Zerrissenheit - STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 - Uni Witten/Herdecke
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Fakultät für Kulturreflexion 01.10.2018 BIS 31.03.2019 STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 SCHWERPUNKTTHEMA Zerrissenheit GESUNDHEIT WIRTSCHAFT KULTUR
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SoSe 18 003 INHALT GRUSSWORT DES DEKANS S. 005 SCHWERPUNKTTHEMA: ZERRISSENHEIT Zerrissenheit. Signatur der Zeit Matthias Kettner S. 010 Un petit effort Dirk Baecker S. 012 Autobiographien der Zerrissenheit Julia Genz S. 014 Zerrissen zwischen zwei Welten Martin Woesler S. 017 Gesellschaftliche Zerrissenheit in drei Dimensionen Jens Lanfer, Tobias Vogel S. 020 AUS FAKULTÄT UND STUDIUM Kommen & Gehen Dirk Baecker, Claus Volkenandt, S. 024 Jonathan Harth, Matthias Kettner Bericht aus der Reflexion: Kolloquium junger Forscher*innen an der Martin Feißt, Maximilian Locher S. 027 Fakultät Dritter „Geldgipfel“ an der Universität Witten/Herdecke Reinhard Loske S. 028 Buchreihe: Palliative Care und Forschung Martin W. Schnell, Christine S. 029 Dunger Kein Ort. Nirgends und liebe mich Andrea Kreisel S. 031 Impro oder nicht Impro, das ist hier die Frage Laura Fischer, Anna Schöppe S. 032 Joghurtstörung auf A4 Felix Bouché, Caroline Geck, S. 033 Hannes Schulz Interview mit Bebe Timm Motz Linda Lösser S. 034 Nachruf Elisabeth Tengelmann Martin Butzlaff S. 036 ÖFFENTLICHE VERANSTALTUNGEN & VORTRAGSREIHEN Vortragsreihe: Angewandte Kulturreflexion S. 038 Kalender öffentliche Veranstaltungen im Wintersemester 2018/2019 S. 039 STUDENTISCHE INITIATIVEN DER UNIVERSITÄT WITTEN/HERDECKE S. 043 SPRACHKURSE Lernen Sie doch einfach mal... Chinesisch! S. 050 Sprachkurse an der RUB im Wintersemester 2018/2019 S. 050
004 LEHRVERANSTALTUNGEN / COURSES S. 051 DIE FAKULTÄT FÜR KULTURREFLEXION – STUDIUM FUNDAMENTALE Wer wir sind und wen wir wollen! S. 084 Unser Studienangebot S. 085 Köpfe S. 086 Dozent*innen im Wintersemester 2018/2019 S. 087 Impressum S. 090 Förderer der Fakultät ›› Deutsche Gesellschaft für Philosophie e.V. ›› Stiftung Private Universität Witten/Herdecke ›› Friedrich Wilhelm Moll-Stiftung ›› Elisabeth Tengelmann ›› GLS Gemeinschaftsbank eG ›› Universitätsverein Witten/Herdecke e.V. ›› HB-Stiftung ›› Werner Richard – Dr. Carl Dörken Stiftung ›› Dr. Wolfgang Klemt ›› Willner Stiftung ›› Dr. Marcel Mangen ›› Wittener Universitätsgesellschaft e.V. ›› Stadtwerke Witten GmbH ›› Dr. Walter Wübben ›› Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ›› KARL-KOLLE Stiftung ›› Stiftung Die Christengemeinschaft in Deutschland
WS 18/19 005 Grußwort des Dekans „Bringing wit to Witten is like bringing owls to Athens.“ (Simon Critchley, Wintersemester 1998/1999) Dirk Baecker Folgend ein Text, der exemplarisch komplett über 4 Seiten gesetzt ist. Dekan Claus Volkenandt Folgend ein Text, der exemplarisch komplett über 4 Seiten gesetzt ist. Prodekan Lehre Einer der historischen Referenzpunkte für das Studium von Adel und Klerus. Erzogen wurde man in der Familie. An fundamentale und das Studium der Kulturreflexion sind den Universitäten erlernte man das Wissen, um sich erfolg- die Sieben Freien Künste, die artes liberales, wie sie in der reich in der Welt bewegen zu können. Spätantike kanonisiert und im Mittelalter an den Universi- täten gelehrt wurden (https://de.wikipedia.org/wiki/Sie- Niklas Luhmann unterstrich die „eindrucksvolle, geschlos- benFreieKünste). Die ersten drei, das sogenannte Trivium, sene Konzeption, der man heute nichts annähernd Gleich- umfassten die Grammatik (formal richtig reden), Dialektik wertiges entgegenzusetzen hätte. Im Trivium geht es um (inhaltlich richtig reden) und die Rhetorik (richtig verständ- Kommunikation, im Quadrivium geht es um die Welt. Die lich reden), die nächsten vier, das sogenannte Quadrivium, Lehre der Kommunikation wird geordnet nach sprach- die Arithmetik (Zahlentheorie), Geometrie (inkl. Geogra- lichen, pragmatischen und wahrheitsbezogenen (logi- phie und Naturgeschichte), Musik (Musiktheorie) und Astro- schen) Gesichtspunkten. Die Welt wird repräsentiert nach nomie (damals auch Astrologie). Selbstverständlich wurden Zahl, Raum, Bewegung und Zeit. Das Schema ist so stark diese Künste auf lateinisch gelehrt und darin bestand ihr generalisiert, dass es auf professionelle Sonderausbildun- „hidden curriculum“, wie man sehr viel später sagte (Ro- gen, etwa zum Theologen, zum Juristen, zum Arzt, keine bert Dreeben, On What Is Learned in School, Reading, MA, Rücksicht nimmt“ (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frank- 1968). Die sieben freien Künste sind das Herrschaftswissen furt am Main, 1997, S. 951). Das Studium fundamentale Anzeige
006 schließt daran an. Seinen fächerübergreifenden Charakter die von der Gewohnheit produzierten Einschränkungen hat bereits Reinhardt Habel, sein Gründungsdirektor, auf der eigenen Wahrnehmung nicht kennengelernt und über- den Begriff des „Un-Fachs“ gebracht (in: Ludwig Huber et wunden hat? Wenn für die freien Künste heute zuweilen al. [Hrsg.], Über das Fachstudium hinaus, Weinheim, 1994, die Übersetzung der „Geisteswissenschaften“ angeboten S. 279). wird, führt das in die Irre. Denn dann stünden sie im Ge- In den USA werden die liberal arts gegenwärtig wiede- gensatz zu den Naturwissenschaften, was nicht der Fall ist. rentdeckt, sei es als ein Studium Generale, das Defizite Noch nicht einmal die englische Übersetzung „Arts & Hu- der High School kompensieren soll, oder sogar als Aus- manities“ trifft es, es sei denn, man würde Mathematik und gangspunkt eines Versuches, die Universität neu und zwar Informatik und Grundkenntnisse in den Naturwissenschaf- orientiert an Fragestellungen eines nicht nur akademisch, ten, aber auch in Politik und Recht und nicht zuletzt in der sondern „praktisch“ brauchbaren Wissens zu denken, wie Medizin dazuzählen. es das Minerva-Projekt unternimmt (Stephen M. Kosslyn Die erste Studienordnung des Studiums fundamentale aus und Ben Nelson [Hrsg.], Building the Intentional University, dem Jahr 1990 in der leicht geänderten Fassung aus dem Cambridge, MA, 2017). Jahr 1991, bis heute in Kraft, wenn auch vergessen, verfolgt exakt diesen Ansatz. Hier geht es um Philosophie inklusive Was heißt das für das Studium fundamentale und die Wissenschaftstheorie, Logik und Erkenntnistheorie, um die Kulturreflexion? Ist das Studium fundamentale noch ein Allgemeine Ästhetik, Geschichte, Religionswissenschaft, „Studium“ im engeren Sinne des Wortes oder nur eine Kunst- und Literaturwissenschaft, die bildenden Künste, Begleitveranstaltung, in der man sich aus einem Basar von Musik, Theater, Literatur und Rhetorik ebenso wie um his- Möglichkeiten das Passende zu seinen eigenen Interessen torische, theoretische, methodologische und ethische Fra- heraussuchen kann? Kann und muss die Kulturreflexion gen