Zerrissenheit - STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 - Uni Witten/Herdecke

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Zerrissenheit - STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 - Uni Witten/Herdecke
Fakultät für Kulturreflexion   01.10.2018 BIS 31.03.2019

STUDIUM FUNDAMENTALE
                             Semesterzeitung WS 18/19

                          SCHWERPUNKTTHEMA

                          Zerrissenheit

GESUNDHEIT   WIRTSCHAFT    KULTUR
Zerrissenheit - STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 - Uni Witten/Herdecke
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SoSe 18     003

INHALT
GRUSSWORT DES DEKANS                                                                                          S. 005

SCHWERPUNKTTHEMA: ZERRISSENHEIT
Zerrissenheit. Signatur der Zeit                                     Matthias Kettner                         S. 010

Un petit effort                                                      Dirk Baecker                             S. 012

Autobiographien der Zerrissenheit                                    Julia Genz                               S. 014

Zerrissen zwischen zwei Welten                                       Martin Woesler                           S. 017

Gesellschaftliche Zerrissenheit in drei Dimensionen                  Jens Lanfer, Tobias Vogel                S. 020

AUS FAKULTÄT UND STUDIUM
Kommen & Gehen                                                       Dirk Baecker, Claus Volkenandt,          S. 024

                                                                     Jonathan Harth, Matthias Kettner

Bericht aus der Reflexion: Kolloquium junger Forscher*innen an der   Martin Feißt, Maximilian Locher          S. 027

Fakultät

Dritter „Geldgipfel“ an der Universität Witten/Herdecke              Reinhard Loske                           S. 028

Buchreihe: Palliative Care und Forschung                             Martin W. Schnell, Christine             S. 029

                                                                     Dunger

Kein Ort. Nirgends und liebe mich                                    Andrea Kreisel                           S. 031

Impro oder nicht Impro, das ist hier die Frage                       Laura Fischer, Anna Schöppe              S. 032

Joghurtstörung auf A4                                                Felix Bouché, Caroline Geck,             S. 033

                                                                     Hannes Schulz

Interview mit Bebe Timm Motz                                         Linda Lösser                             S. 034

Nachruf Elisabeth Tengelmann                                         Martin Butzlaff                          S. 036

ÖFFENTLICHE VERANSTALTUNGEN & VORTRAGSREIHEN
Vortragsreihe: Angewandte Kulturreflexion                                                                     S. 038

Kalender öffentliche Veranstaltungen im Wintersemester 2018/2019                                              S. 039

STUDENTISCHE INITIATIVEN DER UNIVERSITÄT WITTEN/HERDECKE                                                      S. 043

SPRACHKURSE
Lernen Sie doch einfach mal... Chinesisch!                                                                    S. 050

Sprachkurse an der RUB im Wintersemester 2018/2019                                                            S. 050
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004

LEHRVERANSTALTUNGEN / COURSES                                                                           S. 051

DIE FAKULTÄT FÜR KULTURREFLEXION – STUDIUM FUNDAMENTALE
Wer wir sind und wen wir wollen!                                                                        S. 084

Unser Studienangebot                                                                                    S. 085

Köpfe                                                                                                   S. 086

Dozent*innen im Wintersemester 2018/2019                                                                S. 087

Impressum                                                                                               S. 090

Förderer der Fakultät

›› Deutsche Gesellschaft für Philosophie e.V.         ›› Stiftung Private Universität Witten/Herdecke

›› Friedrich Wilhelm Moll-Stiftung                    ›› Elisabeth Tengelmann

›› GLS Gemeinschaftsbank eG                           ›› Universitätsverein Witten/Herdecke e.V.

›› HB-Stiftung                                        ›› Werner Richard – Dr. Carl Dörken Stiftung

›› Dr. Wolfgang Klemt                                 ›› Willner Stiftung

›› Dr. Marcel Mangen                                  ›› Wittener Universitätsgesellschaft e.V.

›› Stadtwerke Witten GmbH                             ›› Dr. Walter Wübben

›› Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft       ›› KARL-KOLLE Stiftung

›› Stiftung Die Christengemeinschaft in Deutschland
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WS 18/19     005

Grußwort des Dekans
           „Bringing wit to Witten is like bringing owls to Athens.“

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           Dirk Baecker
           Folgend ein Text, der exemplarisch komplett über 4 Seiten gesetzt ist.
           Dekan

           Claus Volkenandt
           Folgend ein Text, der exemplarisch komplett über 4 Seiten gesetzt ist.
           Prodekan Lehre

Einer der historischen Referenzpunkte für das Studium               von Adel und Klerus. Erzogen wurde man in der Familie. An
fundamentale und das Studium der Kulturreflexion sind               den Universitäten erlernte man das Wissen, um sich erfolg-
die Sieben Freien Künste, die artes liberales, wie sie in der       reich in der Welt bewegen zu können.
Spätantike kanonisiert und im Mittelalter an den Universi-
täten gelehrt wurden (https://de.wikipedia.org/wiki/Sie-            Niklas Luhmann unterstrich die „eindrucksvolle, geschlos-
benFreieKünste). Die ersten drei, das sogenannte Trivium,           sene Konzeption, der man heute nichts annähernd Gleich-
umfassten die Grammatik (formal richtig reden), Dialektik           wertiges entgegenzusetzen hätte. Im Trivium geht es um
(inhaltlich richtig reden) und die Rhetorik (richtig verständ-      Kommunikation, im Quadrivium geht es um die Welt. Die
lich reden), die nächsten vier, das sogenannte Quadrivium,          Lehre der Kommunikation wird geordnet nach sprach-
die Arithmetik (Zahlentheorie), Geometrie (inkl. Geogra-            lichen, pragmatischen und wahrheitsbezogenen (logi-
phie und Naturgeschichte), Musik (Musiktheorie) und Astro-          schen) Gesichtspunkten. Die Welt wird repräsentiert nach
nomie (damals auch Astrologie). Selbstverständlich wurden           Zahl, Raum, Bewegung und Zeit. Das Schema ist so stark
diese Künste auf lateinisch gelehrt und darin bestand ihr           generalisiert, dass es auf professionelle Sonderausbildun-
„hidden curriculum“, wie man sehr viel später sagte (Ro-            gen, etwa zum Theologen, zum Juristen, zum Arzt, keine
bert Dreeben, On What Is Learned in School, Reading, MA,            Rücksicht nimmt“ (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frank-
1968). Die sieben freien Künste sind das Herrschaftswissen          furt am Main, 1997, S. 951). Das Studium fundamentale

