Zertifizierte Corona-Immunität als Ressource
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Zertifizierte Corona-Immunität als Ressource
Corona-Immunität kann als Ressource angesehen werden, da sie für die
immunen Personen und die Gesellschaft einen Wert hat. Dieser Wert ist
umso höher, je verlässlicher die Betroffenen über ihre Immunität informiert
sind und je glaubwürdiger sie ihre Immunität anderen vermitteln können.
Für beides können Corona-Immunitätszertifikate eine wichtige Rolle
spielen. Dieser Beitrag präsentiert und diskutiert Argumente zu Corona-
Immunitätszertifikaten. Er erörtert noch bestehende Ungeklärtheiten
bezüglich der medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen von
Immunitätszertifikaten. Danach werden in normativer Hinsicht Probleme
bezüglich einer möglichen Ungleichheit und Stigmatisierung analysiert.
Abschließend werden Implementierungsstrategien skizziert.
Prof. Dr. Reiner Eichenberger* Prof. Dr. David Stadelmann
ist Professor für Theorie der Wirtschafts- ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der
und Finanzpolitik an der Universität Frei- Universität Bayreuth (Deutschland),
burg (Schweiz) und Forschungsdirektor von Research Fellow bei CREMA, Fellow beim
CREMA (Center for Research in Economics, Centre for Behavioural Economics, Society
Management and the Arts, Schweiz). Bevor- and Technology (BEST), Fellow beim IREF –
zugte Forschungsgebiete: Wirtschaftspoli- Institute for Research in Economic and Fis-
tik, Politische Ökonomie, institutionelle cal Issues und Mitglied des Walter-Eucken-
Innovationen. Instituts (Deutschland). Bevorzugte For-
schungsgebiete: Politische Ökonomie,
Wachstum, Entwicklung.
Prof. Dr. Rainer Hegselmann
ist Professor für Philosophie an der Frank- 1. Einleitung
furt School of Finance & Management
(Deutschland). Bevorzugte Forschungsge- Corona-Immunität hat für die Immunen selbst und die Ge-
biete: Soziale Erkenntnistheorie, agenten-
sellschaft einen großen Wert, solange sich das Virus weiter
basierte Modellierung.
ausbreitet oder auch nur weiter auszubreiten droht. Des-
halb kann Corona-Immunität als Ressource angesehen wer-
den, die mit der Ausbreitung des Virus und damit auch der
steigenden Zahl wieder Genesener wächst. Der Wert dieser
Ressource ist umso höher, je verlässlicher die Immunen
Summary: Corona immunity is a resource that has a über ihre Immunität informiert sind und je glaubwürdiger
value for the individual concerned and for society. This sie diese anderen vermitteln können. Diesbezüglich kön-
paper presents and discusses arguments for immunity nen Corona-Immunitätszertifikate eine wichtige Rolle spie-
certificates. It considers existing uncertainties regard- len. Dieser Beitrag präsentiert und diskutiert Argumente zu
ing the medical and scientific basis of immunity certifi- Corona-Immunitätszertifikaten. Zuerst erörtern wir kurz
cates. Potential issues regarding inequality and stig- die Problemlage rund um Corona, wie sie sich jetzt stellt
matization are analyzed, too. Finally, implementation
* Wir bedanken uns bei Igor Douven, Gerd Folkers, Marco Frank, Bru-
strategies are outlined. no Frey, Peter Gabriel, Christian Girardi, Raymond Frempong, Wolf-
gang Lieb, Anna Maria Koukal, Simon Milligan, Johannes Marxgut,
Florian Mitscherlich, David Neuhold, Thomas Ochsenkühn, Jan Os-
Stichwörter: Immunitätszertifikate, Immunität als terloh, Margit Osterloh, Katja Rost, David Savage, Patricia Schafer,
Ressource, Corona, Ungleichheit, Stigmatisierung Benno Torgler, und Frederik Wild für wertvolle Diskussionen und re-
gen Email-Austausch.