der Medizin, der Wirtschaftswissenschaften und der nicht mehr sein als ein fachwissenschaftlich geerdetes Stu- Naturwissenschaften (insbesondere Biochemie). Das wäre dium fundamentale? Und ist die Kulturreflexion nicht längst dann jedoch tatsächlich ein eigenes Studium, das mit einer ein fachwissenschaftliches Studium dessen, was einmal und Veranstaltung pro Semester nicht abzugelten ist. Und es aus guten Gründen (Stichwort: überfordernde Komplexität würde unsere Lehrkapazitäten bei Weitem überfordern. An der Welt) als „Un-Fach“ konzipiert war? Sollte man dann der Grundidee halten wir nach wie vor fest. Die Klammer, nicht die Konsequenz ziehen und die „Kultur“ streichen die das Ganze zusammenhält, ist vielen Studierenden und und ein Studium der „Philosophie, Gesellschaft und Küns- Dozenten noch präsent. Immerhin geht es nach wie vor um te“ (PGK) anbieten? ein reflexives Studium der Wahrnehmung und ein wahrneh- mendes Studium des Denkens. Gehen wir ein paar Schritte zurück. Wie ernst sind die ar- tes liberales heute noch zu nehmen? Auffallend ist zunächst Das Studium fundamentale schickt ins Risiko eines Wissens, der Bezug auf die Künste und nicht die Wissenschaften. Die das mit Blick auf die Komplexität der Welt (nicht-lineare Künste werden hier in einem technischen und erst in zweiter Sozio- und Ökosysteme kurz vor der Schwelle von tipping Linie in einem ästhetischen Sinne verstanden. Es geht um points) zu den Komfortzonen der Fachwissenschaften quer das Machen und Können, sei es des Denkens und Redens, steht. Aber nehmen wir das ernst? Machen wir etwas da- sei es der Vermessung und Ordnung der Welt. Selbstver- raus? Beteiligen wir uns – außerhalb studentischer Initia- ständlich spielt die Ästhetik dabei eine Rolle, denn wie soll tiven – an einer fächerübergreifenden Forschung, die aus man etwas tun können, wenn man nicht wahrgenommen diesem Wissen resultieren müsste? Erneut: Das überstie- hat? Und wie soll man etwas besser tun können, wenn man ge unsere Kapazitäten. Aber müsste eine Universität, die sich als Akteur einer Zivilgesellschaft im Anzeige Zustande ihrer inneren und äußeren Be- drohung versteht, nicht alles dafür tun, diese Kapazitäten zu schaffen und für ein Studium ihrer Studiengänge Bewerber zu gewinnen, die sich andernfalls enttäuscht von den Wissenschaften abwenden? Und ist die Verknüpfung von Kultur, Politik und Künsten, das heißt des Studiums träger Systeme, der politischen Spielräume und der Schulung einer überforderten Wahr- nehmung, nicht ein brauchbarer Aus- gangspunkt? Der Anfang ist gemacht, es fehlt die Durchführung. Entscheidend ist der fä- cherübergreifende Aspekt des Studiums fundamentale und der Kulturreflexion. Unter diesem Aspekt ist weniger die Überwindung der Disziplinen zugunsten inter- und transdisziplinärer Ansätze zu verstehen als vielmehr die intellektuel-
WS 18/19 007 le Reflexion der Leistungsfähigkeit der Disziplinen in ihrer historischen, theoretischen und methodischen Vielfalt. In- terdisziplinarität beginnt dort, wo man neben der eigenen mindestens eine zweite Disziplin kennengelernt hat. Nur so erkennt man die Beschränkung der einen im Spiegel der anderen. Und Transdisziplinarität beginnt dort, wo man Spuren der Rhetorik, Mathematik, Hermeneutik, Semiotik, Kybernetik und Informatik in jeder Disziplin zu entdecken in der Lage ist. Daraus entsteht noch keine neue Wissen- schaft, aber immerhin ein Wissen um den Modellcharakter, die Diskursgebundenheit, die praktische und institutionelle Eingebundenheit jeder Disziplin. Reinhardt Habel hat auf den Punkt gebracht, warum diese Intellektualisierung für die Studierenden der Universität Witten/Herdecke so un- erlässlich war und ist (von den Dozenten nicht zu reden): „Junge Menschen verfügen in der Regel bereits fast voll- ständig über ihre formale Intelligenz und besitzen daher zumeist ein unreflektiertes Vertrauen zu ihrem Denken. Sie neigen infolgedessen zu dogmatischen Urteilen, wenn die- se nur von einem gedachten Prinzip her schlüssig sind. Die Bezüge zur komplexen Realität spielen dabei meist nur eine nebensächliche Rolle. Wenn in dieser Situation durch nai- ves Einüben fachspezifischer Methoden in der Studienpra- xis die isolierten Erkenntnisse als allgemeine Wahrheiten genommen werden, entsteht unvermeidbar die bekannte Engführung in die Borniertheit des Spezialisten, die sich bis in den Bereich der Lehre fortsetzen kann. Auf diese Weise bildet man ‚Fachidioten‘ aus“ (a.a.O., S. 275f.). Ein fächerübergreifendes Studium schließt fachliche Stren- ge nicht aus, sondern ein. Wer kein Fach kennengelernt hat, Anzeige wird an der Intellektualisierung scheitern. Die freien Künste sind keine Übung in kreativer Beliebigkeit. Sie sind Kunst im schwach (Die neue Wissenschaft über die gemeinschaft- Sinne der Anwendung eines Könnens und sie sind frei. Was liche Natur der Völker, Neapel, 1744, dt. Berlin, 2000, S. aber heißt Freiheit in diesem Zusammenhang? Ursprüng- 78). Die historische Welt, auch Kultur genannt, ist das Feld lich gemeint war sicherlich die Kunst derer, die frei sind, einer sich selbst einschränkenden und immer wieder neu nicht gebunden an Scholle, Gewerbe, Lohn und Herrschaft. zu gewinnenden menschlichen Freiheit. Daran haben die Nur Adel und Klerus beschäftigen sich mit Argumenten, Wissenschaften einen erheblichen Anteil, wie wir aus tech- Strategien und Plänen, um deren Entscheidungsspielraum nologischen Anwendungen der Naturwissenschaften, aber auszuloten. Heute kann das jeder Student. Freiheit, so auch aus den Lehren der Politik, Wirtschaft und Medizin die Aufklärung (mit Immanuel Kant), ist die Fähigkeit, sich wissen. Genau daran erinnert die Kulturreflexion. Sie iden- selbst, das Subjekt, als Ursache setzen zu können. Selbst- tifiziert eine eigene Differenz im Getriebe der Welt. Man verständlich verwickelt dies sofort in Notwendigkeiten aller kann sie die Vico-Differenz nennen, den Unterschied, den Art. Man kann nur bewirken, was sich bewirken lässt. Und das Zusammenleben der Menschen macht, meist eher un- man kann auch nur dort Ursache sein, wo weitere erforder- freiwillig. liche Ursachen verfügbar sind. Die soziologische Aufklä- rung spricht daher (mit Luhmann) von der Notwendigkeit Vielleicht müssen wir das Studium fundamentale und die und Kunst, Freiheit in die Verhältnisse „hineinzufingieren“. Kulturreflexion dennoch schärfer trennen. Das Studium Wissen dient dazu, dies in einigen Fällen mit Aussicht auf fundamentale muss ausgebaut werden, in gemeinsamer Erfolg tun zu können und sich in allen anderen Fällen zu- Arbeit aller drei Fakultäten der Universität. Wir müssen rückzuhalten und weiterzuforschen. darüber nachdenken, welchen Grundgedanken wir im Stu- dium fundamentale verfolgen wollen. Es muss ein Grund- Es ist kein Zufall, dass das Studium fundamentale an der gedanke sein, der nicht zur Disposition steht, sondern zum Universität Witten/Herdecke durch ein Studium der Philo- Pflichtprogramm in allen Studiengängen gehört, so sehr es sophie und Kulturreflexion ergänzt wurde. Die Kulturwis- dann auch um Wahlfreiheit in der Form seiner Ausgestal- senschaften sind seit Giambattista Vico die Wissenschaften tung geht. Nimmt man die Probleme der Weltgesellschaft von der Entdeckung jener „poetischen Weisheit“, die in in den Themen Globalisierung, Klimawandel und Digitali- dem Wissen liegt, dass der Mensch zwar nicht die Natur sierung ernst, könnte man dazu neigen, das Studium von (damals hatte man es noch nicht mit dem Klimawandel zu Warnprogrammen aller Art (etwa des Weltklimarats IPCC tun), aber doch seine eigene historische Welt mitgestal- und des Weltbiodiversitätsrats IPBES) zur Pflicht zu erklä- tet. Der menschliche Wille, sagt Vico, ist frei, wenn auch ren. Und in der Tat muss dies vorkommen. Aber es darf trotz