                                                                                                                         Anzeige
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schließt daran an. Seinen fächerübergreifenden Charakter        die von der Gewohnheit produzierten Einschränkungen
hat bereits Reinhardt Habel, sein Gründungsdirektor, auf        der eigenen Wahrnehmung nicht kennengelernt und über-
den Begriff des „Un-Fachs“ gebracht (in: Ludwig Huber et        wunden hat? Wenn für die freien Künste heute zuweilen
al. [Hrsg.], Über das Fachstudium hinaus, Weinheim, 1994,       die Übersetzung der „Geisteswissenschaften“ angeboten
S. 279).                                                        wird, führt das in die Irre. Denn dann stünden sie im Ge-
In den USA werden die liberal arts gegenwärtig wiede-           gensatz zu den Naturwissenschaften, was nicht der Fall ist.
rentdeckt, sei es als ein Studium Generale, das Defizite        Noch nicht einmal die englische Übersetzung „Arts & Hu-
der High School kompensieren soll, oder sogar als Aus-          manities“ trifft es, es sei denn, man würde Mathematik und
gangspunkt eines Versuches, die Universität neu und zwar        Informatik und Grundkenntnisse in den Naturwissenschaf-
orientiert an Fragestellungen eines nicht nur akademisch,       ten, aber auch in Politik und Recht und nicht zuletzt in der
sondern „praktisch“ brauchbaren Wissens zu denken, wie          Medizin dazuzählen.
es das Minerva-Projekt unternimmt (Stephen M. Kosslyn           Die erste Studienordnung des Studiums fundamentale aus
und Ben Nelson [Hrsg.], Building the Intentional University,    dem Jahr 1990 in der leicht geänderten Fassung aus dem
Cambridge, MA, 2017).                                           Jahr 1991, bis heute in Kraft, wenn auch vergessen, verfolgt
                                                                exakt diesen Ansatz. Hier geht es um Philosophie inklusive
Was heißt das für das Studium fundamentale und die              Wissenschaftstheorie, Logik und Erkenntnistheorie, um die
Kulturreflexion? Ist das Studium fundamentale noch ein          Allgemeine Ästhetik, Geschichte, Religionswissenschaft,
„Studium“ im engeren Sinne des Wortes oder nur eine             Kunst- und Literaturwissenschaft, die bildenden Künste,
Begleitveranstaltung, in der man sich aus einem Basar von       Musik, Theater, Literatur und Rhetorik ebenso wie um his-
Möglichkeiten das Passende zu seinen eigenen Interessen         torische, theoretische, methodologische und ethische Fra-
heraussuchen kann? Kann und muss die Kulturreflexion            gen der Medizin, der Wirtschaftswissenschaften und der
nicht mehr sein als ein fachwissenschaftlich geerdetes Stu-     Naturwissenschaften (insbesondere Biochemie). Das wäre
dium fundamentale? Und ist die Kulturreflexion nicht längst     dann jedoch tatsächlich ein eigenes Studium, das mit einer
ein fachwissenschaftliches Studium dessen, was einmal und       Veranstaltung pro Semester nicht abzugelten ist. Und es
aus guten Gründen (Stichwort: überfordernde Komplexität         würde unsere Lehrkapazitäten bei Weitem überfordern. An
der Welt) als „Un-Fach“ konzipiert war? Sollte man dann         der Grundidee halten wir nach wie vor fest. Die Klammer,
nicht die Konsequenz ziehen und die „Kultur“ streichen          die das Ganze zusammenhält, ist vielen Studierenden und
und ein Studium der „Philosophie, Gesellschaft und Küns-        Dozenten noch präsent. Immerhin geht es nach wie vor um
te“ (PGK) anbieten?                                             ein reflexives Studium der Wahrnehmung und ein wahrneh-
                                                                mendes Studium des Denkens.
Gehen wir ein paar Schritte zurück. Wie ernst sind die ar-
tes liberales heute noch zu nehmen? Auffallend ist zunächst     Das Studium fundamentale schickt ins Risiko eines Wissens,
der Bezug auf die Künste und nicht die Wissenschaften. Die      das mit Blick auf die Komplexität der Welt (nicht-lineare
Künste werden hier in einem technischen und erst in zweiter     Sozio- und Ökosysteme kurz vor der Schwelle von tipping
Linie in einem ästhetischen Sinne verstanden. Es geht um        points) zu den Komfortzonen der Fachwissenschaften quer
das Machen und Können, sei es des Denkens und Redens,           steht. Aber nehmen wir das ernst? Machen wir etwas da-
sei es der Vermessung und Ordnung der Welt. Selbstver-          raus? Beteiligen wir uns – außerhalb studentischer Initia-
ständlich spielt die Ästhetik dabei eine Rolle, denn wie soll   tiven – an einer fächerübergreifenden Forschung, die aus
man etwas tun können, wenn man nicht wahrgenommen               diesem Wissen resultieren müsste? Erneut: Das überstie-
hat? Und wie soll man etwas besser tun können, wenn man         ge unsere Kapazitäten. Aber müsste eine Universität, die
                                                                                  sich als Akteur einer Zivilgesellschaft im
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                                                                                  drohung versteht, nicht alles dafür tun,
                                                                                  diese Kapazitäten zu schaffen und für ein
                                                                                  Studium ihrer Studiengänge Bewerber zu
                                                                                  gewinnen, die sich andernfalls enttäuscht
                                                                                  von den Wissenschaften abwenden? Und
                                                                                  ist die Verknüpfung von Kultur, Politik und
                                                                                  Künsten, das heißt des Studiums träger
                                                                                  Systeme, der politischen Spielräume und
                                                                                  der Schulung einer überforderten Wahr-
                                                                                  nehmung, nicht ein brauchbarer Aus-
                                                                                  gangspunkt?

                                                                                  Der Anfang ist gemacht, es fehlt die
                                                                                  Durchführung. Entscheidend ist der fä-
                                                                                  cherübergreifende Aspekt des Studiums
                                                                                  fundamentale und der Kulturreflexion.
                                                                                  Unter diesem Aspekt ist weniger die
                                                                                  Überwindung der Disziplinen zugunsten
                                                                                  inter- und transdisziplinärer Ansätze zu
                                                                                  verstehen als vielmehr die intellektuel-
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WS 18/19     007

le Reflexion der Leistungsfähigkeit der Disziplinen in ihrer
historischen, theoretischen und methodischen Vielfalt. In-
terdisziplinarität beginnt dort, wo man neben der eigenen
mindestens eine zweite Disziplin kennengelernt hat. Nur so
erkennt man die Beschränkung der einen im Spiegel der
anderen. Und Transdisziplinarität beginnt dort, wo man
Spuren der Rhetorik, Mathematik, Hermeneutik, Semiotik,
Kybernetik und Informatik in jeder Disziplin zu entdecken
in der Lage ist. Daraus entsteht noch keine neue Wissen-
schaft, aber immerhin ein Wissen um den Modellcharakter,
die Diskursgebundenheit, die praktische und institutionelle
Eingebundenheit jeder Disziplin. Reinhardt Habel hat auf
den Punkt gebracht, warum diese Intellektualisierung für
die Studierenden der Universität Witten/Herdecke so un-
erlässlich war und ist (von den Dozenten nicht zu reden):
„Junge Menschen verfügen in der Regel bereits fast voll-
ständig über ihre formale Intelligenz und besitzen daher
zumeist ein unreflektiertes Vertrauen zu ihrem Denken. Sie
neigen infolgedessen zu dogmatischen Urteilen, wenn die-
se nur von einem gedachten Prinzip her schlüssig sind. Die
Bezüge zur komplexen Realität spielen dabei meist nur eine
nebensächliche Rolle. Wenn in dieser Situation durch nai-
ves Einüben fachspezifischer Methoden in der Studienpra-
xis die isolierten Erkenntnisse als allgemeine Wahrheiten
genommen werden, entsteht unvermeidbar die bekannte
Engführung in die Borniertheit des Spezialisten, die sich bis
in den Bereich der Lehre fortsetzen kann. Auf diese Weise
bildet man ‚Fachidioten‘ aus“ (a.a.O., S. 275f.).

Ein fächerübergreifendes Studium schließt fachliche Stren-
ge nicht aus, sondern ein. Wer kein Fach kennengelernt hat,                                                           Anzeige

