Wladimir Putin - Fluch oder Segen?

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Wladimir Putin - Fluch oder Segen?
Wladimir Putin – Fluch oder Segen?
Kolumne von Bettina Röhl

Welche Haltung soll der Westen gegenüber dem russischen Präsidenten einnehmen? Die
Begnadigung Michail Chodorkowskis offenbart den Ungeist im Westen, der sich schon
lange gegen Putin eingerichtet hat.

                                        Der russische Präsident Wladimir Putin auf
                                        einer Pressekonferenz. Quelle: dpa

                                        Die Freilassung des russischen Ex-"Oligarchen"
                                        Michail Chodorkowski ruft die ewige Frage ins
                                        Gedächtnis, welche Haltung man, welche
                                        Haltung der Westen gegenüber dem russischen
                                        Präsidenten     Wladimir    Putin    eigentlich
                                        einnehmen soll.

Russland ist das größte Land der Erde und es ist eines der rohstoffreichsten Länder der
Welt. Russland ist ein europäisches Land mit einer extrem großen Dependance in Asien
namens Sibirien. Russland ist partiell ein Hightech-Land. Die nuklearen strategischen
Potenzen der russischen Streitkräfte sind, wenn man den Quotienten aus Masse und
Klasse und Transportmöglichkeiten anschaut, gewiss die Zweigrößten der Welt,
ausreichend um das Leben auf der Erde auszulöschen. Der mächtigste Mann Russlands,
Wladimir Putin, regiert ein Land, das für die Energiesicherheit Europas, speziell
Deutschlands, eine wichtige Rolle spielt.

Das russische Wunder

Ist das russische Wunder schon vergessen? Die von Russland beherrschte Sowjetunion,
ein Vielvölkerstaat, ein multireligiöser Staat, die zweite Supermacht, ein Land mit einer
geostrategischen "Premium"-Stellung und einem Kolonialreich in Gestalt der Staaten des
Warschauer Paktes, das bis an die innerdeutsche Grenze reichte, hat verdammt friedlich
die Selbstauflösung ins Werk gesetzt.

Russland hat auf ein großes Stück Weltbedeutung verzichtet und in einem durch und
durch ideologisierten, enorm reichen und gleichzeitig sehr armen Land, das furchtbar
gescheitert war, vor allem ökonomisch, und mit extremen Blessuren aus der
kommunistischen Herrschaft belastet war, im Rahmen dieses Verzichts auch seine
strategische Bedeutung selbst reduziert. Und das alles ohne Blutvergießen, ohne
größere Verwerfungen. Ein echtes historisches Wunder. Ein Wunder, das bis heute von
der Geschichtsschreibung, aber auch von der Öffentlichkeit im Westen, weder erklärt
noch angemessen gewürdigt worden ist.

                           Der ehemalige Präsident der Sowjetunion,              Michail
                           Gorbatschow, im März 2013 in Berlin. Quelle: dpa
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Die Fliehkräfte der Revolution von 1989/90, die aufbrach, was die kommunistischen
Revolutionen von 1917 hinterlassen hatten, waren enorm und sie existieren noch
immer. Der Held des von ihm mitbeendeten kalten Krieges war Michail Gorbatschow.
Ihm galten die Sympathien der westlichen Medien und auf den Straßen; vor allem im
Westen tönte es: "Gorbi, Gorbi, Gorbi". Gorbatschow hat seine Revolution, vielleicht
sogar zum überwiegenden Teil, mehr durch Geschehen lassen als durch aktives
Gestalten gemacht und entsprechend ist er auch noch in der Initialphase des russischen
Wunders, für dessen Geschehen ihm größter Dank gebührt, den er mitnichten, auch
nicht in Deutschland, bekommt, gescheitert.

