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www.ssoar.info Demenz-Report: wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können Sütterlin, Sabine; Hoßmann, Iris; Klingholz, Reiner Monographie / monograph Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with: SSG Sozialwissenschaften, USB Köln Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Sütterlin, S., Hoßmann, I., & Klingholz, R. (2011). Demenz-Report: wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können. Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-321483 Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine This document is made available under Deposit Licence (No Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, non- Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, transferable, individual and limited right to using this document. persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses This document is solely intended for your personal, non- Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für commercial use. All of the copies of this documents must retain den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. all copyright information and other information regarding legal Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle protection. You are not allowed to alter this document in any Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument document in public, to perform, distribute or otherwise use the nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie document in public. dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke By using this particular document, you accept the above-stated vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder conditions of use. anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.
Demenz-Report – Wie sich die Regionen auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 10627 Berlin www.berlin-institut.org Demenz-Report Wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz Das Berlin-Institut dankt der Robert Bosch Stiftung für auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können die Unterstützung bei der Erstellung dieser Studie. Berlin-Institut ISBN 978-3-9812473-4-3 ++++ wenn die Babyboomer ins Rentenalter kommen, fehlen potenzielle Betreuungspersonen +++ Abwanderungsregionen sind besonders gefordert +++ die Medizin hat nur wenig anzubieten +++ Solidarität muss neu gelernt werden +++ die Entwicklung der Kosten ist schwer abzuschätzen +++ Demenz gehört zum Leben +++ betreuende Angehörige entlasten +++ die Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz stärken +++ neue Wohnformen: Alternativen zu Haus und Heim +++ mindestens eine Million mehr Menschen mit Demenz bis 2050 in Deutschland +++ woher kommen die Pflegekräfte? +++ Angebote vernetzen +++++
Mit Ihrer Spende oder Zustiftung unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen globaler demografischer Veränderungen und der Entwicklungspolitik beschäftigt. Das Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu för- dern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. Das Berlin-Institut erstellt Studien, Diskussions- und Hintergrundpapiere, bereitet wissen- schaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf und betreibt ein On- line-Handbuch zum Thema Bevölkerung. Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen Online- Newsletter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org. Das Berlin-Institut finanziert sich über Projektzuwendungen, Spenden und Forschungs- aufträge. Das Institut ist als gemeinnützig anerkannt und erhält keinerlei öffentliche Grund- förderung. Spenden und Zustiftungen an das Berlin-Institut sind steuerlich absetzbar. Bankverbindung: Bankhaus Hallbaum BLZ 250 601 80 Konto 20 28 64 07 Bei Überweisungen bitte unbedingt Name und Adresse angeben, damit eine Spendenquittung zugestellt werden kann. Kontakt: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 10627 Berlin Telefon 030 22324845 Telefax 030 22324846 E-Mail: info@berlin-institut.org
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Demenz-Report Wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können
Impressum Herausgeber: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 10627 Berlin Telefon: (030) 22 32 48 45 Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org www.berlin-institut.org Erste Auflage Februar 2011 Autoren: Sabine Sütterlin, Iris Hoßmann, Reiner Klingholz Steuerungsgruppe: Reimer Gronemeyer, Martin Polenz, Almut Satrapa-Schill, Petra Weritz-Hanf Wissenschaftliche Beratung: Christian Behl (Interdisziplinäres Forschungszentrum für Neurowissenschaften der Universität Mainz), Ylva Köhncke (Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin) Lektorat: Margret Karsch, Renate Wilke-Launer Organisation: Christian Kutzner Gestaltung: Jörg Scholz, Köln (www.traktorimnetz.de) Druck: Gebrüder Kopp GmbH & Co. KG, Köln Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten wurde auf Grundlage des Programms EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt. Das Berlin-Institut dankt der Robert Bosch Stiftung für die Unterstützung bei der Erstellung dieser Studie.
INHALT DEMENZ IST EIN TEIL DES LEBENS ....................................................................................4 DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE ..............................................................................................6 1 – ALLMÄHLICHES VERGESSEN ........................................................................................8 2 – IMMER MEHR MENSCHEN MIT DEMENZ .....................................................................14 3 – WER KÜMMERT SICH UM DIE WACHSENDE ZAHL VON MENSCHEN MIT DEMENZ?.....29 4 – WIE KÖNNEN SICH GESELLSCHAFT UND POLITIK VORBEREITEN?............................56 HIER FINDEN SIE INFORMATIONEN UND HILFE...............................................................75 QUELLEN UND ANMERKUNGEN........................................................................................77