26 WiSt Heft 10 · 2020Eichenberger/Hegselmann/Stadelmann, Zertifizierte Corona-Immunität als Ressource
(Abschnitt 2). Sodann diskutieren wir die Rolle von Corona down Medikaments und der Preis für die gekaufte Zeit sind
Immunität (Abschnitt 3) sowie die medizinisch-naturwis- hoch – und sie wachsen auch exponentiell mit der Zeit, die
senschaftlichen Grundlagen von Immunitätszertifikaten man sich nimmt. Unter Interventionsgesichtspunkten ist
(Abschnitt 4) und betrachten diese aus normativer Per- der Lockdown eine Art „Reset“ im Umgang mit der Pande-
spektive (Abschnitt 5). Schließlich diskutieren wir, wie Im- mie.
munitätszertifikate implementiert werden können (Ab- Wie in vielen anderen Ländern, sind nun auch in den deut-
schnitt 6) und kommen zum Schluss (Abschnitt 7). schen Bundesländern zahlreiche Lockdown-Maßnahmen
aufgehoben, modifiziert bzw. abgeschwächt worden. Die
2. Problemlage grundlegende strategische Idee ist dabei offenbar die fol-
gende: Erstens soll unter bestimmten Schutzauflagen
SARS-Cov-2 (Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavi- (Mundschutz, Distanz) ein „Unlock“ durchgeführt werden.
rus 2) ist ein neuartiges Virus, das zugleich hoch infektiös Zweitens soll eine ausgeweitete Testkapazität teils präven-
ist und mit COVID-19 (Corona Virus Disease 2019) einen tiv, teils aus jeweils gegebenem Anlass eingesetzt werden,
spezifischen, vielfältigen, schweren Krankheitsverlauf ver- um Infizierte frühzeitig zu erkennen und dann unter Qua-
ursacht, für dessen Behandlung Betten auf Intensivstatio- rantäne zu stellen. Drittens soll eine schnelle und umfas-
nen und spezialisiertes Fachpersonal erforderlich sind. In sende Kontaktverfolgung der als infiziert Identifizierten er-
manchen Ländern wie China, Italien oder Spanien kam es möglichen, Kontaktpersonen rasch zu testen und gegebe-
regional zur Überforderung des Gesundheitssystems: Pha- nenfalls unter Quarantäne zu stellen. Insgesamt sollen auf
senweise wurde Triage-Medizin betrieben. Als Reaktion diese Weise Infektionsherde so schnell erkannt und isoliert
und Vorbeugung wurden weltweit weitreichende Lockdown- werden, dass es zu keiner zweiten Welle kommt, bei der er-
Maßnahmen ergriffen und die Menschen folgten einfa- neut eine Überforderung des Gesundheitssystems droht.
chen Verhaltensregeln (Hände waschen, Distanz wahren), Ein Flaschenhals dieser Strategie sind die Kapazitäten für
die zeitverzögert zu einem Absinken der jeweiligen Repro- eine schnelle und umfassende Kontaktverfolgung. Die
duktionsrate des Virus und damit der Zahlen der täglichen deutschen Grenzwerte für wöchentliche Neuinfektionen,
Neuinfektionen sowie der aktuell Infizierten führten. Eine bei deren Überschreiten interveniert werden muss und Öff-
Lösung der weltweiten Covid-19-Krise sind Lockdown-Maß- nungen auch wieder zurückgenommen werden könnten,
nahmen nicht. Inzwischen ist unübersehbar, dass ein Lock- orientieren sich letztlich an diesen Kapazitäten. Angesichts
down zu enormen ökonomisch-sozialen Konsequenzen weltweiter Öffnungsmaßnahmen glauben vermutlich nur
führt, von denen viele schnell irreparabel werden. Neben wenige, durch die eingeschlagene Strategie das Sars-CoV-2-
anderen Schäden geht es auch hier um viele Tote bzw. ent- Virus völlig eliminieren zu können. Gehofft wird vielmehr,
gangene Lebensjahre. In manchen Ländern drohen Lock- so die Zeit überstehen zu können, bis eine wirksame Imp-
down-bedingte Hungertote und verlorene Leben aufgrund fung oder jedenfalls ein wirksames Medikament gefunden
von zusammengebrochenen Lieferketten für Medikamente und massenhaft einsetzbar geworden ist.
