und Deser- tion zu vereindeutigen, ordneten die preußischen Kriegsartikel von 1713 an, dass ein jeder, der, »eine Viertelstunde ab- oder seitwerts, absonderlich auf Marche, dergestalt betroffen würde, daß er mit dem Gesichte sich zurück kehrete, und darzu keinen Urlaub hat, noch Mittelweg 36 2/2021 5
insgesamt verdichtet.19 Die »Mikromacht der Disziplinen«20 setzte auf Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken die Habitualisierung und Internalisierung effektiver Körpertechniken. Die Räume der Disziplin waren mit einer Individualitätsform verschränkt, die sich durch Parzellierung, Codierung der Tätigkeit, chronologische Seriali- tät und Synchronizität sowie durch eine Kombinatorik der Kräfte auszeich- nete. Physische Gewalt sollte so in »sanfte Gewalt«21 transformiert wer- den. Die Raumcodes der Disziplinaranstalten – Kaserne, Schule, Gefäng- nis, Fabrik, Hospital – wiesen jedem Körper seinen Platz, sein Pult, seine Zelle oder sein Bett zu. Diese übersichtlichen und gut zu kontrollierenden Einrichtungen sollten Flucht und Herumschweifen ebenso verhindern wie Zusammenballungen. Michel Foucault rückt die räumlich konfigurierten »Antidesertions-, Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktiken«22 der Disziplinen ausdrücklich von den Gewalträumen der Versklavung ab, »da sie nicht auf dem Besitz des Körpers beruhen«. Für Foucault besteht »die Eleganz der Disziplin« gerade darin, »daß sie auf ein so kostspieliges und gewaltsames Verhältnis verzichtet und dabei mindestens ebenso beacht- liche Nützlichkeitseffekte erzielt«,23 indem sie die Fähigkeiten und Taug- lichkeiten, die Schnelligkeit und Wirksamkeit des arbeitenden und sich ver- haltenden Körpers, mithin die Herrschaft jedes einzelnen Körpers über sich selbst zu steigern suchte. Die Sklavenhalter beuteten die Körper der versklavten Menschen dagegen mit schierer Gewalt aus und zwangen sie zu produktiven, reproduktiven und sexuellen Leistungen, die sie in Freiheit und freiwillig unter keinen Umständen erbracht hätten. Flucht war (und ist) unter solchen Bedingungen eine politische Handlungsform der Selbstbe- freiung. Von britischen Sklavenschiffen wird berichtet, dass die Versklavten, unter Trommel- und Peitschenschlag, täglich zum dancing and singing, zum Auf- und Niederspringen in Eisenketten gezwungen wurden, um sie in Form zu halten.24 An diesen ›Sklavenübungen‹ ergötzte sich die Besatzung. Die Ver- andere redliche Ursachen anzeigen und erweisen kann, […] als ein Deserteure an Leib und Leben gestraffet werde«. Artikelbrief von 1713, CCM III /1: Von Kriegs-Sachen (1737), Sp. 339; zit. nach Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 64. 19 Zur Verdichtung der Disziplin im 18. Jahrhundert siehe Harald Kleinschmidt, Tyrocinium militare. Militärische Körperhaltungen und -bewegungen im Wandel zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 201. 20 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1977, S. 285. 21 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übers. von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 1979, S. 379. 22 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 183. 23 Ebd., S. 176. 24 William O. Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, Ancient and Modern. The Forms of Slavery that Prevailed in Ancient Nations, particularly in Greece and Rome. The African Slave Trade and the Political History of Slavery in the United States, 6 Mittelweg 36 2/2021