Gorbatschows unvollendete Wende

                          Das Archivbild zeigt Boris Jelzin, aufgenommen im Jahr
                          1999. Der frühere russische Präsident starb 2007. Seit Putin
                          2000 erstmals Präsident wurde, versucht er, die Macht der
                          unter seinem Vorgänger Jelzin in Schlüsselpositionen der
                          Wirtschaft gelangten Oligarchen zu brechen. Zu denen, die
                          in der „Gründerzeit“ der russischen Wirtschaft einflussreiche
Finanz- und Medienkonzerne aufbauten und in Putins Visier gerieten, gehörte auch
Chodorkowski. Quelle:dpa

Gorbatschows unvollendete Wende setzte der Bürgerzar Boris Jelzin mit all seinen
Schwächen und Stärken fort. Mit enormer persönlicher Power und gleichzeitigem
Dilettantismus verhinderte Jelzin nicht nur jeden Tag aufs Neue das drohende Chaos
(mit all den für die Welt weniger schönen Konsequenzen, die eigentlich Tag und Nacht
drohten, Realität zu werden), sondern er kanalisierte auch den kommunistisch-
ideologischen Revanchismus, der in einem Russland, das seine Menschen mit
Weltmachtsträumen verwöhnt hatte, noch vital war.

Den Privatisierungsprozess der maroden Staatsmonopolwirtschaft à la Karl Marx
steuerte Jelzin, wenn man denn von steuern reden möchte, weniger elegant. In Jelzins
Führung kann man durchaus eine wesentliche Ursache dafür ausmachen, dass in
Russland das berühmt-berüchtigte Oligarchentum innerhalb weniger Jahre und
manchmal gar weniger Monate entstand. Aus einigen wenigen kleinen Sowjetbürgern
wurden über Nacht Multi-Milliardäre, die sich einen großen Teil des russischen
Volksvermögens angeeignet hatten. Kommunistische Seilschaften mutierten zu mafiösen
Strukturen, enttäuschte Militärs waren unruhig und altsowjetische Konterrevolutionäre
träumten davon, die Revolution von 1989/90 rückgängig zu machen.

Russland stand ganz nebenbei vor der Aufgabe, aus dem namensgleichen sowjetischen
Rubel eine neue Währung in Gestalt des heutigen russischen Rubels zu installieren - und
das alles, ohne dass es irgendein funktionierendes Finanzsystem gab. Immerhin, ein
solches Finanzsystem war ja gerade das entscheidende Feindbild der Kommunisten
gewesen, die die Wirtschaft, ohne sich um die Finanzen zu scheren, lenken wollten. (Die
notorischen Euro-Retter, deren Aufgabe dagegen vergleichsweise eine Petitesse ist,
demonstrieren seit Jahren, wie schwer es ist oder wie man es sich artifiziell schwer
machen kann, eine neue Währung zu etablieren und nach kürzester Zeit im
Dauerrettungsmodus aufrecht zu erhalten.) Für die gesellschaftliche und wirtschaftliche
russische Entwicklung war Jelzin eine mittlere Katastrophe. Allerdings hat er, zum Wohl
der Welt und auch Russlands, auch einen großen Beitrag zur politischen Stabilität
geleistet.

Und dann kam Putin

Und dann kam aus dem Nichts der im Westen oft herablassend und verächtlich als
kleiner KGB-Mann gescholtene Wladimir Putin, der auf seine ganz persönliche Art und
Weise das Heft des Handelns in die Hand nahm und aus dem Sauhaufen, den Jelzin
hinterlassen hatte, das heutige Russland mit seinen enormen Chancen, aber auch seinen
Schwächen formte. Was Putin in Russland für Russland und die Welt geleistet hat, ist in
Wahrheit eines dicken Friedensnobelpreises würdig. Leider ist der Friedensnobelpreis
in den letzten Jahrzehnten zu einem Glasperlenspiel westlinker Ideologen verkommen
und wird nach politischen Korrektheitsgrundsätzen vergeben.

