Worte und Bilder, Gedichte und Erlebnisse zum Thema Zeit

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12.-14.10.12: 35. Tagung der Jean Gebser Gesellschaft
Worte und Bilder, Gedichte und Erlebnisse zum Thema Zeit

"Zeitnot, Zeitangst, Zeitfreiheit" – das war nicht nur Tagungsthema der Zusam-
menkunft im Jahr 2012: alle drei Stichworte waren auch an und in der Tagung
konkret zu erleben. Würden Anna Stüssi und Verena Stefan wirklich kommen
können und ihren Tagungsbeitrag einbringen? Würde Marc Wittmann, der bei
seinem Sonntagsreferat über "gefühlte Zeit und Körperzeit" fühl- und miterleb-
bar in Zeitnot geriet, noch zur Zeit über die Runden kommen? Würde die Neu-
gestaltung des Eröffnungsabends mit Zeit für Begegnung und Gespräche mit
dem freiwillig zu nutzenden Filmangebot den erwünschten Zugewinn an Ent-
spanntheit und Gelassenheit bringen? "Zeit" also als Tagungsthema UND als
Tagungserlebnis und zwar in allen Formen von "Zeitnot, Zeitangst und Zeit-
freiheit" -

Nach einem geruhsamen, kontaktfreudigen Begegnungsabend mit leckerem
Essen in geselliger Runde und bei guten Gesprächen spiegelte der Film "Ko-
yaanisquatsi" (Godrey Reggio) moderne Zeitnot und -angst in den USA der frü-
hen Achtzigerjahre. Er faszinierte mit Sequenzen aus dem Strassenverkehr, wo
die sich steigernden Zeitabläufe mit nächtlichen Scheinwerfern zu einem wah-
ren Bild- und Lichtballett wurden, ebenso mit sich bewegenden Menschenmas-
sen auf Bahn- und U-Bahn-Höfen, mit normierten Abläufen in Produktionsket-
ten – und all das ging mit galoppierenden Schnelligkeiten und musikalischen
Rhythmen (auf jeden Fall für Leute wie mich) manchmal bis an die Schmerz-
grenze. Dabei stimmte vor allem der Kontrast zwischen den stillen und extrem
langsamen Einstellungen der Naturaufnahmen im ersten Teil und den hekti-
schen, aufgepeitschten, raschen und lauten Stadtszenen nachdenklich – umso
tiefer konnte man/frau aufatmen bei einigen Gestalten und Gesichtern, die uns
auf der Strasse in slow motion entgegenkamen oder zulächelten. Die Nacht
gab Zeit zum Herunterkommen, Verlangsamen, Entspannen.

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Zeiterfahrungen in Literatur und Gebsers Werk
Der Samstag wurde von Vorstandsmitgliedern der Jean Gebser Gesellschaft be-
stritten. In Ko-Referaten führten Christian Bärtschi und Eva Johner Bärtschi ins
Thema Zeit und deren Aspekte Not, Angst und Freiheit ein. Christian Bärtschi
machte dabei einen literarischen tour d'horizon durch unterschiedliche Zeiter-
fahrungen von der hebräischen Bibel über die Märchen bis zur Weltliteratur des
19. und 20. Jahrhunderts. Dort wird immer wieder der Gegensatz zwischen ge-
messener und erlebter Zeit reflektiert sowie die Aufhebung des Leidens an Ver-
gänglichkeit dank der Erfahrung von Fülle in der Gegenwärtigkeit, ja die Um-
kehr von Zeit etwa in der "Korfschen Uhr" von Christian Morgenstern:

"Korf erfindet eine Uhr,
die mit zwei Paar Zeigern kreist,
und damit nach vorn nicht nur,
sondern auch nach rückwärts weist.

Zeigt sie zwei, - somit auch zehn;
zeigt sie drei, - somit auch neun;
und man braucht nur hinzusehn,
um die Zeit nicht mehr zu scheun.

Denn auf dieser Uhr von Korfen,
mit dem janushaften Lauf,
(dazu ward sie so entworfen):
hebt die Zeit sich selber auf."