sklavten, die unterschiedliche Sprachen und Dialekte sprachen, kaperten Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken den slave ship dance, wie Geneviève Fabre in ihrer eindrucksvollen Studie gezeigt hat: Verdrehungen des Körpers und Verrenkungen der Gliedmaßen stellten Angst und Schmerz dar; Codes des Schweigens, der versiegelten Lippen und der stummen Trommeln alternierten mit Kreischlauten der Trauer. Plötzliches In-die-Hände-Klatschen, Stampfen mit den Füßen sowie Auf- und Niederspringen evozierten im Kontrast mit dem langsamen Schwanken und Schlurfen der Füße Fluchtmöglichkeiten. Die Sklavenschiff- tänze variierten Erfahrungen von Leid und Kapitulation, sie erweckten aber auch Energien und riefen zu widerständigen Handlungen auf: Der Tanz war, so Fabre, »eine Erprobung von allen möglichen Formen der Flucht«.25 Er war selbst eine episodische Fluchtpraxis und zugleich eine performative Auf- forderung, sich der Gefangenschaft und der Gewalt durch Überbordsprin- gen, Sich-zu-Tode-Hungern oder Hungerstreiks zu entziehen. Aus der Perspektive der Versklavten bedeutete der Tod nicht das Ende, sondern verhieß eine spirituelle Rückkehr nach Afrika: flying back to Africa. Die Kraft des Fliegens wurde allerdings nur den in Afrika Geborenen zu- gesprochen,26 wie die Flying Songs und Flying Tales to Africa27 unterstrei- chen, jene radical narratives of the black Atlantic, die bezeugen, dass die Ver- schränkung spiritueller, kultureller und (körper-)politischer Elemente die Geschichte des Widerstands bestimmten, gerade auch in den beiden kolo- nisierten Amerikas.28 »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand«,29 betont Michel Foucault un- ter dem Eindruck von Nietzsches Hypothese vom Willen zur Macht, der stets mit differenziellen Machtverhältnissen rechnet.30 Wo es Gewalt gibt, die »zwingt, beugt, bricht, zerstört«,31 da gibt es Gegengewalt. Die Mikro- Columbus, OH 1861, S. 127 f.; Alexander Falconbridge, An Account of the Slave Trade on the Coast of Africa, London 1788, S. 23. 25 Geneviève Fabre, »The Slave Ship Dance«, in: Maria Diedrich / Henry Louis Gates, Jr. / Carl Pedersen (Hg.), Black Imagination and the Middle Passage, Oxford / New York 1999, S. 33–46, hier S. 39 (unsere Übersetzung, I.D./M.W. ). 26 Michael A. Gomez, Exchanging Our Country Marks. The Transformations of African Identities in the Colonial and Antebellum South, Chapel Hill, NC 1998, S. 118. 27 Vgl. Timothy B. Powell, »Summoning the Ancestors. The Flying Africans’ Story and Its Enduring Legacy«, in: Philip Morgan (Hg.), African American Life in the Georgia Lowcountry. The Atlantic World and the Gullah Geechee, Athens, GA 2010, S. 253–280. 28 Alan Rice, Radical Narratives of the Black Atlantic, London / New York 2003, S. 84. 29 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1983, S. 116. 30 Friedrich Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift«, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Berlin / New York / München 1999, S. 245–412, hier S. 313–316. Vgl. dazu auch Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, übers. von Bernd Schwibs, Hamburg 2002, S. 69 ff. 31 Michel Foucault, »Subjekt und Macht«, in: ders., Analytik der Macht, übers. von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, hrsg. von Daniel Defert / François Ewald, mit einem Nachw. von Thomas Lemke, Frank- furt am Main 2005, S. 240–263, hier S. 245. Mittelweg 36 2/2021 7
politiken der Flucht waren eng verknüpft mit den Makropolitiken revolu- Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken tionärer Selbstbefreiung. In beiden Amerikas, vor allem aber in den südame- rikanischen Festlandkolonien und auf den Karibikinseln, gründeten entflo- hene Sklaven maroon societies, die von Sklavenbesitzern und Kolonialheeren, teils jahrzehntelang, als chronische ›Plage‹ erbittert bekämpft wurden. Fluchtsiedlungen existierten an den kolonialen Peripherien, im unwegsa- men Landesinneren oder in den unerschlossenen Urwäldern im Hinterland. Maroonage, zeitweilige oder dauerhafte Flucht mit ungewissem Ausgang, gründete sich auf die Hoffnung der Flüchtenden, »niemals mehr ihre Her- ren zu Gesicht zu bekommen«. Aus Verhörprotokollen, in denen wieder eingefangene Sklaven zwischen den Zeilen ihre wahren Fluchtmotive zu er- kennen gaben, geht hervor, dass der Weg in den Urwald für viele von ihnen auch eine Rückkehr nach Afrika, zu den Vorfahren, bedeutete.32 Immer wie- der kam es