Putin hat selbstherrliche Züge. Er mag kein lupenreiner Demokrat sein, aber seine
Person auf dem Präsidentenstuhl in Russland ist ein Segen für die Welt. Russland ist ein
Global Player und eine verkannte und negierte Supermacht. Das sollte man nicht
vergessen. Und: Manch ein amerikanischer Präsident ist eigentlich nur vom
existierenden demokratischen System zum Demokraten gemacht worden und ein
solches System fehlt in Russland. Noch. Demokratie kann man allerdings nicht von Oben
über Menschen, über ein Volk, über eine Gesellschaft, über einen Staat pressen und
erwarten, dass am nächsten Tag die Dinge idealtypisch laufen.

Der Transformationsprozess von der untergegangenen Sowjetunion, die ja viele
Sympathien bei den vollgefressenen Westlinken und im linksliberalen Establishment im
Westen genossen hatte, hin zu einem modernen, demokratisch und sozial verfassten,
kapitalistisch organisierten Staat ist eine Herkulesaufgabe. Die langwährende Diktatur
der "edlen" Sowjetkommunisten hat nicht nur das Staatsgebilde, sondern auch viele
Seelen verletzt und traumatisiert. Stalin stand Hitler in Sachen Völker- und Massenmord
nicht nach. Er wurde lediglich von dem westlinken Halbgott Mao Tse Tung in dieser
Kategorie übertroffen. Und Stalins Schatten wirkte in der Sowjetunion bis zu deren Ende
und darüber hinaus nach.

Ungeist gegen Putin liegt neben der Sache

Feige Kleingeister im Westen, die sich nicht trauen, Fehlentwicklungen im Westen selber
beim Namen zu nennen, sollten sich schämen, aber sie sollten sich vor allem hüten, mit
dümmlicher Überheblichkeit Putin besserwissend in die Schranken weisen zu wollen
und auf unangemessene Art zu kritisieren.

Tatsache ist, dass Putin kein Engel ist. Wer hätte das gedacht? Und Tatsache ist, dass
Putin in Sachen Rechtsstaat und Demokratie kein Musterknabe ist und originär eigene
Schwächen auf diesem Gebiet zeigt. Und der durchaus kunstsinnige Putin hat auch
einige Allüren.

Bei jedem kleinen Fußballstar stehen die Welt und die auf links gebürsteten Medien
Kopf. Den Fußballstars werden Steuerprivilegien, um es einmal vornehm auszudrücken,
kapitalistische Umtriebe und Verschwendungssucht mit Königsgehabe nicht nur
nachgesehen, sondern geradezu euphorisch erwartet. Und ähnlich geht's mit Popstars,
Filmgrößen und selbst der ersten Moderatorenriege des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks, outgesourcte Einzelunternehmer, die gigantische Vermögen akkumulieren
und dies vorwiegend mit einem süffisanten und verlogenen Gerede gegen Kapitalismus,
gegen Kapitalisten und andere Bösewichte und eben auch gegen einen Wladimir Putin.

Philosophierende und moralisierende Showgrößen, die mit solcherlei Attitüden ihr
Vermögen - fein säuberlich darauf achtend, immer im Zentrum des Mainstream zu
schwimmen - mehren und die veröffentlichte Meinung in Deutschland und im Westen
haben einen neben der Sache liegenden Ungeist gegen Putin erzeugt. Und dieser Ungeist
hat quasi zur Verstärkung seiner Anti-Putin-Note den Wunder-Oligarchen Michail
Chodorkowski sukzessive zu einer menschlichen und politischen Lichtgestalt idolisiert.

In den Zeiten des wilden Ostens hatte sich Chodorkowski jenes besagte fabelhafte
reichlich zweistelligen Milliarden-Vermögen, sagen wir einmal, zugeordnet, welches ihm
Putin, wahrscheinlich willkürlich, mit Hilfe von Staat und Justiz wieder zusammen
geschrumpft hat. Putin hat den Primat der Politik, eine selbstverständliche
Grundvoraussetzung für Rechtstaat und Demokratie, in Russland gegen die Oligarchie
von Gigantkapitalisten durchgesetzt und das ist, politisch und auch historisch gesehen,
weit bedeutsamer als ein möglicherweise oder gar wahrscheinlicherweise
rechtsstaatswidriges Urteil gegen einen Chodorkowski.