Als geradezu "gebserisch" bezeichnet Bärtschi eine Gedichtstrophe von Gott-
fried Keller, der die Begrenztheit menschlicher Zeiterfahrung krass auf den
Punkt bringt und damit mit modernster naturwissenschaftlicher Forschung
übereinstimmt:

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"Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist die Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin."

Und wenn die Gebsertagung schon in Bern stattfindet, muss mit Kurt Marti
auch ein Berner das letzte Wort bei Christian Bärtschi haben:
"zyt isch nid zahl nid strecki
zyt isch es löcherbecki
wo scho nach churzem ufenthalt
dr möntsch z'dürab i d'unzyt fallt"

Eva Johner Bärtschi hingegen führte uns durch die Zeitvorstellungen, die Geb-
ser den unterschiedlichen Phasen des menschlichen Bewusstseins zuordnet. Als
Baby und Kleinkind leb(t)en wir alle noch in der Raum- und Zeitlosigkeit des
magischen Einsseins mit der uns umgebenden Wirklichkeit. Und unsere Seele
hat immer auch Teil an der vom mythischen Bewusstsein erlebten und gestal-
teten zyklischen Zeiterfahrung der Jahreszeiten im Sonnenjahr, der Mondpha-
sen und Lebensalter, der Gezeiten und Wechselgänge von Tag und Nacht. Und
ich möchte beifügen, dass es nicht zuletzt der Neuen Frauenbewegung der
70er und 80erJahre zu verdanken ist, dass zyklisches Zeitbewusstsein wieder
neu für viele Menschen ins Bewusstsein getreten ist und Anlass wurde zu
einem achtsamen und feiernden Umgang mit den kreisförmigen Rhythmen der
Natur. Dass das mentale Bewusstsein ganz auf die quantitativ gemessene, ge-
räumlichte und materialisierte Uhrenzeit setzt, dominiert und verändert das
Alltagsleben nun schon seit Jahrhunderten, hat uns individuell und kollektiv in
Zeitangst und Zeitnot versetzt – und verwandelt sich seit längerem mit dem
"Einbruch der Zeit" als Anzeichen der Bewusstseinsmutation zu einer integralen
Haltung, zu deren Hauptmerkmalen die Erfahrung der Zeitfreiheit gehört. Wer
– innerlich diaphan – alle bisherigen Zeitformen in sich als wirkend erleben
kann, die und der mag den Sprung erleben in a-rationale Zeitfreiheit, in erfüll-
tes Gegenwärtigsein.

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Crescendo vom Reden über Literatur zur Literatur selber

Zu seiner Präsentation von Zeiterfahrung bei Robert Musil und Virginia Woolf
lud Ruedi Hämmerli Anna Stüssi ein als Autorin einer Biographie von Ludwig
Hohl und Verena Stefan, die zurzeit an ihrem neuen Roman mit dem Arbeitsti-
tel "Die Sonne kann warten" arbeitet. Der "Einbruch der Zeit" zeigt sich, so
Hämmerli, in der Literatur als bewegliches Denken, das dem Prozesscharakter
der Welt so stark wie möglich zu folgen versucht. Wichtig wird ein waches Ver-
weilen bei den Dingen oder wie es Goethe sagte:„Die Augen auftun, beschei-
den sehen und warten, was sich dir in der Seele bildet“. Anfang des 20. Jahr-
hunderts wird der "stream of consciousness" zur bahnbrechend neuen neuen
Erzähltechnik, die von Schnitzler, Joyce, Virginia Woolf und Döblin entwickelt
wurde. Zentral zu tun mit dem Thema Zeit haben aber auch die Werke von
Proust ("A la recherche du temps perdu“), Thomas Mann, v.a. der "Zauber-
berg", und von Robert Musil. Hämmerli weist das an drei Punkten nach:
   1) Der "Einbruch der Zeit" führt dazu, dass sich die verdinglichte Identität
      etwa einer Figur auflöst, was bei Musil schon der Titel des "Mannes ohne
      Eigenschaften" ausdrückt. Dieser gönnt sich ja eine Auszeit, ein Jahr „Fe-
      rien von seinem Leben“ und will in diesem Selbstversuch frei sein von
      Festlegungen. Dadurch gibt es neben dem Wirklichkeitssinn neu Raum
      für den Möglichkeitssinn.
   2) kommt es zu einer Neubewertung der Erinnerung, die keineswegs ent-
      wertet, aber deutlich relativiert wird. In diesem Zusammenhang schreibt
      Gebser: "Die Abwendung von der Erinnerung ist eine Hinwendung zur
      Freiheit" und zitiert dazu T.S.Eliot: "This ist the use of memory: For libe-
      ration." Wurde früher sowohl im Mythos wie im Entwicklungsroman chro-
      nologisch erinnert und nacherzählt, so schildert Virginia Woolf EINEN Tag
      im Leben von "Mrs. Dalloway", an dessen Ende nichts mehr zwischen ihr
      und ihrem Leben steht. Oder wie es Martin Walser 1998 in "Ein springen-
      der Brunnen" ausdrückt: "Solange etwas ist, ist es nicht das, was es ge-
      wesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es
      passierte".