008 aller Dringlichkeit nicht zum Dogma werden, weil gerade in Studiengänge der Humanmedizin, Zahnmedizin, Psycholo- größter Not, wie wir aus Edgar Allen Poes Erzählung „Hin- gie, Pflegewissenschaften und Wirtschaftswissenschaften. ab in den Maelström“ (1841) wissen, der abweichende Blick Diese Differenz „zahlt“, wie man heute zu sagen pflegt, auf der (unter Umständen) rettende ist. das Studium fundamentale „ein“, wie dieses umgekehrt auf die Studiengänge „einzahlt“. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Bedeutung des Studiums fundamentale als Attraktor (auch im mathe- Wir wünschen dem Studium fundamentale und der Fakul- matischen Sinne) aller Studiengänge der Universität wieder- tät für Kulturreflexion im Wintersemester 2018/19 in diesem beleben und weiter stärken. Und wir müssen die Eigenstän- Sinne eine fruchtbare Diskussion, auch mit der Universi- digkeit eines Bachelorstudiengangs rund um die Themen tätsleitung und den Nachbarfakultäten. Und wir wünschen Philosophie, Gesellschaft und Künste betonen. Das braucht dem Studium fundamentale und der Kulturreflexion eine Mut, auch im Sinne des Ausbaus der dafür erforderlichen aussichtsreiche und nachhaltige Weiterentwicklung. Fächer. Und es braucht eine Berufungspolitik, die inter- und transdisziplinäre Aspekte betont. Ein Bachelorstudiengang der Philosophie, Gesellschaft und Künste muss in ebenso starker Differenz zum Studium fundamentale stehen wie die Anzeige Gebrauchtwagen Mit Qualität und Sicherheit Auto - Service - Fischer GmbH Heiner Fischer, Kfz-Meister Niklas Fischer, Kfz-Techniker-Meister Reparatur aller Fabrikate AU sofort HU Prüfstelle - tägliche Termine • Inspektion - Unfallbeseitigung • Auspuff - Bremsen - Kupplung - Stossdämpfer • Reifen - Räder - Achsevermessung Klima Service 58454 Witten • Mewer Ring 5 Tel. 02302 / 42 00 50 • Fax. 02302 / 42 00 52
010 ZERRISSENHEIT. SIGNATUR DER ZEIT Seltsam zwischen Wunsch und Verwünschung schillert ein Sinnspruch, der angeblich aus dem alten China stammt: „Du mögest in interessanten Zeiten leben!“ In interes- santen Zeiten leben wir heute zweifellos, doch in einer offenbar zunehmend zerrisse- nen Welt. Matthias Kettner Lehrstuhl für Praktische Philosophie In der Anfangszeit der kritischen Gesellschaftstheorie war eigentlich bedeutsam sein müssten. Hartmut Rosa erklärt Zerrissenheit ein Begriff der romantischen Kapitalismus- in seiner Soziologie der Weltbeziehung (2016) Entfremdung kritik, den z.B. der marxistische Theoretiker Georg Lukacs als einen Verlust existenzieller Resonanz. Solche Gefühls- 1923 in seinem Klassiker Geschichte und Klassenbewusst- lagen verheißen nichts Gutes, allemal wenn sie für immer sein gebrauchte, um das Elend von Entfremdung und Ver- mehr Menschen so selbstverständlich werden, dass sie sie dinglichung zu umschreiben. normal finden. Work hard, play hard. Was mit Verdinglichung gemeint ist, würden wir heute Verdinglichungs- und Entfremdungsdiagnosen, selbst the- an entsprechenden Phänomenen vielleicht so erklären: oretisch raffinierte, gehen gerade an den schlimmsten For- Verdinglichung tritt in dem Maße ein, wie sich habituell men des Elends in der Weltgesellschaft seltsam vorbei. erstarrte Denkgewohnheiten ausbreiten, die unsere ur- Wenn wir die gedanklichen Instrumente neu einstellen wol- sprünglichen Fähigkeiten zur lebendigen Anteilnahme an len, um unsere Fassungslosigkeit angesichts von bewaffne- anderen Menschen und zwischenmenschlichen Beziehun- ter Gewalt, von Hass, Ausbeutung und Unterdrückung in gen verflachen oder gänzlich zum Verschwinden bringen. Ausmaßen, wie wir sie nach dem Ende der bipolaren Welt Der Sozialphilosoph Axel Honneth (2005: Verdinglichung) nicht mehr für möglich gehalten haben, reflektieren zu kön- erklärt Verdinglichung einleuchtend als eine Art von "Aner- nen, so wäre Zerrissenheit m.E. einer der Schlüsselbegriffe, kennungsvergessenheit“. auf die wir nicht verzichten können, um die gravierendsten Pathologien der heutigen Welt zu verstehen. Zerrissenheit Auch die kritische Analyse von gesellschaftlichen Verhält- verweist auf Zwiespalt, Entzweiung, auf unversöhnliche Ge- nissen der Entfremdung und Selbstentfremdung hat seither gensätze und auf Konflikte, die unlösbar erscheinen und es Fortschritte gemacht (Raeggi, Rahel 2016: Entfremdung: wirklich auch sind. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Berlin 2016.). Zum Erfahrungsgehalt von Selbstentfremdung ge- Politisch unversöhnliche reale Interessengegensätze, hinter hört z.B. die gefühlte Bedeutungs- und Beziehungslosigkeit denen gewaltige militärische und ökonomische Selbstbe- von Teilen der eigenen Lebensführung, die für einen selbst hauptungskräfte stehen, unauflösbare Zielkonflikte, wie der
Schwerpunktthema Zerrissenheit 011 zwischen Wirtschaftswachstum, Klima- und Umweltschutz, der Polarisierung innerhalb der US-amerikanischen Gesell- und fortdauernde, durch nichts zu rechtfertigende, obszö- schaft, die von einer Vor-Bürgerkriegs-Stimmung sprechen, ne Ungleichheiten der Lebensverhältnisse im Weltmaßstab dramatisieren. Aber namhafte amerikanische Politologen bilden heute die massivsten Entwicklungsstörungen, die wie Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, die es wissen müs- die Weltgesellschaft zu zerreißen drohen, indem sie die sen, schreiben Bestseller darüber, „Wie Demokratien ster- Funktionsfähigkeit von wesentlichen zivilisatorischen Errun- ben” (2018) und was wir dagegen tun könnten. Sind das genschaften der Moderne und Postmoderne schwächen noch Warnungen – oder schon Abgesänge? und angreifen: Die utopische, aber keineswegs utopisti- sche Idee eines Vorrangs der globalen Friedenssicherung Die nun folgenden vier Beiträge nähren sich der Katego- vor anderen Politikzielen; der Ausbau einer Kultur welt- rie der Zerrissenheit ganz undramatisch und von ganz gemeinschaftlich erklärter Menschenrechte, zu der auch verschiedenen Seiten. Dirk Baecker blickt mit dem Frie- kommunikative Freiheiten (Medien) sowie die Teilhabe an densforscher Galtung und dem Friedensaktivisten Gandhi Bildung und überprüfbarem Wissen (Wissenschaft) gehö- auf eine durch „kulturelle Gewalt“ zerrissene, polarisierte ren; die Konstitutionalisierung des Rechts; die Verstetigung Gesellschaft, deren Mitgliedern die verbindende Fähig- einer Diplomatie des Interessenausgleichs, der Kompro- keit zu Perspektivenwechseln abhandenkommt. Julia Genz missbildung und der Ambiguitätstoleranz, um nur einige zu erläutert an autobiographischen Versuchen des durch nennen. und durch modernen Schriftstellers Alfred Döblin dessen Schreibtechniken der „Depersonation” – zum bewussten Nicht zuletzt: Demokratie. Lebhafte Demokratie, die sich Ausdruck von Zuständen der innerlichen Zerrissenheit der nicht auf die Form des Mehrheitsentscheids reduziert, be- Person selbst. Martin Woesler beschreibt die Zerrissenheit nötigt eine Massenkultur des aufgeklärten Zweifels, des des China-Forschers, der die rasante Transformation Chinas Interesses an öffentlicher Diskussion, der Ironiefähigkeit, kulturwissenschaftlich als faszinierend, die jüngste Entwick- des Wissenwollens, der Wertschätzung rechtlich gesicher- lungstendenz hin zu einer techno-autokratischen Kontroll- ter Freiheiten. Hier stellen sich Fragen kultureller Nach- gesellschaft aber als erschreckend erlebt. Jens Lanfer und haltigkeit. Werden solche kulturellen Grundlagen herun- Tobias Vogel analysieren gesellschaftliche Zerrissenheit als tergewirtschaftet, oder sind sie, wie in religiös, ethnisch, ein Resonanzproblem in der Zeit-, Sozial- und Sachdimensi- politisch-ideologisch zutiefst gespaltenen Gesellschaften, on, wobei interessanterweise die Zeitdimension sachlichen kaum erst oder kaum mehr vorhanden, dann kann auch Vorrang hat, wie man vor allem am disruptiven Innovati- die forcierte Umstellung autoritärer Staatsapparate auf die onstempo des Wirtschaftssystems sieht, das die Eigenzeit Form demokratischer „Spielregeln“ diese Spaltungen nicht anderer Funktionssysteme, leider auch der demokratischen aufheben, sondern verstärkt sie womöglich. Wem hierzu Politik, versklavt oder verstört und entwertet. nur Ägypten, Tunesien, Libyen und weitere Länder des „ge- scheiterten arabischen Frühlings“ seit 2011 einfallen, der Allen, die zur Gestaltung unseres Themenschwerpunkts sollte folgendes bedenken: Colin Crouchs Diagnosen von beigetragen haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich „postdemokratischen” Zuständen in westlichen Demokra- danken. tien, die wir gerne für gefestigt halten würden, haben inzwi- schen die Runde gemacht. Gewiss, politische Beobachter Anzeige
012 UN PETIT EFFORT Johan Galtung, der zur Friedens- und Konfliktforschung auch an der UW/H lehrte und diskutierte, ist mit seinem Begriff der strukturellen Gewalt (Strukturelle Gewalt, Rowohlt, 1975) berühmt geworden. Dirk Baecker Lehrstuhl für Kulturtheorie und Management Strukturelle Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so be- Gesellschaft) weiterhelfen kann. Er versuchte genauer zu einflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige bestimmen, was diese kulturellen Symbole und Denkmus- Entwicklung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung ter gemeinsam haben, die in der Lage sind, strukturelle und dieser Einfluss keiner ausübenden Person, sondern nur Gewalt zu rechtfertigen. Selbst wenn man die Rede von ei- den Verhältnissen, die so sind, wie sie sind, zugerechnet ner strukturellen Gewalt nicht übernimmt, weil sie überall werden kann. Sie äußert sich in ungleichen Machtverhält- stimmt und zugleich nicht stimmt (jede nationale Grenze, nissen und ungleichen Lebenschancen. Dieser Begriffsvor- jede Hierarchie, jede Sprache, die andere nicht sprechen, schlag Galtungs war außerordentlich einflussreich, schien er jede Marktzutrittsbarriere, ja, jede Organisation, der nicht doch eine Handhabe zu bieten, gegen jegliche Verhältnisse jeder als Mitglied angehören kann, übt in diesem Sinne zu protestieren, die einem von wem auch immer gewünsch- strukturelle Gewalt aus), so sind diese gemeinsamen Eigen- ten Standard („Potential“) nicht genügen, lief jedoch als- schaften kultureller Symbole und Denkmuster doch auf- bald ins Leere, da ihm jede Trennschärfe fehlte: Was ist – schlussreich. Galtung zitiert keinen Geringeren als Mahat- unter diesen Bedingungen – keine strukturelle Gewalt? ma Gandhi, der unter einem gewaltfreien Denken und Leben eines verstand, das sich von der Einheit des Lebens Galtungs Begriff zog so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass und von der Einheit von Mitteln und Zwecken leiten lässt. ein späterer Begriffsvorschlag von 1990 kaum noch auffiel. Das läuft nicht darauf hinaus, dass „alles eins“ ist, sondern Er schlug vor, von „kultureller Gewalt“ immer dann zu spre- darauf, ein Jegliches im Kontext seines Gegenübers sehen chen, wenn kulturelle – das heißt religiöse, ideologische, und würdigen zu können. Kontexte bestätigen Unterschie- sprachliche, künstlerische oder wissenschaftliche – Symbo- de, machen sie jedoch zugleich auch durchlässig. Und dar- le und Denkmuster vorliegen, die die strukturelle Gewalt auf kommt es an. legitimieren („Cultural Violence“, in: Journal of Peace Re- search 27, S. 291–305). Das half auch noch nicht sehr viel Umgekehrt besteht kulturelle Gewalt in der Etablierung ei- weiter. Aber Galtung ergänzte eine Überlegung, die uns bei nes Gefälles, das diese Einheit auflöst. Die Einheit des Le- unserem Thema der „Zerrissenheit“ oder auch der „Polari- bens kann durch einen Gradienten zwischen einem Selbst sierung“ (allerorten spricht man von einer „polarisierten“ und einem Anderen aufgelöst werden, mit dem Ergebnis,
Schwerpunktthema Zerrissenheit 013 dass das Leben der einen mit dem Leben der anderen Wer ist nun wer? Was ist nun was? Strukturen müssen diese nichts mehr zu tun hat. Wenn die einen im Mittelmeer er- Zirkel entfalten, damit sie ausgehalten werden können. In trinken, muss das die anderen nicht kümmern. Wenn die Familien, Gruppen und Gesellschaft entstehen Rollen und einen nur mit Müh’ und Not über die Runden kommen, hat Bilder voneinander, die dem Anderen ein Selbst zuweisen, das mit den anderen, die ihren Wohlstand genießen, nichts das man selbst nicht ist. In Programmen, Projekten und In- zu tun. Der Gradient versperrt den Blick der einen auf die stitutionen weiß man, was Zweck und was Mittel ist. Kul- anderen. Und die Einheit von Mittel und Zweck wird durch turelle Gewalt entsteht, wenn diese Strukturen die Zirkel einen Gradienten aufgelöst, der die Mittel rechtfertigt, weil leugnen, die sie entfalten. Dann blockieren die Gradienten sie bestimmte Ziele zu erreichen erlauben, auch wenn da- den Austausch, die Wechselwirkung, die Spiegelung. Eine bei Opfer in Kauf zu nehmen sind. Typischerweise glaubt gewaltfreie Zivilisation definiert sich dadurch, dass