wird an der Intellektualisierung scheitern. Die freien Künste
sind keine Übung in kreativer Beliebigkeit. Sie sind Kunst im   schwach (Die neue Wissenschaft über die gemeinschaft-
Sinne der Anwendung eines Könnens und sie sind frei. Was        liche Natur der Völker, Neapel, 1744, dt. Berlin, 2000, S.
aber heißt Freiheit in diesem Zusammenhang? Ursprüng-           78). Die historische Welt, auch Kultur genannt, ist das Feld
lich gemeint war sicherlich die Kunst derer, die frei sind,     einer sich selbst einschränkenden und immer wieder neu
nicht gebunden an Scholle, Gewerbe, Lohn und Herrschaft.        zu gewinnenden menschlichen Freiheit. Daran haben die
Nur Adel und Klerus beschäftigen sich mit Argumenten,           Wissenschaften einen erheblichen Anteil, wie wir aus tech-
Strategien und Plänen, um deren Entscheidungsspielraum          nologischen Anwendungen der Naturwissenschaften, aber
auszuloten. Heute kann das jeder Student. Freiheit, so          auch aus den Lehren der Politik, Wirtschaft und Medizin
die Aufklärung (mit Immanuel Kant), ist die Fähigkeit, sich     wissen. Genau daran erinnert die Kulturreflexion. Sie iden-
selbst, das Subjekt, als Ursache setzen zu können. Selbst-      tifiziert eine eigene Differenz im Getriebe der Welt. Man
verständlich verwickelt dies sofort in Notwendigkeiten aller    kann sie die Vico-Differenz nennen, den Unterschied, den
Art. Man kann nur bewirken, was sich bewirken lässt. Und        das Zusammenleben der Menschen macht, meist eher un-
man kann auch nur dort Ursache sein, wo weitere erforder-       freiwillig.
liche Ursachen verfügbar sind. Die soziologische Aufklä-
rung spricht daher (mit Luhmann) von der Notwendigkeit          Vielleicht müssen wir das Studium fundamentale und die
und Kunst, Freiheit in die Verhältnisse „hineinzufingieren“.    Kulturreflexion dennoch schärfer trennen. Das Studium
Wissen dient dazu, dies in einigen Fällen mit Aussicht auf      fundamentale muss ausgebaut werden, in gemeinsamer
Erfolg tun zu können und sich in allen anderen Fällen zu-       Arbeit aller drei Fakultäten der Universität. Wir müssen
rückzuhalten und weiterzuforschen.                              darüber nachdenken, welchen Grundgedanken wir im Stu-
                                                                dium fundamentale verfolgen wollen. Es muss ein Grund-
Es ist kein Zufall, dass das Studium fundamentale an der        gedanke sein, der nicht zur Disposition steht, sondern zum
Universität Witten/Herdecke durch ein Studium der Philo-        Pflichtprogramm in allen Studiengängen gehört, so sehr es
sophie und Kulturreflexion ergänzt wurde. Die Kulturwis-        dann auch um Wahlfreiheit in der Form seiner Ausgestal-
senschaften sind seit Giambattista Vico die Wissenschaften      tung geht. Nimmt man die Probleme der Weltgesellschaft
von der Entdeckung jener „poetischen Weisheit“, die in          in den Themen Globalisierung, Klimawandel und Digitali-
dem Wissen liegt, dass der Mensch zwar nicht die Natur          sierung ernst, könnte man dazu neigen, das Studium von
(damals hatte man es noch nicht mit dem Klimawandel zu          Warnprogrammen aller Art (etwa des Weltklimarats IPCC
tun), aber doch seine eigene historische Welt mitgestal-        und des Weltbiodiversitätsrats IPBES) zur Pflicht zu erklä-
tet. Der menschliche Wille, sagt Vico, ist frei, wenn auch      ren. Und in der Tat muss dies vorkommen. Aber es darf trotz
Zerrissenheit - STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 - Uni Witten/Herdecke
008

aller Dringlichkeit nicht zum Dogma werden, weil gerade in         Studiengänge der Humanmedizin, Zahnmedizin, Psycholo-
größter Not, wie wir aus Edgar Allen Poes Erzählung „Hin-          gie, Pflegewissenschaften und Wirtschaftswissenschaften.
ab in den Maelström“ (1841) wissen, der abweichende Blick          Diese Differenz „zahlt“, wie man heute zu sagen pflegt, auf
der (unter Umständen) rettende ist.                                das Studium fundamentale „ein“, wie dieses umgekehrt auf
                                                                   die Studiengänge „einzahlt“.
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Bedeutung
des Studiums fundamentale als Attraktor (auch im mathe-            Wir wünschen dem Studium fundamentale und der Fakul-
matischen Sinne) aller Studiengänge der Universität wieder-        tät für Kulturreflexion im Wintersemester 2018/19 in diesem
beleben und weiter stärken. Und wir müssen die Eigenstän-          Sinne eine fruchtbare Diskussion, auch mit der Universi-
digkeit eines Bachelorstudiengangs rund um die Themen              tätsleitung und den Nachbarfakultäten. Und wir wünschen
Philosophie, Gesellschaft und Künste betonen. Das braucht          dem Studium fundamentale und der Kulturreflexion eine
Mut, auch im Sinne des Ausbaus der dafür erforderlichen            aussichtsreiche und nachhaltige Weiterentwicklung.
Fächer. Und es braucht eine Berufungspolitik, die inter- und
transdisziplinäre Aspekte betont. Ein Bachelorstudiengang
der Philosophie, Gesellschaft und Künste muss in ebenso
starker Differenz zum Studium fundamentale stehen wie die

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Zerrissenheit - STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 - Uni Witten/Herdecke
SCHWERPUNKTTHEMA

Zerrissenheit
Zerrissenheit - STUDIUM FUNDAMENTALE Semesterzeitung WS 18/19 - Uni Witten/Herdecke
010

ZERRISSENHEIT.
SIGNATUR DER ZEIT

            Seltsam zwischen Wunsch und Verwünschung schillert ein Sinnspruch, der angeblich
            aus dem alten China stammt: „Du mögest in interessanten Zeiten leben!“ In interes-
            santen Zeiten leben wir heute zweifellos, doch in einer offenbar zunehmend zerrisse-
            nen Welt.

            Matthias Kettner
            Lehrstuhl für Praktische Philosophie

In der Anfangszeit der kritischen Gesellschaftstheorie war    eigentlich bedeutsam sein müssten. Hartmut Rosa erklärt
Zerrissenheit ein Begriff der romantischen Kapitalismus-      in seiner Soziologie der Weltbeziehung (2016) Entfremdung
kritik, den z.B. der marxistische Theoretiker Georg Lukacs    als einen Verlust existenzieller Resonanz. Solche Gefühls-
1923 in seinem Klassiker Geschichte und Klassenbewusst-       lagen verheißen nichts Gutes, allemal wenn sie für immer
sein gebrauchte, um das Elend von Entfremdung und Ver-        mehr Menschen so selbstverständlich werden, dass sie sie
dinglichung zu umschreiben.                                   normal finden. Work hard, play hard.

Was mit Verdinglichung gemeint ist, würden wir heute          Verdinglichungs- und Entfremdungsdiagnosen, selbst the-
an entsprechenden Phänomenen vielleicht so erklären:          oretisch raffinierte, gehen gerade an den schlimmsten For-
Verdinglichung tritt in dem Maße ein, wie sich habituell      men des Elends in der Weltgesellschaft seltsam vorbei.
erstarrte Denkgewohnheiten ausbreiten, die unsere ur-         Wenn wir die gedanklichen Instrumente neu einstellen wol-
sprünglichen Fähigkeiten zur lebendigen Anteilnahme an        len, um unsere Fassungslosigkeit angesichts von bewaffne-
anderen Menschen und zwischenmenschlichen Beziehun-           ter Gewalt, von Hass, Ausbeutung und Unterdrückung in
gen verflachen oder gänzlich zum Verschwinden bringen.        Ausmaßen, wie wir sie nach dem Ende der bipolaren Welt
Der Sozialphilosoph Axel Honneth (2005: Verdinglichung)       nicht mehr für möglich gehalten haben, reflektieren zu kön-
erklärt Verdinglichung einleuchtend als eine Art von "Aner-   nen, so wäre Zerrissenheit m.E. einer der Schlüsselbegriffe,
kennungsvergessenheit“.                                       auf die wir nicht verzichten können, um die gravierendsten
                                                              Pathologien der heutigen Welt zu verstehen. Zerrissenheit
Auch die kritische Analyse von gesellschaftlichen Verhält-    verweist auf Zwiespalt, Entzweiung, auf unversöhnliche Ge-
nissen der Entfremdung und Selbstentfremdung hat seither      gensätze und auf Konflikte, die unlösbar erscheinen und es
Fortschritte gemacht (Raeggi, Rahel 2016: Entfremdung:        wirklich auch sind.
Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Berlin
2016.). Zum Erfahrungsgehalt von Selbstentfremdung ge-        Politisch unversöhnliche reale Interessengegensätze, hinter
hört z.B. die gefühlte Bedeutungs- und Beziehungslosigkeit    denen gewaltige militärische und ökonomische Selbstbe-
von Teilen der eigenen Lebensführung, die für einen selbst    hauptungskräfte stehen, unauflösbare Zielkonflikte, wie der
Schwerpunktthema Zerrissenheit     011