„Wenn ich drei Mal was frag‘, ja gut, das ist halt so. Das muss akzeptiert werden, ja.“ Karl-Heinz Kleine, München1 DEMENZ IST EIN TEIL DES LEBENS Die modernen Gesellschaften der Länder, die 2008 betrug der Anteil unter 20-Jähriger Was bedeutet dieser Prozess für unsere sich früh industrialisiert haben, stehen vor in den 27 EU-Mitgliedstaaten 21,7 Prozent, Gesellschaft? Sicher, die damit verbundenen einem Wandel, den es in der Geschichte der während die Altersgruppe 60 Jahre und älter Herausforderungen sind neu. Aber sie stellen Menschheit so noch nicht gegeben hat. Durch auf 22,4 Prozent kam.2 uns auch nur vor Aufgaben, wie sie jede die niedrigen Kinderzahlen wachsen die Generation auf andere Weise erlebt – und im Bevölkerungen kaum noch oder sie schrump- Deutschland ist beim demografischen Allgemeinen meistert. fen bereits, wie dies in Deutschland der Fall Wandel gewissermaßen als Pionier voran- ist. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung gegangen. Hier sind die Kinderzahlen Der erste Schritt im Umgang mit dem Wandel weiter an. Die Bevölkerung altert somit aus besonders früh eingebrochen, daher hat besteht darin zu erkennen, dass die Zeiten zwei Gründen: weil wenige Menschen nach- sich das Verhältnis bereits stark zugunsten des scheinbar immerwährenden Wachstums kommen und viele sehr viel älter werden. der Älteren verschoben: 18,8 Prozent unter vorbei sind. Das öffnet den Blick dafür, dass 20-Jährige stehen hier 25,9 Prozent von 60 wir zwar immer länger gesund bleiben beim Das hat dazu geführt, dass in Europa mitt- und mehr Jahren gegenüber.3 Aufgrund der Älterwerden, dass aber die Zahl jener, die lerweile mehr ältere Menschen als Teenager heutigen Geburtenzahlen und des beobach- Unterstützung benötigen, dennoch steigt. leben. teten Trends bei der Lebenserwartung lässt Denn so erfreulich es ist, dass unser Leben sich voraussagen, dass sich dieser Effekt in länger dauern kann – untrennbar damit ver- den kommenden Jahrzehnten weiter verstär- bunden ist, dass gegen das Ende hin häufig ken und der Anteil Hochaltriger zunehmen Krankheiten auftreten, die früher nur deshalb wird. Im Jahre 2050 dürfte jeder siebte seltener waren, weil weniger Menschen bis Bewohner der Bundesrepublik Deutschland ins hohe Alter überlebten. Im Kampf gegen 80 Jahre oder mehr zählen. Österreich und die Schweiz, die in diese Untersuchung mit einbezogen wurden, befinden sich auf dem gleichen Weg, sie sind nur noch nicht so weit fortgeschritten. 4 Demenz-Report
Seuchen oder gegen Krebs hat die Medizin Wir müssen lernen, mit Demenz zu leben. Wir insgesamt 69,4 Millionen Einwohnern betrof- zwar große Fortschritte gemacht. Typische dürfen zwar nicht vergessen, dass Demenz fen sein, also fast vier von hundert. Das sind Alterserkrankungen wie Arthrose oder eine Krankheit ist, aber wir sollten in erster zu viele, um sie in Heimen von Fachpersonal Altersblindheit kann sie aber bisher nicht Linie den Mitmenschen mit Demenz sehen versorgen zu lassen – selbst wenn es von verhindern. In besonderem Maße gilt dies für und dafür Sorge tragen, dass er mit seinen beidem genug gäbe. Strukturschwache Re- demenzielle Erkrankungen, die uns an unse- Wünschen und Fähigkeiten in soziale Bezüge gionen, aus denen die Jungen abgewandert rer empfindlichsten Stelle treffen – an unse- eingebunden bleibt. Das ist leider noch nicht sind und eine überwiegend ältere Bevölke- rem Geist und Verstand. Sie lassen sich bis oder nicht mehr selbstverständlich. rung zurückgelassen haben, sind damit in dato nicht einmal wirklich aufhalten. Und sie besonderem Maße gefordert. betreffen immer mehr Mitmenschen. In der Im frühen Stadium von Demenz ist ein ganz Schweiz, die Demenzen in der Sterbestatistik normaler Umgang mit den Betroffenen mög- Demografischer Wandel erfordert einen erfasst, stehen diese nach Herz-Kreislauf-Er- lich und erwünscht. Menschen mit Demenz klaren Blick auf das, was überhaupt möglich krankungen und Krebs neuerdings an dritter sind aber auch dann noch Teil der Gesell- ist. Und mehr Solidarität, als wir sie in den Stelle bei den häufigsten Todesursachen.4 schaft, wenn sie sich vielleicht nicht der goldenen Jahren für nötig hielten. Damals Norm entsprechend verhalten. Forschungs- konnte und wollte der Staat viele soziale Demenzen setzen der Vorstellung, natur- ergebnisse zeigen, dass auch in Spätstadien Aufgaben übernehmen, die heute, in Zeiten wissenschaftlicher Fortschritt könne alle der Erkrankung noch reiche emotionale Res- knapperer Kassen, nicht mehr im gewohnten körperlichen und geistigen Funktionsstörun- sourcen erschlossen werden können. Unsere Umfang geleistet werden können. Die inner- gen irgendwann in den Griff bekommen, Haltung Menschen mit Demenz gegenüber familiäre und innergesellschaftliche Hilfe einen empfindlichen Dämpfer auf. Diabetiker schafft die Rahmenbedingungen, die darü- hat mit dem sozialen Wandel abgenommen. wissen, wann sie ihren Blutzuckerspiegel mit ber entscheiden, ob dieses Krankheitsbild Solidarität muss in einer Gesellschaft, die Insulin drosseln müssen, manches kaputte mit Ängsten und Vorurteilen besetzt bleibt zudem durch Zuwanderer aus anderen Kul- Knie oder verkalkte Hüfte lassen sich durch oder als eine von vielen Facetten des Lebens turen vielfältiger geworden ist, neu definiert ein künstliches Gelenk ersetzen. Gegen akzeptiert wird und damit für alle leichter zu und neu gelernt werden. Den Wandel, der uns Demenz hat die Medizin bislang wenig anzu- bewältigen ist. alle betrifft, können wir nicht aufhalten. Aber bieten und es gibt keine Anzeichen dafür, wir können – und werden – unser Bild einer dass sich daran kurzfristig etwas ändern Die Alterung der Gesellschaft und die damit modernen Gesellschaft verändern. Und damit würde. Menschen mit Demenz können von verbundene Zunahme demenzieller Erkran- das Bild von uns selbst. einem bestimmten Stadium der Erkrankung kungen kosten mit Sicherheit viel Geld – für an nicht mehr sagen, ob ihnen etwas weh tut Diagnosen, Medikamente und andere Thera- oder ob sie etwas benötigen. Sie brauchen pien, für Pflege und Betreuung. Der Gedanke Berlin, im Januar 2011 vor allem menschliche Zuwendung, Einfüh- lässt Menschen im erwerbsfähigen Alter lungsvermögen und Zeit, denn sie äußern womöglich schaudern, klamme Kommunen, Dr. Reiner Klingholz ihre Bedürfnisse oft über die Mimik oder die Kantone, Bundesländer und Staaten sowieso. Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung Körperhaltung. Doch mit Geld allein lässt sich angesichts der und Entwicklung absehbaren Entwicklung wenig ausrichten: Bei einer Bevölkerung von 77,4 Millionen im Jahre 2030 dürften in Deutschland zwei Millionen Menschen mit Demenz leben, im Jahre 2050 könnten sogar 2,6 Millionen von Berlin-Institut 5