(vgl. Jewell et al., 2020). Wegen geschlossener Kitas, Kin-
dergärten, Schulen und Universitäten werden junge Men- 3. Corona-Immunität als strategisch bedeutsame
schen in ihrer intellektuellen, physischen und sozialen Ent- Ressource
wicklung beeinträchtigt. Menschen werden arbeitslos; klei-
ne und große Unternehmen werden insolvent. Zugleich ist Die gerade skizzierte Strategie konzentriert sich darauf, bei
klar, dass auch weitreichende Lockdown-Maßnahmen das einer Öffnung die Zahl der Neuinfektionen dauerhaft nach
Virus nicht vollständig zu eliminieren vermögen. Was aller- oben hin unter Kontrolle zu halten. Angesichts vieler epi-
dings faktisch erreicht wurde, sind Reproduktionsraten demiologischer Ungeklärtheiten bezüglich Covid-19, die
und Fallzahlen, die weit unterhalb jener Schwelle liegen, zum Beispiel die Details der Übertragung oder auch die In-
die in Kliniken zu Triage-Situationen führen würden. fektiosität von Kindern und Jugendlichen betreffen, ist al-
Insgesamt sind Lockdown-Maßnahmen offenbar nur über lerdings unsicher, dass es insbesondere in den Herbst- und
eine begrenzte Zeit aufrechtzuerhalten, ohne dass die Fol- Wintermonaten keine zweite und dann vielleicht sogar
gen eines Lockdowns schlimmer werden als die Folgen schlimmere und schwieriger zu kontrollierende Infektions-
eines Infektionsgeschehens. Es liegt daher nahe, den Lock- welle geben wird, oder zumindest der Ausbruch einer sol-
down als eine Art Gesundheitsintervention (oder als Medi- chen so bedrohlich wird, dass wieder schwerwiegende Ein-
kament) mit aufschiebender Wirkung zu verstehen, die griffe in die persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten
nicht die Corona-Krise löst, sondern durch die Zeit gekauft notwendig erscheinen. Regionale Neuausbrüche dürften
wird, um einen durchdachten Neustart im Umgang mit der sich bereits davor beobachten lassen. Da der Lockdown
Pandemie zu entwerfen. Die Nebenwirkungen dieses Lock- aber eine Zwangslage ist, aus der ausgebrochen werden
WiSt Heft 10 · 2020 27Wissenschaftliche Beiträge
muss, ist die fehlende Sicherheits- und Erfolgsgarantie kein Ein vom Bundeskabinett verabschiedeter Gesetzentwurf für
Argument gegen eine Öffnungsstrategie. das „Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer
Es gibt aber dennoch einen Einwand gegen die eingeschla- epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ sah zunächst
gene Strategie. Er ist allerdings von einem anderen Typ: Die die Möglichkeit zur Einführung einer Art Immunitätszertifi-
Strategie nimmt nämlich eine wichtige Ressource nicht in kat über eine Immunitätsdokumentation vor. Diese Mög-
den Blick, die sich mit einer fortschreitenden Durchseu- lichkeit wurde dann aber für den vom Bundestag beratenen
chung der Bevölkerung naturwüchsig aufbaut. Es gibt die Entwurf gestrichen und wurde daher nicht Gesetz.
wachsende Zahl derjenigen, die von dem Virus infiziert Vom Tisch sind Immunitätszertifikate durch diese Entschei-
wurden und die Infektion überstanden haben. Von ihnen dung jedoch nicht: Immunität hat einen Wert unabhängig
kann plausiblerweise angenommen werden, dass sie für von ihrer Zertifizierung. Sollten die Öffnungen zu einer
eine gewisse Zeit in einem gewissen Umfange eine gewisse zweiten Infektionswelle führen, hätte es einen schadenbe-
Immunität gegen Sars-CoV-2 entwickelt haben. Und diese grenzenden Effekt, die Immunen von den erneuten Lock-
Ressource kann man nutzen. Bedingt durch einen hohen down-Beschränkungen auszunehmen, um mit ihnen einen
Anteil (fast) symptomfreier Infektionsverläufe, bei denen möglichst weitreichenden Notbetrieb aufrecht zu erhalten.
zumeist kein Test auf Infiziertheit durchgeführt wurde – Es geht also auch um eine Art Sicherheitsnetz bzw. Auf-
und vielerorts wegen fehlender Testkapazitäten nicht fanglinie für den Fall, dass die faktisch eingeschlagene
durchgeführt werden konnte – umfasst diese Ressource Strategie scheitert. Immunität dürfte auch im internationa-
mehr Menschen als nur diejenigen, die durch Testung als len Reiseverkehr eine zunehmende Rolle einnehmen, wenn
Covid-19-Erkrankte identifiziert wurden und inzwischen Quarantänemaßnahmen vermieden werden sollen.