vor, dass organisierte maroon bands Plantagen überfielen und in Brand setzten, die Plantagenbesitzer töteten und weitere Menschen aus der Sklaverei befreiten. Erfolgreiche Überfälle zogen mitunter weitere Angriffe nach sich und mündeten so in »mobile Sklavenrevolten«.33 Nicht zufällig hatten einige der haitianischen Revolutionäre zuvor erfolgreich bands of maroons kommandiert.34 Die maroon societies stellten die Gewalträume der Sklaverei ganz konkret infrage und forderten die koloniale Ordnung heraus. Sie »verstärkten die Rebellionsneigung« der Versklavten in der Aussicht auf ein »selbstbestimmtes Leben« und waren ein Zufluchtsort, zumal im Falle gescheiterter Aufstände.35 In Gewalträumen, die darauf gerichtet sind, menschliches Leben – das heißt zugleich soziale und verwandtschaftliche Gemeinschaften, sprach- liche, kulturelle und religiöse Gefüge – zu vernichten, kommt den Praktiken der heimlichen Bewahrung kulturellen Lebens sowie den menschlichen Selbst- und Fremdberührungen,36 die sich in der Verborgenheit ereignen, eine besondere Bedeutung zu. Wo alle affektiven Bindungen zerstört und 32 In diesem Sinne äußerte sich der Zeuge und Sklave Francisco Angola 1634 in einem kolumbianischen Gerichtsverfahren. Vgl. Adrian Kindlimann, Fluchtgemeinschaften schwarzer Sklaven in Cartagena de Indias (1540–1714), unveröffentl. Dissertation, Zürich 1994, S. 43; zit. nach Martin Lienhard, »Der Diskurs aufständischer Sklaven in Brasilien 1798–1838. Versuch einer archäologischen Annäherung«, in: Comparativ 13 (2003), 2, S. 44–67, hier S. 65. 33 Peter Linebaugh / Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, übers. von Sabine Bartel, Berlin/Hamburg 2008, S. 259. 34 Leslie F. Manigat, »The Relationship between Marronage and Slave Revolts and Revolution in St. Domingue-Haiti«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 292 (1977), 1, S. 420–438. 35 Albert Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, Frankfurt am Main 1984, S. 175; David Patrick Geggus, Haitian Revolutionary Studies, Bloomington, IN 2002, S. 74. 36 Zu den sozialpolitischen Dimensionen des Berührens und der körperlichen Auflehnung siehe Jean-Luc Nancy, »Rühren, Berühren, Aufruhr«, in: ders. / Adèle Van Reeth, Lust. Mit zwei zusätzlichen Essays von Jean-Luc Nancy, übers. von Isolde Schmitt, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 2016, S. 109–123, hier S. 122. 8 Mittelweg 36 2/2021
alle Spuren beseitigt werden sollen, erweisen sie sich als kulturelle Akte und Iris Därmann / Michael Wildt – Widerständige Praktiken aisthetische Gesten der Resistenz. Sie sind nicht per se politisch, aber sie können eine politische Dimension annehmen, sofern sie sich in Räumen uneingeschränkter Gewalt ereignen, die den Blicken und der Kontrolle der Öffentlichkeit mehr oder minder entzogen sind. In erster Linie ist dafür das politische Selbstverständnis derer in Betracht zu ziehen, die Widerstände in Extremsituationen der Gewalt praktizieren. Wer Widerstände nur an ihrer Wirksamkeit und an ihrem sichtbaren Erfolg misst, bringt deren verstreute Handlungs- und desperate Passivierungsformen zum Verschwinden. Aus der Perspektive der Gewaltforschung betrachtet heißt das: Wer nur auf die Ge- walt schaut und sie vor allem unter Gesichtspunkten ihrer Effizienz und Un- eingeschränktheit untersucht, dem entgeht, was sich ihr entzieht und was ihr widersteht. Wo immer sich Widerstand ereignet, wie geringfügig er auch sei, gibt es keine absolute und restlos erfolgreiche Gewalt. Seite 1 bis 9 von 17 Seiten. Den kompletten Text finden Sie im Mittelweg 36, Heft 2 | April / Mai 2021 Iris Därmann ist Professorin für Kulturtheorie und Kulturwissenschaftliche Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. daermann@culture.hu-berlin.de Michael Wildt ist Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. michael.wildt@geschichte.hu-berlin.de Mittelweg 36 2/2021 9
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