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3) Neu wird die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" als ein Aufscheinen
      von Zeitfreiheit dargestellt. Im Roman "Mrs. Dalloway", der den Arbeitsti-
      tel "The Hours" trug (was im 20. Jahrhundert als Filmtitel für diese Ge-
      schichte gewählt wurde), entsteht zwischen den Parallelgeschichten von
      Mrs. Dalloway und Septimus eine Resonanz, die deren Verläufe nicht er-
      klärt, aber dennoch erhellt und uns befreit aus "dem Hamsterrad egozen-
      trischer, linearer Zeitstruktur."

Diese drei Aspekte erörterte Ruedi Hämmerli anschliessend im spontanen Dia-
log mit Anna Stüssi über Ludwig Hohl, der auch über Zeit nachgedacht hat zum
Teil in ähnlicher Richtung wie Gebser. Zum Thema der Zeitintensität sagt
Ludwig Hohl, so Stüssi, dass der Dichter aus ihr schöpfe und sich für die
Momente ihres Auftauchens bereithalten solle. Dazu gehöre auch die Bereit-
schaft zu warten: die Langsamkeit des innern Wachstums zuzulassen, statt
sich von Zielvorstellungen und Absichten leiten zu lassen. Zum Auflösen von
äusseren und vermeintlichen Identitäten meint Hohl, dass ohnehin "fast alles
anders ist" und redet von Möglichkeitswelten, die parallel zur linearen Zeit vor-
handen sind. Hohl sei sich bewusst gewesen, dass das Ich viele sei, dass kein
Ding mit seiner Definition identisch sei. Vielleicht habe er eine Persona als
skurriler Typ kultiviert auch als Schutz vor den Auflösungstendenzen seines
Denkens, das leicht vom Hundertsten ins Tausendste geriet. An den fliessenden
Übergängen von Wissen und Schau schaute er genau hin, dort wo es durch-
lässig, diaphan werde, geschehe Einblick ins „Ganze", ins Integrale. Solche
Übergänge beschreibt Hohl auch in einem ausdrücklichen Text über das Lesen
und das Einschlafen. So wundert es nicht, dass er Musil zitierend sagt: "Dich-
ten ist keine Tätigkeit, sondern ein Zustand" – ein Zustand der Fülle, des Ge-
genwärtigseins, gemäss neuer Glücksforschung: des "flow", aus dem heraus
der Dichter schöpft. Diaphan wird ihm auch der hässliche Friedhof in Paris, wo
er das Grab von Catherine Mansfield besucht und erlebt: "Hier ist alles da. Die
Zeit stand still" und aus dem Gedicht auf dem Grabstein zitiert: "out of this
nettle danger/we pluck this flower safety".