wieder genesen sind. Durch zuverlässige Tests auf die Co- Corona-Immunitätszertifikate werden mittlerweile weltweit
vid-19-relevanten Antikörper lassen sich unerkannte Im- diskutiert (vgl. Eichenberger et al., 2020c, Hall und Stud-
mune finden. Die Dunkelziffer an bereits Genesenen ist kei- dert, 2020, Kofler und Baylis, 2020, Persad und Emanuel,
nesfalls irrelevant und in Hotspots hoch: Streek et al. 2020). Teilweise werden solche Zertifikate als Immunitäts-
(2020) schätzt die Bevölkerung mit Antikörpern in Gangelt ausweise oder -pässe bezeichnet. In der kontroversen Dis-
auf 15,5 %; in New York waren es 14,9 % Ende April; in kussion stehen drei Problemkomplexe im Zentrum. Sie be-
Stockholm in 7,3 % für die 18. Kalenderwoche; in Genf treffen, erstens, in empirischer Hinsicht Ungeklärtheiten
10,9 % Anfang Mai; und im Hotspot Ischgl gar über 42,4 %. bezüglich der Sars-CoV-2-Immunität; zweitens, in normati-
Im Hinblick auf Immune, die aktuell weder sich selbst noch ver Hinsicht die sozialen Folgen von Immunitätszertifika-
andere infizieren können, machen Lockdown-Einschrän- ten und schließlich, drittens, die eher technischen Proble-
kungen keinen Sinn; im Prinzip könnten Immune all ihren me bei der Einführung von Immunitätszertifikaten.
lokalen, nationalen, internationalen Arbeiten und ihren
privaten, dienstlichen, geschäftlichen, wissenschaftlichen 4. Die medizinisch-naturwissenschaftlichen
und sozialen Kontakten nachgehen. Immune ließen sich Grundlagen von Immunitätszertifikaten
einfach und auf freiwilliger Basis für alle Tätigkeiten ein-
setzen, also auch solche, bei denen sich Nicht-Immune Es gibt zahlreiche offene medizinisch-naturwissenschaft-
leicht selbst und als unerkannt Infizierte leicht andere infi- liche Fragen bezüglich Immunität gegen SARS-Cov2: Wie
zieren könnten. Immunität hat deshalb für die Immunen sind die Details der Immunantwort? Wie lange schützt eine
selbst und für andere einen hohen Wert. überstandene Erkrankung vor einer (schweren) Neuinfek-
Um Immunität als Ressource zu nutzen, müssen Immune tion? Wie steht es um die Varianz der Immunität über Indi-
um ihre Immunität wissen, während andere Menschen sie viduen hinweg? Wie stark müssen welche Immunantworten
von Nicht-Immunen unterscheiden können müssen. Dies und ihre Indikatoren ausgeprägt sein, um von einem
wird durch die Einführung eines von uns vorgeschlagenen Schutz bzw. einer Nichtinfektiosität ausgehen zu können?
Immunitätszertifikats erreicht (vgl. Eichenberger et al., Viele wichtige Aspekte sind zurzeit noch unbekannt. Das
2020a, 2020b für die ersten Beiträge im März und April medizinisch-naturwissenschaftliche Wissen dürfte sich aber
2020). Das Zertifikat wäre datiert, es enthielte Angaben schnell und laufend deutlich verbessern. Was die Dauerhaf-
über eingesetzte Tests und Testresultate (z. B. Art bzw. tigkeit eines Immunschutzes betrifft (z. B. Immunität von
Werte der nachgewiesenen Antikörper) und Angaben zu über einem Jahr), wird es naturgemäß noch längere Zeit
einer Covid-19-Erkrankung und anschließender Genesung. Unsicherheit geben.
