"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen

 
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"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023
https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023
© Author(s) 2023. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

              „Wir sind hier, wir sind laut“ – Artikulationen von
              Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
                                                  Philip Boos1 and Gesa Jessen2
                                                      1 independent researcher
                            2 Freie   Universität Berlin, SFB Affective Societies, Berlin, Deutschland
                                  Correspondence: Gesa Jessen (gesa.jessen@fu-berlin.de)

         Received: 12 November 2021 – Revised: 12 September 2022 – Accepted: 5 October 2022 – Published: 5 January 2023

       Kurzfassung. The article examines how citizens’ initiatives use articulations of proximity in the context of
       emotionalized environment perceptions for demanding the integration of protective bicycle infrastructure in ur-
       ban design. In order to do so, we present a variety of material consisting of images and language that was created
       in 2020 as part of various bicycle demonstrations in Berlin-Neukölln. These flyer texts, posters, speeches and
       photos help to understand how concerns about safety and quality of life are articulated in a language of proxi-
       mity. What is perceived as closer spatially (urban spaces of everyday use such as streets in front of individuals’
       doors, regularly frequented cycling routes) becomes intertwined with what is perceived as closer in time, i.e.
       imminent and already occurring “great phenomena” (Everts, 2016) such as climate change and scarcity of re-
       sources. In our study, we assume that bicycle demonstrations function as transformation experiences. Bicycle
       demonstrations are motivated by emotions such as fear or anger, but can also generate different emotions such as
       joy and sense of community in the course of protest. For the duration of the demonstrations, streets become lived
       spaces suitable for bicycles, while the power relations that otherwise determine urban road traffic are challenged
       for a short amount of time. The experience of closeness becomes one of belonging and self-determination. It is
       these appropriations of space that mark bicycle demonstrations as a form of protest worth investigating, since
       they contribute to transforming emotions and intensifying perceptions of one’s own environment.

1   Einleitung                                                           Der Begriff Pop-Up-Radweg verweist auf die besonderen
                                                                      Umstände, unter denen sich der Fahrrad-Aktivismus entlang
Am 6. Dezember 2020 senkt sich die Abenddämmerung be-                 der Hermannstraße im Jahr 2020 formierte: Die massiven
reits um 15 Uhr über eine von Neuköllns Magistralen, die              Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens während der
viel befahrene Hermannstraße, die den Süd- und den Nordteil           Covid-19-Pandemie führten auch zu neuen Formen der in-
des Berliner Bezirks miteinander verbindet. Am Eingang des            nerstädtischen Verkehrsplanung. So richtete der Berliner Be-
Anita-Berber-Parks versammelt sich eine Gruppe von etwa               zirk Friedrichshain-Kreuzberg im März 2020 innerhalb kür-
einhundert Radfahrer:innen, um in der einsetzenden Dunkel-            zester Zeit Deutschlands erste Pop-Up-Radwege, also tem-
heit mit einem Fahrradkorso gegen die fehlende Fahrradin-             poräre, vom fließenden motorisierten Verkehr durch Bau-
frastruktur auf der Hermannstraße zu demonstrieren. Auf ei-           stellenbaken getrennte Fahrradwege ein. Damit wurde auf
nem Plakat, das an einem Lastenfahrrad angebracht wur-                das Bedürfnis von Berliner:innen reagiert, sich während der
de, steht „Pop-Up-Radweg auf der Hermannstraße jetzt!“ –              Pandemie aus Infektionsschutzgründen statt mit öffentlichen
die zentrale Forderung der Initiative Hermannstraße für Al-           Verkehrsmitteln vermehrt mit dem Fahrrad durch die Stadt
le. Diese ist seit Mai desselben Jahres in den Nordneuköll-           zu bewegen und dabei den empfohlenen Mindestabstand von
ner Nachbarschaften rund um die Hermannstraße aktiv und               1.50 m zueinander einhalten zu können. Die Einrichtung ei-
hat nun am Nikolaustag die neunte Fahrraddemonstration des            nes solchen Pop-Up-Radwegs wurde dann im Mai 2020 von
Jahres organisiert.                                                   Hermannstraße für Alle als Forderung aufgegriffen, nach-

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"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
2                                                                         G. Jessen and P. Boos: Wir sind hier, wir sind laut

dem die im Jahr zuvor entstandene Gruppe mit Anwoh-                  Anhand eines sehr konkret im städtischen Verkehrsraum
ner:innen und Bezirkspolitiker:innen eine Videokonferenz zu       verankerten Beispiels möchten wir einen Beitrag zum Ver-
Mobilitätsbedürfnissen auf der Hermannstraße veranstaltet         ständnis von dynamischen, vielschichtigen und relationalen
hatte. Seitdem hat die Initiative zum Entstehungszeitpunkt        Affektbeziehungen leisten, welche Umwelt zu einem sozia-
dieses Artikels elf Fahrraddemonstrationen organisiert, Ein-      len Phänomen machen. Als Teilnehmer:innen an den hier be-
wohneranfragen gestellt sowie einen Einwohnerantrag in die        schriebenen Fahrraddemonstrationen waren wir sowohl teil-
Bezirksverordnetenversammlung eingebracht, der von dieser         nehmende Beobachter:innen als auch, wie Peter Ullrich dies
positiv beschlossen wurde (Haarbach, 2021). Im Anschluss          in seinem Aufsatz zur Protestforschung erläutert, längerfris-
an den Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung ent-           tig und „häufig im engen Kontakt mit den ,Objekten‘ des In-
wickelte Hermannstraße für Alle zudem eine Entwurfspla-           teresses“ (Ullrich, 2019:29). Wir waren sogar selbst immer
nung für den nördlichen der zwei Planungsabschnitte auf der       wieder jene Objekte des Interesses und damit auch emotio-
Hermannstraße (Raudszus, 2021).                                   nal tangiert. Als Mitwirkende in der Initiative Hermannstra-
   Die Initiative ist nicht die einzige Gruppe, die sich in den   ße für Alle waren wir an der Planung, Organisation, Bewer-
letzten Jahren im Neuköllner Norden für alternative Mobili-       bung und Durchführung von Fahrraddemonstrationen sowie
tätskonzepte und eine Neugestaltung des Stadtraums einge-         an der medialen Bearbeitung auf unterschiedlichen Online-
setzt hat. Allerdings zeichnet den Aktivismus von Hermann-        Plattformen (Twitter, Facebook, Instagram) beteiligt. Das hat
straße für Alle ein besonders expliziter Lokalbezug zur Her-      uns detaillierte Einblicke in die Prozesse der Initiative sowie
mannstraße aus, der für die folgenden Überlegungen eine           die Atmosphäre auf den Fahrraddemonstrationen ermöglicht.
wichtige Rolle spielen wird. Wir werden in den Blick neh-         Zugleich vertrauen wir als forschende und politische Men-
men, inwiefern sich im Umfeld der Initiative während, vor         schen (vgl. Ullrich, 2019:37) darauf, dass die theoretischen
und nach den regelmäßig stattfindenden Fahrraddemonstra-          und methodischen Zugriffe sowie die Analysen unserer Kol-
tionen eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Hermann-           leg:innen ein belastbares Korrektiv gegenüber unserer eige-
straße als Teil der eigenen emotional besetzten Stadtumwelt       nen emotionalen Involvierung bilden. Wir gehen davon aus,
entwickelte. Wir möchten besonders die Artikulation von           dass dieses Korrektiv es uns erlaubt, in unserer Forschungs-
Nähe und damit einhergehende Gefühle von Betroffenheit,           arbeit ein differenziertes Bild des emotionalen Gefüges der
Verbundenheit und Dringlichkeit beleuchten. Dafür schauen         Fahrraddemonstrationen und der implizierten Machtstruktu-
wir darauf, wie direkte Bezüge auf die Hermannstraße im           ren im Stadtraum zu zeichnen. Darauf aufbauend hoffen wir
Rahmen von Demonstrationen (bei der Mobilisierung, wäh-           Überlegungen anzustoßen, die auch über den unmittelbaren
rend den Kundgebungen oder in der Nachbereitung) verbali-         Kontext, an dem wir beteiligt gewesen sind und der uns in
siert oder auch durch Praktiken der Raumaneignung bekräf-         dieser Arbeit beschäftigt hat, hinaus interessante und trag-
tigt wurden.                                                      fähige Erkenntnisse liefern können. Als Untersuchungsma-
   Hierfür greifen wir in einem ersten Schritt (Kapitel 2) so-    terial werden im Folgenden Flyer, digitale Aufrufe zur De-
wohl auf das von Jan Slaby et al. entwickelte Konzept des         monstrationsteilnahme über die Plattformen Twitter und Ins-
affective arrangement (Slaby et al., 2019) als eine Beschrei-     tagram, Meinungsäußerungen auf den Plattformen Twitter,
bungskategorie für affektintensive Schauplätze sozialen Le-       Instagram und auf Plakaten, die während den Demonstra-
bens als auch auf die Überlegungen von William Reddy zur          tionen zu sehen waren, aber auch unsere eigenen Beobach-
emotiven Reziprozität von Sprache (Reddy, 1997) zurück.           tungen und Einschätzungen als empirische Betrachtungen
Mit diesen Zugängen wollen wir versuchen nachzuvollzie-           dienen. In Anlehnung an einen autoethnographischen For-
hen, wie Stadtraum in einem komplexen sozialen Geflecht           schungsansatz möchten wir das vorhandene empirische Ma-
relational erfahren wird, das heißt als etwas, das zeitlich und   terial mit unseren eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen
räumlich in Bezug zu einem erlebenden Ich und einem kol-          der Demonstrationen, an denen wir teilgenommen haben, er-
lektiven Wir gesetzt wird.                                        gänzen, um eine möglichst plastische Rekonstruktion der Er-
   In einem zweiten Schritt (Kapitel 3) werden wir dann un-       eignisse zu entwickeln.
sere Beobachtungen mit den Gedanken von Everts (2016)
zur Verschränkung von spezifischen Stätten (Sites) und der
Wahrnehmbarkeit sogenannter „großer Phänomene“ zusam-             2   Nähe fühlen: Affektive Relationalität und
menführen. In unserem Fall sind das die Verkehrswende, Fra-           Artikulationen von Nähe auf
gen nach individueller Sicherheit und Flächengerechtigkeit            Fahrraddemonstrationen
in der Stadt, aber auch, wie bei Everts, der Klimawandel. So
legen wir im zweiten Teil unserer Untersuchung ein besonde-       Unser Untersuchungsgegenstand, die von Hermannstraße
res Augenmerk auf die affektive Verschränkung von lokaler         für Alle organisierten Fahrraddemonstrationen, lassen sich
Ebene (eigenes Wohnumfeld, alltägliche Verkehrsstrecken)          einerseits als zeitlich und räumlich abgegrenzte Ereignisse
und globaler Ebene (sich intensivierende und näher rückende       beschreiben: Es handelte sich hierbei um angemeldete Kund-
Krisen wie Klimawandel, Ressourcenverknappung und Pan-            gebungen, die zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten
demie).                                                           Teil des Stadtraums stattfanden und dabei zwischen fünfzig