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE Der Begriff Demenz bezeichnet eine ganze Einige Regionen im Osten Deutschlands Kommunen tun also gut daran, die Öffent- Gruppe von Krankheitsbildern, bei denen liegen heute schon über diesem Durch- lichkeit auf den Umgang mit gelegentlich wichtige Gehirnfunktionen wie Gedächtnis, schnitt, die Werte dort dürften sich bereits desorientierten Mitbürgern vorzubereiten Orientierung, Sprache und Lernfähigkeit 2025 verdoppelt haben. Zu diesem Zeitpunkt sowie Fantasie und Engagement zu fördern, nach und nach unwiederbringlich verloren erreichen die starken Jahrgänge der „Baby- um ein Unterstützungssystem jenseits der gehen. Mit rund zwei Dritteln aller Fälle ist boomer“ das Rentenalter. Die nachfolgenden heutigen Institutionen aufzubauen. Es gibt die Alzheimer-Krankheit die häufigste Form. Generationen, die sich als Kinder, Schwie- viele Ideen und Modelle, die Lebensqualität Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu er- gerkinder, Enkel oder auch als professionelle von Menschen mit Demenz in allen Stadien kranken, steigt nach dem 65. Lebensjahr steil Pflegekräfte um demenziell Erkrankte küm- der Erkrankung zu fördern. Und es gibt viele an. Dabei sind aufgrund der höheren Lebens- mern könnten, fallen deutlich kleiner aus. Möglichkeiten, den pflegenden Angehörigen, erwartung des weiblichen Geschlechts mehr Daraus ergibt sich eine Lücke, die zu füllen die heute die Hauptlast tragen, etwas davon Frauen als Männer betroffen. eine wichtige gesellschaftliche und politische abzunehmen. Einige Beispiele sind in den Aufgabe darstellt. letzten beiden Kapiteln dieses Berichtes dar- Nach aktuellen Schätzungen leben heute gestellt. Die Empfehlungen, die sich daraus rund 1,3 Millionen Menschen mit Demenz Vor besonderen Herausforderungen stehen ableiten, sind nachfolgend zusammengefasst. in Deutschland. In Österreich sind es rund dabei wiederum jene Regionen, deren 130.000 und 120.000 in der Schweiz. Im Bevölkerungsstruktur von Alterung und Ab- Durchschnitt kommen somit rund 1.500 wanderung geprägt ist, in denen also heute Menschen mit Demenz auf 100.000 Einwoh- schon relativ wenige potenziell Betreuende ner. Weil die Bevölkerungen generell altern, im Erwerbsalter für die über 65-Jährigen dürfte sich dieser Anteil in Österreich und da sind. Diese Regionen übernehmen eine der Schweiz bis zum Jahr 2050 verdoppeln. Pionierrolle, denn früher oder später wird die In Deutschland, das sich kaum noch durch Entwicklung auch Regionen erreichen, die Zuwanderung verjüngt, ist in diesem Zeit- heute noch vergleichsweise jung sind. raum deutlich mehr als eine Verdoppelung zu erwarten. Um den Herausforderungen zu begegnen, ist nicht in erster Linie Geld nötig. Immer mehr Heime zu bauen, taugt kaum als Zukunftsstrategie, da deren Betrieb sehr teuer ist und teilweise schon heute zu wenig qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Vielmehr fehlt es an Aufklärung. Demenz ist heute häufig mit Ängsten und Tabus besetzt, nicht zuletzt, weil die Forschung bis dato kein Heilmittel gefunden hat. Umdenken ist gefordert: Demenz ist ein normaler Teil des Alterns. Menschen mit Demenz können ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen, wenn ihre Umgebung darauf eingestellt ist. 6 Demenz-Report
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE Was kann der Staat tun? Was können Kommunen, Was kann jede und jeder Kreise, Kantone tun? Einzelne tun? die demografischen Daten zur Kennt- nis nehmen und auf dieser Grundlage sich informieren sich informieren eine Demenz-Strategie entwickeln Projekte und Modelle studieren, sich engagieren die gesetzlichen Regelungen zur Handbücher und Internetportale nutzen, Versorgung Pflegebedürftiger den gute Ideen nachahmen betreuende Angehörige unterstützen Bedürfnissen von Menschen mit Demenz anpassen vorhandenen Sachverstand ausfindig bei Verdacht auf demenzielle Erkran- machen und nutzen kung bei sich selbst oder nahestehen- pflegende Angehörige unterstützen den Personen fachlichen Rat suchen, und deren Motivation auch in Zukunft die bestehenden Einrichtungen abklären lassen erhalten, etwa durch Anrechnung von und Organisationen einbinden und Betreuungszeiten auf die Rente, die untereinander vernetzen bei Diagnose Demenz die Zeit nutzen Förderung von Teilzeitarbeit, oder durch und rechtzeitig Vollmachten erteilen, direkte Leistungen die Öffentlichkeit informieren Finanzielles und juristische Fragen regeln ehrenamtliches Engagement anregen aktiv gegen Tabus kämpfen und fördern das Recht von Menschen mit Forschung gezielt fördern: sowohl Demenz auf ein selbstbestimmtes Leben Eine Liste mit Links und anderen biomedizinische als auch Versorgungs- vertreten Informationsquellen findet sich am forschung, Datenerhebung et cetera Schluss des Berichts. Diskussionsforen und andere Möglichkeiten bieten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen die Bürgerinnen und Bürger, ein- schließlich der nachwachsenden Generationen, mit ins Boot holen, ihre Kreativität herausfordern, ein Klima schaffen, das zur Beteiligung einlädt ehrenamtliches Engagement anregen und auch anerkennen die Schaffung alternativer Wohn- formen unterstützen Demenz in Orts- oder Stadtteilplanung einbeziehen Berlin-Institut 7
ALLMÄHLICHES 1 VERGESSEN „Wir hatten uns den Ruhestand jedes Wochenende im Wechsel besuchten, Die Mitarbeiter eines Altersheimes, in dem anders vorgestellt“ gab Frau R. ihren Job in Hannover auf und Frau R. ihn während eines Kuraufenthaltes zog in das großzügige Einfamilienhaus ein, vorübergehend unterbrachte, verwiesen sie Auf den ersten Blick ist nichts Außergewöhn- das Herr H. einst selbst gebaut hatte. Dieser an eine Gedächtnisklinik. Sie bekam einen liches zu erkennen. Peter H., 72 Jahre, ist hatte inzwischen die Firma aufgelöst. Die Termin – sechs Monate später. Doch als es ein stattlicher, gepflegt gekleideter Mann. Er beiden genossen einen aktiven Ruhestand so weit gewesen wäre, wurde eine Gallen- lacht fröhlich, als er die zur Begrüßung an- mit Fahrradtouren, Reisen und anderen blasenoperation nötig. Zu diesem Zeitpunkt gebotene Hand drückt. Herr H. hat Demenz. Unternehmungen. war Herr H. bereits nicht mehr in der Lage, Ohne die Unterstützung seiner Lebensge- die Einverständniserklärung für den Eingriff fährtin Sigrid R., 60, könnte er seinen Alltag Vor fünf Jahren fielen Frau R. erstmals Verän- zu unterschreiben, seine Söhne erhielten nicht bewältigen. Morgens hilft sie ihm derungen an ihrem Partner auf. Mit der Mor- eine Vollmacht. Schließlich fand sich eine beim Aufstehen, wäscht ihn und zieht ihn genzeitung war er merkwürdig schnell fertig. andere Klinik, die kurzfristig die für eine an. Wenn Frau R. ihm dann die Zahnbürste Mit dem Auto fuhr er Schlangenlinien. Ein- sichere Diagnose notwendigen Tests und reicht, lacht er diese an, weiß aber nichts mal kehrte er von einem Fahrradausflug mit Untersuchungen vornahm. damit anzufangen. Es kommt vor, dass er einer Acht im Rad zurück, ohne erklären zu mit den Fingern isst, weil ihm der Gebrauch können, wie es dazu gekommen war. In dem Damit konnte Frau R. nun offiziell Pflege- des Bestecks entfallen ist. Ein Gespräch mit Laden, in dem er seit jeher einkaufte, wusste leistungen beantragen. Denn längst war die ihm zu führen ist nicht möglich, er vermag er plötzlich nicht mehr, wo der Zucker steht. Versorgung ihres Lebensgefährten zu einem allenfalls die Stimmung seines Gegenübers Die zwei erwachsenen Söhne von Herrn H., kräftezehrenden 24-Stunden-Job geworden: zu erfassen. denen sie davon erzählte, winkten ab: Im Zwei Mal pro Nacht muss sie aufstehen, Alter ein bisschen schusselig zu werden sei um die Inkontinenzeinlagen zu wechseln. „Wie ein großes Kind“, sagt Frau R. und doch normal. Doch dann sollte die Küche Ständig muss sie ihn ermuntern, Flüssigkeit wischt sich eine Träne aus dem Augenwin- neu gefliest werden und Herr H. scheute sich zu sich zu nehmen, muss darauf achten, dass kel: „Es ist traurig zu sehen, wie ein so guter sichtlich, die Arbeit in Angriff zu nehmen, er seine Medikamente einnimmt, ihn zum Mensch verfällt und nicht mehr er selbst ist. die er früher mit links erledigt hätte. Da Friseur, zur Fußpflege und zu Arztterminen Wir hatten uns das ja anders vorgestellt.