Wie viele Vitamine braucht der Mensch? - Fakten und Mythen Prof. Dr. Michael Keusgen Dekan Fachbereich Pharmazie, Philipps-Universität Marburg
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Wie viele Vitamine braucht der Mensch? Fakten und Mythen Prof. Dr. Michael Keusgen Dekan Fachbereich Pharmazie, Philipps-Universität Marburg
Dieses Manuskript dient ausschließlich Unterrichtszwecken. Ein unautorisierter Nachdruck, eine Veröffentlichung, insbesondere die unautorisierte Veröffentlichung im Internet, ist nicht gestattet. 2
Vitamine • Was sind Vitamine? • Wirkungen • Wie viele Vitamine brauchen wir wirklich? 3
Vitamine • Vitamine sind Mikronährstoffe, die vom menschlichen Körper nicht oder nur in unzureichender Menge gebildet werden. • Vitamine haben wichtige physiologische Funktionen; eine Unterversorgung führt zu Mangelerscheinungen. • Der Mensch hat im Zuge der Evolution die Bildung der Vitamine „verlernt“, da eine geregelte Zufuhr mehr oder weniger durch die Ernährung (Fisch, Fleisch, Obst, Gemüse) sicher gestellt war. • Durch ständige Migrationsbewegungen, insbesondere von Süd nach Nord, und sich ändernden Umweltbedingungen ist eine ausreichende Versorgung mit Vitaminen aber nicht immer gegeben. • Eine Ernährung über Fleischprodukte, die nicht übermäßig prozessiert sind, garantiert eine ausreichende Vitaminzufuhr. • Bis auf Vitamin B12 kann das aber auch durch gezielte vegetarische Kost erreicht werden. 4
Die Vitamin-Story: • Entdeckt wurden: Vit. A (Retinol) 1909, Vit. B1 (Thyamin) 1897, Vit. B2 (Riboflavin) 1920, Vit. B6 (Pyridoxin) 1934, Vit. B12 (Cobalamin) 1926, Vit. C (Ascorbinsäure) 1912, Vit. D (Calciferol) 1918, Vit. E (Tocopherol) 1922,Vit. H (Biotin) 1931, Vit. K (Phyllochinon) 1929, Pantothensäure 1931, Niacin (Nicotinsäure, Nicotinsäureamid) 1936, Folsäure 1941. • Ursprünglich konnte die Vitamine nur sehr aufwändig aus natürlichen Quellen gewonnen werden (A aus Leber, C aus Früchten, D aus Lebertran, E aus Weizenkeimöl, H aus Soja). Vitamine waren sehr teuer und wurden nur bei Mangelerkrankungen eingesetzt. • 1934 Synthese des Vitamin C, später biotechnologische Produktion. • Heute werden nahezu alle Vitamine synthetisch, partialsynthetisch oder biotechnologisch hergestellt (sonst viel höherer Preis!). • Vitamin werden nicht großtechnisch produziert, weil eine zwingende therapeutische Notwendigkeit besteht (von Mangelerkrankungen abgesehen) , sondern weil ein Bedarf vornehmlich durch Werbung erzeugt wurde. 5
Die Vitamin-C-Story: • 1933: Reichenstein biete der Firma Hoffmann-La Roche sein Patent zur Synthese von Ascorbinsäure an. Antwort vom Forschungschef M. Guggenheim: Erwachsenen dürfte in der Norm genügend Vitamin C mit frischem Gemüse, Obst und dergleichen zukommen. Es bestehe somit keinerlei medizinische Nachfrage nach Vitamin C, das höchstens zur Bekämpfung von Skorbut in Frage komme. • Hoffmann-La Roche übernahm das Patent für „interne Zwecke“. • Später dann biotechnologische Produktion und Werbung mit Gesundheitsrisiken, die neben Skorbut noch existieren könnten (z.B. Beeinträchtigung der allgemeinen Leistungsfähigkeit). • 1936 Einführung von „Nestrovit“ (gemeinsam mit der Firma Nestlé) als erstes „Nahrungsergänzungsmittel“ gegen die Frühjahrsmüdigkeit. Erhebliche Bedenken der Firma Hoffmann-La Roche , ob es sich dabei nicht doch um ein Arzneimittel handelt. 6
Vitamine heute: • Die weltweite Vitamin-C-Produktion liegt heute deutlich über 100.000 Tonnen/a • Vitamine im großtechnischen Maßstab werden heute nicht aus natürlichen Quellen isoliert, sondern hauptsächlich biotechnologisch aus Bakterienkulturen gewonnen bzw. partialsynthetisch hergestellt. • Der größte Produzent ist China; auch westliche Firmen haben die Produktion überwiegend nach China verlagert. • Als Alternative gibt es vitaminhaltige Pflanzen-, Algen- oder Hefeextrakte, jedoch keine reinen Vitamine aus der Natur. • Produkte, die als „natürliche“ Vitamine aus Keimlingen beworben werden, sind kritisch zu betrachten, denn die Keimlinge wurden entweder mit industriell hergestellten Vitaminen besprüht oder in Nährlösungen mit industriellen Vitaminen zur Keimung gebracht. • Vitamin B12 kommt in Pflanzen und Algen überhaupt nicht vor, sondern nur biologisch inaktives pseudo-B12. 7
