Wie kommen wir vom Symptom zur Diagnose? - W. H. Reinhart Kantonsspital Graubünden, Chur 4. Wiler Symposium der SRFT 12.12.2013

 
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Wie kommen wir vom Symptom zur Diagnose? - W. H. Reinhart Kantonsspital Graubünden, Chur 4. Wiler Symposium der SRFT 12.12.2013
Wie kommen wir
vom Symptom zur Diagnose?

            W. H. Reinhart
    Kantonsspital Graubünden, Chur

     4. Wiler Symposium der SRFT
               12.12.2013
Klinische Entscheidungsfindung -
            (Clinical Reasoning)

Symptome

    Anamnese, Klinik

                 Hypothese

                        Untersuchungen

                             Diagnose

                                    Behandlung
Klinische Entscheidungsfindung -
            (Clinical Reasoning)

Symptome

    Anamnese, Klinik

                 Hypothese

                        Untersuchungen

                             Diagnose

                                    Behandlung
Diagnose und Prognose
Symptome

    Anamnese, Klinik

                 Hypothese

                        Untersuchungen

                             Diagnose    Prognose

                                    Behandlung
Diagnose und Prognose; Beispiel
Dyspnoe, atemabhängige Thoraxschmerzen

    Metastasierendes Leiden, therapieresistent

                  V. a. LE

                                             Prognose
                             Thorax-CT       schlecht

                                    LE

                                         Antikoagulation?
Clinical Reasoning unter DRG
  Symptome

        Anamnese, Klinik

                       Hypothese

                              Untersuchungen

                                   Diagnose

Erlös            DRG                      Behandlung
Vom Symptom zur Diagnose

  Ein                     Viele Diagnosen
  Symptom                 (Differentialdiagnose)

Viele Symptome            Eine Diagnose
Clinical reasoning
     Ist der entscheidende Faktor bei der
              ärztlichen Tätigkeit

Beeinflussende Faktoren:
• Erfahrung (Unterschied zwischen Student und Facharzt),
  z.B. Blickdiagnosen
• Spezialist oder Generalist (if you have a hammer….)
• Einfluss von Opinion-Leaders
• Aggressives versus defensives Verhalten
• Suche nach grösstmöglicher Sicherheit (Gurt und Hosenträger)
• Eigene Überzeugung betreffend des Vorgehens
• Angst vor Fehlern
Hypothesen

• Der entscheidende (unbewusste) Schritt zwischen Symptom
  und Diagnose
• Hypothesenbildung beginnt bei der Begrüssung des Patienten
• Anamnesenerhebung und klinische Untersuchung sind
  Hypothesen-getrieben (man sieht nur was man weiss)
• Erlaubt dem Erfahrenen, die Komplexität eines Falles auf
  ein lösbares Mass zu reduzieren
• Zur Hypothese gelangt man mit Heuristik
  (griechisch “ich finde”): Die Kunst, mit begrenztem Wissen
  und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen
Repräsentativitäts-Heuristik

• Vergleich mit einem aus dem Gedächtnis abgerufenen
  typischen Beispiel führt zur Diagnose (Der letzte oder
  eindrücklichste Fall, das „Netter-Bild“)
• Gefahren:
  - Das gespeicherte Beispiel ist verzerrt
    „Management by last catastrophy“
  - Falsche Prävalenzvorstellungen:
    Hufgetrampel: Pferde oder Zebras?
  - Freude am Ausgefallenen
Verfügbarkeits-Heuristik

Die subjektive Wahrscheinlichkeit des Arztes für das
Vorliegen einer Krankheit hängt ab von:
• der Leichtigkeit, mit der aus dem Gedächtnis
  abgerufen werden kann (Erfahrung)
• der Rezentheit des Gespeicherten
• der persönlichen Bedeutung einer früheren Erfahrung
• der Fähigkeit, eine Brücke zwischen Fall und
  Wissen zu schlagen (Examenswissen)
Anker Heuristik