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Die schweizerisch-kanadische Schriftstellerin Verena Stefan lebt seit 1999 in
Montreal und ist vielen Menschen – vor allem Frauen – seit 1975 bekannt, weil
damals im UNO-Jahr der Frau ihr Buch "Häutungen" Furore gemacht hat und
zum feministischen Kultbuch des Jahrzehnts wurde. Zurzeit arbeitet sie an
einem Roman über die Geschichte ihrer Herkunftsfamilie, vor allem ihres
Grossvaters, eines Berner Landarztes, mit dem sie – auch in Wirklichkeit – als
Kind ein inniges Verhältnis hatte, eine Art Verschwörung zweier Aussenseiter.
Der erste Arbeitstitel "Zwei oder drei Dinge, die wir voneinander wissen" mach-
te inzwischen dem zweiten Platz: "Die Sonne hat Zeit". Für Gebserleute span-
nend ihre Erzählung, dass sie zwischen 16 und 20 bei der Physiotherapeutin Jo
Gebser atmen, stehen, sitzen, gehen und da-sein gelernt habe, denn Jo kon-
frontierte sie immer wieder mit der Frage "Wo bist du?", wie vorher (mit 12)
ihr Klavierlehrer, der sie aufforderte, "in jedem Ton zu sein". Verena Stefan
berichtete von ihrer Forschungsarbeit im Bundesarchiv und las bewegende,
eindrückliche Kostproben aus dem entstehenden Buch.
Nach den Arbeitsgruppen am Nachmittag, in denen neben eigenständigen The-
men der Stoff des Vormittags diskutiert werden konnte, trafen sich die Gebser-
leute von nah und fern im barocken "Rathaus zum Äusseren Stand" zu einem
festlichen Abendessen mit Tafelmusik des Trios Amadeus Ammann. Mit ihrer
historischen Einleitung machte das Basler Vorstandsmitglied Ursa Krattiger, das
in Bern Geschichte studiert hatte, nicht nur auswärtigen Gästen bewusst, dass
wir hier tafeln dürfen in einem Empiresaal, in dem 1831 die liberale Berner und
1848 die erste Verfassung des schweizerischen Bundesstaates geschrieben
worden war. Errichtet worden war das Gebäude 1728 für das nachahmende
Lernen der Bernburger, der angehenden nächsten Generation von Regenten zur
Zeit des Patriziats, das 1798 gestürzt wurde. Im Rollenspiel und "learning by
doing" konnten sie hier in der Schattenregierung in allen Gremien und Ämtern
ihre kommenden Führungsaufgaben einüben und zelebrieren – und zwar in
völliger Analogie zum echten Herrschaftshandeln im "Rathaus des Inneren
Standes". Dazu gehörte auch die genaue Einhaltung der Vorschriften über die
Erfüllung der Amtspflichten sowie über Kleidung und Zeremoniell bei festlichen
Veranstaltungen.

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Gemessene und gefühlte, Uhren- und Körper-Zeit
Oliver Krüger, Professor für Religionswissenschaft an der Uni Fribourg, führte
am Sonntagmorgen durch die Geschichte der Zeitmessung unter dem Titel "Im
Laufe der Zeit. Zeiterfahrung und Zeitbeschleunigung in der Gegenwart". Dabei
interessierte ihn der Zusammenhang zwischen der Gesellschaft, in der Men-
schen leben, und der Art und Weise, wie sie in verschiedenen Epochen und so-
zialen Dimensionen Zeit erleben. Etymologisch komme "Zeit" von zerteilen,
zerschneiden, zerpflügen. Zeit messen heisst also, den Zeitenlauf zerteilen, um
ihn fassbar zu machen und zu konkretisieren. Die Geschichte der Zeitmessung
setzt ein mit dem Wahrnehmen von Tagen und Monden und der Erfahrung,
dass eine Schwangerschaft eben genau 10 Lunationen, 10 Mondmonate, dau-
ert (jedoch nur ungenaue 9 Monate moderner Zeitrechnung). Mit dem Einset-
zen einer bäuerlichen Kultur ab 7'000 v.Chr. entstehen an vielen Orten – z.B.
auf den Orkney Islands, in Stonehenge/England oder Newgrange/Irland – me-
galithische Steinkreise, die alle auf die Lichtachsen der Sonnenwenden oder
Tagundnachtgleichen ausgerichtet sind. Seit der Auffindung der Sonnenscheibe
von Nebra in Sachsen-Anhalt und den Ausgrabungen in Goseck können inzwi-
schen rund 120 Kreisgrabenanlagen aus Holzpalisadenzäunen zu kalendarisch-
kultischen Zwecken zwischen Elbe und Donau nachgewiesen werden. Ich dach-
te am 14.10. nicht daran, obwohl der hellblaue Gedichtband "Mit Füssen mit
Flügeln" geduldig in meiner Handtasche lag, aber auf der Heimreise von der
Tagung kam mir zu Krügers Ausführungen – endlich! - folgendes Gedicht von
Verena Stefan in den Sinn:

"Die Sehnsucht spricht
Ich bin Erde unter mir und Himmel über mir
Dicht ist es unter meinen Sohlen und
Vogelleicht über meinem Haar
In mir steigen und sinken die Wasser
Einer Uralten See
Eine alte rote Uhr misst in mir ihre Zeit
Monat um Monat wie am Himmel

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Ein alte weisse Uhr verändert ihr Licht
Ich spreche aus einem oberen Mund und einem unteren Mund
Ich kenne ein oberes Gesicht und ein unteres Gesicht
Ich kenne das Helle
Ich kenne das Dunkle
Die Sehnsucht schweigt"

Von den Mondzeiten zur ersten Sonnenuhr um 1450 v.Chr. in Aegypten, wo die
Uhr nicht nur rituellen Aufgaben diente, sondern auch den Beginn und das En-
de der Arbeit sowie die erste offizielle Mittagspause festlegte und angab. Die
Vorstellung, dass Zeit fliesst, mag auf Wasseruhren zurückgehen, und Plato soll
den ersten Wecker erfunden haben. Es gab auch Kerzen- und Räucherstäb-
chenuhren, und vom 6. Jahrhundert n.Chr. an wurden in China Uhren mit
einem Schlagwerk verbunden. Kirchen und Klöster im europäischen Mittelalter
brauchten Uhren zum Angeben und Einhalten der Stundengebete und Gottes-
dienste, und vom 13. und 14. Jahrhundert an wurden die mechanischen Uhren
immer zuverlässiger. 1555 hat ein Uhrmacher in der Schweiz den Sekundenzei-
ger erfunden. Uhren waren zunächst nur im öffentlichen Raum – auf Kirch- und
Stadttürmen, in Klöstern und Palästen - zu finden; die Taschenuhr, bei der
man/n die Zeit nun in der Tasche mit sich herumtragen konnte, vollzog den
Schritt zur Individualisierung der Zeitmessung. Die Eisenbahn verursachte ein
weiteres Bedürfnis nach Präzisierung und führte zum den Übergang von der
Ortszeit zu grösseren Zeit-Geltungsräumen: so wechselte man 1848 von der
Berner Zeit zur schweizerischen Standardzeit. Der 1. Weltkrieg brachte den
Soldaten – und später auch den Damen - die Armbanduhr; weitere Qualitäts-
steigerungen kamen mit den Quarz-, Digital- und Funkuhren sowie mit dem
Übergang von der astronomischen Messung auf die Bestimmung der Zeit durch
die Atomuhr seit den Dreissigerjahren.
Und parallel zu dieser wachsenden Verbesserung der Zeitmessung wie der Be-
schleunigung bemühten sich viele Denker um eine andere Differenzierung der
Zeit. Während Gebser den Weg weist von der "alles verschlingenden Büro- und
Fabrikzeit" zur "Zeitfreiheit", hält der Lebensphilosoph Henri Bergson die äus-

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sere und die innere, die quantitative und die qualitative Zeit auseinander. Dau-
er, sagt er, sei ein Produkt des menschlichen Bewusstseins. Paul Virilio hat sich
sein ganzes Leben mit der Beschleunigung allüberall befasst und kritisiert den
Geschwindigkeitsrausch unserer Zivilisation. Laut Norbert Elias ist dieser Zivili-
sationsprozess ein Weg der gegenseitigen Kontrolle und Koordination, die nur
mit immer besserer Zeitmessung zu verwirklichen ist. Dank der modernen Me-
dien wird heute nicht nur den Börsenhändlern, sondern buchstäblich jeder und
jedem die ständige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit rund um die Uhr abver-
langt. Ist es unter solchen Lebens- und Arbeitsbedingungen überhaupt mög-
lich, so fragt Krüger, ein integrales Bewusstsein zu entwickeln und zu leben?
Auf jeden Fall ist es heute unerlässlich, dass wir alle lernen, Zeit zu gestalten,
uns unseren Umgang mit der Zeit bewusstzumachen und ihm eigenständig,
eigenwillig Form - unsere Form - zu geben.