zwischen Wirtschaftswachstum, Klima- und Umweltschutz,          der Polarisierung innerhalb der US-amerikanischen Gesell-
und fortdauernde, durch nichts zu rechtfertigende, obszö-       schaft, die von einer Vor-Bürgerkriegs-Stimmung sprechen,
ne Ungleichheiten der Lebensverhältnisse im Weltmaßstab         dramatisieren. Aber namhafte amerikanische Politologen
bilden heute die massivsten Entwicklungsstörungen, die          wie Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, die es wissen müs-
die Weltgesellschaft zu zerreißen drohen, indem sie die         sen, schreiben Bestseller darüber, „Wie Demokratien ster-
Funktionsfähigkeit von wesentlichen zivilisatorischen Errun-    ben” (2018) und was wir dagegen tun könnten. Sind das
genschaften der Moderne und Postmoderne schwächen               noch Warnungen – oder schon Abgesänge?
und angreifen: Die utopische, aber keineswegs utopisti-
sche Idee eines Vorrangs der globalen Friedenssicherung         Die nun folgenden vier Beiträge nähren sich der Katego-
vor anderen Politikzielen; der Ausbau einer Kultur welt-        rie der Zerrissenheit ganz undramatisch und von ganz
gemeinschaftlich erklärter Menschenrechte, zu der auch          verschiedenen Seiten. Dirk Baecker blickt mit dem Frie-
kommunikative Freiheiten (Medien) sowie die Teilhabe an         densforscher Galtung und dem Friedensaktivisten Gandhi
Bildung und überprüfbarem Wissen (Wissenschaft) gehö-           auf eine durch „kulturelle Gewalt“ zerrissene, polarisierte
ren; die Konstitutionalisierung des Rechts; die Verstetigung    Gesellschaft, deren Mitgliedern die verbindende Fähig-
einer Diplomatie des Interessenausgleichs, der Kompro-          keit zu Perspektivenwechseln abhandenkommt. Julia Genz
missbildung und der Ambiguitätstoleranz, um nur einige zu       erläutert an autobiographischen Versuchen des durch
nennen.                                                         und durch modernen Schriftstellers Alfred Döblin dessen
                                                                Schreibtechniken der „Depersonation” – zum bewussten
Nicht zuletzt: Demokratie. Lebhafte Demokratie, die sich        Ausdruck von Zuständen der innerlichen Zerrissenheit der
nicht auf die Form des Mehrheitsentscheids reduziert, be-       Person selbst. Martin Woesler beschreibt die Zerrissenheit
nötigt eine Massenkultur des aufgeklärten Zweifels, des         des China-Forschers, der die rasante Transformation Chinas
Interesses an öffentlicher Diskussion, der Ironiefähigkeit,     kulturwissenschaftlich als faszinierend, die jüngste Entwick-
des Wissenwollens, der Wertschätzung rechtlich gesicher-        lungstendenz hin zu einer techno-autokratischen Kontroll-
ter Freiheiten. Hier stellen sich Fragen kultureller Nach-      gesellschaft aber als erschreckend erlebt. Jens Lanfer und
haltigkeit. Werden solche kulturellen Grundlagen herun-         Tobias Vogel analysieren gesellschaftliche Zerrissenheit als
tergewirtschaftet, oder sind sie, wie in religiös, ethnisch,    ein Resonanzproblem in der Zeit-, Sozial- und Sachdimensi-
politisch-ideologisch zutiefst gespaltenen Gesellschaften,      on, wobei interessanterweise die Zeitdimension sachlichen
kaum erst oder kaum mehr vorhanden, dann kann auch              Vorrang hat, wie man vor allem am disruptiven Innovati-
die forcierte Umstellung autoritärer Staatsapparate auf die     onstempo des Wirtschaftssystems sieht, das die Eigenzeit
Form demokratischer „Spielregeln“ diese Spaltungen nicht        anderer Funktionssysteme, leider auch der demokratischen
aufheben, sondern verstärkt sie womöglich. Wem hierzu           Politik, versklavt oder verstört und entwertet.
nur Ägypten, Tunesien, Libyen und weitere Länder des „ge-
scheiterten arabischen Frühlings“ seit 2011 einfallen, der      Allen, die zur Gestaltung unseres Themenschwerpunkts
sollte folgendes bedenken: Colin Crouchs Diagnosen von          beigetragen haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich
„postdemokratischen” Zuständen in westlichen Demokra-           danken.
tien, die wir gerne für gefestigt halten würden, haben inzwi-
schen die Runde gemacht. Gewiss, politische Beobachter

                                                                                                                          Anzeige
012

UN PETIT EFFORT

            Johan Galtung, der zur Friedens- und Konfliktforschung auch an der UW/H lehrte
            und diskutierte, ist mit seinem Begriff der strukturellen Gewalt (Strukturelle Gewalt,
            Rowohlt, 1975) berühmt geworden.

            Dirk Baecker
            Lehrstuhl für Kulturtheorie und Management

Strukturelle Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so be-       Gesellschaft) weiterhelfen kann. Er versuchte genauer zu
einflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige   bestimmen, was diese kulturellen Symbole und Denkmus-
Entwicklung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung   ter gemeinsam haben, die in der Lage sind, strukturelle
und dieser Einfluss keiner ausübenden Person, sondern nur      Gewalt zu rechtfertigen. Selbst wenn man die Rede von ei-
den Verhältnissen, die so sind, wie sie sind, zugerechnet      ner strukturellen Gewalt nicht übernimmt, weil sie überall
werden kann. Sie äußert sich in ungleichen Machtverhält-       stimmt und zugleich nicht stimmt (jede nationale Grenze,
nissen und ungleichen Lebenschancen. Dieser Begriffsvor-       jede Hierarchie, jede Sprache, die andere nicht sprechen,
schlag Galtungs war außerordentlich einflussreich, schien er   jede Marktzutrittsbarriere, ja, jede Organisation, der nicht
doch eine Handhabe zu bieten, gegen jegliche Verhältnisse      jeder als Mitglied angehören kann, übt in diesem Sinne
zu protestieren, die einem von wem auch immer gewünsch-        strukturelle Gewalt aus), so sind diese gemeinsamen Eigen-
ten Standard („Potential“) nicht genügen, lief jedoch als-     schaften kultureller Symbole und Denkmuster doch auf-
bald ins Leere, da ihm jede Trennschärfe fehlte: Was ist –     schlussreich. Galtung zitiert keinen Geringeren als Mahat-
unter diesen Bedingungen – keine strukturelle Gewalt?          ma Gandhi, der unter einem gewaltfreien Denken und
                                                               Leben eines verstand, das sich von der Einheit des Lebens
Galtungs Begriff zog so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass     und von der Einheit von Mitteln und Zwecken leiten lässt.
ein späterer Begriffsvorschlag von 1990 kaum noch auffiel.     Das läuft nicht darauf hinaus, dass „alles eins“ ist, sondern
Er schlug vor, von „kultureller Gewalt“ immer dann zu spre-    darauf, ein Jegliches im Kontext seines Gegenübers sehen
chen, wenn kulturelle – das heißt religiöse, ideologische,     und würdigen zu können. Kontexte bestätigen Unterschie-
sprachliche, künstlerische oder wissenschaftliche – Symbo-     de, machen sie jedoch zugleich auch durchlässig. Und dar-
le und Denkmuster vorliegen, die die strukturelle Gewalt       auf kommt es an.
legitimieren („Cultural Violence“, in: Journal of Peace Re-
search 27, S. 291–305). Das half auch noch nicht sehr viel     Umgekehrt besteht kulturelle Gewalt in der Etablierung ei-
weiter. Aber Galtung ergänzte eine Überlegung, die uns bei     nes Gefälles, das diese Einheit auflöst. Die Einheit des Le-
unserem Thema der „Zerrissenheit“ oder auch der „Polari-       bens kann durch einen Gradienten zwischen einem Selbst
sierung“ (allerorten spricht man von einer „polarisierten“     und einem Anderen aufgelöst werden, mit dem Ergebnis,
Schwerpunktthema Zerrissenheit     013