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"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
G. Jessen and P. Boos: Wir sind hier, wir sind laut                                                                            3

und dreihundert Teilnehmer:innen involvierten. Die konkrete      lebnis Fahrraddemonstration noch einmal neu kodiert wer-
Situiertheit auf der Hermannstraße spielt dabei eine maßgeb-     den kann.
liche Rolle für die spezielle Wahrnehmung von Stadtumwelt:
Hermannstraße für Alle, der Name unter dem die Demons-           2.1   Fahrraddemonstrationen als Affektives Arrangement
trationen organisiert wurden, stellt einen expliziten Lokalbe-
zug zu der Straße her. Auch Plakate und Sprechchöre ver-         In affective arrangements greifen die Handlungen unter-
wiesen, wie wir an Beispiel zeigen werden, immer wieder          schiedlichster menschlicher Akteur:innen wie auch nicht-
namentlich auf die Hermannstraße. Diese bestimmte Stra-          menschlicher Materialien in Form von „heterogeneous en-
ße wiederum konnte für die Dauer der Kundgebung und die          sembles of diverse materials forming a local layout that ope-
damit einhergehende Einschränkung des motorisierten Ver-         rates as a dynamic formation, comprising persons, things,
kehrs bereits in einem Zustand erfahren werden, der demje-       artifacts, spaces, discourses, behaviours, and expressions in
nigen nahekam, den die Demonstrierenden forderten.               a characteristic mode of composition and dynamic related-
   Darüber hinausgehend entfaltete sich die Wahrnehmung,         ness“ (Slaby et al., 2019:4) ineinander. Die Fahrraddemons-
Wirkung und Bedeutung der Fahrraddemonstrationen aber            trationen auf der Hermannstraße als Ensemble etwa invol-
gerade auch durch deren Einbettung in erweiterte Kommu-          vierter Menschen, die sich teilweise in Gruppen zusam-
nikationskontexte: Die sie umgebenden Interaktionen auf          menfanden (Demonstrant:innen, Polizeikräfte, Passant:innen
Social-Media-Plattformen, die Mobilisierung durch Flyer,         etc.), Gegenstände wie Fahrräder, Plakate, Autos sowie ma-
die in an die Hermannstraße angrenzenden Quartieren ver-         terieller Rahmenbedingungen wie die Straßengestaltung, die
teilt wurden, sowie Debatten zu den Themen Verkehrssicher-       wiederum das Resultat bestimmter planerischer Praktiken
heit und Nachhaltigkeit im Stadtraum prägten das Erleben         und Diskurse über Stadtraum, Sicherheit und Verkehr dar-
der Teilnehmenden. Die unterschiedlichen Ebenen der Wahr-        stellte, aber auch das Wetter. Obwohl sich affective arrange-
nehmung und Bewertung der Verkehrssituation auf der Her-         ments durch ihre ausfransenden Ränder und eine Durchläs-
mannstraße – sowohl in ihrem Alltagszustand, als auch in         sigkeit zu weiteren Kontexten, Umgebungen oder Diskursen
dem davon abgesetzten Ausnahmezustand während der Fahr-          auszeichnen (Slaby et al., 2019:7), so lässt sich doch eine
raddemonstrationen – griffen dabei auf eine sich gegenseitig     variierende affective intensity (Slaby et al., 2019:5) feststel-
bedingende Art und Weise ineinander, sodass situatives Erle-     len, die eine Art Innen und Außen markiert. Dieses Konzept
ben und im Vorfeld oder Nachhinein stattfindende Themati-        von Intensität, die durch bestimmte Positionierungen und In-
sierungen des Straßenraums Hermannstraße sich gegenseitig        volvierungen von Akteur:innen verändert werden kann, fußt
prägten.                                                         auf Randal Collins’ Überlegungen zum Transfer emotiona-
   Um ein solches reziprokes Setting zu beschreiben, haben       ler Energien in sozialen Settings (Collins, 2004). Im Fall der
Jan Slaby, Rainer Mühlhoff und Philipp Wüschner den Be-          Fahrraddemonstrationen würde dies bedeuten, dass die In-
griff des affective arrangement (Slaby et al., 2019) entwi-      tensität der Affizierung und des Affizierens bei den Teilneh-
ckelt, den wir im Folgenden für ein besseres Verständnis der     mer:innen, die sich bewusst innerhalb des arrangements be-
Emotionen, deren Artikulationen und Intensivierungen sich        wegten und artikulierten, in der Regel größer war als etwa bei
im Umfeld von Fahrraddemonstrationen beobachten lassen,          einer zufällig aus dem Fenster schauenden Anwohnerin – die
fruchtbar machen wollen. In diesem Zusammenhang gehen            jedoch auch Teil des arrangements war und möglicherweise
wir in unseren Überlegungen ebenso wie Slaby, Mühlhoff           als solche affektiv angesprochen oder abgestoßen wurde.
und Wüschner davon aus, dass affektive Beziehungen maß-             Das affective arrangement stellt für Slaby et al. (2019)
geblich durch ihre Situierung, sowohl in Räumen als auch in      auch eine Art Einladung zum Affiziertsein dar: Als soge-
Diskursen und sprachlichen Formen, strukturiert werden. In       nannte „affective affordances“ (Slaby et al., 2019:5) bilden
Anlehnung an William Reddy möchten wir insbesondere die          die arrangements Anlässe für emotionale Involvierung. Die
sprachliche Komponente dieser Beziehungen in den Blick           Fahrraddemonstrationen taten dies sowohl im Vorfeld, indem
nehmen und das untersuchen, was Reddy „emotional gestu-          die organisierende Initiative sie durch Flyer im Stadtraum
res and utterances“ (Reddy, 1997:327) nennt, also sprachli-      oder durch Social-Media-Posts im digitalen Raum bewarb.
che Artikulationen und gestische Praktiken, die auf Emotio-      Aber auch die wiedererkennbare Gestalt von Kundgebun-
nen verweisen und diese dabei nicht allein abbilden oder dar-    gen schaffte Zugänglichkeit und konnte auf diese Weise von
stellen, sondern auch mobilisieren, transformieren oder in-      Menschen als politische Intervention im Stadtraum eingeord-
tensivieren können. Im Kontext der Fahrraddemonstrationen        net werden, indem eine von anderen Kundgebungen vertraute
interessiert uns besonders, wie diese sprachlichen Gesten mit    und erwartbare Affektivität impliziert wurde. Diese Erwart-
Akteur:innen, lokalen materiellen Gegebenheiten und media-       barkeit der Affektivität steht in einem Spannungsverhältnis
len Bearbeitungen in Beziehung zueinander getreten sind.         zu der grundsätzlichen performativen Offenheit von affecti-
Die urbane Umwelt der Hermannstraße wird dabei als Raum          ve arrangements, die, sich ausweitend, stets neue Materia-
erkennbar, der ebenso durch Diskurse wie durch städtebau-        lien, Situationen oder Personen inkludieren können. Etwa,
liche Beschaffenheiten und verkehrspolitische Maßnahmen          wenn sich spontan Teilnehmer:innen einer Fahrraddemons-
vorgeprägt ist und der dann im sprachlich-körperlichen Er-       tration anschlossen oder Autofahrer:innen den verbalen Kon-