jede man, anschließend die geschlagenen Wunden wieder hei- Struktur die Zirkel pflegt, denen sie sich verdankt. Eine ge- len oder zumindest entschädigen zu können. Doch dann ist waltfreie Zivilisation kultiviert neben der Orientierung auch das Unheil bereits in der Welt. Gandhi forderte, die Ziele an die Reflexion. Denn dann hat sie beides, die Strukturen und den Mitteln zu messen, die für sie eingesetzt werden, nicht die Zirkel. umgekehrt. Er forderte, jede Handlung an der Gegenwart zu messen, die sie produziert, nicht an der Zukunft, die sie Und man täusche sich nicht. Die Gewalt lässt die Zirkel nicht zu ermöglichen vorgibt. Eine unmögliche, jedoch deswe- hinter sich. Sie wird heimgesucht von deren Leugnung. Sie gen noch nicht sinnlose Forderung. ist der Austausch, die Wechselwirkung, die Spiegelung im Gewand der Vernichtung, die nicht gelingt, weil sie die Be- Kulturelle Gewalt besteht darin, Unterscheidungen zu ver- ziehung ex negativo bestätigt und damit den Zirkeln zum wenden, die absolut gesetzt werden, anstatt sie im nächs- Schicksal werden lässt. Andernfalls wäre er Spiel. ten Atemzug wieder zu relativieren. Eine zerrissene oder polarisierte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die ihre Sym- Ein Spiel ist der Zirkel, wenn grundsätzlich jeder Stand- bole („Grenzen“, „Einheit“, „Identität“) und Denkmuster punkt von grundsätzlich jedermann eingenommen und („Volk“, „Elite“, „Flüchtlinge“) nicht relativieren kann. Man grundsätzlich jeder Sachverhalt aus dem Blickwinkel grund- relativiert, indem man das Ausgeschlossene wieder ein- sätzlich jeder Perspektive eingeschätzt werden kann. Das schließt. Vielfach wird das für Schwäche gehalten. Aber das endet nicht in Beliebigkeit, sondern in einem weltkundigen Gegenteil ist der Fall. Eine „differenzierte“ Gesellschaft ist Wissen. Wenn man das ein wenig geübt hat, genügt zu die- nicht etwa eine Gesellschaft, die ihre Verhältnisse eindeutig ser Fähigkeit „un petit effort“ (Edith Piaf, „Milord“), eine und trennscharf ordnet, sondern eine Gesellschaft, die jede kleine Bemühung. Die zerrissene, polarisierte im Gegensatz ihrer Differenzierungen von innen und von außen zugleich zur geeinigten und einigen Gesellschaft ist diejenige, in der betrachten kann. Stark ist daran die Fähigkeit, sich den Ver- diese kleine Bemühung im Getöse der Standpunkte unter- hältnissen zu stellen. Stark ist daran die Fähigkeit, sich Ver- geht. hältnissen zu stellen, die differenziert werden müssen, um sie zu begreifen und in ihnen handeln zu können, und zu- gleich nicht differenziert werden können, weil jedes Begrei- fen und jedes Handeln systematisch zu kurz greift. Der Frie- denswille eines Gandhi und eines Galtung beschwört eine Einheit, die nicht nur mystisch verstanden werden kann. Sie kann auch wissenschaftlich verstanden werden, wenn man schlicht darauf achtet, wie sehr jede Seite von einer Unter- scheidung durch die andere Seite mitbestimmt ist. Kulturelle Gewalt übt aus, wer auf einer Iden- Anzeige tität besteht, die verteidigt werden muss, und von einer Zukunft träumt, der jedes Mittel recht ist. Kulturelle Stärke hingegen läge darin, da- rauf zu vertrauen, dass Identitäten immer wie- der neu entstehen und dass nichts aufregender sein kann als eine Gegenwart, die es verdient, bereits Zukunft genannt zu werden. Wie heißt es bei Kurt Vonnegut (Schlachthof 5, Hoffman und Campe, 1970): „Alles ist, war und wird im- mer sein.“ Die Einheiten von Selbst/Anderer und Mittel/ Zwecke verweisen auf Dualismen, die jeden konkreten Sachverhalt zirkulär definieren: Das Selbst ist für den Anderen ein Anderer und der Andere ist seinerseits ein Selbst. Und jede Handlung ist Mittel zum Zweck wie auch der Zweck eines Mittels. Zirkel schaffen Unruhe:
014 AUTOBIOGRAPHIEN DER ZERRISSENHEIT Alfred Döblin zum Beispiel Um 1900 wird die grundsätzliche, einheitliche Konstitution des Menschen als ein „Ich“ u.a. durch die junge Psychoanalyse infrage gestellt und als „unrettbar“ (Ernst Mach) bezeichnet. Julia Genz Professur für Literaturwissenschaft Der Mediziner und Psychiater Alfred Döblin trägt diesem haltung gegenüber Biographischem nicht verwunderlich. Befund in seiner programmatischen Schrift „An Romanau- Dennoch versuchte er immer wieder, seine Zerrissenheit in toren und ihre Kritiker“ Rechnung, indem er sich gegen die autobiographischen Texten einzufangen. Hierfür verwendet „psychologische Manier“ der Literatur wendet und Ganz- er interessanterweise zunächst das Stilmittel der Deperso- heitlichkeit höchstens noch über den Blick der Psychiatrie nation. Im Exil schreibt er seine autobiographische Schick- extern hergestellt wissen will: „Man lerne von der Psychiat- salsreise dann mit scheinbar traditionelleren Mitteln, die rie, der einzigen Wissenschaft, die sich mit dem seelischen ihm als Rückfall in eine konservative Erzählweise angekrei- ganzen Menschen befaßt: sie hat das Naive der Psycholo- det werden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland flaut gie längst erkannt, beschränkt sich auf die Notierung der das Interesse an ihm als einstigem führendem Schriftsteller Abläufe, Bewegungen, – mit einem Kopfschütteln, Achsel- der Avantgarde merklich ab. zucken für das Weitere und das ,Warum‘ und ,Wie‘.”1 Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, wie einerseits Folgerichtig ist „die Hegemonie des Autors [...] zu brechen; autobiographisches Schreiben als Depersonation gelingen nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleug- kann und andererseits ob davon abweichende, scheinbar nung getrieben werden. [...]: ich bin nicht ich, sondern die traditionellere Konstruktionen des Ich tatsächlich nur als Straße, die Laternen, [...] weiter nichts.“2 Dieses Ideal der Rückschritt zu bewerten sind. Als Vergleichsmaterial unter- „Entselbstung des Autors“ benannte er mit dem Neologis- schiedlicher Versuche, eine zerrissene Existenz schreibend mus Depersonation (dem psychopathologischen Fachter- zu bewältigen, fungieren die unveröffentlichte Skizze Dok- minus „Depersonalisation“ nachempfunden).3 tor Döblin. Selbstbiographie (1917/18), der Erste Rückblick (1928) und die Schicksalsreise (1940/49). Versteht man Autobiographie als „Geburtsstätte des neu- zeitlichen Individuums, das schreibenderweise aus seiner DOKTOR DÖBLIN. SELBSTBIOGRAPHIE Anonymität heraustritt, sich seiner selbst bewusst wird und Krisengeschüttelt schreibt der fast 40-jährige Lazarettarzt auf sich selbst aufmerksam macht“,4 ist Döblins Abwehr- Döblin: „Es sind nicht leichte Erschütterungen und Erregun-