dass das Leben der einen mit dem Leben der anderen                Wer ist nun wer? Was ist nun was? Strukturen müssen diese
nichts mehr zu tun hat. Wenn die einen im Mittelmeer er-          Zirkel entfalten, damit sie ausgehalten werden können. In
trinken, muss das die anderen nicht kümmern. Wenn die             Familien, Gruppen und Gesellschaft entstehen Rollen und
einen nur mit Müh’ und Not über die Runden kommen, hat            Bilder voneinander, die dem Anderen ein Selbst zuweisen,
das mit den anderen, die ihren Wohlstand genießen, nichts         das man selbst nicht ist. In Programmen, Projekten und In-
zu tun. Der Gradient versperrt den Blick der einen auf die        stitutionen weiß man, was Zweck und was Mittel ist. Kul-
anderen. Und die Einheit von Mittel und Zweck wird durch          turelle Gewalt entsteht, wenn diese Strukturen die Zirkel
einen Gradienten aufgelöst, der die Mittel rechtfertigt, weil     leugnen, die sie entfalten. Dann blockieren die Gradienten
sie bestimmte Ziele zu erreichen erlauben, auch wenn da-          den Austausch, die Wechselwirkung, die Spiegelung. Eine
bei Opfer in Kauf zu nehmen sind. Typischerweise glaubt           gewaltfreie Zivilisation definiert sich dadurch, dass jede
man, anschließend die geschlagenen Wunden wieder hei-             Struktur die Zirkel pflegt, denen sie sich verdankt. Eine ge-
len oder zumindest entschädigen zu können. Doch dann ist          waltfreie Zivilisation kultiviert neben der Orientierung auch
das Unheil bereits in der Welt. Gandhi forderte, die Ziele an     die Reflexion. Denn dann hat sie beides, die Strukturen und
den Mitteln zu messen, die für sie eingesetzt werden, nicht       die Zirkel.
umgekehrt. Er forderte, jede Handlung an der Gegenwart
zu messen, die sie produziert, nicht an der Zukunft, die sie      Und man täusche sich nicht. Die Gewalt lässt die Zirkel nicht
zu ermöglichen vorgibt. Eine unmögliche, jedoch deswe-            hinter sich. Sie wird heimgesucht von deren Leugnung. Sie
gen noch nicht sinnlose Forderung.                                ist der Austausch, die Wechselwirkung, die Spiegelung im
                                                                  Gewand der Vernichtung, die nicht gelingt, weil sie die Be-
Kulturelle Gewalt besteht darin, Unterscheidungen zu ver-         ziehung ex negativo bestätigt und damit den Zirkeln zum
wenden, die absolut gesetzt werden, anstatt sie im nächs-         Schicksal werden lässt. Andernfalls wäre er Spiel.
ten Atemzug wieder zu relativieren. Eine zerrissene oder
polarisierte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die ihre Sym-    Ein Spiel ist der Zirkel, wenn grundsätzlich jeder Stand-
bole („Grenzen“, „Einheit“, „Identität“) und Denkmuster           punkt von grundsätzlich jedermann eingenommen und
(„Volk“, „Elite“, „Flüchtlinge“) nicht relativieren kann. Man     grundsätzlich jeder Sachverhalt aus dem Blickwinkel grund-
relativiert, indem man das Ausgeschlossene wieder ein-            sätzlich jeder Perspektive eingeschätzt werden kann. Das
schließt. Vielfach wird das für Schwäche gehalten. Aber das       endet nicht in Beliebigkeit, sondern in einem weltkundigen
Gegenteil ist der Fall. Eine „differenzierte“ Gesellschaft ist    Wissen. Wenn man das ein wenig geübt hat, genügt zu die-
nicht etwa eine Gesellschaft, die ihre Verhältnisse eindeutig     ser Fähigkeit „un petit effort“ (Edith Piaf, „Milord“), eine
und trennscharf ordnet, sondern eine Gesellschaft, die jede       kleine Bemühung. Die zerrissene, polarisierte im Gegensatz
ihrer Differenzierungen von innen und von außen zugleich          zur geeinigten und einigen Gesellschaft ist diejenige, in der
betrachten kann. Stark ist daran die Fähigkeit, sich den Ver-     diese kleine Bemühung im Getöse der Standpunkte unter-
hältnissen zu stellen. Stark ist daran die Fähigkeit, sich Ver-   geht.
hältnissen zu stellen, die differenziert werden müssen, um
sie zu begreifen und in ihnen handeln zu können, und zu-
gleich nicht differenziert werden können, weil jedes Begrei-
fen und jedes Handeln systematisch zu kurz greift. Der Frie-
denswille eines Gandhi und eines Galtung beschwört eine
Einheit, die nicht nur mystisch verstanden werden kann. Sie
kann auch wissenschaftlich verstanden werden, wenn man
schlicht darauf achtet, wie sehr jede Seite von einer Unter-
scheidung durch die andere Seite mitbestimmt ist.

Kulturelle Gewalt übt aus, wer auf einer Iden-                                                                              Anzeige

tität besteht, die verteidigt werden muss, und
von einer Zukunft träumt, der jedes Mittel recht
ist. Kulturelle Stärke hingegen läge darin, da-
rauf zu vertrauen, dass Identitäten immer wie-
der neu entstehen und dass nichts aufregender
sein kann als eine Gegenwart, die es verdient,
bereits Zukunft genannt zu werden. Wie heißt
es bei Kurt Vonnegut (Schlachthof 5, Hoffman
und Campe, 1970): „Alles ist, war und wird im-
mer sein.“

Die Einheiten von Selbst/Anderer und Mittel/
Zwecke verweisen auf Dualismen, die jeden
konkreten Sachverhalt zirkulär definieren: Das
Selbst ist für den Anderen ein Anderer und
der Andere ist seinerseits ein Selbst. Und jede
Handlung ist Mittel zum Zweck wie auch der
Zweck eines Mittels. Zirkel schaffen Unruhe:
014

AUTOBIOGRAPHIEN DER
ZERRISSENHEIT                                                         Alfred Döblin zum Beispiel

             Um 1900 wird die grundsätzliche, einheitliche Konstitution des Menschen als ein
             „Ich“ u.a. durch die junge Psychoanalyse infrage gestellt und als „unrettbar“ (Ernst
             Mach) bezeichnet.

             Julia Genz
             Professur für Literaturwissenschaft

Der Mediziner und Psychiater Alfred Döblin trägt diesem         haltung gegenüber Biographischem nicht verwunderlich.
Befund in seiner programmatischen Schrift „An Romanau-          Dennoch versuchte er immer wieder, seine Zerrissenheit in
toren und ihre Kritiker“ Rechnung, indem er sich gegen die      autobiographischen Texten einzufangen. Hierfür verwendet
„psychologische Manier“ der Literatur wendet und Ganz-          er interessanterweise zunächst das Stilmittel der Deperso-
heitlichkeit höchstens noch über den Blick der Psychiatrie      nation. Im Exil schreibt er seine autobiographische Schick-
extern hergestellt wissen will: „Man lerne von der Psychiat-    salsreise dann mit scheinbar traditionelleren Mitteln, die
rie, der einzigen Wissenschaft, die sich mit dem seelischen     ihm als Rückfall in eine konservative Erzählweise angekrei-
ganzen Menschen befaßt: sie hat das Naive der Psycholo-         det werden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland flaut
gie längst erkannt, beschränkt sich auf die Notierung der       das Interesse an ihm als einstigem führendem Schriftsteller
Abläufe, Bewegungen, – mit einem Kopfschütteln, Achsel-         der Avantgarde merklich ab.
zucken für das Weitere und das ,Warum‘ und ,Wie‘.”1
                                                                Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, wie einerseits
Folgerichtig ist „die Hegemonie des Autors [...] zu brechen;    autobiographisches Schreiben als Depersonation gelingen
nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleug-         kann und andererseits ob davon abweichende, scheinbar
nung getrieben werden. [...]: ich bin nicht ich, sondern die    traditionellere Konstruktionen des Ich tatsächlich nur als
Straße, die Laternen, [...] weiter nichts.“2 Dieses Ideal der   Rückschritt zu bewerten sind. Als Vergleichsmaterial unter-
„Entselbstung des Autors“ benannte er mit dem Neologis-         schiedlicher Versuche, eine zerrissene Existenz schreibend
mus Depersonation (dem psychopathologischen Fachter-            zu bewältigen, fungieren die unveröffentlichte Skizze Dok-
minus „Depersonalisation“ nachempfunden).3                      tor Döblin. Selbstbiographie (1917/18), der Erste Rückblick
                                                                (1928) und die Schicksalsreise (1940/49).
Versteht man Autobiographie als „Geburtsstätte des neu-
zeitlichen Individuums, das schreibenderweise aus seiner        DOKTOR DÖBLIN. SELBSTBIOGRAPHIE
Anonymität heraustritt, sich seiner selbst bewusst wird und     Krisengeschüttelt schreibt der fast 40-jährige Lazarettarzt
auf sich selbst aufmerksam macht“,4 ist Döblins Abwehr-         Döblin: „Es sind nicht leichte Erschütterungen und Erregun-
Schwerpunktthema Zerrissenheit   015