https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023                                                             Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023
"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
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flikt suchten. Diese Entwicklungen lassen sich mithilfe der     organisatorischer als auch ideologischer, das heißt identitäts-
zwei distinkten und doch miteinander verbundenen Seiten,        stiftendender Funktionen. Schriftlichen Äußerungen durch
die Slaby et al. (2019) an dem affective arrangement iden-      Flyer, Plakate oder Social-Media-Beiträge und mündlichen
tifiziert haben, erklären: dem „organizational set-up“ (Sla-    Verlautbarungen wie Reden, Rufen oder Sprechchören wäh-
by et al., 2019:6) und der „intensive processuality“ (Slaby     rend den Demonstrationen kommt dabei eine strukturieren-
et al., 2019). Während Ersteres die erwartbaren oder ver-       de und transformierende Aufgabe zu. Schwarz-Friesel be-
trauten Elemente innerhalb der Situation des arrangements       schreibt in diesem Zusammenhang eine jeglicher Sprache
umfasst – bei Fahrraddemonstrationen etwa Fahrräder, Poli-      innewohnende, „realitätsabbildende“ und „realitätskonstru-
zeikräfte, die Straße –, so lassen sich als Prozess oder auch   ierende Rolle“ (Schwarz-Friesel, 2013:32) – besonders in
„flow“ (Slaby et al., 2019) die Entwicklungen von Affektge-     Bezug auf Raumwahrnehmung und die Wahrnehmung des
nese und -artikulation beschreiben, die das Vertraute bewe-     Selbst. Dabei reagieren körperliches Erleben und sprachli-
gen, verschieben oder transformieren. Im Kontext der Fahr-      cher Ausdruck innerhalb des affective arrangements aufein-
raddemonstrationen auf der Hermannstraße etwa wurde die         ander. Wie auch Jan Hutta nahelegt, lassen sich Ausdruck
Erfahrung des Straßenraums, der temporär für den motori-        und Affekt dabei nicht als hierarchische oder zeitlich ver-
sierten Verkehr gesperrt und dadurch als gemeinschaftlicher     setzte, aufeinanderfolgende Bestandteile einer Übersetzung
Freiraum befahrbar wurde, transformiert und die gewohnte,       verstehen, sondern vielmehr als aufeinander bezogene „two
in ihrer baulichen Gegebenheit weiterhin existierende, nun      aspects of an unfolding affective-expressive process“ (Hut-
aber anders zu befahrende Hermannstraße affektiv neu be-        ta, 2015:306) beschreiben. Jenseits eines eindimensionalen
setzt. Dabei spielte die körperliche Wahrnehmung eine große     Sender- und Empfängermodells von Kommunikation wird
Rolle. Genauso wichtig waren aber auch sprachliche Äuße-        Sprache, wie wir im Zusammenhang der Fahrradproteste be-
rungen, die Affekte artikulierten, mobilisierten und intensi-   obachten konnten, zu einer Komponente in der Gestaltung
vierten und damit ein spezielles Verhältnis zur Stadtumwelt     multipler, komplexer emotionaler Erfahrungen. Hierbei agie-
ausdrückten. Sie zeigen, wie Radfahrende von Verkehrssitua-     ren und reagieren die unterschiedlichen Akteure – organi-
tionen betroffen sind und welche Bedarfe und Forderungen        sierende Gruppen, unterschiedliche Demonstrationsteilneh-
einerseits, aber auch welche Umsetzungsmöglichkeiten und        mer:innen, Redner:innen, andere Verkehrsteilnehmer:innen
Transformationspotenziale andererseits sich aus diesen Be-      wie Passant:innen und Autofahrer:innen sowie die im Fal-
troffenheiten ergeben. Im nächsten Teilkapitel möchten wir      le einer angemeldeten Demonstration begleitenden polizeili-
eine Verbindung zwischen diesen protestbezogenen Seman-         chen Einsatzkräfte – immer wieder durch sprachliche Äuße-
tiken und ihrer Rolle bei der Artikulierung von Emotionen       rungen aufeinander. Sie schaffen somit ein Sprachgeflecht,
herstellen.                                                     das die gesamte Textur des affective arrangements durch-
                                                                zieht. Das arrangement der Fahrraddemonstration lässt sich
2.2   Artikulationen von Nähe
                                                                so als eine angereicherte Atmosphäre betrachten, die das in-
                                                                dividuelle Erleben sowohl intensiviert als auch in eine grö-
Sowohl bei den Kundgebungen als auch bei den Demonstra-         ßere Kollektivstruktur gemeinsamen Erfahrens einzuordnen
tionen handelt es sich, wie beide Begriffe bereits andeuten,    vermag. Das affektive Erleben innerhalb des so gestalteten
um arrangements, für die Artikulationen eine zentrale Rol-      arrangements der Fahrraddemonstrationen ist insbesondere
le spielen: Dass etwas kundgegeben beziehungsweise öffent-      im Hinblick auf die Wahrnehmung des umgebenden Raums
lich gezeigt wird, heißt sehr oft auch, dass etwas zur Spra-    intensiv und wandlungsfähig. Hier verstärken sich die kör-
che gebracht wird. Das Verhältnis von sprachlichen Formen       perlich erlebte Fortbewegung in der Gruppe der Demonstrie-
zu Emotionen lässt sich dabei, den Arbeiten William Reddys      renden durch den Straßenraum und die sprachliche Benen-
entsprechend, weder als ein deskriptives noch als ein perfor-   nung von Gefühlen. Zum Vorschein kommen dabei Emotio-
matives begreifen, sondern als ein emotives. Das heißt, Emo-    nen von Angst und Wut, die unter alltäglichen Bedingungen
tion und sprachlicher Ausdruck verändern sich fortlaufend       die Teilhabe am Verkehr begleiten, als auch damit kontras-
gegenseitig (vgl. Reddy, 1997:331), wobei diese Prozesse der    tierende Emotionen von Freude und Ermächtigung, die nun
Sprachgebung und Gefühlsbildung im Umfeld von Demons-           den temporären Ausnahmezustand des Straßenraums wäh-
trationen oftmals eine vergemeinschaftende und identitätss-     rend der Demonstration bestimmen.
tiftende Funktion erfüllen. Inwiefern Artikulationen im Um-        Judith Butler beschreibt dieses wirkmächtige Zusammen-
feld der Fahrraddemonstrationen von Hermannstraße für Al-       spiel von Sprache und Handlung im Rahmen sozialer Pra-
le auch ein besonderes Gefühl von Nähe mobilisiert haben,       xis als Performativität. Im Rekurs auf Butler hat auch Anke
beziehungsweise umgekehrt von diesem mobilisiert wurden,        Strüver in ihrer Analyse der Aktionsform critical mass ge-
werden wir nun genauer untersuchen.                             zeigt, wie sich die Performativität der Übernahme des gan-
   Die Sprache, durch die sich umweltaktivistische Grup-        zen Straßenraums von und für Radfahrer:innen als ein „kriti-
pen wie Hermannstraße für Alle äußern und mithilfe de-          sches Tun“ (Strüver, 2015:38) verstehen lässt. Dabei handelt
rer politische Anliegen bei Fahrraddemonstrationen aus-         es sich um eine widerständige, da den Status quo des städti-
gedrückt werden, erfüllt eine Vielzahl sowohl praktisch-        schen Verkehrs innerhalb dieses Zeit- und Raumabschnitts

Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023                                                          https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023
"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
G. Jessen and P. Boos: Wir sind hier, wir sind laut                                                                            5

Abb. 1. Plakat mit Verwendung des Lokaladverbs „hier“, fotogra-
fiert im Rahmen der von Hermannstraße für Alle angemeldeten
Familienfahrraddemonstration auf der Hermannstraße am 19. Ju-
li 2020 (eigene Fotografie).

unterbrechende, körperliche Manifestation. Doch während
Strüver (2015) sich in Bezug auf die critical mass haupt-
sächlich auf Effekte konzentriert, die durch die Anwesen-
heit von Körpern und Fahrrädern im Raum entstehen, wol-
len wir die sprachliche Strukturiertheit dieses Raums unter
dem Gesichtspunkt der Artikulationen von Nähe in den Blick        Abb. 2. Plakat fotografiert im Rahmen der von Hermannstraße für
nehmen. Dabei beziehen wir uns auf die bereits oben aufge-        Alle angemeldeten Fahrraddemonstration auf der Hermannstraße
führten Formate von Sprachmaterial, die im Kontext der von        am 6. Dezember 2020 (eigene Fotografie).
Hermannstraße für Alle organisierten Fahrraddemonstratio-
nen entstanden sind: Flyer-Texte, Twitter-Nachrichten, Pla-
kataufschriften, sowie (aufgenommene) Redebeiträge. Die           wie „Menschen statt Motoren“ (Abb. 2) oder „Hermannstra-
Untersuchung dieser unterschiedlichen Versprachlichungen          ße + Radweg = supergeil“ (Abb. 3).
erlaubt es uns nachzuvollziehen, wie das Erleben des Raums           Wie bereits erwähnt handelt es sich bei den von Her-
über die temporär eng umrissene Erfahrung der einzelnen           mannstraße für Alle organisierten Demonstrationen nicht um
Demonstrationen hinaus sprachlich vor- und nachbereitet           spontane Eingriffe in das Straßenverkehrsgeschehen, son-
beziehungsweise während der Demonstrationen durch Auf-            dern um formal angemeldete Kundgebungen. Deswegen ver-
merksamkeitslenkung affektiv aufgeladen wurde. Dabei be-          wendeten die Veranstalter:innen der Fahrraddemonstratio-
schäftigt uns einerseits die illokutionäre Funktion sprachli-     nen auf der Hermannstraße auch vorbereitete kommunikative
cher Äußerungen, also die Art und Weise, wie Sprache einen        Mittel angemeldeter Demonstrationen (Vorankündigungen,
Sachverhalt nicht lediglich beschreibt, sondern ihn wirk-         Redebeiträge, Plakate) sowie kollektive Ausdrucksformen
mächtig (und sei es nicht auf einer rechtlichen, so doch zu-      wie Sprechchöre und Rufe nach einem Call-and-Response-
mindest auf einer symbolischen Ebene) vollzieht. So etwa die      Muster. Damit handelt es sich, im Gegensatz zu Critical-
selbstperformative Aussage „Wir sind hier, wir sind laut, bis     Mass-Veranstaltungen oder anderen Protestformen, die mit
Ihr #PopUpHermann baut“ (Abb. 1), die sowohl auf Plakaten         performativen Ausdrucksmitteln arbeiten, um eine Form des
als auch in Form von Sprechchören auf den Fahrraddemons-          Fahrradprotests oder -Aktivismus, der durchaus sprachliche
trationen präsent war.                                            (also geschriebene und gesprochene) Elemente involviert.
   Andererseits beobachten wir auch die Versprachlichung          Umso deutlicher lässt sich wiederum in der Sprache, die im
von Forderungen und Wünschen, die sich der Sprache als            Umfeld der Demonstrationen verwendet wird, eine affekti-
Möglichkeitsraum bedienen, indem eine Alternative zur vor-        ve Intensivierung der Raumbeziehung und eine Rhetorik von
gefundenen materiellen und rechtlichen Wirklichkeit des           Nähe erkennen. So fällt die wiederholte Verwendung von
Straßenverkehrs formuliert wird. Somit wird ein widerstän-        Temporaladverbien (jetzt, sofort, heute, noch, endlich) und
diges, affektives Potenzial aktiviert, etwa durch Äußerungen      Lokaladverbien (hier), die räumliche und zeitliche Nähe aus-

https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023                                                             Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023
"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
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                                                                     Abb. 4. Plakat mit Verwendung des Temporaladverbs „jetzt“, foto-
                                                                     grafiert im Rahmen der von Hermannstraße für Alle angemeldeten
                                                                     Fahrraddemonstration zur Sitzung der Neuköllner Bezirksverordne-
                                                                     tenversammlung am 2 Juni 2020 (eigene Fotografie).