Schwerpunktthema Zerrissenheit 015 gen, unter denen ich diese Lebensbeschreibung beginne, Wie aus dem Berliner Programm ersichtlich, gesteht Döblin die mich treiben, sie anzufangen. [...] Mir hilft nicht Brom, der Psychologie keine Berechtigung zu. Die hier geschil- ich kann nicht schlafen, mein Appetit ist wie erloschen. […] derte Gesprächssituation will weder Verdrängtes aufde- gequält bin ich sehr, verfolgt.“5 cken, noch geht es Döblin um „ein bloßes Notieren“. Der Text etabliert vielmehr eine Beziehung zwischen der Figur Der Versuch, sich selbst zu entkommen, mündet darin, eine Döblin und einem Gesprächspartner, mit dessen Voran- Außenperspektive einzunehmen. Döblin wird durch seine nahmen er sich auseinandersetzt, um daraus seine eigene Aufzeichnungen erst ruhiger, als er das Ich bewusst proble- Position zu entwickeln. Erzählen wird dramatische Inszenie- matisiert und von der Ich- in die Er-Erzählung wechselt. „Es rung. Das Ich konstituiert sich unter dem fremden Blick, ist hilft mir nicht, daß ich schreibe und schreibe. Es beruhigt als Gegenstand der Betrachtung das zugleich Andere, von mich nicht. Es wird wieder Geschriebenes. Es soll nicht ge- außen Betrachtete. Es handelt sich auch hier um eine Spiel- redet werden von mir, sondern von Doktor Döblin.“6 Damit art der Depersonation. Neu ist, dass es Döblin vorwiegend entfällt das Ich jedoch nicht. Vielmehr erfolgt die Ich-Kon- um die Situierung des Ich in seiner Beziehung zu anderen solidierung nun durch einen Perspektivwechsel zur Außen- Menschen geht. Wesentlich für die Ich-Konstituierung sind ansicht. Demnach führt das Ich ein Leben, das an äußeren die Pragmatik (die Situationsabhängigkeit der Sprechhand- Veränderungen arm ist: „dieser Mensch hat kein bewegtes lung) und die Performanz im Sinne Austins.9 Die Figur Döb- äußeres Leben geführt […]. Hat nur in zwei Städten, Stettin lin entwickelt durch seine Sprechakte ein gefestigtes Ich. und Berlin, gelebt, eigentlich nur in Berlin […].“7 Die Konst- Diese Variante der Depersonation nenne ich performative ruktion des Subjekts erfolgt gemäß seines Programms über Depersonation. eine psychiatrische „Notierung der Abläufe“, „mit einem Kopfschütteln für das Weitere und das Warum und Wie.“ SCHICKSALSREISE Die äußere Ereignislosigkeit erlaubt dabei den Rückschluss, 1933 gelang Döblin die Flucht vor den Nationalsozialisten dass das Ich des Doktor Döblin gefestigt sein muss. nach Paris. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Paris fuhr er getrennt von seiner Familie nach Südfrankreich, um über Im ersten autobiographischen Versuch wird das Ich als pro- Barcelona und Lissabon in die USA auszuwandern. In der blematisch erkannt, die Lösung besteht im Wechsel vom Schicksalsreise schildert er ausführlich diese Irrfahrt, auf Ich- zum Er-Erzähler, in der Einnahme eines „psychiatri- der er mehrmals die Familie verpasst. Jedoch geht es nur schen Blicks“. Diese Technik möchte ich als pronominale vordergründig um die Familie, in erster Linie geht es um Depersonation ausdifferenzieren. die Auseinandersetzung mit Herkunft und Identität. Helmut Koopmann konstatiert, dass es in Bezug auf das Exil „ent- ERSTER RÜCKBLICK gegen den zahlreichen Bündnissen und Gruppierungen Im ersten Rückblick thematisiert Döblin vor allem seine fast immer nur subjektive, ichbezogene Antworten“ gab10. Kindheit, den Weggang des Vaters mit einer Geliebten so- Auch Döblin stellt in der Schicksalsreise fest, dass er um wie den Umzug von Stettin nach Berlin. Die vermittelnde die Instanz „Ich“ nicht mehr herumkommt, die ihm aber zu- Erzählinstanz wird größtenteils durch Dialoge ersetzt. Gera- gleich fremder denn je wird: „Ich erinnere mich nicht, je zu de im Eingangskapitel entsteht der Eindruck eines Theater- irgend einer Zeit meines Lebens so wenig ,ich‘ gewesen zu stücks. Im eröffnenden „Dialog in der Münzgasse“ geht es sein“.11 Um diese Erfahrung des fehlenden Ich-Gefühls in inhaltlich um nichts: Doktor Döblin wird in einem Café am Sprache zu übersetzen, verwendet er auch in der Schick- Alexanderplatz von einem Unbekannten in ein Gespräch salsreise das Verfahren der Depersonation: verwickelt: Der Autor – ich will von mir selbst als einem anderen Guten Tag, Herr Doktor. – Guten Tag. – Wie geht’s sprechen – scheint darüber zu stolpern, daß seinem La- Ihnen? Im Café am hellen Tag? – Ist so meine Stunde ger gegenüber an der Chaussee ein Plakat hing: „16. (wenn ich bloß wüsste, wer der Kerl ist.) – Was macht Mai. Cirkus ohne Bluff.“ Und der 16. Mai war gerade die Praxis? – Danke, danke, ein Jahr wie das andere. der Tag, an dem ihn die erste Schreckensnachricht er- Man kommt so durch. – Und die Kinder? Wissen Sie, reichte. […] Nun, er muß sich nicht an dem Plakat sto- Sie müssten weg von hier, für Sie ist doch das eigent- ßen. Möglicherweise hingen da noch andere Plakate, lich nicht. Sie müßten nach dem Westen, unter die und er suchte sich […] grade dieses aus, das einschlä- Menschen. – Hm, und wie? […] Nee, nee, machen Sie gig schien.12 keine Fisemantenten [sic]. Sie wollen nicht. Wissen Sie, haben Sie mal gehört: sexuelle Erniedrigung der Frau? Hier handelt es sich einerseits um pronominale Deperso- (Ich staune Bauklötze, ich kriege einen Schreck, Don- nation wie in der Autobiographie von 1918, etwa in „der nerwetter, was ist das).8 Autor scheint darüber zu stolpern“. Andererseits erfolgt die Depersonation nicht nur durch den Wechsel von der Auffällig ist die Oberflächlichkeit und Floskelhaftigkeit, Ich- zur Er-Perspektive. Vielmehr akzeptiert sich das Ich nun die auf ein noch ungenügend ausgeprägtes Ich verweist. selbst als einen Fremden. „ich will von mir selbst als einem Unvermittelt kippt das Gespräch dann auf der Suche nach anderen sprechen.“ Diese Variante möchte ich alterierende Tiefe in eine pseudo-psychoanalytische Situation, die vage Depersonation nennen. auf Döblins Eltern anspielt. Die Figur Döblin geht jedoch nicht auf das Angebot einer psychoanalytischen Beichte ein Diese Weiterentwicklung der Depersonation in der Schick- und bricht die Annäherung an seine Lebensgeschichte ab. salsreise wird notwendig, da nun die sozialen Bindungen
016 um das Ich weitgehend aufgelöst sind. Daher kann es hier Im Gegenzug erweist sich die alterierende Depersonation nicht um eine dialogische Verankerung des Ich in der Welt als mögliche Antwort auf die Wirren der Zeit. Von daher ist gehen, zumal die gewohnte Leserschaft nicht mehr vorhan- Döblins Schicksalsreise ein Beispiel einer modernen Kon- den ist: „Soll ich […] auf altgewohnte Art schreiben, – für versionsbiographie, die geschickt an die hoch entwickelten wen, Deutsch schreiben?“13 Schreibtechniken seiner Vorgängerbiographien anknüpft. Im Wegfall aller sozialen Verankerungen zeigt sich überra- 1 schenderweise, dass gerade das Ich als Kern übrig bleibt. Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in: ders.: Aufsätze zur Literatur. Hg. von Walter Muschg, Olten, Freiburg i.Br. „Warum soll ,man‘ sich eigentlich mit mir beschäftigen? Ja, 1989, S. 16. man tut es. Man kann nicht anders. Es gehört zum Wesen der 2 Ebd., 18. Sache. Denn: ich bin, und das heißt: der ewige Urgrund, er 3 Ebd. mag sein wie er will, hat auch dies mein ,Ich‘ geschaffen. […] 4 Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie, Stuttgart, Weimar 2000, S. Sobald ich in meiner Koje aufwache [...] ist mein Ich da […].