gen, unter denen ich diese Lebensbeschreibung beginne,           Wie aus dem Berliner Programm ersichtlich, gesteht Döblin
die mich treiben, sie anzufangen. [...] Mir hilft nicht Brom,    der Psychologie keine Berechtigung zu. Die hier geschil-
ich kann nicht schlafen, mein Appetit ist wie erloschen. […]     derte Gesprächssituation will weder Verdrängtes aufde-
gequält bin ich sehr, verfolgt.“5                                cken, noch geht es Döblin um „ein bloßes Notieren“. Der
                                                                 Text etabliert vielmehr eine Beziehung zwischen der Figur
Der Versuch, sich selbst zu entkommen, mündet darin, eine        Döblin und einem Gesprächspartner, mit dessen Voran-
Außenperspektive einzunehmen. Döblin wird durch seine            nahmen er sich auseinandersetzt, um daraus seine eigene
Aufzeichnungen erst ruhiger, als er das Ich bewusst proble-      Position zu entwickeln. Erzählen wird dramatische Inszenie-
matisiert und von der Ich- in die Er-Erzählung wechselt. „Es     rung. Das Ich konstituiert sich unter dem fremden Blick, ist
hilft mir nicht, daß ich schreibe und schreibe. Es beruhigt      als Gegenstand der Betrachtung das zugleich Andere, von
mich nicht. Es wird wieder Geschriebenes. Es soll nicht ge-      außen Betrachtete. Es handelt sich auch hier um eine Spiel-
redet werden von mir, sondern von Doktor Döblin.“6 Damit         art der Depersonation. Neu ist, dass es Döblin vorwiegend
entfällt das Ich jedoch nicht. Vielmehr erfolgt die Ich-Kon-     um die Situierung des Ich in seiner Beziehung zu anderen
solidierung nun durch einen Perspektivwechsel zur Außen-         Menschen geht. Wesentlich für die Ich-Konstituierung sind
ansicht. Demnach führt das Ich ein Leben, das an äußeren         die Pragmatik (die Situationsabhängigkeit der Sprechhand-
Veränderungen arm ist: „dieser Mensch hat kein bewegtes          lung) und die Performanz im Sinne Austins.9 Die Figur Döb-
äußeres Leben geführt […]. Hat nur in zwei Städten, Stettin      lin entwickelt durch seine Sprechakte ein gefestigtes Ich.
und Berlin, gelebt, eigentlich nur in Berlin […].“7 Die Konst-   Diese Variante der Depersonation nenne ich performative
ruktion des Subjekts erfolgt gemäß seines Programms über         Depersonation.
eine psychiatrische „Notierung der Abläufe“, „mit einem
Kopfschütteln für das Weitere und das Warum und Wie.“            SCHICKSALSREISE
Die äußere Ereignislosigkeit erlaubt dabei den Rückschluss,      1933 gelang Döblin die Flucht vor den Nationalsozialisten
dass das Ich des Doktor Döblin gefestigt sein muss.              nach Paris. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Paris fuhr
                                                                 er getrennt von seiner Familie nach Südfrankreich, um über
Im ersten autobiographischen Versuch wird das Ich als pro-       Barcelona und Lissabon in die USA auszuwandern. In der
blematisch erkannt, die Lösung besteht im Wechsel vom            Schicksalsreise schildert er ausführlich diese Irrfahrt, auf
Ich- zum Er-Erzähler, in der Einnahme eines „psychiatri-         der er mehrmals die Familie verpasst. Jedoch geht es nur
schen Blicks“. Diese Technik möchte ich als pronominale          vordergründig um die Familie, in erster Linie geht es um
Depersonation ausdifferenzieren.                                 die Auseinandersetzung mit Herkunft und Identität. Helmut
                                                                 Koopmann konstatiert, dass es in Bezug auf das Exil „ent-
ERSTER RÜCKBLICK                                                 gegen den zahlreichen Bündnissen und Gruppierungen
Im ersten Rückblick thematisiert Döblin vor allem seine          fast immer nur subjektive, ichbezogene Antworten“ gab10.
Kindheit, den Weggang des Vaters mit einer Geliebten so-         Auch Döblin stellt in der Schicksalsreise fest, dass er um
wie den Umzug von Stettin nach Berlin. Die vermittelnde          die Instanz „Ich“ nicht mehr herumkommt, die ihm aber zu-
Erzählinstanz wird größtenteils durch Dialoge ersetzt. Gera-     gleich fremder denn je wird: „Ich erinnere mich nicht, je zu
de im Eingangskapitel entsteht der Eindruck eines Theater-       irgend einer Zeit meines Lebens so wenig ,ich‘ gewesen zu
stücks. Im eröffnenden „Dialog in der Münzgasse“ geht es         sein“.11 Um diese Erfahrung des fehlenden Ich-Gefühls in
inhaltlich um nichts: Doktor Döblin wird in einem Café am        Sprache zu übersetzen, verwendet er auch in der Schick-
Alexanderplatz von einem Unbekannten in ein Gespräch             salsreise das Verfahren der Depersonation:
verwickelt:
                                                                     Der Autor – ich will von mir selbst als einem anderen
    Guten Tag, Herr Doktor. – Guten Tag. – Wie geht’s                sprechen – scheint darüber zu stolpern, daß seinem La-
    Ihnen? Im Café am hellen Tag? – Ist so meine Stunde              ger gegenüber an der Chaussee ein Plakat hing: „16.
    (wenn ich bloß wüsste, wer der Kerl ist.) – Was macht            Mai. Cirkus ohne Bluff.“ Und der 16. Mai war gerade
    die Praxis? – Danke, danke, ein Jahr wie das andere.             der Tag, an dem ihn die erste Schreckensnachricht er-
    Man kommt so durch. – Und die Kinder? Wissen Sie,                reichte. […] Nun, er muß sich nicht an dem Plakat sto-
    Sie müssten weg von hier, für Sie ist doch das eigent-           ßen. Möglicherweise hingen da noch andere Plakate,
    lich nicht. Sie müßten nach dem Westen, unter die                und er suchte sich […] grade dieses aus, das einschlä-
    Menschen. – Hm, und wie? […] Nee, nee, machen Sie                gig schien.12
    keine Fisemantenten [sic]. Sie wollen nicht. Wissen Sie,
    haben Sie mal gehört: sexuelle Erniedrigung der Frau?        Hier handelt es sich einerseits um pronominale Deperso-
    (Ich staune Bauklötze, ich kriege einen Schreck, Don-        nation wie in der Autobiographie von 1918, etwa in „der
    nerwetter, was ist das).8                                    Autor scheint darüber zu stolpern“. Andererseits erfolgt
                                                                 die Depersonation nicht nur durch den Wechsel von der
Auffällig ist die Oberflächlichkeit und Floskelhaftigkeit,       Ich- zur Er-Perspektive. Vielmehr akzeptiert sich das Ich nun
die auf ein noch ungenügend ausgeprägtes Ich verweist.           selbst als einen Fremden. „ich will von mir selbst als einem
Unvermittelt kippt das Gespräch dann auf der Suche nach          anderen sprechen.“ Diese Variante möchte ich alterierende
Tiefe in eine pseudo-psychoanalytische Situation, die vage       Depersonation nennen.
auf Döblins Eltern anspielt. Die Figur Döblin geht jedoch
nicht auf das Angebot einer psychoanalytischen Beichte ein       Diese Weiterentwicklung der Depersonation in der Schick-
und bricht die Annäherung an seine Lebensgeschichte ab.          salsreise wird notwendig, da nun die sozialen Bindungen
016

                um das Ich weitgehend aufgelöst sind. Daher kann es hier           Im Gegenzug erweist sich die alterierende Depersonation
                nicht um eine dialogische Verankerung des Ich in der Welt          als mögliche Antwort auf die Wirren der Zeit. Von daher ist
                gehen, zumal die gewohnte Leserschaft nicht mehr vorhan-           Döblins Schicksalsreise ein Beispiel einer modernen Kon-
                den ist: „Soll ich […] auf altgewohnte Art schreiben, – für        versionsbiographie, die geschickt an die hoch entwickelten
                wen, Deutsch schreiben?“13                                         Schreibtechniken seiner Vorgängerbiographien anknüpft.