Letzterer ist dabei zu versäumen, volle Transparenz darüber herzustellen, wie hoch sein
offenbar teilweise in die Schweiz verbrachtes Vermögen denn heutzutage wohl noch ist -
sein Vermögen und das seiner Familie und seiner Gefolgsleute.

Ein Akt politischer Dummheit

In der aktuellen Öffentlichkeit der Bundesrepublik ist es kein Akt von Mut, kein Akt von
Weisheit, kein Akt von Moral, aber ein Akt politischer Dummheit, Putins Olympische
Winterspiele in Sotschi von offiziöser Seite zu boykottieren, wie es Bundespräsident
Joachim Gauck ohne Fortune zu tun angekündigt hat. Dass Obama himself nicht nach
Sotschi fahren will und stattdessen niederere Ränge dorthin entsendet, adelt Gaucks
politischen Fehler nicht. Obama, der um die Strahlkraft seines Heiligenscheines fürchten
muss und der auch gern Kritik an seiner NSA abfedern möchte, handelt sehr
durchschaubar, wenn er nicht nach Sotschi fährt. Es erstaunt nicht, wenn in dem
routinierten, sinnlosen, öffentlichen Putin-Bashing 65 Prozent der Deutschen Gaucks
Vorgehen goutieren. Wenigstens Kanzlerin Angela Merkel hat wohl einen kühlen Kopf
bewahrt und Gauck kritisiert.
Putin steht im Westen unter Generalverdacht in Sachen Menschenrechte. Unübersehbar
ist allerdings, dass Putin dabei von den routinierten Menschenrechtskämpfern, aber
auch von den Gaucks, den Hollandes, der ebenfalls nicht nach Sotschi fahren will, und Co.
so eine Art Blitzableiterfunktion zugeschrieben bekommt. Man kooperiert sonst
problemlos mit Staatslenkern und Machthabern, die weit mehr Zweifel an ihrer reinen
Liebe zur Menschlichkeit und den Menschenrechten erkennen lassen als Putin, aber
geostrategisch gesehen wegen geringerer Bedeutung nicht vergleichbar im Fokus
stehen. Man umarmt und küsst im Westen von höchster politischer Stelle höchst
zweifelhafte Gestalten, die man sich schön und demokratisch redet.

Das Putin-Bashing ist verlogen

Die Idolisierung des angeblich größten Feindes Putins mit Namen Chodorkowski ist in
diesem Lichte zu sehen. Das wissen ein Genscher genauso wie ein Westerwelle und auch
eine Merkel. Putin Brücken bauen, ihn im Westen aufnehmen und auf die Weise auch in
der russischen Innenpolitik auf den richtigen, sprich rechtsstaatlichen Kurs lenken, ist
politisch angezeigt. Nicht Putin quasi der Geschichte hinterher laufend zum bösen
Kalten Krieger stilisieren, sondern ihn in Europa und im Westen mitnehmen, würde
große Politik auszeichnen.

Russland in die EU! Russland in die Nato! Das sind Visionen. Putin liefert keinen
historischen Beitrag, der aus solchen Visionen irrationale Hirngespinste machen könnte.
Das Gegenteil trifft zu. Man muss Putin nicht lieben und man darf und soll ihn
kritisieren, aber aus bloßen Wohlfühlgründen im Mainstream dabei zu sein und Putin-
Schelte zu betreiben und dagegen zum Beispiel einen Chodorkowski zu idealisieren und
zu hofieren, als wäre dieser ein Heilsbringer, ist tumb.

Realpolitisch hat die Welt in der Person Putin einen russischen Präsidenten, der die
Entwicklung der zweitmächtigsten Atommacht langsam, aber sicher in Richtung eines
"normalen" Staates, einer "normalen" Demokratie, wie Chodorkowski es sich offenbar
wünscht, voran bringt. Mit Putin kooperieren statt ihn zu boykottieren ist die mit
Abstand bessere Politik.

http://www.wiwo.de/politik/deutschland/bettina-roehl-direkt-wladimir-putin-fluch-
oder-segen/9274398.html
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