                                                                     13. Mai 2020), „So ungerecht wollen wir unseren öffent-
                                                                     lichen Raum nicht verteilen!“ (Fahrraddemonstration Her-
                                                                     mannstraße am 27. Juli 2021), „Wann kommt unser Rad-
                                                                     weg?“ (Fahrraddemonstration Hermannstraße am 19. Janu-
                                                                     ar 2021), „Wir < 3 unseren Kiez und unser Kiez < 3 uns
                                                                     zurück.“ (Fahrraddemonstration Hermannstraße am 26. Ok-
                                                                     tober 2020) (alle Tweets vom Twitter-Account @hermann-
                                                                     str4alle).
Abb. 3. Sprachliche Wunscherfüllung auf einem Plakat, fotografiert      Durch eine solche rhetorische Verstärkung zeitlicher und
im Rahmen der von Hermannstraße für Alle angemeldeten Fahrrad-       räumlicher Nähe zu dem, was auf der Hermannstraße pas-
demonstration auf der Hermannstraße am 6. September 2020 (eige-      siert oder noch passieren beziehungsweise nicht mehr passie-
ne Fotografie).                                                      ren soll, sowie durch die Zuordnung des Stadtraums in einen
                                                                     Bereich kollektiven Besitzes wird das Erlebnis der Fahrrad-
                                                                     demonstration als eine Aneignung des Straßenraums sprach-
drücken, sowie von Possessivpronomen (unser/ unseren), die           lich vorbereitet, begleitet und erhalten. Die Sprache wird von
Besitzanspruch und Zugehörigkeit markieren, besonders auf            Ausdrücken der Dringlichkeit und Betroffenheit durchzo-
(Abb. 4).                                                            gen. Dadurch wird sie einerseits im Sinne der Performativi-
   Äußerungen unter dem Twitter-Account @hermann-                    tät vom gemeinsamen Erleben des von Radfahrenden befah-
str4alle, die eine solche deutliche Verwendung von                   renen Straßenraums im situierten affective arrangement der
Temporal- und Lokaladverbien und Possessivpronomen auf-              Fahrraddemonstration erst eingelöst und wirkmächtig. An-
weisen, lauten beispielsweise:                                       dererseits wird diese affektive Wirkung längerfristig, auch
   „Verkehrswende jetzt.“ (Fahrraddemonstration Hermann-             über die Stunden der Demonstration hinaus, aufrechterhal-
straße am 5. März 2021), „Heute und jeden Tag für die Ver-           ten. Dies stellt das Zusammenspiel einerseits spontaner und
kehrswende und lebenswerte, smogfreie und klimafreund-               andererseits langfristiger Wirkungen von Sprache dar. Be-
liche Innenstädte!“ (Fahrraddemonstration Hermannstraße              sonders dem Twitter-Account @hermannstr4alle kommt da-
am 19. März 2021), „Hier muss sich schnell etwas än-                 bei die Funktion eines affektiven Speichers zu, in dem die
dern.“ (Fahrraddemonstration Hermannstraße am 23. Janu-              Erlebnisse der Demonstration aufbewahrt, aber auch in wei-
ar 2021), „Wir sind hier, wir sind laut, bis ihr uns nen Radweg      tere und neue Zusammenhänge gerückt und mit diesen ver-
baut!“ (Fahrraddemonstration Hermannstraße am 20. Sep-               linkt werden können. So werden hier die als freudvoll und
tember 2020) „#Hermannstraße: Viele Menschen hier sind               ermächtigend erlebten Fahrraddemonstrationen auf der Her-
arm UND leben mit: viel Feinstaub, viel Lärm und dich-               mannstraße mit den als bedrohlich empfundenen Alltagser-
ter Besiedelung.“ (Fahrraddemonstration Hermannstraße am             fahrungen auf derselben Straße kontrastiert oder mit Posi-

Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023                                                                https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023
"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
G. Jessen and P. Boos: Wir sind hier, wir sind laut                                                                            7

tivbeispielen auf anderen Straßen, in anderen Bezirken oder        raddemonstration liefert also ein räumlich wirksames Erleb-
Städten verglichen.                                                nis, um körperlich, sprachlich, individuell und auch kollektiv
   Daran anschließend entsteht eine für die Kommunikati-           Erfahrungen im Straßenraum zu sammeln. Damit wird ein
onsplattform Twitter charakteristische Assemblage aus Bei-         Angebot gemacht, um zwischen einzelnen Affekten zu ver-
trägen, die von den Account-Betreiber:innen selbst generiert       mitteln beziehungsweise einen Affekt in einen anderen zu
werden, und solchen, die von anderen Accounts zitierend            transformieren.
weiterveröffentlicht werden: Aus hinzugefügten Kommenta-              Das transformative Potenzial von Demonstrationserlebnis-
ren und Bildern entsteht ein Diskursgeflecht um das Thema          sen in Bezug auf die affektive Gestimmtheit der Teilneh-
Straßenraum. Bei dem von uns in den Blick genommenen               mer:innen ist in der Protestforschung bereits eingehend do-
Beispiel geht um den Raum einer einzigen Straße, die als           kumentiert worden. Neben den individuellen affektiven Pro-
zu beklagender und frustrierender Angstraum einerseits und         zessen und Erfahrungen kommt der wiederkehrenden Erfah-
als idealisierter Wunschraum andererseits versprachlicht und       rung einer Fahrraddemonstration ein dezidiert gemeinschaft-
bebildert wird. Auch die Texte auf den Flyern, mithilfe derer      licher beziehungsweise Gemeinschaft stiftender Stellenwert
auf die von Hermannstraße für Alle angemeldeten Demons-            zu. So hat beispielsweise Gould (2009) in einer Studie ge-
trationen aufmerksam gemacht wurde, greifen diese zwi-             zeigt, wie das gemeinsame Skandieren in Form von Sprech-
schen den Affekten der Angst und der freudvollen Ermächti-         chören bei Demonstrationen die Stimmung der Mitsprechen-
gung changierende Sprache auf. So lädt ein Flyer an Haustü-        den heben und das Gemeinschaftsgefühl stärken kann. Bei
ren und um die Hermannstraße herum im November 2020                Fahrraddemonstrationen erfüllt das gemeinsame Klingeln ei-
mit folgenden Worten zur Teilnahme an einer Fahrradde-             ne ähnliche Funktion: Hier entsteht eine akustisch erfahrba-
monstration am Freitag, den 13. ein: „Die Straße ist zum Gru-      re multitude in einem kollektiv erzeugten Klangraum. Unter
seln, täglich gibt es gefährliche Situationen für alle Verkehrs-   den Demonstrierenden kann sich auch in Anlehnung an die
teilnehmenden. [. . . ] Wir fordern einen geschützten Rad-         Überlegungen zum affektiven Speicher und verstärkt durch
weg auf der gesamten Hermannstraße. JETZT!“ Eine ähn-              gemeinschaftliche Äußerungen im Verlauf einer Fahrradde-
liche Gegenüberstellung von als gefährlich beschriebenem           monstration etwas entwickeln, das Eslen-Ziya et al. (2019)
Ist-Zustand und erwünschtem Soll-Zustand Radfahrer:innen-          im Kontext der Gezi-Park-Proteste von 2013 als eine „emo-
schützender Straßeninfrastruktur findet sich ebenfalls auf ei-     tional echo-chamber“ beschreiben. Dabei wird einerseits die
nem Flyer, der zu einer Familienfahrraddemonstration am            affektive Gestimmtheit der Demonstrationsteilnehmer:innen
19. Juli 2020 aufruft: „Schon mal ein Kind auf der Hermann-        im Verlauf einer Demonstration und andererseits auch die
straße Fahrrad fahren gesehen? Nein? Kein Wunder, denn die         politische beziehungsweise moralische Grundeinstellung der
Hermannstraße ist selbst für große Radfahrende viel zu ge-         Teilnehmer:innen über den Verlauf einer Demonstration hin-
fährlich. Wir wollen einen sicheren Radweg auf der gesam-          aus durch das Gefühl intensiviert und gefestigt, von gleich-
ten Hermannstraße und zwar für die ganze Familie“. Hier            denkenden und -fühlenden Menschen umgeben zu sein. Für
wird nicht nur die Hermannstraße in ihrem aktuellen Zustand        die Dauer der Demonstration treten gemeinsame Anliegen
wiederholt als gefährlich beschrieben, sondern die Möglich-        und Affekte – geteilte Wut und Angst über wahrgenom-
keit einer anderen, sicheren und flächengerechteren Straße         mene Missstände ebenso wie geteilte Freude und Ermäch-
unmittelbar mit der Teilnahme an der Fahrraddemonstration          tigungserfahrungen im Kontext des Protests – deutlich in
verknüpft. Beide Flyer enden mit dem Appell der Teilnahme:         den Vordergrund. Diese werden durch sprachliche Äußerun-
„Bringt mit uns Licht auf die Hermannstraße. Schmückt eure         gen und gemeinsame Handlungen (Fahrradfahren, Klingeln,
Bikes mit Lichterketten und kommt zahlreich.“ beziehungs-          Rufen) betont und zu identitätsgebenden Markern gemacht,
weise „Kommt zu unserer Familienfahrraddemo!“.                     hinter deren Strahlkraft anderweitige Differenzen weltan-
   Den Kundgebungen wird also ein transformatives Poten-           schaulicher oder politischer Natur zwischen den Demons-
zial zugesprochen, das sich, wie am Beispiel des Flyers für        trationsteilnehmer:innen verblassen können. Dadurch verän-
die Familienfahrraddemonstration ersichtlich wird, nicht al-       dert das Erlebnis der Fahrraddemonstrationen – bei einigen
lein auf die baulichen Gegebenheiten und Verkehrsregelun-          Teilnehmer:innen verstärkt durch die Rezeption des Twitter-
gen beschränkt, sondern die affektive Erfahrung eines kon-         Accounts der organisierenden Initiative – nicht nur die Wahr-
kreten Straßenraums einschließt: Das individuelle Empfin-          nehmung des Straßenraums, sondern es stiftet auch ein Ge-
den der Verkehrsteilnehmer:innen beziehungsweise der an            fühl der Zugehörigkeit zu einer Interessensgruppe und einer
der Fahrraddemonstration Teilnehmenden wird also explizit          Nachbarschaft, die sich hier verortet, sich für diesen Raum
in die von Hermannstraße für Alle formulierten Beschrei-           verantwortlich fühlt und sich für dessen Gestaltung einsetzt.
bungen und Forderungen für den Straßenraum miteinbezo-
gen. Die sprachliche Konstituierung der Hermannstraße als
ein Raum, dem sich die Anwohner:innen zugehörig, nah und
verbunden fühlen, wird somit durch das Aufrufen des Affekts
der Angst einerseits und des Affekts der Sicherheit oder Ge-
borgenheit andererseits mitbestimmt und verstärkt. Die Fahr-