Beurteilung von einem bekannten und sicher geglaubten Punkt
(Anker) aus
Cave:
   - Wenn es nicht der richtige Anker ist, führt das
      zu einer falschen Hypothese
   - Kann dazu führen, dass „Evidenz dafür“ überbewertet
      und „Evidenz dagegen“ ignoriert wird
   - Fehlleitend, wenn die Vortestwahrscheinlichkeit tief ist
Einzelne Diagnose oder
           Polymorbidität?
• Bei jüngeren Individuen soll eine einzige Diagnose
  gesucht werden (Gesetz der Parsimonie; alles unter
  einen Hut bringen)

• Bei älteren Patienten besteht sehr häufig eine
  Polymorbidität
  " andere Form des Clincial Reasonings: Nämlich
     mehrere Erkrankungen gleichzeitig behandeln
     und Prioritäten setzen
Clinical Reasoning beim polymorbiden Patienten:

                Assessment (Einschätzung)

 Hypothese      Hypothese      Hypothese

 Untersuchung   Untersuchung   Untersuchung   Untersuchung

 Diagnose       Diagnose                      Diagnose       Diagnose

 Therapie                                     Therapie       Therapie
Untersuchungen

• Sollen zur Diagnose (evtl. auch Prognose) führen
• Sollen diagnostische Unsicherheiten vermindern
• Untersuchungstypen:
      - Bildgebung: (Untersucher-abhängig)
      - Kontinuierliche Daten (Labor, z.B. Natrium)
      - Dichotome Daten (positiv oder negativ)
Abfolge von Untersuchungen
     (Mischung von Klinik, Labor, Bildgebung,
           invasiven Untersuchungen)
1

2                    3

    Klinische Bewertung der Untersuchungs-Befunde
Reihenfolge-Wirkung (Order-Effekt)

  • Sequentiell eintreffende Informationen
    werden nicht gleichwertig gewichtet
  • Neuere Informationen werden wichtiger
    genommen als vorangehende
  • Beispiele:
        - Labordaten
        - CT-Befund
Labor-Untersuchungen
• Eine saubere Trennung zwischen Gesund und Krank gibt
  es nicht, es gibt Überschneidungen
• Das Setzen der Normalwerte (cut-off point) hat grosse
  Folgen für daraus folgende Untersuchungen
  (z.B. okkultes Blut im Stuhl, hs-Troponin) und die
  Häufigkeit von Diagnosen (z.B. Ferritin und Eisenmangel)
• Ein Laborwert kann nicht isoliert betrachtet werden
• Entscheidend sind:
             - Sensitivität
             - Spezifität
             - Vortest-Wahrscheinlichkeit
Ein sensitiver Test (z.B. D-Dimer):
  Ist bei Patienten mit der Erkrankung (praktisch
  immer) positiv
  " Wenn er negativ ist, schliesst er die Erkrankung
     praktisch aus (hoher negativ-prädiktiver Wert)

Ein spezifischer Test (z.B. Troponin):
  Ist bei Patienten ohne Erkrankung negativ
  " Wenn er positiv ist, hat der Patient praktisch sicher
     die Erkrankung (hoher positiv-prädiktiver Wert)
Bestimmung der
          Vortest-Wahrscheinlichkeit

• Hängt von der Prävalenz der Erkrankung in ihrer
  Patientenpopulation ab, z.B.
    - Borreliose und FSME im Thurgau
    - Asthma in Davos
    - Drogenmilieu
• Basiert meistens auf der klinischen Erfahrung
• Für einige Erkrankungen gibt es "Scores"
  (siehe auch Therapeutische Umschau November 2013)