“ wurde ihr klar: „Hier stimmt was nicht.“ chauffieren. Um den ganz normalen Pa- pierkram muss sie sich sowieso kümmern, Peter H. ist gelernter Maurer und hat lange Bis dann die Diagnose Alzheimer-Demenz um Überweisungen, Versicherungen und als selbständiger Kleinunternehmer Ein- feststand, gingen nochmals fast zwei Jahre dergleichen. Die Söhne, 46 und 40 Jahre familienhäuser oder Ställe für die Bauern ins Land. „Ich hatte doch keine Erfahrung“, alt, haben zwar alle Vollmachten, sie rufen in der ländlichen Gegend nordwestlich von sagt Frau R., „und er hat seine Ausfälle wohl auch regelmäßig an und besuchen das Paar. Hamburg gebaut, wo er auch aufgewachsen bemerkt, aber versucht zu verstecken“. Anpacken muss Frau H. indessen allein. ist. Früh verwitwet, lernte er im Jahre 1999 Auch, indem er sich immer mehr zurück- Sigrid R. aus Hannover kennen, die ein Jahr zog, alle Kontakte abbrach, um sich nicht zuvor ebenfalls Witwe geworden war. Nach erklären zu müssen. Als er sich morgens einem Jahr, in dem sich die frisch Verliebten nicht mehr waschen wollte, holte sich Frau R. zeitweilig Hilfe bei dem mobilen Pflege- dienst der Diakonie. 8 Demenz-Report
Was ist Demenz? Was ist der Unterschied zwischen Alzheimer und Demenz? Der Begriff Demenz leitet sich von dem la- teinischen Wort dementia ab und bedeutet Demenz ist der Überbegriff. Eine der mög- wörtlich „ohne Verstand“. Früher fiel darunter lichen Formen von Demenz ist die Alzheimer- jede Art von geistiger Störung. Heutzutage Krankheit, benannt nach dem Münchner bezeichnet Demenz eine ganze Gruppe von Neurologen Alois Alzheimer, der 1906 Krankheitsbildern. Den Betroffenen kommen erstmals die charakteristischen Veränderun- Inzwischen ist ihr ein Teil der Last abge- nach und nach wichtige Funktionen des Ge- gen im Gehirn einer verstorbenen Patientin nommen. Nachdem der erste Antrag auf hirns abhanden: Gedächtnis, Denken, Orien- beschrieben hatte. Dabei bilden sich Protein- KAPITEL 1 Anerkennung der Pflegebedürftigkeit, tierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Ablagerungen im Hirngewebe, so genannte ohne die es keine finanzielle Hilfe für pro- Sprache und Urteilsvermögen. Amyloid-Plaques zwischen den Nervenzellen fessionelle Unterstützung gibt, abgelehnt und faserförmig verklumpte so genannte worden war und Frau R. eine Weile erfolg- Das Bewusstsein ist dabei nicht getrübt. Tau-Proteine innerhalb der Zellen. Möglicher- los herumtelefoniert hatte, fand sie bei der Halluzinationen können sich einstellen; weise tragen diese Ablagerungen dazu bei, Kreis-Beratungsstelle für Pflege, getragen Betroffene sprechen etwa von einem „Film“, dass die Nervenzellen absterben und Signale von der Alzheimer Gesellschaft, endlich die den sie parallel zur Realität wahrnehmen. zwischen den verbliebenen Nervenzellen richtigen Informationen. Binnen kurzem Neben den genannten „kognitiven“ Funktio- nicht mehr richtig weitergeleitet werden. war Herr H. im Besitz eines Behinderten- nen – also jenen, die der Wahrnehmung und Wie das genau geschieht, wird jedoch noch ausweises und erhielt Leistungen aus Erkenntnis dienen – verändert sich manch- erforscht. Die Alzheimer-Krankheit macht der gesetzlichen Pflegeversicherung. Er mal auch die Persönlichkeit. Dies äußert mit geschätzten zwei Dritteln aller Fälle stieß zum Dienstags-Treff der örtlichen sich individuell unterschiedlich. Menschen den Hauptanteil unter den verschiedenen Alzheimer Gesellschaft, wo Ehrenamtliche mit Demenz können einen heiteren Gemüts- Demenz-Formen aus.5 Menschen mit Demenz in kleinen Gruppen zustand aufweisen, sie können aber auch betreuen – für Sigrid R. drei freie Stunden, antriebslos wirken oder in unkontrollierte in denen sie auch mal wieder an sich den- Gefühlsausbrüche verfallen. ken konnte. Später erhielt Herr H. einen Platz in einer professionellen Tagespflege. Dort verbringt er inzwischen vier Tage die Woche, wird morgens zwischen acht und Sonstige neun Uhr mit einem Kleinbus abgeholt Alzheimer ist die häufigste Alzheimer- und gegen Abend wieder bis zur Haustür Form von Demenz Mischformen Demenz 5 gebracht. Und ist sichtlich zufrieden. von Demenz Die Alzheimer-Krankheit ist unter den demenziellen Erkrankungen 15 „Er kann sich wieder über schöne Blumen bei weitem die häufigste. Nicht freuen oder über gutes Essen“, erzählt in allen Fällen lässt sich jedoch Sigrid R.: „Überhaupt ist er ganz lieb, er genau feststellen, welche Form lacht viel, ist bisher nie aggressiv gewor- vorliegt. Die Angaben schwanken denn auch je nach Quelle. den. Und wenn ich ihn umarme und sage: Peterchen, ich hab dich lieb, dann umarmt Vaskuläre 15 er mich zurück.“ Demenz 65 Berlin-Institut 9
Was ist die Ursache von Welche weiteren Formen von Werden nur alte Leute dement? Alzheimer? Demenz gibt es? Alter ist der entscheidende Risikofaktor: Nach Die Wissenschaft hat bislang nicht zu ergrün- Ähnlich wie bei der Alzheimer-Krankheit dem 65. Lebensjahr steigt die Wahrschein- den vermocht, warum sich bei Alzheimer- kommt es auch bei der Lewy-Körperchen- lichkeit, an Demenz zu erkranken, deutlich Patienten Ablagerungen im Gehirn bilden. Demenz und bei der Pick-Krankheit zum an. Weniger als drei Prozent der Erkrankun- Sie kann auch nicht erklären, warum manche Absterben von Nervenzellen in bestimmten gen treten unterhalb dieser Altersgrenze auf, Menschen in geistiger Gesundheit alt werden, Gehirnregionen. Bei der Pick-Krankheit, sie werden als Demenz mit frühem Beginn obwohl nach ihrem Tod massive Ablagerun- im Fachjargon fronto-temporale Demenz bezeichnet.7 gen in ihrem Gehirn zu finden sind. Solche genannt, betrifft dies vorrangig Areale, die widersprüchlichen Befunde kennt man aus das Verhalten kontrollieren. Studien an Ordensschwestern, die über viele Ist Demenz erblich? Lebensjahre beobachtet werden konnten und Auch eine gestörte Durchblutung der Blut- die ihre Gehirne nach dem Tod der Forschung gefäße im Gehirn oder mehrere kleine