https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023                                                              Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023
"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
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3   Aus der Nähe in die Ferne: Lokale Situiertheit und           zur Beschreibung sozialer Praxis die Vereinigung zweier Be-
    „Große Phänomene“ auf Fahrraddemonstrationen                 deutungen im verwendeten site-Begriff. Zum einen ist dies
                                                                 der thematische und metaphorische Treffpunkt von Materia-
Bei der Untersuchung von Fahrraddemonstrationen wurden           lität und Diskursivität. Zum anderen geht es bei site auch um
bisher anhand verschiedener Materialien konkrete Artikula-       einen konkreten physischen Ort, im aktuellen Fall etwa die
tionen von Nähe bezüglich eines lokal und temporal umrisse-      Lokalität der Hermannstraße als Verkehrsraum, in dem die
nen Verkehrsraums, der Hermannstraße in Berlin-Neukölln,         Fahrraddemonstrationen durch das organisierte Zusammen-
dargestellt. In Anlehnung an Everts (2016) sollen in die-        treffen einzelner Individuen wiederkehrend stattfinden. Sites
sem zweiten Teil Verbindungen zwischen den konkreten Er-         bieten also einen Ausgangspunkt zur Beschreibung sozialer
fahrungen auf lokaler Ebene einerseits und „großen Phä-          Phänomene in Form von sozialen Praktiken, die sich diskur-
nomenen“ (Everts, 2016), wie beispielsweise dem Klima-           siv und räumlich innerhalb dieser materialisieren. Weiterhin
wandel oder einer Ressourcenverknappung (auch im Sinne           beschreibt Everts (2016) in Referenz zu Schatzki (2002:149),
innerstädtischer Flächen), andererseits verdeutlicht werden.     wie sich dafür innerhalb von sites ein Netz von Praktiken und
Ziel ist dabei auch zu zeigen, dass es sich bei diesen Ar-       Arrangements (zusammenhängende Komponenten wie Men-
tikulierungen nicht nur um Beklagungen eines Status Quo          schen, Artefakte, Organismen und Dinge) bildet, anhand des-
handelt, sondern dass den Beklagungen oftmals Problem-           sen soziale Phänomene sichtbar werden. Diese Netze bilden
Interpretationen sowie Versuche von Lösungsansätzen zuge-        durch ihre zunehmende Verknüpfung eine Grundlage für die
ordnet werden können.                                            Betrachtung „großer Phänomene“. Was ihre Beschaffenheit
   Everts (2016) zeichnet in drei Schritten die Verbindung       und Komponenten angeht, sind das affective arrangement,
zwischen „großen Phänomenen“ wie der Klimakrise, der Fi-         wie wir es zuvor beschrieben haben, und die Site deckungs-
nanzkrise oder dem Ausbruch einer Pandemie einerseits und        gleich; sie erlauben aber eine jeweils unterschiedliche Fokus-
den Lokalitäten (sites) ihrer Materialisierung nach. Der erste   sierung: Während das affective arrangement die Beziehun-
Schritt bezieht sich auf eine genauere Darstellung der On-       gen im Raum in ihrer Relationalität beschreibt, nimmt die
tologie der site (site ontology) bezüglich sozialer Sites und    Begrifflichkeit der site stärker den Umgang mit dem Raum
räumlich zunächst unzusammenhängender Relationen. Im             in den Blick.
zweiten Schritt erfolgt eine Positionierung in Richtung der         Wird das Konzept der sites auf die aktuelle Untersuchung
„großen Phänomene“, um bei der Theoretisierung globaler          übertragen, können darunter also einerseits die Hermann-
Abhängigkeiten Probleme wie etwa unterschiedliche Skalen,        straße selbst, aber auch die Anwesenheit und Praktiken der
Verbundenheiten und Machtverhältnisse zu identifizieren. Im      betrachteten Akteure sowie einzelne mobilitätsgenerierende
letzten Schritt wird das Konzept von Macht-Geometrien an-        Komponenten innerhalb des Verkehrsraums verstanden wer-
gewandt, um Herausforderungen und Potenziale für weitere         den. So verlangt die räumliche Trennung von beispielswei-
Untersuchungen darzulegen. Wir möchten diese drei Schrit-        se Wohn- und Arbeitsstandorten sowie die Ausführung von
te zusammenfassend betrachten und das Konzept der Site-          Versorgungs- und Freizeitaktivitäten das Zurücklegen unter-
Ontologie zur Beschreibung des bi-direktionalen Verhältnis-      schiedlicher Wegstrecken und führt letztlich auch zur Wahl
ses von Globalität und Lokalität („Glokalität“) mit gegensei-    spezifischer Verkehrsmittel und damit verbundenen Mobili-
tigen Wechselwirkungen interpretieren.                           tätspraktiken. Das Fahrrad greift als aktives Fortbewegungs-
                                                                 mittel bei den Demonstrationen und in Abgrenzung zum mo-
3.1 Site als Kumulationspunkt von Diskurs und                    torisierten Verkehr ein zentrales Argument der Verkehrswen-
    Materialität                                                 de auf. Es wird nicht nur als lokales Werkzeug für Fortbewe-
                                                                 gung angesehen, sondern dient gleichzeitig als Sinnbild einer
Mit Verweis auf Schatzki (2002) erläutert Jonathan Everts        ökologisch nachhaltigen, Gesundheit fördernden und Platz-
die Rolle praxeologischer Theorie dahingehend, dass sich be-     sowie Energieressourcen sparenden Lebensweise in Städten,
obachtbare Praktiken immer zu spezifischen Zeiten und in         auf die ein Großteil des globalen Ressourcenverbrauchs zu-
spezifischen Räumen abspielen – sie also zeitlich und räum-      rückgeht.
lich situiert sind und dabei eine Vielzahl materieller Enti-
täten umfassen, beispielsweise Körper oder auch Werkzeu-         3.2   Skalare Betrachtung von Sites
ge. Zentral nutzt Everts (2016:50) zur Beschreibung von In-
teraktionen und Abhängigkeiten den Begriff der Sites als         Nach einer Einführung zum site-Begriff weist Everts auf die
„place[s] (both metaphorically and literally) where practi-      Bedeutung von Skalen zur Beschreibung sozialer Praxis und
ces and arrangements meet“ (Everts, 2016:50). Die Anwen-         zur Betrachtung „großer Phänomene“ hin. Skalen ermögli-
dung des site-Konzepts soll den Analyseradius von bisheri-       chen die Veränderung von Untersuchungsfokusse auf die je-
gen Betrachtungen meist lokaler und kleinräumlich fassba-        weiligen Themen vom „ (. . . ) tiniest practice-arrangement
rer Phänomene (im Sinne von place) um einen Blick auf de-        nexus to the largest bundle, the plenum of plenums (. . . )“
ren Verbindungen zu größeren Phänomenen erweitern. Mit           (Everts, 2016:53). Dabei geht es im Sinne von geographi-
weiterem Bezug auf Schatzki (2002) erläutert Everts (2016)       schen Skalen meist darum, wie lokale Phänomene durch be-

Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023                                                           https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023
"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
G. Jessen and P. Boos: Wir sind hier, wir sind laut                                                                               9

stimmte Kombinationen und Wirkbeziehungen übergeordne-               motorisiertem Individualverkehr!“ (Abb. 5). Hier steht nicht
te und globale Prozesse anstoßen, und andererseits, wie glo-         nur das Thema Verkehrswende im Vordergrund, sondern Kli-
bale Prozesse wiederum lokale Phänomene erzeugen bezie-              ma wird als allgemein verfügbare und gerecht zu verteilen-
hungsweise sich auf diese auswirken oder sich in ihnen ma-           de Ressource benannt. In der Forderung zeigt sich die Ver-
nifestieren.                                                         bindung der globalen Themen Klimagerechtigkeit und Ver-
   Im Verkehrsraum der lokalen Ebene ist eine fehlen-                kehrswende mit einer konkreten Praktik: dem motorisierten
de baustrukturelle Abgrenzung zwischen Autofahrer:innen              Individualverkehr. Der Forderung einer Verkehrswende wird
und Radfahrer:innen auf der Hermannstraße beispielswei-              mit einzelnen Piktogrammen Nachdruck verliehen, welche
se eine Folge unterschiedlicher Planungs- und Entschei-              aus verschiedenen Verkehrsschildern bestehen, die auf Räu-
dungsprozesse sowie nicht stattfindender Umsetzungen auf             me für aktive Fortbewegung verweisen. Die Piktogramme
Bezirks- und Landesebene. Diese Prozesse hängen wiederum             verstärken die ausgeschriebene Forderung insofern, als dass
mit fördernden und hemmenden politischen Entscheidungen              eine Verknüpfung zwischen den rechtlich definierten Prak-
zusammen. Gleichzeitig wirken auch abstraktere Aspekte               tiken und den jeweils dafür vorgesehenen Verkehrsräumen
wie etwa schwankende Kraftstoffpreise, die Bepreisung von            stattfindet. Die Piktogramme verweisen auf Sonderwege für
Parkräumen oder die Verordnung von Bußgeldern für Falsch-            Radfahrer:innen, gemeinsame Fuß- und Radwege, Parkplät-
parken auf das lokale Verkehrsverhalten ein. Auch die Ge-            ze für Lastenräder, Radschnellwege, Spielstraßen, verkehrs-
staltung von Bildungssystemen und die Umsetzung von Ver-             beruhigte Bereiche, das Verbot für mehrspurige Kfz und Mo-
kehrserziehung spielt hier eine Rolle. Wie werden der Ein-           torräder sowie Gehwege und Fahrradzonen. Die Darstellung
satz und die tatsächlichen Kosten von Verkehrsträgern dar-           der Piktogramme auf dem Plakat verdeutlicht einerseits die
gestellt und wie formen sich dadurch öffentliche Diskurse            Forderung nach einem Ausbau ökologisch nachhaltiger und
zu Vorstellungen und Leitbildern zukünftiger Mobilität? Wie          sozial zugänglicher Verkehrsräume. Gleichzeitig symbolisie-
können Zusammenhänge, etwa zwischen Verkehrsverhalten                ren sie treibende Faktoren einer klimagerechten Verkehrs-
auf lokaler Ebene und der globalen Zunahme von Emissio-              wende, indem die jeweiligen Räume als Durchsetzungsin-
nen und Temperaturen, verständlich und greifbar dargestellt          strumente verstanden werden, um den Klimawandel abzu-
werden, um Verkehrspraktiken im Lokalen anzupassen?                  schwächen.
   Mit Bezug auf Marston et al. (2005) erläutert Everts die             Im Anschluss an die Forderung nach einer klimagerech-
Kritik an einer vertikalen Vorstellung von Skalen und greift         ten Verkehrswende wird mit dem Plakat „Verkehrswende sel-
stattdessen den Begriff der flat ontology auf. Diese arbeitet        ber machen“ (Abb. 6) ein emanzipatorischer Anspruch be-
im Gegensatz zur Vertikalität mit horizontal verbunden Be-           tont. Dabei wird das globale Thema Verkehrswende als so-
reichen. Darauf aufbauend wird die Skalierbarkeit des site-          ziales, technisches, politisches und wirtschaftliches Gesell-
Begriffs analog zu einer Sammlung von Nachbarschaften er-            schaftsprojekt erkannt, aus diesen Kategorien herausgeho-
läutert: „(...) it inhabits a ,neighbourhood‘ of practices, events   ben und in Form alltäglicher Praxis konkretisiert beziehungs-
and orders that are folded variously into other unfolding si-        weise konkret greifbar gemacht. Verkehrswende wird dabei
tes“ (Marston et al., 2005:426).                                     als etwas definiert, an dem alle Verkehrsteilnehmer:innen in-
   Bei den Fahrraddemonstrationen auf der Hermannstraße              dividuell mitwirken können. Zwar ereignen sich Verkehrs-
wurden „globale“ Forderungen, etwa nach mehr Gleichbe-               prozesse innerhalb verschiedenster (rechtlicher, strukturel-
rechtigung der Verkehrsteilnehmer:innen, auch im Sinne von           ler, baulicher) Regulationsräume, also sites. Gleichzeitig tra-
Flächengerechtigkeit, mehr Klimaschutz und dadurch weni-             gen einzelne Verhaltensentscheidungen zur jeweiligen Aus-
ger Umweltverschmutzung sowie mehr Sicherheit für Nut-               gestaltung und Materialisierung des gesamten Verkehrs bei.
zer:innen aktiver Fortbewegung sichtbar. Diese globalen und          Mit diesem Anspruch wird die Verkehrswende einerseits als
zum Teil unkonkreten Forderungen kulminieren gleichzeitig            etwas globales und durch formale Einflüsse bestimmtes, und
im zentralen Bedürfnis der Errichtung eines Radwegs, gerade          andererseits als etwas durch individuelle Mobilitätsentschei-
auf dieser Straße. So ist es auch dieser konkrete Straßenraum,       dungen und -praktiken bestimmtes beschrieben.
in den die Forderungen getragen und artikuliert werden.
   Im Folgenden führen wir einige Beispiele von Äußerun-             3.2.2   Beispiel 2: Klimaschutz durch Verhaltens- und
gen auf, die während und im Umfeld der Fahrraddemonstra-                     Infrastrukturanpassung
tionen entstanden sind. Die Beispiele werden jeweils als lo-
kales Phänomen dargestellt und in Bezug auf Everts (2016)            Auf einem weiteren Plakat wird gefordert: „street change,
mit Blick auf „große Phänomene“ interpretiert.                       NOT climate change“ (Abb. 7). Hier wird eine Verbindung
                                                                     hergestellt zwischen der lokalen Ebene – also der (Hermann-
3.2.1   Beispiel 1: Verkehrswende durch
                                                                     )Straße mit ihrer strukturell und regulativ zugeschriebenen
        Selbstwirksamkeit
                                                                     Nutzungsmöglichkeit im Sinne einer autozentrierten Ver-
                                                                     kehrsplanung – einerseits und der Forderung, den Klimawan-
Eines der für eine Demonstration auf der Hermannstraße er-           del abzuschwächen, andererseits. Der Verbindungsversuch
stellten Plakate fordert: „Klimagerechte Verkehrswende statt         beider Ebenen kommuniziert, dass die infrastrukturelle Ver-