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Wie schätzt man die Vortest-
                Wahrscheinlichkeit?
Beispiel: revised Geneva Score für LE (Ann Intern Med, 2006)
• Alter ≥ 65 Jahre                                             1 Punkt
• Vorgängige TVT oder LE                                       3 Punkte
• Chirurgie oder Fraktur innerhalb eines Monats                2 Punkte
• Aktiver maligner Prozess                                     2 Punkte
• Einseitige Unterschenkelschmerzen                            3 Punkte
• Hämoptyse                                                    2 Punkte
• Schmerzhafte Palpation der Wade und unilaterales Ödem        4 Punkte
• Puls 75-94/min                                               3 Punkte
          > 94/min                                             5 Punkte
   0-3 Punkte:      Geringe Wahrscheinlichkeit für LE          ( 8%)
   4-10 Punkte:     Intermediäre Wahrscheinlichkeit            (28%)
   > 10 Punkte:     Hohe Wahrscheinlichkeit                    (74%)
Die Vortest-Wahrscheinlichkeit ist wichtig
 Beispiel: D-Dimere bei Lungenembolie
 •   Wenn die Wahrscheinlichkeit tief ist (z.B. bei gesundem Kind)
     - ist ein allfällig positiver Test mit grösster Wahrscheinlichkeit
       falsch positiv
      " Die Untersuchung sollte nicht durchgeführt werden
 •   Wenn die Wahrscheinlichkeit mittelmässig ist
     (30-70%, z.B. 60-jährige Frau nach einem 12 Std.-Flug)
      " D-Dimer ist ein guter Test
 •   Wenn die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist
     (über 90%, z.B. dyspnoischer, tachykarder Patient mit
     geschwollenem Bein 10 Tage nach Operation)
     - erhöhte D-Dimere tragen wenig zur Diagnose bei
      " Der Test ist nicht nützlich
Wann ist ein Test nicht indiziert?
            Am Coll Physicans (Ann Intern Med 156:147,2012)

37 Situationen, in denen ein Test nicht indiziert ist, u.a.:
• D-Dimer bei hoher Wahrscheinlichkeit, Bildgebung bei tiefer
  Wahrscheinlichkeit für TVT oder LE
• EKG und Ergometrie als Screening bei tiefem KHK-Risiko
• BNP bei typischer Herzinsuffizienz
• Borrelienserologie bei unspezifischen Symptomen
• Schädel-CT oder MRI bei Migräne und normalem Neurostatus
• Routine-Echo bei Synkope
• ANA bei Müdigkeit (Fatigue), (Fibro)Myalgie
• …..
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Top 5-Liste der amerikanischen Hausärzte
  (Family Physicians)         (www.choosingwisely.org)

1. Keine Bildgebung bei Lumbago in den ersten 6 Wochen
   Ausnahme: Sog. "red flags": Neurologisches Defizit, V. a.
   Spondylodiszitis etc.
2. Keine Antibiotika bei Sinusitis in der ersten Woche
3. Keine Knochendichte-Messung (DEXA) als Osteoporose-
   Screening
Top 5-Liste der amerikanischen Internisten
 (Am Coll Physicians)         (www.choosingwisely.org)

1. Keine Ergometrie zum KHK-Screening bei
   asymptomatischem Menschen mit kleinem Risiko
2. Keine Bildgebung bei unspezifischer Lumbago
3. Kein CT/MRI bei Synkope und normalem Neurostatus
4. Keine initiale Bildgebung bei tiefer Vortestwahrscheinlichkeit
   für TVT/LE, sondern D-Dimer
5. Kein routinemässiges präoperatives Thoraxbild

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Wie sicher muss eine Diagnose sein?

Hängt von der geplanten Behandlung ab:
• Wenn wirksam, nebenwirkungsarm und billig:
  eine kleine diagnostische Sicherheit genügt
• Wenn fraglich wirksam, nebenwirkungsreich
  und teuer: eine grosse diagnostische
  Sicherheit ist nötig
"Medicine is a science of uncertainty
      and an art of probability"
                         Sir William Osler

 "Medizin ist eine Wissenschaft der
   Unsicherheit und eine Kunst der
         Wahrscheinlichkeit"

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