Hirn- zugänglich gemacht hatten. schläge können letztlich zu dem beschrie- Bestimmte genetische Voraussetzungen, benen Krankheitsbild führen.6 Dies wird beispielsweise solche, die mit der Regulie- als vaskuläre (lateinisch für gefäßbedingte) rung der Blutfette zu tun haben, spielen bei Demenz bezeichnet. Etwa 15 Prozent der der Entstehung der Alzheimer-Krankheit eine auftretenden Demenzen entfallen auf diese Rolle. Sie sind jedoch nicht der alleinige Aus- Form, weitere 15 Prozent auf Mischformen löser, sondern lediglich ein Risikofaktor.8 von Alzheimer- und vaskulärer Demenz. Außerdem kann Demenz als Begleiterschei- Bei der familiären Alzheimer-Krankheit hin- nung anderer Krankheiten auftreten, bei- gegen reichen einzelne Genveränderungen spielsweise bei Parkinson, bei einer Infektion aus, um das Krankheitsbild hervorzurufen. mit HIV, bei Tumoren oder nach schweren Sie kommt aber sehr selten vor. In den Schädel-Hirn-Verletzungen. betroffenen Familien tritt die Erkrankung häufig bereits in jüngeren Jahren auf, das Ob Nervenzellen absterben oder Durchblu- heißt vor dem 60. Lebensjahr. Wer mehrere tungsstörungen Schäden anrichten – die nahe Verwandte hat, die vorzeitig an Demenz sichtbaren Symptome unterscheiden sich erkrankt sind, muss mit einem gegenüber bei den verschiedenen Formen von Demenz dem Durchschnitt der Bevölkerung erhöhten wenig. Nur die Geschwindigkeit, mit welcher eigenen Demenz-Risiko rechnen. Umgekehrt der kognitive Verfall fortschreitet, fällt unter- liegt allerdings nicht jedem Fall von Demenz schiedlich aus. Manchmal lässt sich nicht ab- mit frühem Beginn eine vererbte Genverän- schließend klären, welche Form im Einzelfall derung zugrunde. vorliegt oder ob es sich um eine Mischform handelt. Für das Leben mit Demenz ändert dies wenig. Demenzartige Ausfälle können auch als Folge extremer Mangelerscheinungen auftreten, zum Beispiel bei starker Austrocknung oder bei einer Fehlfunktion der Schilddrüse. Im Unterschied zu den zuvor aufgezählten For- men von Demenz verschwinden diese Aus- fälle jedoch, sobald der zugrunde liegende Mangel behoben ist. 10 Demenz-Report
Menschen mit beginnender Demenz gehen Wo liegt die Grenze zwischen Wie verläuft die Erkrankung und einem Arztbesuch womöglich aus dem Weg, Alterszerstreutheit und Demenz? wie lange dauert sie? aus Scham oder weil sie den Gedanken an eine Erkrankung verdrängen. Da ein Patient Es ist normal, ab und zu die Hausschlüssel aber nur mit seinem Einverständnis medi- Bei jedem betroffenen Menschen etwas an- zu verlegen. Wenn aber jemand sein Schlüs- zinisch untersucht werden kann, benötigen ders. Zu Beginn fallen manchmal kognitive selbund im Kühlschrank oder anderen un- Angehörige viel Fingerspitzengefühl, um bei- Störungen auf (siehe „Wo liegt die Grenze sinnigen Stellen verstaut und dies nicht nur spielsweise bei einem ohnehin anstehenden zwischen Alterszerstreutheit und Demenz?“). einmal, heißt es aufmerken. Typische erste Termin das Thema anzusprechen. Grundsätz- Grob lassen sich drei Stadien unterscheiden. Anzeichen sind auch massive Wortfindungs- lich kann der Hausarzt, ein Allgemeinprak- Zur Bewertung ziehen die Experten dabei störungen oder das Nichterkennen eigentlich tiker oder Internist die Verdachtsdiagnose meist das Ergebnis des „Mini-Mental-Status- KAPITEL 1 vertrauter Gegenstände, Personen und Orte. stellen und die medizinische Versorgung Tests“ heran: Der Maximalwert beträgt 30 Wenn mehrere kognitive Funktionen, etwa übernehmen. Die Diagnose sichern sollte Punkte. Bei weniger als 24 Punkten spricht das Gedächtnis und der Orientierungssinn, aber eine spezialisierte Praxis für Neurologie man von leichter Demenz, bei weniger als 20 sich über ein halbes Jahr hinweg fortschrei- und Psychiatrie, eine Gedächtnissprechstun- von mittlerer und bei weniger als zehn Punk- tend verschlechtern, sollte man zur Abklärung de oder „Memory Clinic“.11 ten von schwerer Demenz. einen Arzt aufsuchen. Für die Diagnose sind die Aussagen beglei- Menschen mit Demenz im Anfangsstadium Die Medizin spricht bei Menschen mit sol- tender Angehöriger über Ausfälle und den können im Großen und Ganzen ein normales chen Auffälligkeiten, die ihren Alltag normal Zeitraum, in dem diese zu beobachten waren, Leben führen. Nur komplizierte Aufgaben bewältigen, von „leichter kognitiver Beein- wichtig. Mithilfe psychologischer Untersu- zu erledigen fällt ihnen schwer. Wenn sie trächtigung“. Dieser Zustand mündet in vie- chungen wie dem „Mini-Mental-Status-Test“ Schwierigkeiten mit der räumlichen Orientie- len, aber nicht in allen Fällen in eine Demenz, oder dem Uhren-Zeichen-Test („Zeichnen rung haben, müssen sie eventuell das Auto- meist vom Alzheimer-Typ.9 Sie eine Uhr, deren Zeiger auf zehn vor elf fahren aufgeben oder, falls noch berufstätig, stehen“) lässt sich dann der Verdacht auf die Arbeit. Hinzu können passives Verhalten Demenz recht einfach eingrenzen. Ergänzend oder depressive Verstimmungen kommen. müssen bestimmte Blutwerte analysiert wer- Im mittleren Stadium ist eine selbständige Wer stellt die Diagnose und wie? den, um möglicherweise behandelbare zu- Lebensführung mit Unterstützung möglich. grunde liegende Erkrankungen auszuschlie- Betroffene können einfache Tätigkeiten Je früher eine Demenz eindeutig diagnos- ßen. Bildgebende Verfahren wie Computer- verrichten. Mitunter entgleitet ihnen jedoch tiziert wird, desto besser. Denn so können Tomografie oder PET-Scan machen eventuell die Kontrolle über ihre Gefühle. Schreitet Betroffene selbstbestimmt und in aller Ruhe, vorliegende Tumore sichtbar und geben im die Krankheit weiter voran, können sie kaum gemeinsam mit der Familie, dem Freundes- Fall einer Alzheimer- oder anderen degenera- noch ein eigenständiges Leben führen: Sie kreis und gegebenenfalls dem Arbeitgeber, tiven Form von Demenz Aufschluss über das vermögen nicht mehr zu sprechen, innere ihre Angelegenheiten regeln und ihre weitere Ausmaß der Zerstörungen im Hirngewebe. Unruhe treibt sie und oft gerät der Tag-Nacht- Lebenssituation planen. Außerdem verbes- Rhythmus durcheinander. sert eine frühe Diagnose die Aussichten, den Rückgang der kognitiven Leistungen mit Me- Bei einer schweren Demenz geht allmählich dikamenten, aber auch mit Rehabilitations- auch die Kontrolle über Appetit, Durst und maßnahmen und Trainings hinauszuzögern. andere Körperfunktionen verloren. Dadurch stellen sich in diesem dritten Stadium Die Diagnose mag zunächst schockieren, sie in ganz besonderem Maße zusätzliche, verschafft aber auch Klarheit, der betroffenen alterstypische Erkrankungen ein: Unter- Person wie auch den Angehörigen. Und sie ernährung, Muskelschwund und mangelnde hilft, Fehlbehandlungen zu vermeiden.10 Berlin-Institut 11