“14 10. 5 Döblin, Alfred: Doktor Döblin. Selbstbiographie, in: ders.: Schriften zu Le- FAZIT ben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt, Olten, Freiburg i.Br. 1986, S. 14. In einer Autobiographie ist die Ich-Konstituierung wohl das 6 Ebd., S. 16. auffälligste Thema überhaupt. Sie erfolgt in der Skizze von 7 Ebd., S. 17. 1918 über pronominale Depersonation und im Ersten Rück- 8 Döblin: Erster Rückblick, in: ders.: Schriften zu Leben und Werk. Olten blick von 1928 über performative Depersonation. Beide Ver- 1986, S. 108-178, hier S. 108. fahren werden mit Modernität assoziiert. Die Schicksalsrei- 9 Austin, J. L.: How to do things with Words, Oxford 1962. se von 1949 verwendet dagegen neben der pronominalen 10 Koopmann, Helmut: Von der Unzerstörbarkeit des Ich. Zur Literarisierung auch noch die Variante der alterierenden Depersonation, der Exilerfahrung, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 2 die leicht mit einer traditionellen Ich-Setzung verwechselt (1984), S. 12. werden kann. Daher erscheint die Schicksalsreise in der 11 Döblin, Alfred: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, Solothurn, Düssel- Meinung ihrer Kritiker als ästhetischer Rückschritt. Wie je- dorf 1973, S. 29. 12 doch gezeigt, ist die letzte Transformation der performa- Ebd., S. 99. tiven in eine alterierende Depersonation notwendig, da 13 Ebd., S. 151. die scheinbar „moderne“ Variante der performativen De- 14 Ebd., S. 109. personation in der Exilsituation unmöglich geworden war. Anzeige Einfach bequem & kinderleicht: unser Online-Kundencenter. Immer für Sie da. Natürlich. www.awidea.de Jetzt registrieren unter service.stadtwerke-witten.de
Schwerpunktthema Zerrissenheit 017 ZERRISSEN ZWISCHEN ZWEI WELTEN Von der Leidensfähigkeit eines China-Wissenschaftlers Distanz im Sinne persönlicher geistiger Freiheit zum Forschungsgegenstand ist für unvoreingenommene Forschung notwendig. Ähnlich wichtig für die Objektivität wissenschaftlicher Forschung ist die Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik: Man kann immer falsch liegen. Martin Woesler Professur für Literatur und Kommunikation in China Wie sieht es in meiner Disziplin, den China-Wissenschaften Aufmerksamkeit in westlichen Medien fand im Juli 2018 der aus? Wie relevant ist hier die persönliche Einstellung zu Fall des US-Professors Christopher Balding. Er hatte einen China? China zeigt uns heute zunehmend eine techno-au- Aufruf gegen Zensur wissenschaftlicher Fachzeitschriften in tokratische Gesellschaft mit Fremdsteuerung seiner Bürger, China mit unterschrieben. Deshalb, so Balding, sei sein Ver- für liberale Demokraten eine Dystopie, wie die nächste trag mit der HSBC-Business School, eine Außenstelle der Medienepoche (5.0) nach der Digitalisierung (4.0) aussehen Peking-Universität in Shenzhen, nicht verlängert worden. könnte: Unbewusste, nicht-explizite Kommunikation, Korre- lation statt Kausalität, künstliche Intelligenz, die die Bürger Privatsphäre, Datenschutz, auch die Pflicht, das Einver- über Algorithmen steuert, und Bürger, die dies verinnerli- ständnis der Gefilmten einzuholen, dies sind in China chen und zum Teil sogar begrüßen. Fremdworte. Anwesenheit ist Pflicht und Dozent*innen dürfen keinesfalls zu spät kommen. Zusammen mit anderen Um die existenzielle Bedeutsamkeit des werdenden chi- Daten wie Internet-Verhalten, Bewegungsprofil etc. kann nesischen Gesellschaftsmodells zu erforschen, muss man von jeder Person ein virtuelles Abbild (quasi ein Avatar) im (zeitweise) im Land leben. Wie leidensfähig muss ein*e Wis- Computer erschaffen werden. Die direkte Zensur- und Kon- senschaftler*in sein, um aus erster Hand diese Forschungen trollfunktion wird sichtbar, wenn kritische Äußerungen im durchzuführen? Denn damit wird man auch selbst Teil des Klassenraum im Hinblick auf Regimetreue Sitzungen nach Systems: sich ziehen, in denen der Tutor Selbstkritik oder Denunzia- tion verlangt. Chinesen wenden etwa 10% des Unterrichts Drei große Kugelkopf-Kameras schweben über mir, und ihrer Arbeitszeit für die ideologische Rektifizierung auf. neun weitere sind über den Köpfen der Studierenden Der Avatar ist dem Studierenden so ähnlich, dass er sogar im Klassenraum der Peking Normal University verteilt. Fragen beantworten kann, die im Laufe der Jahre nie ge- Beim Einstellungs-Interview wurde mir mitgeteilt, der stellt wurden. Die Vorhersage der Reaktion von Individuen Vorgänger auf der Gastprofessur habe seinen Posten und, noch interessanter, einer ganzen Schulklasse bzw. Se- wegen politischer Äußerungen im Unterricht verloren. minargruppe auf unvorhersehbare Ereignisse wird so mög- lich. (All dies liefert extrem wertvolle Daten für globale Tech-
018 nologie-Firmen, einschließlich westlicher und deutscher, ner Art Gehirnwäsche unterzogen. (Angeblich wurde eine auch wenn die speziellen Rahmenbedingungen in China Konterrevolution niedergeschlagen, laut Volkszeitung war [noch] die Übertragbarkeit dieser Daten in andere Ländern diese von ausländischen Spionen angestiftet worden – als einschränken.) Durch Referenzgruppen-Abgleich kann die ‚Beweis‘ wurden westliche Touristen auf Fotos als Spione individuelle Freiheit selbst zu einer Größe gemacht werden, „entlarvt“: sie trugen Kameras.) Man setzte sogar am Ge- mit der im Algorithmus gerechnet wird. schichtsunterricht in den Grundschulen an: Die Geschich- te wurde in eine der 150-jährigen Schmach und Unterdrü- ckung durch den Westen umgeschrieben, die man von nun an durch ein Überholen des Westens wettmachen würde. Wo die Ideologie der Partei nicht mehr griff, wurde sie durch Patriotismus ersetzt. Studierende müssen in China seit 1989 Wehrdienst leis- ten, früher für ein Jahr und auch heute noch für mehrere Monate. Sie werden zu Soldat*innen und Reservist*innen ausgebildet, so dass im Notfall einfach befohlen werden kann, z.B. studentische Demonstrationen aufzulösen und in die Wohnheime zurückzukehren, oder im Extremfall, die Rädelsführer*innen zu erschießen. Kasernen werden gerne in Rufweite von Campi eingerichtet. Das Klima wird rauer, seit Anfang 2018 wird z.B. nicht mehr geduldet, dass sich Bürger mit Hilfe von VPN-Programmen freie Internetseiten von Google, Facebook oder der New York Times anschauen. Als Professor an der Universität Witten/Herdecke und in den vergangenen drei Jahren zugleich als Gastprofessor an der Peking Normal University lebte ich im (manchmal sogar halbwöchentlichen) Wechsel in China und in Deutschland. Umso extremer erlebte ich die Unterschiede zwischen den deutschen und chinesischen Studierenden, zwischen der Freiheit der Forschung und Lehre in Deutschland und den Einschränkungen und der mentalen Gleichschaltung in Chi- na. Studierende in China