Vitamine Vitamin Tagesdosis Grenzwert Funktion (fettlöslich) (19-65 J.) Bei Überdosierung A: Retinol 0,8-1 mg 3 mg Sehvermögen, Pro-Vitamin A: (6 mg) Zelldifferenzierung, Haut; β-Carotin Teratogenität D: Colecalciferol 20 µg 100 µg Eigentlich Hormon; (D3) Calciumstoffwechsel, Knochenaufbau; Risiko Herzinfarkt, Hypercalcämie E: Tocopherol 11-15 mg 300 mg Antioxidans, Zellmembranen; Blutgerinnung, Lungenkrebs K: Phyllochinon 65-70 µg 10 mg Blutgerinnung; Störung der Blutgerinnung DGE, ÖGE, SGE/SVE. Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Bonn, 2. Auflage, 1. Ausgabe (2015) 8
Vitamine Vitamin Tagesdosis Grenzwert Funktion (B-Komplex) (19-65 J.) Bei Überdosierung B1: Thiamin 1,0-1,3 mg nicht Aminosäure- und bekannt Kohlenhydratstoffwechsel, Nervensystem B2: Riboflavin 1,0-1,4 mg nicht Energiestoffwechsel bekannt B6: Pyridoxin 1,2-1,5 mg 25 mg Aminosäurestoffwechsel; Neurotransmitter; Neuropathie B12: Cobalamin 3 µg 1-5 mg Blutbildung; Hautreaktionen DGE, ÖGE, SGE/SVE. Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Bonn, 2. Auflage, 1. Ausgabe (2015) 9
Vitamine Vitamin Tagesdosis Grenzwert Funktion (wasserlöslich) (19-65 J.) Bei Überdosierung C: Ascorbinsäure 95-110 mg nicht Bindegewebe, Knochen und bekannt Zähne, Antioxidans; Nierensteine bei Prädisposition Folsäure 300 µg 1 mg Zell- und Blutbildung; Maskierung der hämatologischen Symptome eines Vitamin B12- Mangels Niacin 11-16 mg 30 mg Energiestoffwechsel, Zellteilung; Flush Pantothensäure 6 mg ca. 10 g Fettsäurestoffwechsel, Kohlenhydratabbau; Gefäßerweiterung, fehlerhafte Angiogenese, gastrointestinale Störungen H: Biotin 30-60 mg nicht Haut, Haare, Fett- und bekannt Aminosäurestoffwechsel 10 DGE, ÖGE, SGE/SVE. Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Bonn, 2. Auflage, 1. Ausgabe (2015)
Zu viel Vitamine? Verzehrsempfehlungen zur täglichen Aufnahme wurden entwickelt, um Mangel zu verhindern, aber: • Folsäure verhindert Neuralrohrdefekte bei Ungeborenen, wenn doppelt so viel verzehrt wird, wie empfohlen (400 μg statt 200-300 μg/d) • aber: unphysiologisch hohe Mengen an Folsäure begünstigen Karzinogenese-Prozesse. • Unphysiologisch hohe Dosen an Vitamin E und ß-Carotin begünstigen die Ausbildung von Lungenkrebs und erhöhen die Gesamtsterblichkeit. • Calcium (alleine oder in Kombination) mit Vitamin D (empfohlene Dosis und oberhalb) könnte die Knochengesundheit von Kindern und Jugendlichen verbessern und bei älteren Frauen das Osteoporose- Risiko mindern. • aber: Aufnahmen oberhalb 500 µg/d sind mit einem höheren Infarkt- Risiko verbunden; bei sehr hohen Dosen Calcium-Ablagerungen in den 11 Gefäßen.
Zusammenfassung • Vitamine erfüllen wichtige physiologische Funktionen in unserem Organismus. • In den westlichen Industrieländern kann die Vitaminzufuhr problemlos über eine ausgewogene Ernährung sicher gestellt werden. • Sonderfälle: Vitamin D bei Kindern (Rachitis-Prophylaxe) und Folsäure bei Schwangeren (Neuralrohrdefekt). • Strittige Punkte: Vitamin D (eigentlich Hormon); wie viel braucht der Mensch wirklich? Im Winter allgemeiner Mangel, was aber nicht mit Vitamin D-Mangelerscheinungen korreliert. • Zahlreiche Publikationen über das therapeutische Potential von Vitaminen; jedoch keine ausreichende Belege, was insbesondere für die Vitamine C, D und E gilt. • Vitaminzufuhr in den empfohlenen Tagesmengen kann als sicher betrachtet werden. • „Natürliche Vitamine“ sind praktisch nicht auf dem Markt. 12
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