                Im Wegfall aller sozialen Verankerungen zeigt sich überra-
                                                                                   1
                schenderweise, dass gerade das Ich als Kern übrig bleibt.               Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in:
                                                                                        ders.: Aufsätze zur Literatur. Hg. von Walter Muschg, Olten, Freiburg i.Br.
                „Warum soll ,man‘ sich eigentlich mit mir beschäftigen? Ja,             1989, S. 16.
                man tut es. Man kann nicht anders. Es gehört zum Wesen der         2
                                                                                        Ebd., 18.
                Sache. Denn: ich bin, und das heißt: der ewige Urgrund, er         3
                                                                                        Ebd.
                mag sein wie er will, hat auch dies mein ,Ich‘ geschaffen. […]     4
                                                                                        Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie, Stuttgart, Weimar 2000, S.
                Sobald ich in meiner Koje aufwache [...] ist mein Ich da […].“14        10.
                                                                                   5
                                                                                        Döblin, Alfred: Doktor Döblin. Selbstbiographie, in: ders.: Schriften zu Le-
                FAZIT                                                                   ben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt, Olten, Freiburg i.Br. 1986, S. 14.
                In einer Autobiographie ist die Ich-Konstituierung wohl das        6
                                                                                        Ebd., S. 16.
                auffälligste Thema überhaupt. Sie erfolgt in der Skizze von        7
                                                                                        Ebd., S. 17.
                1918 über pronominale Depersonation und im Ersten Rück-            8
                                                                                        Döblin: Erster Rückblick, in: ders.: Schriften zu Leben und Werk. Olten
                blick von 1928 über performative Depersonation. Beide Ver-              1986, S. 108-178, hier S. 108.
                fahren werden mit Modernität assoziiert. Die Schicksalsrei-        9
                                                                                        Austin, J. L.: How to do things with Words, Oxford 1962.
                se von 1949 verwendet dagegen neben der pronominalen               10
                                                                                        Koopmann, Helmut: Von der Unzerstörbarkeit des Ich. Zur Literarisierung
                auch noch die Variante der alterierenden Depersonation,                 der Exilerfahrung, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 2
                die leicht mit einer traditionellen Ich-Setzung verwechselt             (1984), S. 12.
                werden kann. Daher erscheint die Schicksalsreise in der            11
                                                                                        Döblin, Alfred: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, Solothurn, Düssel-
                Meinung ihrer Kritiker als ästhetischer Rückschritt. Wie je-            dorf 1973, S. 29.
                                                                                   12
                doch gezeigt, ist die letzte Transformation der performa-               Ebd., S. 99.
                tiven in eine alterierende Depersonation notwendig, da             13
                                                                                        Ebd., S. 151.
                die scheinbar „moderne“ Variante der performativen De-             14
                                                                                        Ebd., S. 109.
                personation in der Exilsituation unmöglich geworden war.
                                                                                                                                                             Anzeige

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Schwerpunktthema Zerrissenheit    017

ZERRISSEN ZWISCHEN
ZWEI WELTEN                                                       Von der Leidensfähigkeit eines China-Wissenschaftlers

           Distanz im Sinne persönlicher geistiger Freiheit zum Forschungsgegenstand ist für
           unvoreingenommene Forschung notwendig. Ähnlich wichtig für die Objektivität
           wissenschaftlicher Forschung ist die Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik: Man kann
           immer falsch liegen.

           Martin Woesler
           Professur für Literatur und Kommunikation in China

Wie sieht es in meiner Disziplin, den China-Wissenschaften              Aufmerksamkeit in westlichen Medien fand im Juli 2018 der
aus? Wie relevant ist hier die persönliche Einstellung zu               Fall des US-Professors Christopher Balding. Er hatte einen
China? China zeigt uns heute zunehmend eine techno-au-                  Aufruf gegen Zensur wissenschaftlicher Fachzeitschriften in
tokratische Gesellschaft mit Fremdsteuerung seiner Bürger,              China mit unterschrieben. Deshalb, so Balding, sei sein Ver-
für liberale Demokraten eine Dystopie, wie die nächste                  trag mit der HSBC-Business School, eine Außenstelle der
Medienepoche (5.0) nach der Digitalisierung (4.0) aussehen              Peking-Universität in Shenzhen, nicht verlängert worden.
könnte: Unbewusste, nicht-explizite Kommunikation, Korre-
lation statt Kausalität, künstliche Intelligenz, die die Bürger         Privatsphäre, Datenschutz, auch die Pflicht, das Einver-
über Algorithmen steuert, und Bürger, die dies verinnerli-              ständnis der Gefilmten einzuholen, dies sind in China
chen und zum Teil sogar begrüßen.                                       Fremdworte. Anwesenheit ist Pflicht und Dozent*innen
                                                                        dürfen keinesfalls zu spät kommen. Zusammen mit anderen
Um die existenzielle Bedeutsamkeit des werdenden chi-                   Daten wie Internet-Verhalten, Bewegungsprofil etc. kann
nesischen Gesellschaftsmodells zu erforschen, muss man                  von jeder Person ein virtuelles Abbild (quasi ein Avatar) im
(zeitweise) im Land leben. Wie leidensfähig muss ein*e Wis-             Computer erschaffen werden. Die direkte Zensur- und Kon-
senschaftler*in sein, um aus erster Hand diese Forschungen              trollfunktion wird sichtbar, wenn kritische Äußerungen im
durchzuführen? Denn damit wird man auch selbst Teil des                 Klassenraum im Hinblick auf Regimetreue Sitzungen nach
Systems:                                                                sich ziehen, in denen der Tutor Selbstkritik oder Denunzia-
                                                                        tion verlangt. Chinesen wenden etwa 10% des Unterrichts
    Drei große Kugelkopf-Kameras schweben über mir,                     und ihrer Arbeitszeit für die ideologische Rektifizierung auf.
    neun weitere sind über den Köpfen der Studierenden                  Der Avatar ist dem Studierenden so ähnlich, dass er sogar
    im Klassenraum der Peking Normal University verteilt.               Fragen beantworten kann, die im Laufe der Jahre nie ge-
    Beim Einstellungs-Interview wurde mir mitgeteilt, der               stellt wurden. Die Vorhersage der Reaktion von Individuen
    Vorgänger auf der Gastprofessur habe seinen Posten                  und, noch interessanter, einer ganzen Schulklasse bzw. Se-
    wegen politischer Äußerungen im Unterricht verloren.                minargruppe auf unvorhersehbare Ereignisse wird so mög-
                                                                        lich. (All dies liefert extrem wertvolle Daten für globale Tech-
018

nologie-Firmen, einschließlich westlicher und deutscher,         ner Art Gehirnwäsche unterzogen. (Angeblich wurde eine
auch wenn die speziellen Rahmenbedingungen in China              Konterrevolution niedergeschlagen, laut Volkszeitung war
[noch] die Übertragbarkeit dieser Daten in andere Ländern        diese von ausländischen Spionen angestiftet worden – als
einschränken.) Durch Referenzgruppen-Abgleich kann die           ‚Beweis‘ wurden westliche Touristen auf Fotos als Spione
individuelle Freiheit selbst zu einer Größe gemacht werden,      „entlarvt“: sie trugen Kameras.) Man setzte sogar am Ge-
mit der im Algorithmus gerechnet wird.                           schichtsunterricht in den Grundschulen an: Die Geschich-
                                                                 te wurde in eine der 150-jährigen Schmach und Unterdrü-
                                                                 ckung durch den Westen umgeschrieben, die man von nun
                                                                 an durch ein Überholen des Westens wettmachen würde.
                                                                 Wo die Ideologie der Partei nicht mehr griff, wurde sie
                                                                 durch Patriotismus ersetzt.

                                                                 Studierende müssen in China seit 1989 Wehrdienst leis-
                                                                 ten, früher für ein Jahr und auch heute noch für mehrere
                                                                 Monate. Sie werden zu Soldat*innen und Reservist*innen
                                                                 ausgebildet, so dass im Notfall einfach befohlen werden
                                                                 kann, z.B. studentische Demonstrationen aufzulösen und
                                                                 in die Wohnheime zurückzukehren, oder im Extremfall, die
                                                                 Rädelsführer*innen zu erschießen. Kasernen werden gerne
                                                                 in Rufweite von Campi eingerichtet.