Bewegungskoordination können zu Stürzen Kann man vorbeugend etwas Bewahrt Bildung vor Demenz? führen, die ein hohes Risiko für Knochen- gegen Demenz tun? brüche bergen.12 Die geschwächte körper- eigene Abwehr lässt schwer Demenzkranke Auch Intellektuelle sind nicht dagegen gefeit, auch anfälliger für Infektionen werden, etwa Zumindest das Risiko für vaskuläre Demenz wie das in einem eindrücklichen Film doku- Lungenentzündungen, die zum Tode führen lässt sich beeinflussen: durch alles, was die mentierte Beispiel des Tübinger Rhetorik- können. Eine fortgeschrittene Demenz erfor- Blutgefäße schützt. Wer sich also gesund Professors und Literaten Walter Jens zeigt.21 dert einen hohen Aufwand an Betreuung, den ernährt, viel bewegt und nicht raucht, wer Es gibt aber Hinweise, dass das Gehirn von die Angehörigen oft nicht mehr leisten kön- Gewicht, Blutdruck, Blutzucker und Blut- Menschen, die ein geistig und sozial sehr nen. Sie ist daher der mit Abstand wichtigste fettwerte im Auge behält beziehungsweise aktives Leben führen, eine gewisse „Reserve“ Anlass für die Aufnahme in ein Pflegeheim.13 behandeln lässt, hat bessere Aussichten auf hat. Es kann also angehäuftes Wissen noch Jedes der drei Stadien dauert durchschnitt- ein Alter in Gesundheit. Ein solcher Lebens- lange nutzen, auch wenn die Fähigkeit zum lich drei Jahre. Bei Alzheimer kann die stil schützt womöglich bis zu einem gewissen Lernen, Denken und Kombinieren allmählich Erkrankung sowohl viel langsamer als auch Grad auch vor der Alzheimer-Krankheit, da verschwindet.22 schneller ablaufen.14 sich die beiden Formen von Demenz mischen können und – falls Gefäßerkrankungen wei- In den meisten Ländern taucht Demenz terhin in gleichem Maße zunehmen wie dies Kann man Demenz heilen? in den Sterberegistern nicht als direkte in den letzten Jahren der Fall war – in Zukunft Todesursache auf. Denn selbst wenn eine zunehmend überlappen können.16 Nein. Die Wissenschaft hat bis dato keine Diagnose vorlag, ist schwer festzustellen, ob Substanz gefunden, die an den Wurzeln die Demenz als Grunderkrankung oder doch Ein guter körperlicher Allgemeinzustand und ansetzt und so die manifeste Erkrankung eine Folgeerkrankung zum Tod geführt hat. eine fett- und cholesterinarme Ernährung gel- zurückdrängt, heilt oder sogar eine vorbeu- Die Schweiz macht eine Ausnahme und folgt ten als möglicher Schutz vor der Alzheimer- gende Wirkung hat. Daran wird sich nichts darin der Weltgesundheitsorganisation, die Krankheit. Wissenschaftlich eindeutig lässt ändern, solange die Vorgänge im Gehirn 1995 Demenz als Todesursache definierte, es sich das jedoch nicht belegen. Dasselbe gilt nicht aufgeklärt sind, die zur Zerstörung aber den Ländern überließ, dies in die natio- für Nahrungsbestandteile wie Omega-3-Fett- von Nervenzellen und zur Entstehung von nalen Register zu übernehmen.15 säuren, für cholesterinsenkende Medikamen- Alzheimer- und anderen degenerativen te und Hormone wie Östrogen und Leptin: Formen von Demenz führen. Zwar dringen Bislang ließ sich die vermutete vorbeugende aus den Forschungslabors immer wieder Wirkung nicht nachweisen.17 Nachrichten über diesen oder jenen vielver- sprechenden Stoff, aber bislang hat jeder Britische Psychiater warnten kürzlich davor, enttäuscht, lange bevor es überhaupt zur dass die bei manchen Jugendlichen verbreite- klinischen Erprobung kam. te Unsitte des Komasaufens ebenso wie jede Form von Alkoholismus dereinst zu einem Anstieg der vaskulären Demenzen führen könnte.18 Offenbar hat Schottland eine Zu- nahme von Demenzfällen im jüngeren Alter im Zusammenhang mit Alkohol verzeichnet. In jüngster Zeit hat sich zudem herausge- stellt, dass chronischer Schlafmangel mit einem erhöhten Risiko für Alzheimer-Demenz einher geht.19 Dies gilt auch für schwere Depressionen.20 12 Demenz-Report
Es gibt aber inzwischen Medikamente, die Was brauchen Menschen mit Wie häufig ist Demenz? den Abbau der geistigen Funktionen zumin- Demenz? dest verzögern. Seit 1996 sind so genannte Acetylcholin-Esterase-Hemmer erhältlich. Je nachdem, welche Statistik man zu Rate Sie bewirken, dass bei leichter und mittel- Die Behandlung medizinischer Probleme, zieht, sind zwischen 0,9 und 1,7 Prozent der schwerer Alzheimer-Demenz die Gehirnzellen die Versorgung mit Medikamenten und die Gesamtbevölkerung Europas über 30 Jahren untereinander wieder besser kommunizieren körperliche Pflege sind natürlich elementare von Demenz betroffen. Betrachtet man nur können und schieben so den Verfall um ei- Voraussetzung. Mindestens ebenso wichtig die Bevölkerung über 65 Jahren, beträgt der nige Monate, im Höchstfall anderthalb Jahre für das Befinden der erkrankten Person und Anteil zwischen sechs und neun Prozent, hinaus. Diese Mittel können Nebenwirkungen den Verlauf der Erkrankung sind aber Beglei- wobei die Wahrscheinlichkeit, an Demenz wie Übelkeit, Erbrechen oder Durchfälle tung und Kommunikation, also menschliche zu erkranken, mit zunehmendem Alter steil auslösen, die sich durch langsame Steigerung KAPITEL 1 Nähe. ansteigt: Sie verdoppelt sich etwa alle fünf der Dosis jedoch meist vermeiden lassen. Altersjahre. Seit 2002 steht mit Memantin ein Wirkstoff Zu Beginn benötigen Menschen mit Demenz zur Verfügung, der ähnliche Wirkungen bei vor allem Unterstützung bei der Bewälti- Nach aktuellen Schätzungen leben in mittelschwerer bis schwerer Alzheimer- gung des Alltags und bei den Aktivitäten, Deutschland rund 1,3 Millionen Menschen Demenz entfaltet.23 Bei leichter kognitiver die ihnen noch möglich sind. Wenn sie mit Demenz, um 130.000 sind es in Öster- Beeinträchtigung scheinen die genannten später ihre Gedanken, Wünsche oder auch reich mit seinen 8,4 Millionen Einwohnern Medikamente jedoch keinen Effekt zu haben, Schmerzempfindungen nicht mehr in Worte und 120.000 in der 7,7 Millionen Häupter auch bei vaskulärer Demenz haben sie nur zu fassen vermögen, teilen sie diese immer zählenden Schweiz.26 Mehr als zwei Drittel schwache Wirkung gezeigt, weshalb sie aus- noch mittels Mimik, Lautäußerung oder Kör- der Menschen mit Demenz sind Frauen. Sie schließlich für die Behandlung von Alzheimer- perhaltung mit. Pflegende müssen lernen, haben nicht etwa ein höheres Erkrankungs- Demenz zugelassen sind.24 diese Mitteilungsformen zu „lesen“, ebenso, risiko, sondern leben einfach im Durchschnitt mit gelegentlichen aggressiven Ausbrüchen, länger und sind daher in den Altersgruppen Die beste Behandlung, die ein an Demenz mit Bewegungsdrang und anderen „Macken“ mit steigender Demenzwahrscheinlichkeit erkrankter Mensch nach dem Stand der wis- umzugehen. Die dazu notwendigen Kennt- stärker vertreten. senschaftlichen Erkenntnis erfahren kann, nisse können Angehörige und Laien-Helfer besteht daher aus drei Säulen: erstens einer inzwischen in Kursen, mithilfe von Broschü- Beratung, die alle zur Verfügung stehenden ren und Büchern oder im Internet erwerben. Versorgungsstrukturen ausschöpft, zweitens Ebenso wichtig ist aber auch, dass Menschen Anregung der verbliebenen geistigen Fähig- mit Demenz in ihrer Nachbarschaft Verständ- keiten, der Gefühle, der Erinnerungen und nis finden. Einem verwirrten Mitbürger, der der Motorik durch entsprechende Therapien, sich verlaufen hat, oder einer alten Frau, die sowie drittens einer angepassten Behandlung mehrmals täglich immer das Gleiche ein- mit den vorhandenen Medikamenten. Diese kauft, lässt sich leicht helfen, wenn man rich- werden aber zurzeit nicht in ausreichendem tig reagiert. Dazu müssen die Bewohner des Maße eingesetzt.25 Dorfes oder des Quartiers, die Angestellten von Geschäften und Banken, die Polizeibeam- ten und Feuerwehrleute informiert sein. Das gelingt mithilfe von leicht zugänglichen Infor- mationen, Zeitungsartikeln, Radiosendungen oder Schulungskursen. Berlin-Institut 13