https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023                                                                Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023
"Wir sind hier, wir sind laut" - Artikulationen von Emotionen der Nähe auf Fahrraddemonstrationen
10                                                                          G. Jessen and P. Boos: Wir sind hier, wir sind laut

                                                                   Abb. 6. Plakat mit der Forderung, die Verkehrswende in die eigenen
                                                                   Hände zu nehmen, fotografiert im Rahmen der von Hermannstraße
                                                                   für Alle angemeldeten Fahrraddemonstration auf der Hermannstra-
                                                                   ße am 19. Juli 2020 (eigene Fotografie).

Abb. 5. Plakat mit der Forderung nach einer klimagerechten Ver-
kehrswende, fotografiert im Rahmen der von Hermannstraße für Al-
le angemeldeten Fahrraddemonstration auf der Hermannstraße am
6. September 2020 (eigene Fotografie).

änderung des Straßenverkehrsraum und eine damit einherge-
hende Anpassung von Mobilitätspraktiken (Umstieg auf akti-
ve und emissionsarme Fahrradmobilität) als maßgeblich für
die Verringerung eines menschengemachten Klimawandels
angesehen wird. Auch auf diesem Plakat wurden ergänzend
zum Schriftzug von Hand Piktogramme, nämlich ein Herz,
ein Fahrrad und ein Baum, erstellt.
   Im Hinblick auf den Prozess der globalen Erderwärmung,
mitunter angetrieben durch die Verbrennung fossiler Ener-
gieträger, wurde die Notwendigkeit emissionsarmer Mobili-
tät auf einem weiteren Plakat artikuliert (Abb. 8): „Wer im
Treibhaus sitzt, sollte lieber Radfahren.“ Zentral ist dabei die
Anspielung auf den Treibhauseffekt, also das Eintreten von
Lichtstrahlung in die Erdatmosphäre sowie deren Umwand-
lung in Wärmeenergie bei gleichzeitiger Verhinderung eines         Abb. 7. Plakat mit der Forderung nach straßeninfrastrukturellen
Austritts dieser Wärme durch Treibhausgase, wie etwa Koh-          Veränderungen, um den Klimawandel zu begrenzen, fotografiert im
lenstoffdioxid. Diese Feststellung wird mit der Empfehlung,        Rahmen der von Hermannstraße für Alle angemeldeten Fahrradde-
auf emissionsarmes Radfahren umzusteigen, bekräftigt.              monstration auf der Hermannstraße am 16. August 2020 (eigene
                                                                   Fotografie).

Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023                                                              https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023
G. Jessen and P. Boos: Wir sind hier, wir sind laut                                                                             11

                                                                  Abb. 9. Plakat mit Hinweis auf die Verkehrssicherheit von Radfah-
                                                                  rer:innen als Allgemeininteresse, fotografiert im Rahmen der von
                                                                  Hermannstraße für Alle angemeldeten Fahrraddemonstration auf
                                                                  der Hermannstraße am 5. Juli 2020 (eigene Fotografie).

Abb. 8. Plakat mit Hinweis auf die globale Erderwärmung und der
Empfehlung, auf Radverkehr umzusteigen, fotografiert im Rahmen
                                                                  4   Schlussbeobachtungen – Global denken, lokal
der von Hermannstraße für Alle angemeldeten Fahrraddemonstrati-
                                                                      handeln, beides fühlen
on auf der Hermannstraße am 6. September 2020 (eigene Fotogra-
fie).
                                                                  Zu beobachten, wie im Umfeld der Fahrraddemonstrationen
                                                                  von Hermannstraße für Alle Artikulationen von Nähe statt-
3.2.3   Beispiel 3: Lebensqualität durch                          fanden und besondere Aufmerksamkeit für die Hermann-
        Verkehrssicherheit                                        straße entwickelt wurde, hat es uns erlaubt, ein besseres
                                                                  Verständnis dafür zu entwickeln, dass die lokale Situierung
Auf einem weiteren Plakat (Abb. 9) wird das Thema                 affektiver Raumerfahrung und eine Bezugnahme auf Pro-
Verkehrssicherheit artikuliert: „Mehr Verkehrssicherheit für      zesse globaler Größe bei Protesten für eine Neugestaltung
Radfahrer*innen bedeutet weniger Stress für Alle!“ Dabei          des Stadtraums ineinander verschränkt sind. Die zunächst
wird nicht nur aus den Positionen einzelner Verkehrsteilneh-      vielleicht gegenläufig erscheinende Ansprache von Gefüh-
mer:innen heraus argumentiert, sondern ein integrativer und       len lokaler Betroffenheit und globaler Verbundenheit erwei-
globaler Versuch unternommen, Straßenverkehr als gemein-          sen sich im affective arrangement der Fahrraddemonstratio-
samen Prozess in geteilten Räumen zu verstehen. Gleich-           nen als einander bedingend. Das aktivistische Motto „Global
zeitig wird die höhere Verletzlichkeit von Radfahrer:innen        denken, lokal handeln“ ließe sich in diesem Sinne durch ein
angedeutet. Das Plakat propagiert mit der impliziten Forde-       „glokal fühlen“ ergänzen, wodurch in der Mobilisierung von
rung eines Radwegs auf der Hermannstraße eine strukturelle        Affekten möglicherweise genau die Verbindung beider Ebe-
Aufteilung des Verkehrsraums und damit klare Verhältnis-          nen zu verorten wäre – das jedenfalls lässt sich als Zwischen-
se für alle Teilnehmer:innen. Durch Dunkelheit oder Witte-        ergebnis unserer Beobachtungen und Überlegungen formu-
rungsbedingungen verstärkt unübersichtliche Verkehrssitua-        lieren.
tionen werden anhand von baulich trennender Infrastruk-              Die Fahrraddemonstrationen auf der Hermannstraße ha-
tur entschärft und vulnerable Gruppen wie Radfahrer:innen         ben Menschen körperlich und emotional bewegt. Wir haben
und Fußgänger:innen sind in Gefahrensituationen besser ge-        uns in unserer Untersuchung auf die Teilnehmer:innen der
schützt.                                                          Kundgebungen fokussiert, für die durch das Zusammenwir-
                                                                  ken von Ereignis und Artikulation im Herzen des affective

https://doi.org/10.5194/gh-78-1-2023                                                              Geogr. Helv., 78, 1–13, 2023
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