erhalten normalerweise ihren Ab- schluss innerhalb der Regelstudienzeit, in Einzelfällen so- gar ganz ohne Studium. An der Nanking University rief ein Parteisekretär bei einer Prüferin an und verlangte, seine Tochter müsse eine Prüfung für ein USA-Stipendium beste- hen. Ich beneide meine Kolleg*innen in China nicht, die es In China ist das Ziel die Verwirklichung eines alten sozialis- in solchen Situationen zwischen akademischer Freiheit und tischen Ideals von zentraler Planwirtschaft und Steuerung politischem Druck zerreißt. auf neuer technischer Stufe. Der erste Anlauf scheiterte vor allem aufgrund geschönter und zu wenig umfassender Da- In Deutschland gilt dagegen eine gewisse Misserfolgs- und ten sowie zu langer und ineffizienter Reaktionen. Der zweite Abbrecherquote als Qualitätssiegel. Genau das aber macht Anlauf heute erscheint mit Hilfe von Big Data viel aussichts- chinesischen Eltern, die über ein Auslandsstudium ihrer reicher. Einzelkinder entscheiden, tendenziell Angst. Gibt es auch konkrete, kurzfristige Ziele dieser Totalüber- Ein anderes Beispiel: Ich musste einmal erleben, dass ein wachung? Warum will man wissen, wie Studierende indi- Wissenschaftler der Nanking University, der die Patenschaft viduell und in der Gruppe auf unvorhersehbare Ereignisse für von mir beantragte Forschungsgelder (aus dem Förder- reagieren? Hier wäre an die jüngere Geschichte zu erin- bereich für Nicht-Chinesen) übernahm, die Gelder für sich nern: Sind doch an der der Peking Normal University be- behielt und noch nicht einmal entstandene Kosten für An- nachbarten Peking University 1989 Diskussionen entstan- reise und Unterkunft erstattete. Wie soll man so etwas in den, dann Wandzeitungen und Demonstrationen, die das einer Kultur indirekter Kommunikation, der Höflichkeit und sozialistische System in Richtung auf Demokratie, Abbau Gesichtswahrung ansprechen? von Korruption und Vetternwirtschaft reformieren wollten. 1989 wurden diese friedlichen Demonstrationen blutig Es ist auch eine innere Zerreißprobe, wenn man als aus- niedergeschlagen und die überlebenden Studierenden ei- ländischer Professor zum Gutachter in den chinesischen
Schwerpunktthema Zerrissenheit 019 Wissenschaftsrat berufen wird, dort aber dann darauf hin- ger als das System in China sind die Menschen. Sie sind weisen muss, dass Geschenke und bereitgestellte Luxus- oft aufgeklärter als wir denken, ihre Regimetreue, die jetzt limousinen der begutachteten Shanghai Foreign Studies auch mit Punkten gemessen wird, ist oft kaum mehr als ein University nach internationalen Standards zum Abbruch der Lippenbekenntnis. Begutachtung führen müssten. Die China-Wissenschaften sind eine dieser Disziplinen, Ein ähnliches Gefühl der Zerrissenheit schilderten eine Do- in der fast jede*r Wissenschaftler*in noch eine zweite, zentin und ein Dozenten aus Japan, als die Nanking Normal klassische Disziplin studiert hat und beherrscht, wie etwa University sie mit hohen Gehältern einstellte, da der Uni- Sprache, Literatur, Geschichte, Politik etc. Viele Sinologen versität bis zu 50% Fördermittel lockten, die Dozent*innen haben also ein Doppelleben, sie gehen auch zu Fachkon- dann aber nahezu leer ausgingen. ferenzen ihrer klassischen Disziplin, und bringen so frische Impulse in die Fachkonferenzen der Sinologie. Es lohnt sich also in der Zusammenarbeit mit China, es nicht auf eine Zerreißprobe ankommen zu lassen, sondern guter Einige China-Wissenschaftler*innen lieben China. Davon wissenschaftlicher Praxis und dem Gewissen verpflichtet zu wiederum betrachten einige China durch eine rosa Brille, bleiben und sich auf die wirklich kooperationswilligen und betonen nur die positiven Seiten (die Kommunistische Partei integeren Kolleg*innen und Institutionen zu konzentrieren. hat hunderte Millionen Menschen aus der Armut geführt), Zerrissenheit ist das Gefühl, dass mein Leben zwischen schwächen Negatives ab. Solche China-Wissenschaftler*in- Deutschland und China in den vergangenen drei Jahren am nen werden von der chinesischen Regierung und dem Wis- besten beschreibt. Einen unauflösbaren Loyalitätskonflikt senschaftsbetrieb mit Preisen, Einladungen und Ehrungen gab es für mich aber nie: Ich bin stets meinem Gewissen überhäuft. Die so Gebauchpinselten versteigen sich dann gefolgt, ohne zu Provozieren oder mit kulturellen Gepflo- gelegentlich zu absonderlichen Behauptungen, z.B. dass genheiten zu brechen. die chinesischen Dissidenten nur deshalb Dissidenten sei- en, um Honorare westlicher Medien zu kassieren. Oder sie Trotz der schwierigen Bedingungen haben sich zahlreiche wehren die Feststellung von Menschenrechtsverletzungen meiner Studierenden in China zu kritischen Köpfen entwi- in China mit dem Argument ab, die USA seien als Verursa- ckelt, nicht wenige sind inzwischen zum Auslandsstudium cher globaler Kriege noch aggressiver und würden ja auch in den USA. foltern. Vergleiche sind immer schwierig (wie wir von de- nen mit Nazi-Deutschland wissen). Verwendet man diese Wer in Deutschland seinem Gewissen und seinen For- Vergleiche jedoch, um ein techno-autokratisches System zu schungsinteressen folgt, kann vergleichsweise frei arbeiten. verteidigen, macht man sich meines Erachtens mitschuldig. In China gibt es die große Chance, jungen Menschen ein Wo ist die Grenze? Ich meine, die persönliche ebenso wie wenig den Horizont zu erweitern, sie ein wenig von der institutionelle Zerrissenheit sollte ihre Grenze am Mindest- westlichen Freiheit der Wissenschaft kosten zu lassen. Dies konsens von Würde und Unverletzbarkeit des Menschen kommt, zumindest indirekt, auch ihrer Ausbildung zugute: finden. Kritischer Geist wird für die Transformation der chinesischen Gesellschaft in eine, die die Menschenwürde respektiert, Liebe ich China? Da halte ich es mit Gustav Heinemann, der nötig sein. Natürlich können die wenigen westlichen Wis- entgegnete, er liebe seine Frau. Liebe ich die China-Wis- senschaftler*innen in China bestenfalls nur eine Tür öffnen, senschaften? Ja. Und diese Liebe zum Beruf ist es auch, die die Studierenden müssen selbst hindurchgehen. Auch chi- es ermöglicht, die Zerreißprobe zu bestehen und für pro- nesische Wissenschaftler*innen erkennen den Berufsethos duktive Forschung und Lehre zu nutzen. ihrer westlichen Kolleg*innen als Alternativmodell. Wichti- Anzeige Entdecken Sie die inspirierende Viel- falt unseres wechselnden Sortiments. Die GenussGalerie Hafer als Trend- scout und Anbieter erlesener und innovativer Produkte bietet immer Bahnhofstraße 31, 58452 Witten wieder Überraschendes. Tel. 02302/2051665 www.genussgalerie-hafer.de Damit Sie sich und anderen eine Freude bereiten können. Kommilitonen PRÜFUNGSBELOHNUNGEN WEINE PASTA PESTO PRÄSENT-IDEEN Das Team der GenussGalerie Hafer ÜBERRASCHER GENUSSMOMENTE LEBENSFREUDE freut sich auf Ihren Besuch.
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