IMMER MEHR 2 MENSCHEN MIT DEMENZ 2.1 Weniger Nachwuchs In Deutschland leben heute rund 1,3 Millio- Verschärft wird diese Entwicklung noch nen Menschen mit Demenz. Bis zum Jahr durch die steigende Lebenserwartung. Im bei steigender 2050 wird sich diese Zahl Schätzungen zu- Deutschen Reich unter Bismarck konnten Lebenserwartung folge verdoppeln.27 Bis dahin werden aber im männliche Neugeborene mit einer durch- Vergleich zu heute deutlich weniger Jüngere schnittlichen Lebensspanne von 35,6 Jahren Europa schrumpft und altert. In den einzel- da sein. Damit fehlen nicht nur Einzahler in rechnen, weibliche mit 38,4 Jahren. Heute nen Ländern geschieht dies in unterschied- die Sozialsysteme, sondern auch professio- beträgt die Lebenserwartung bei der Geburt lichem Ausmaß. Die Ursachen sind jedoch nelle Pflegekräfte sowie Söhne, Töchter oder 77,3 beziehungsweise 82,5 Jahre. Mit diesen überall die gleichen: Erstens steigt die Schwiegerkinder, die sich um die Erkrankten Werten befindet sich Deutschland im euro- Lebenserwartung, zweitens liegen die Ge- kümmern können. päischen Mittelfeld, ebenso wie Österreich. burtenraten heute deutlich niedriger als noch Die Schweiz hingegen nimmt mit 79,7 Jahren vor dreißig, vierzig Jahren. Dadurch wächst Seit rund zwanzig Jahren bekommen Frauen für Männer, 84,4 für Frauen sowohl in Europa der Anteil älterer Menschen an der Gesamt- in Deutschland im Laufe ihres Lebens durch- als auch weltweit einen Spitzenplatz ein.28 In bevölkerung, während am unteren Ende der schnittlich nur noch höchstens 1,4 Kinder. Deutschland könnte den jüngsten Daten zu- Bevölkerungs-„Pyramide“ immer weniger In Österreich waren es im gleichen Zeitraum folge jeder zweite Mann mindestens den 80. Junge nachkommen. Da die Wahrscheinlich- maximal 1,5 und in der Schweiz knapp 1,6 Geburtstag erreichen, jede zweite Frau könn- keit, an Demenz zu erkranken, mit dem Alter Kinder je Frau. Das bedeutet, dass jede Kin- te, statistisch gesehen, 85 Jahre alt werden. zunimmt, wird mit dem wachsenden Anteil dergeneration um ein Drittel kleiner ist als über 65-Jähriger auch die Zahl der Menschen die jeweilige Elterngeneration. Zuwanderung mit Demenz ansteigen. macht einen Teil des Geburtenrückganges wett. Sie kann jedoch die Alterung nicht verhindern, zumal der größere Teil der Ein- gewanderten sich auf Dauer in der neuen Heimat einrichtet und hier alt wird. Wir werden immer älter 90 Entwicklung der Lebens- erwartung 1950 bis 86 2050 für ausgewählte Dank medizinischer Fortschritte, besserer Ernährung und weniger verschleißender Arbeitsbedingungen 82 Länder werden die Bewohner der Industrienationen seit Japan Mitte des 19. Jahrhunderts stetig älter. Altersforscher 78 Schweiz gehen davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt. 74 Schweden Seit 1950 ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt in Österreich bereits um rund 14 Jahre Österreich 70 gestiegen, in Deutschland um zwölf Jahre und in der Deutschland Schweiz um fast 13 Jahre. Prognosen der Vereinten 66 Nationen zufolge können die Bewohner dieser Länder (Datengrundlage: Popu- 62 lation Division of the bis 2050 mit einer Zunahme um weitere rund fünf 1950 - 1955 1955 -1960 1960 -1965 1965 -1970 1970 - 1975 1975 -1980 1980 -1985 1985 -1990 1990 -1995 1995 -2000 2000 -2005 2005 -2010 2010 -2015 2015 -2020 2020 -2025 2025 -2030 2030 -2035 2035 -2040 2040 -2045 2045 -2050 Jahre rechnen. Die Kurven für Schweden und Japan Department of Economic sind hier zusätzlich dargestellt, um zu zeigen, dass and Social Affairs sich die Lebenserwartung in hoch entwickelten of the United Nations Ländern mit der Zeit angleicht. Secretariat) 14 Demenz-Report
Was bedeuten diese Entwicklungen? Heute Der Hut wird breiter, die Basis schmaler Deutschland 2008 zählen 7,6 Prozent der Weltbevölkerung 65 100 und älter Männer Frauen Wie im Zeitraffer lässt sich mithilfe der grafischen Jahre und mehr. Nach der mittleren Prognose- 95 Aufgliederung nach Altersgruppen die Alterung 90 Variante der Vereinten Nationen steigt dieser in Deutschland zeigen. Die Form der früheren 85 Anteil bis zum Jahr 2030 auf 11,7 Prozent, bis „Bevölkerungspyramide“ ist 2008 nur noch zu 80 75 2050 dürfte er sich auf 16,2 Prozent mehr als erahnen, sie ähnelt mehr einem Pilz. 2050 hat der 70 verdoppelt haben. Da die Lebenserwartung Nachwuchs, also die Basis, einen immer breiter 65 werdenden Hut zu tragen. 60 aller Voraussicht nach weiter ansteigt, wird 55 vor allem der Anteil Hochaltriger wachsen. 50 Bevölkerungsaufbau nach Altersjahren in 45 In den Industrienationen machen 80-Jährige Deutschland 2008, 2030 und 2050 in Prozent 40 und Ältere heute vier bis sechs Prozent der (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt 35 Deutschland, 12. koordinierte Bevölkerungs- 30 Bevölkerung aus. Im Jahre 2030 werden in 25 vorausberechung Variante 1-W2) 20 Deutschland, Frankreich, Österreich und der 15 Schweiz sieben bis acht Prozent aller Einwoh- 10 ner über 80 Jahre alt sein.29 Entsprechend 5 0 hat auch die Zahl der über Hundertjährigen, früher eine vernachlässigbare Größe, stark sagen die Statistiker einen noch höheren Deutschland 2030 zugenommen und wird weiter wachsen. Anstieg voraus, auf zwölf bis 14 Prozent, 100 und älter Zwischen 2030 und 2050 gewinnt die Ent- je nachdem, welche Annahmen über die 95 wicklung noch an Dynamik, weil dann die Entwicklung von Geburtenhäufigkeit, Lebens- 90 KAPITEL 2 85 Babyboomer in die obersten Altersgruppen erwartung und Zuwanderung man zugrunde 80 vorrücken. Damit steigt voraussichtlich auch legt.30 Rund 14 Prozent Hochaltrige im Jahr 75 70 die Zahl der Menschen mit Demenz stark an. 2050 – das bedeutet, jeder siebte Bewohner 65 der Bundesrepublik Deutschland ist dann 60 55 Deutschland und Italien weisen heute schon mindestens 80 Jahre alt. In dieser Altersgrup- 50 die ältesten Gesellschaften Europas auf. Der pe ist die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu 45 40 Anteil der Bevölkerung, der 65 Jahre und erkranken, besonders hoch. 35 30 mehr zählt, beträgt in Italien 20,4 Prozent, 25 in Deutschland 20,5 Prozent – also deutlich 20 15 mehr als das europäische Mittel von 16,3 2.1.1 Alt ist nicht gleich alt – wie leben 10 Prozent. Auch Österreich mit 17,6 und die Menschen über 65 heute? 