Für eine Unlock-Strategie, die sicherlich immer aus vielen Trotz der Ungeklärtheiten vieler Details wird in der Litera-
Komponenten zusammengesetzt werden muss, hätte man tur zugleich und praktisch durchwegs eine grundsätzliche
aus der Ressource Immunität etwas machen können. Die in Immunität für plausibel gehalten, wobei nachgewiesene
Deutschland eingeschlagene Strategie tut das noch nicht. Antikörper als ein Korrelat bzw. Indikator der Immunität
28 WiSt Heft 10 · 2020Eichenberger/Hegselmann/Stadelmann, Zertifizierte Corona-Immunität als Ressource
gelten (vgl. Kirkcaldy et al., 2020, Wajnberg et al., 2020, Für Corona-Immunitätszertifikate könnte man für die Tes-
Zhao et al., 2020). Die Erfahrung mit ähnlichen Viruser- tung auf Antikörper auf einen faktisch verfügbaren Anti-
krankungen sprechen dafür, dass Genesene über eine Im- körpertest mit einer Sensitivität von 100 % und einer Spe-
munität verfügen (vgl. Altmann et al., 2020). Der Immuno- zifität & 99,8 % zurückgreifen werden, der bereits existiert
loge und Nobelpreisträger Peter Doherty wies bereits in In- und u. a. von der Amerikanischen Food and Drug Administ-
terviews früh darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit in- ration zugelassen wurde. Falsche Positive und falsche Ne-
nerhalb einer bestimmten Zeit ein zweites Mal am exakt gative wären bei diesem Antikörpertest also eher kein Pro-
gleichen Virus zu erkranken und die Krankheit weiter zu blem. Falls noch mehr Sicherheit gewünscht wird, könnte
geben klein wäre. Schätzungen, die auf Immunreaktionen die Zertifizierung der Immunität auch wenigstens zwei
eng verwandter Viren basieren, könnten eine Immunität zeitverschobene positive Tests voraussetzen.
von ein bis zwei Jahren nahelegen, wohingegen die nach Problematisch bliebe aber der bisher nicht genau bekannte
einer gewöhnlichen Grippe beobachtete Immunität wesent- Umfang und die ebenfalls nicht genau bekannte Dauer der
lich kürzer ist (vgl. Kofler und Baylis, 2020). Es ist in die- Immunität. Darüber wird man vermutlich im Laufe der Zeit
sem Zusammenhang aufschlussreich, das auch das Robert- durch Studien mehr wissen. Da ein Immunitätszertifikat
Koch-Institut in seinen Empfehlungen zum Umgang mit ein Ausstellungsdatum hätte, würde man zu einem späte-
Personen, die im engen Kontakt zu Infizierten standen, ren Zeitpunkt mehr über dessen aktuellen ,Restwert‘ und
ebenfalls implizit von einer gewissen Immunität ausgeht, seinen früheren realen Wert wissen. Über alle diese Unsi-
denn es fordert keine Quarantäne für Kontaktpersonen, die cherheiten bezüglich einer plausiblerweise anzunehmen-
bereits von Covid-19 Genesene sind. den Immunität könnte in einem Immunitätszertifikat klar
Immunitätszertifikate setzen darauf, dass es eine gewisse und deutlich informiert werden.
Tragfähigkeit und Haltbarkeit der Immunität gibt. In Der Idee Immunitätszertifikate einzuführen, liegt die Ver-
dieser Form, wie sie hier formuliert ist, ist die Annahme mutung zugrunde, dass ein relevanter Anteil der Bürgerin-
praktisch unumstritten. Man findet sie in zahllosen Covid- nen und Bürgern einen Wunsch hegt, den eigen Immuni-
19-bezogenen Artikeln führender wissenschaftlicher Jour- tätsstatus zu kennen und sich situationsbedingt auf die Ri-
nale wie Science, Nature, The New England Journal of Medi- siken einzulassen, die mit der Nutzung von Immunitätszer-
cine oder auch The Lancet. Damit drängt sich die Frage auf: tifikaten verbunden sind. Immunitätstests wären freiwil-
Ist es verantwortbar, auf Basis solch einer Annahme Immu- lig.