Deckt Krüger den Zusammenhang Zeiterleben-Gesellschaft auf, so geht Marc
Wittmann dem Entstehen des Zeitbewusstseins im Zusammenwirken von "ge-
fühlter Zeit und Körperzeit" nach. Er forscht am Institut für Grenzgebiete der
Psychologie und Psychohygiene in Freiburg i.Br. zum Thema Zeitwahrnehmung
und stellt als Erstes fest, dass jegliches Handeln immer über die Zeit hinweg
erfolgt – Zusammenarbeit jeder Art, tanzen etwa oder jagen, ist immer gegen-
seitig getimte Handlung. Und wie wir dabei Zeit erleben, hat ganz viel mit uns
selber zu tun: "So wie ich bin, so nehme ich die Zeit wahr". Meine Reaktions-
zeiten und die Schwankungen meiner Körpertemperatur oder der Aufmerksam-
keit sind in meinem Körper festzumachen und gehen nach meiner inneren Uhr.
Und es gibt sie wirklich, die Chronotypen der "Lerche" und der "Eule", die Mor-
gen- und die Nachtmenschen! Damit hat auch zu tun, wie wir z.B. das Warten
auf das Essen in einem Restaurant erleben oder den Wechsel der Sprechenden
in einem Gespräch – es korreliert sowohl mit unserem Chronotyp wie mit den
Spielregeln unseres Wohnortes, Landes oder unserer Kultur.
Aufgrund seiner empirischen Forschungen ist Wittmann zum Schluss gekom-
men, dass die Fähigkeit, warten zu können und Gratifikationen aufzuschieben
ganz wesentlich zum Lebenserfolg beitragen, ihn geradezu voraussagen lassen.

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Und ich erlebe seine Ausführungen als absolut überzeugende und dringliche
Einladung, seine Ergebnisse über die Aufmerksamkeit ernstzunehmen und ih-
nen im Alltag Folge zu leisten. Warum? Aufmerksamkeit, wache Präsenz, Acht-
samkeit – Gebser würde "Gegenwärtigkeit" sagen – verlängert nämlich die
Zeit, das Zeiterleben, subjektiv. Reiche, volle, kurzweilige Erfahrungen werden
in der Einnerung langsam, nehmen Raum ein. Wenig Interessantes, viel Lang-
weiliges, nicht voll Erlebtes verrinnt in der Erinnerung schnell, wird hinfällig.
Wenn ich sage: "Ich habe keine Zeit", dann bin ich nicht da im Hier und Jetzt,
dann bin ich zukunftsorientiert und schon beim nächsten Termin, dann habe
ich keine Präsenz, erlaube mir keine sinnliche Wahrnehmung der Gegenwart –
habe also kein intensiv erlebtes Leben und hui! ist die Zeit weg, das Leben ver-
flogen, und ich stehe da mit leeren Händen, leeren Seelenkammern, Seelenlo-
sigkeit. Umgekehrt verlangsamen achtsames Dasein, Gegenwärtigsein, in der
Gegenwartsein, das Zeiterleben und schaffen Raum für Sinnlichkeit, Präsenz,
Bewusstheit, Fülle, Farbigkeit, reichlich gefüllte Seelenspeicher – voll mit Inhal-
ten, Bildern, Klängen, Düften, Gedanken und Gefühlen. Denn "Zeit ist immer
die körperliche, die gefühlte Zeit". Und wenn wir sie nicht fühlen, dann "haben"
wir sie nicht; sie zerrinnt uns zwischen den Fingern. Wittmann sagt es nicht,
aber ich möchte schliessen mit einer Wendung der Zürcher Dichterin Elfriede
Huber-Abrahamowicz, dass wir das wach Erlebte und Genossene auch bewusst
"einmachen" sollten "ins Herz".
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