5 0 Schweiz mit 17,3 Prozent liegen darüber. Den Prognosen der Vereinten Nationen zufolge Wann man alt ist, hängt nicht nur vom sub- Deutschland 2050 dürfte bis zum Jahre 2050 in den genannten jektiv „gefühlten“ Zustand ab, sondern auch Ländern etwa jeder dritte Bewohner die 65 davon, wer Alter definiert und unter welchen 100 und älter 95 überschritten haben. Der Anteil Hochaltriger Gesichtspunkten. Das Risiko für Demenz 90 ab 80 dürfte sich in Italien von heute 6,1 beginnt mit 65 anzusteigen. Deshalb sei hier 85 80 Prozent auf 13,4 Prozent bis 2050 mehr als 65 als Grenze genommen, im Bewusstsein, 75 dass „die Alten“ keine homogene Gruppe 70 verdoppeln. Für Deutschland, wo der Anteil 65 Hochaltriger heute bei 5,1 Prozent liegt, bilden, sondern nach Phasen des letzten 60 55 Lebensabschnittes unterschieden werden: 50 von den „jungen Alten“ bis zum Greis, von 45 40 „älteren Arbeitnehmern“ über Vorruheständ- 35 ler, Frührentner und jüngere Rentner bis hin 30 25 zu den Hochaltrigen. 20 15 10 5 0 0,75 0,5 0,25 0 0,25 0,5 0,75 Berlin-Institut 15
Für die Schweiz gilt dies in besonderem Deutschland hat weniger Hochbetagte als gedacht – unter diesen Maße: Hier hatte die Bevölkerung in den aber deutlich mehr Demenzkranke Kriegsjahren nicht hungern müssen. Es gab also keinen Mangel zu kompensieren. Die Die amtliche Statistik in Deutschland gibt die Zahl der über 90-Jährigen viel zu hoch an. Westdeutschen dagegen futterten während Das haben Wissenschaftler vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen der Wirtschaftswunderjahre kräftig drauflos Wandels und vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung berechnet. Das Pro- und handelten sich damit vermehrt „Zivi- blem ist lange bekannt: Wegen anhaltenden Widerstandes gegen mögliche Verletzungen lisationskrankheiten“ wie Bluthochdruck, des Datenschutzes konnten in Deutschland seit 1987 keine Volkszählungen mehr durch- Übergewicht und Diabetes ein. Südlich des geführt werden. Die Behörden helfen sich damit, dass sie die bei den letzten Zählungen Rheins hatte es keine Bombenangriffe gege- festgestellten Bestände der kommunalen Karteien einfach fortschreiben. Je länger dies ben. Es gab kaum Arbeitslosigkeit und keine jedoch geschieht, desto größer werden die Fehler, die zum Beispiel dadurch entstehen, Währungsreform, die, wie in Deutschland, dass wegziehende Personen vergessen, sich bei der alten Wohngemeinde abzumelden. Erspartes einfach verschwinden ließ.33 Aller- Als „Karteileichen“ bleiben sie im Bestand und schieben sich bei der Fortschreibung in dings ist die Kluft zwischen Reich und Arm, immer höhere Altersgruppen vor. Da die Gruppe der Hochbetagten jedoch ohnehin klein wie für die Schweiz insgesamt, auch inner- ist, fallen hier auch kleine Fehler umso stärker ins Gewicht. Erst seit 2005, seit das Ein- halb der Bevölkerungsgruppe im Rentenalter wohnermeldeverfahren geändert wurde, ist dieser Fehler wenigstens für alle Personen, besonders groß. die seither umgezogen sind, ausgeschlossen. Heutige Senioren leben überwiegend in Zwei- Die Rostocker Wissenschaftler haben nun die tatsächliche Entwicklung der Sterblich- oder Einpersonenhaushalten. In der Schweiz keit in der Zeit vor den letzten Volkszählungen rekonstruiert und diese mit den Daten wohnt gut die Hälfte aller über 65-Jährigen zu der Rentenversicherung abgeglichen. Damit konnten sie berechnen, um wie viel die Be- zweit, 31 Prozent leben allein, nur elf Prozent standszahlen korrigiert werden müssen, wobei die alten Bundesländer besonders stark in anderen Arten von Haushalten, wobei betroffen sind: Ende 2004 lag dort der Wert für Männer über 90 um etwa 40 Prozent zu hier Altersheime eingeschlossen sind.34 In hoch, bei Frauen um etwa 15 Prozent.31 Wenn aber weniger Hochaltrige in Deutschland Österreich wohnen 48 Prozent der in Privat- leben als bisher angenommen und wenn die Zahlen für Demenzfälle in dieser Altersgrup- haushalten lebenden Personen ab 65 Jahren pe zutreffen, bedeutet dies vermutlich, dass der Anteil Demenzkranker unter den über zu zweit und rund ein Drittel allein, darunter 90-Jährigen deutlich höher liegt als bisher gedacht. überwiegend Frauen.35 In Deutschland hat sich das Verhältnis in den letzten Jahren deutlich zugunsten der Zweipersonenhaus- halte verschoben, hier lebten 2009 rund Wer im Erscheinungsjahr des vorliegenden Die Menschen im Rentenalter leben denn 60 Prozent zu zweit und ein Drittel allein, Werkes sein 65. Lebensjahr vollendet, ist auch verhältnismäßig gut. In Deutschland davon ebenfalls die Mehrheit weiblich.36 Weil demnach 1946 oder früher geboren. Die gibt es den Altenberichten zufolge, die Frauen generell länger leben, gibt es bei den Mehrheit der westdeutschen Altengenera- Experten im Auftrag der deutschen Bundes- über 65-Jährigen einen deutlichen Frauen- tion stand in der Phase des Wiederaufbaus regierung seit 1993 in jeder Legislaturperio- überschuss: 58 zu 42 ist das Geschlechter- und des Wirtschaftswunders mitten im de erstellen, zwar erhebliche Unterschiede, verhältnis in allen drei Ländern. 2008 waren Leben, gründete eine Familie, arbeitete. Die vor allem zwischen Ost und West. Insgesamt in Deutschland nur zehn Prozent aller Männer allermeisten waren sozialversichert, viele wächst aber die Zahl älterer Menschen, die ab 60 Jahren verwitwet, bei den Frauen konnten zusätzlich etwas auf die hohe Kante ein selbständiges Leben führen, die leistungs- waren es hingegen 36 Prozent.37 legen, um im Alter abgesichert zu sein. Die fähig, körperlich und psychisch wenig beein- Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen trächtigt sowie gesellschaftlich aktiv sind, Der 65. Geburtstag markiert in den meisten DDR wurden nach der Wiedervereinigung in und die auch über ein finanzielles Polster westeuropäischen Ländern die offizielle dieses System eingegliedert, erhalten also verfügen.32 Schwelle zum Rentenalter – jedenfalls für auf die Erwerbsbiografie bezogene Renten, Männer; für Frauen liegt sie in der Schweiz haben aber vor 1989 kaum privat Vorsorge bei 64, in Österreich bei 60 Jahren, in treffen können. Deutschland ist sie für beide Geschlechter gleich. Die meisten 65-Jährigen arbeiten 16 Demenz-Report
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