nitätszertifikate auszustellen, obwohl offenbar nicht sicher Bei der Entwicklung und Zulassung einer Impfung stellen
ist, dass als immun Zertifizierte einen umfassenden und sich im Übrigen ähnliche Probleme wie der Zertifizierung
dauerhaften Immunschutz haben? genesungsbedingter Immunität: Keine Impfung wird einen
In der aktuellen zwangslagenhaften Entscheidungssituation 100 %-Schutz geben, keine Impfung dürfte einen Schutz
muss immer auf bestimmte Annahmen gesetzt werden, da von unbegrenzter Dauer bieten, es wird erhebliche indivi-
keine Möglichkeit besteht, schnell genug eine definitive duelle Unterschiede hinsichtlich Umfang und Dauer des
Klärung herbeizuführen. Darüber hinaus sind Güterabwä- durch Impfung erreichten Schutzes geben (z. B. schützt
gungen unvermeidlich. die der Grippeimpfung 40 bis 75 % der Geimpften nach dem
Fragt man sich in einer solchen Zwangslage „Ist es eine ver- Robert-Koch-Institut). Gleichwohl wird man, und zwar ohne
antwortbare Politik, auf eine gewisse Tragfähigkeit und Halt- diese offenen Fragen vorab geklärt zu haben bzw. vollstän-
barkeit der genesungsbedingten Covid-19-Immunität zu set- dig klären zu können, gefundene Impfstoffe einsetzen, und
zen, und auf Basis dieser Annahme Immunitätszertifikate das sogar nach Durchlaufen beschleunigter Zulassungsver-
auszustellen?“, dann muss in die Antwort natürlich eine fahren. Unter Hinweis auf Restrisiken wird man Geimpfte in
Bestandsaufnahme der medizinisch-naturwissenschaft- die Normalität entlassen, in der sich einige trotz Impfung
lichen Erkenntnissituation durchführen. Ein rein medizi- infizieren werden. Dennoch ist dieses Vorgehen sinnvoll
nisch-naturwissenschaftliches Problem ist die aufgeworfe- und eine robuste Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern
ne Frage jedoch nicht. So muss in die eigentliche Antwort wird die damit verbundenen Risiken zu tragen bereit sein.
u. a. die Risikopräferenz eingehen, die man sich rational Wer für Immunität, gleich ob genesungs- oder impfbedingt,
als wohlerwogene, situativ-angemessene Risikobereitschaft absolute Sicherheit verlangt, verlangt Unmögliches. Sicher-
zu eigen machen kann. Für Immunitätszertifikate kommt heits- und Gewissheitsanforderungen müssen situativ an-
eine gesamtgesellschaftliche Risikopräferenz ins Spiel. Für gemessen sein und Güterabwägungen miteinbeziehen:
die individuelle Nutzung von Immunitätszertifikaten wird Wer auf der untergehenden Titanic vor Besteigen eines Ret-
die jeweilige individuelle Risikopräferenz relevant. Risiko- tungsbootes darauf bestanden hätte, dessen Rumpf über
präferenzen können mehr oder weniger wohl erwogen sein die bloße Inaugenscheinnahme hinaus auch mikroskopisch
– ein wahr oder falsch gibt es bei ihnen jedoch nicht. auf feine Risse zu untersuchen, hätte vor Abschluss der Un-
WiSt Heft 10 · 2020 29Wissenschaftliche Beiträge
tersuchungen fatale Konsequenzen hinnehmen müssen – In der Diskussion um Immunitätszertifikate wird – und nun
und zwar mit Sicherheit. Ein Covid-19-bedingter Lockdown eher unter dem Gesichtspunkt einer Gleichheit von Rechten
ist eine Zwangslage von verwandter Struktur. – auch der Einwand erhoben, die Einführung von Zertifika-
ten stigmatisiere diejenigen, die kein solches Zertifikat be-
5. Immunitätszertifikate in normativer Perspektive säßen. Der gleichen ,Logik‘ folgend, könnte man behaup-
ten, Behindertenausweise seien eine Stigmatisierung nicht-
Führt man Immunitätszertifikate ein, dann gibt es diejeni- behinderter Menschen, da sie im öffentlichen Raum be-
gen, die ein solches Zertifikat haben und diejenigen, die es stimmte Rechte nicht haben, die ein Behindertenausweis
nicht haben. Werden jene, die das Zertifikat besitzen, von verleiht, nämlich beispielsweise das Recht auf Behinder-
Covid-19-bezogenen Einschränkungen ausgenommen, tenparkplätzen zu parken. Das Beispiel unterstreicht, dass
dürfte dies für die Zertifikatbesitzer in der Regel ein Vorteil ein sinnvolles Verständnis des Gleichheitsgebotes durch-
sein. Wegen der Restrisiken bezüglich der bescheinigten aus zulässt, Rechte an körperliche Eigenschaften zu knüp-
Immunität könnte es allerdings auch Nachteile geben: So fen – es dürften allerdings keine irrelevanten Eigenschaf-
könnte man auf die Idee kommen, Zertifikatbesitzer nach- ten sein. Immunität ist eine relevante Eigenschaft.