                                                                 Das Klima wird rauer, seit Anfang 2018 wird z.B. nicht mehr
                                                                 geduldet, dass sich Bürger mit Hilfe von VPN-Programmen
                                                                 freie Internetseiten von Google, Facebook oder der New
                                                                 York Times anschauen.

                                                                 Als Professor an der Universität Witten/Herdecke und in
                                                                 den vergangenen drei Jahren zugleich als Gastprofessor an
                                                                 der Peking Normal University lebte ich im (manchmal sogar
                                                                 halbwöchentlichen) Wechsel in China und in Deutschland.
                                                                 Umso extremer erlebte ich die Unterschiede zwischen den
                                                                 deutschen und chinesischen Studierenden, zwischen der
                                                                 Freiheit der Forschung und Lehre in Deutschland und den
                                                                 Einschränkungen und der mentalen Gleichschaltung in Chi-
                                                                 na.

                                                                 Studierende in China erhalten normalerweise ihren Ab-
                                                                 schluss innerhalb der Regelstudienzeit, in Einzelfällen so-
                                                                 gar ganz ohne Studium. An der Nanking University rief ein
                                                                 Parteisekretär bei einer Prüferin an und verlangte, seine
                                                                 Tochter müsse eine Prüfung für ein USA-Stipendium beste-
                                                                 hen. Ich beneide meine Kolleg*innen in China nicht, die es
In China ist das Ziel die Verwirklichung eines alten sozialis-   in solchen Situationen zwischen akademischer Freiheit und
tischen Ideals von zentraler Planwirtschaft und Steuerung        politischem Druck zerreißt.
auf neuer technischer Stufe. Der erste Anlauf scheiterte vor
allem aufgrund geschönter und zu wenig umfassender Da-           In Deutschland gilt dagegen eine gewisse Misserfolgs- und
ten sowie zu langer und ineffizienter Reaktionen. Der zweite     Abbrecherquote als Qualitätssiegel. Genau das aber macht
Anlauf heute erscheint mit Hilfe von Big Data viel aussichts-    chinesischen Eltern, die über ein Auslandsstudium ihrer
reicher.                                                         Einzelkinder entscheiden, tendenziell Angst.

Gibt es auch konkrete, kurzfristige Ziele dieser Totalüber-      Ein anderes Beispiel: Ich musste einmal erleben, dass ein
wachung? Warum will man wissen, wie Studierende indi-            Wissenschaftler der Nanking University, der die Patenschaft
viduell und in der Gruppe auf unvorhersehbare Ereignisse         für von mir beantragte Forschungsgelder (aus dem Förder-
reagieren? Hier wäre an die jüngere Geschichte zu erin-          bereich für Nicht-Chinesen) übernahm, die Gelder für sich
nern: Sind doch an der der Peking Normal University be-          behielt und noch nicht einmal entstandene Kosten für An-
nachbarten Peking University 1989 Diskussionen entstan-          reise und Unterkunft erstattete. Wie soll man so etwas in
den, dann Wandzeitungen und Demonstrationen, die das             einer Kultur indirekter Kommunikation, der Höflichkeit und
sozialistische System in Richtung auf Demokratie, Abbau          Gesichtswahrung ansprechen?
von Korruption und Vetternwirtschaft reformieren wollten.
1989 wurden diese friedlichen Demonstrationen blutig             Es ist auch eine innere Zerreißprobe, wenn man als aus-
niedergeschlagen und die überlebenden Studierenden ei-           ländischer Professor zum Gutachter in den chinesischen
Schwerpunktthema Zerrissenheit     019

Wissenschaftsrat berufen wird, dort aber dann darauf hin-         ger als das System in China sind die Menschen. Sie sind
weisen muss, dass Geschenke und bereitgestellte Luxus-            oft aufgeklärter als wir denken, ihre Regimetreue, die jetzt
limousinen der begutachteten Shanghai Foreign Studies             auch mit Punkten gemessen wird, ist oft kaum mehr als ein
University nach internationalen Standards zum Abbruch der         Lippenbekenntnis.
Begutachtung führen müssten.
                                                                  Die China-Wissenschaften sind eine dieser Disziplinen,
Ein ähnliches Gefühl der Zerrissenheit schilderten eine Do-       in der fast jede*r Wissenschaftler*in noch eine zweite,
zentin und ein Dozenten aus Japan, als die Nanking Normal         klassische Disziplin studiert hat und beherrscht, wie etwa
University sie mit hohen Gehältern einstellte, da der Uni-        Sprache, Literatur, Geschichte, Politik etc. Viele Sinologen
versität bis zu 50% Fördermittel lockten, die Dozent*innen        haben also ein Doppelleben, sie gehen auch zu Fachkon-
dann aber nahezu leer ausgingen.                                  ferenzen ihrer klassischen Disziplin, und bringen so frische
                                                                  Impulse in die Fachkonferenzen der Sinologie.
Es lohnt sich also in der Zusammenarbeit mit China, es nicht
auf eine Zerreißprobe ankommen zu lassen, sondern guter           Einige China-Wissenschaftler*innen lieben China. Davon
wissenschaftlicher Praxis und dem Gewissen verpflichtet zu        wiederum betrachten einige China durch eine rosa Brille,
bleiben und sich auf die wirklich kooperationswilligen und        betonen nur die positiven Seiten (die Kommunistische Partei
integeren Kolleg*innen und Institutionen zu konzentrieren.        hat hunderte Millionen Menschen aus der Armut geführt),
Zerrissenheit ist das Gefühl, dass mein Leben zwischen            schwächen Negatives ab. Solche China-Wissenschaftler*in-
Deutschland und China in den vergangenen drei Jahren am           nen werden von der chinesischen Regierung und dem Wis-
besten beschreibt. Einen unauflösbaren Loyalitätskonflikt         senschaftsbetrieb mit Preisen, Einladungen und Ehrungen
gab es für mich aber nie: Ich bin stets meinem Gewissen           überhäuft. Die so Gebauchpinselten versteigen sich dann
gefolgt, ohne zu Provozieren oder mit kulturellen Gepflo-         gelegentlich zu absonderlichen Behauptungen, z.B. dass
genheiten zu brechen.                                             die chinesischen Dissidenten nur deshalb Dissidenten sei-
                                                                  en, um Honorare westlicher Medien zu kassieren. Oder sie
Trotz der schwierigen Bedingungen haben sich zahlreiche           wehren die Feststellung von Menschenrechtsverletzungen
meiner Studierenden in China zu kritischen Köpfen entwi-          in China mit dem Argument ab, die USA seien als Verursa-
ckelt, nicht wenige sind inzwischen zum Auslandsstudium           cher globaler Kriege noch aggressiver und würden ja auch
in den USA.                                                       foltern. Vergleiche sind immer schwierig (wie wir von de-
                                                                  nen mit Nazi-Deutschland wissen). Verwendet man diese
Wer in Deutschland seinem Gewissen und seinen For-                Vergleiche jedoch, um ein techno-autokratisches System zu
schungsinteressen folgt, kann vergleichsweise frei arbeiten.      verteidigen, macht man sich meines Erachtens mitschuldig.
In China gibt es die große Chance, jungen Menschen ein            Wo ist die Grenze? Ich meine, die persönliche ebenso wie
wenig den Horizont zu erweitern, sie ein wenig von der            institutionelle Zerrissenheit sollte ihre Grenze am Mindest-
westlichen Freiheit der Wissenschaft kosten zu lassen. Dies       konsens von Würde und Unverletzbarkeit des Menschen
kommt, zumindest indirekt, auch ihrer Ausbildung zugute:          finden.
Kritischer Geist wird für die Transformation der chinesischen
Gesellschaft in eine, die die Menschenwürde respektiert,          Liebe ich China? Da halte ich es mit Gustav Heinemann, der
nötig sein. Natürlich können die wenigen westlichen Wis-          entgegnete, er liebe seine Frau. Liebe ich die China-Wis-
senschaftler*innen in China bestenfalls nur eine Tür öffnen,      senschaften? Ja. Und diese Liebe zum Beruf ist es auch, die
die Studierenden müssen selbst hindurchgehen. Auch chi-           es ermöglicht, die Zerreißprobe zu bestehen und für pro-
nesische Wissenschaftler*innen erkennen den Berufsethos           duktive Forschung und Lehre zu nutzen.
ihrer westlichen Kolleg*innen als Alternativmodell. Wichti-

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