rangig zu impfen, sobald ein zunächst knapper Impfstoff Letzteres wird besonders deutlich, wenn man sich fragt,
zur Verfügung steht. Insgesamt dürften die Vorteile aber mit welchem Recht in einem freiheitlichen Rechtsstaat un-
deutlich überwiegen. Damit werden in mehreren Hinsich- ter Covid-19-Bedingungen denjenigen, die immun sind,
ten Gleichheitsfragen aufgeworfen. Freiheitsbeschränkungen auferlegt werden. Ein zentraler
Die zugefallenen eher materiellen, ökonomischen Vorteile rechtlicher Grundsatz ist der Grundsatz der Verhältnismä-
sind ebenso unverdient wie die Vorteile eines besonderen ßigkeit. Schon angesichts des unterschiedlichen Risikos
Talents oder einer Erbschaft. In allen diesen Fällen hat die unterscheid- und identifizierbarer Risikogruppen könnten
Lotterie des Lebens zugeschlagen – im Falle des Immuni- gleiche Freiheitsbeschränkungen unverhältnismäßig sein.
tätszertifikats allerdings im kompensierenden Verbund mit Man mag aus rechtspragmatischen Gründen auch Immunen
einer zuvor erfolgten Infektionserkrankung und den damit eine Maskenpflicht auferlegen. Es ist aber nicht zu sehen,
verbundenen Leiden und Risiken. Anders als bei besonde- dass weitreichende Freiheitsbeschränkungen unter Beach-
ren Talenten oder Erbschaften der Fall, sind die mit einem tung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegenüber Im-
Immunitätszertifikate verbundenen Vorteile ein vergäng- munen begründet werden könnten. Immunitätszertifikate
liches Glück: Sobald es einen Impfstoff oder ein wirksames würden klären, wer unter Verhältnismäßigkeitsgesichts-
Medikament gibt, ist der Gewinn weitgehend dahin. punkten von bestimmten Freiheitseinschränkungen auszu-
Mit dem Zertifikat zeitweilig verbundene monetäre Vorteile nehmen wäre.
könnte man – sollte aber aus unserer Sicht nicht – durch In einer freiheitlichen Gesellschaft wird man es niemandem
eine spezielle Abgabe teilweise abschöpfen und dann um- versagen dürfen, sich durch Testung Klarheit über seinen
verteilen. Eine Abschöpfung der monetären Vorteile durch eigenen Immunitätsstatus zu schaffen, um im Falle einer
eine spezielle Abgabe hinaus setzt den staatlichen Institu- Immunität seine Freiheiten zurückzuerlangen. Wer ange-
tionen problematische Anreize, denn sie könnten dann von sichts dieser Aussichten versucht, Bürgern und Bürgerin-
einer weiteren Verbreitung des Virus profitieren, da so die nen den individuellen Zugang zu verlässlichen Immunitäts-
Zahl der Genesenen und Immunen und damit Zahlungs- tests zu verbieten oder faktisch unmöglich zu machen,
pflichtigen wachsen würde. Selbst wenn man solche Mecha- dürfte eine Freiheitsbeschränkung planen, die nicht mehr
nismen einer Abschöpfung der monetären Vorteile zumin- nur unverhältnismäßig, sondern völlig willkürlich ist.
dest für Deutschland für unwichtig hält, sollte man sie be- Ebenso willkürlich wäre es, Immunen zu verbieten, zu of-
denken. fenbaren und durch ein Zertifikat zu belegen, dass sie im-
Von der erhöhten Einsatzfähigkeit von immunitätszertifi- mun sind.
zierten Personen profitieren alle: direkt durch ihre Arbeits- In dem gesamten Kontext muss darüber hinaus bedacht
leistung, und indirekt über die ganz normale Besteuerung werden, dass die Befolgung von Einschränkungen zu er-
von Einkommen. Darüber hinaus trägt jeder, der trotz heblichen Teilen davon abhängt, dass Bürgerinnen und
Lockdown-Beschränkungen an seinem gesellschaftlichen Bürger sie auch einsehen. Die meisten werden sich in ihrer
Platz weitermachen kann, dazu bei, dass die Lockdown- individuellen Urteilsbildung dabei auch von Verhältnismä-
Schäden geringer ausfallen. Selbst bei stark egalitären Prä- ßigkeitsgesichtspunkten leiten lassen. Ohne eine gut
ferenzen sollten die durch die Zertifikate erzeugten zusätz- nachvollziehbare Verhältnismäßigkeit dürfte ein massives
lichen temporären Ungleichheiten angesichts der Vorteile, Unterlaufen von Einschränkungen sicher sein.
die sie ganz aktuell, insgesamt und für alle mit sich brin-
gen, akzeptabel sein.
30 WiSt Heft 10 · 2020Eichenberger/Hegselmann/Stadelmann, Zertifizierte Corona-Immunität als Ressource
6. Implementierung von Immunitätszertifikaten: sonen, oder bei Auslandreisen ganz unterschiedlich sind.
Probleme und Perspektiven Entsprechend lohnt sich auch ein unterschiedlicher Auf-
wand beim Nachweis der Immunität, etwa durch nur einzel-
In einer Covid-19-Welt ohne Impfstoff und wirksames Medi- ne Tests oder ganze Kaskaden unterschiedlicher Virus- und
kament ist die individuelle Immunität ein Gut und damit Antikörpertests oder gar Dokumentation von Krankheits-
eine Ressource. Weil die individuelle Immunität ein Gut ist, symptomen und Genesung. Damit wird die Zertifizierung
werden Menschen, die es besitzen, gesucht sein, und sie selbst zur komplexen Aufgabe. Mit dieser hohen Vielfalt
selbst werden versuchen, aus ihrem Gut etwas zu machen. und der Unsicherheit können staatliche Institutionen oft
Ob man es will oder nicht, es gibt daher auch einen Markt schlecht umgehen. Das könnte bedeuten, dass nicht nur
für das Gut Immunität, und dies unabhängig davon, ob es staatliche Institutionen Immunitätszertifikate ausstellen
Immunitätszertifikate gibt oder nicht. Immunitätszertifika- sollten. Besser wäre vermutlich die staatliche Zertifizie-
te sind allerdings ein Instrument, um auf diesem Markt rung von Immunitätszertifikatsanbietern, seien es Ärz-
Transparenz zu schaffen, auf dem ohne sie Intransparenz, te, Labore, spezialisierte Firmen oder auch NGOs. Auch in
private Information und Insiderwissen regieren würden. das gelbe Impfbuch tragen beispielsweise Ärzte die Imp-
Immunitätszertifikate werden häufig (z. B. von der WHO) fungen ein und nicht die Weltgesundheitsorganisation
auch als Immunitätspässe angesprochen (vgl. Hall und selbst. Wichtig wäre allerdings, dass vertrauenswürdige
Studdert, 2020, Kofler und Baylis, 2020, Persad und Emanu- Staaten untereinander Zertifikate anerkennen (vielleicht
el, 2020). Immunitätszertifikate definieren keine Rechts- nach dem Cassis-de-Dijon Prinzip).
ansprüche, sondern sind eine Art Qualitäts- oder Sicher- Zum Schluss gilt es noch auf folgendes Argument einzuge-
heitssignal. Sie hätten ein Ausstellungsdatum, der Ausstel- hen: Sobald zertifiziert Immune gegenüber Nicht-Immunen
lungsort bzw. die ausstellende Instanz wären angegeben. Vorteile genießen, etwa indem sie gewisse Tätigkeiten
Zentral enthielten sie Angaben zum angewandten Immuni- überhaupt oder mit weniger Auflagen ausführen dürfen,
tätstest und die Testresultate. Man könnte sie befristen, wollen manche Nicht-Immune über Erkrankung immun
müsste dies aber nicht unbedingt. Da der Stand der Wissen- werden. Dieser Aspekt dürfte in der gegenwärtigen Situa-
schaft sich fortlaufend ändert, können einmal ausgestellte tion weniger wichtig sein, da auch die Nicht-Immunen ihre
Zertifikate entweder länger relevant bleiben (wenn bei- normalen Rechte auf absehbare Zeit weitgehend wiederer-
spielsweise länger währende Immunität wissenschaftlich langen. Das Potential für Selbstansteckung dürfte aber an-
abgesicherter erscheint) oder weniger relevant werden wachsen, wenn bei einer tatsächlich oder akut drohenden
(wenn sich beispielsweise neue Unsicherheiten bzgl. der zweiten Welle die Rechte der Nicht-Immunen wieder stär-
durchgeführten Antikörpertests herausstellen). Wichtig ist ker eingeschränkt würden. In diesem Fall nimmt der Wert
so oder so, dass durch die jeweiligen Zertifizierungsstellen der Immunität stark zu, was gleichzeitig die Notwendigkeit
genau festgehalten wird, was ein Zertifikat besagt, was es der besonderen Behandlung von Immunen sowie die Be-
nicht besagt, und auf welchen Daten es beruht, und diese reitschaft mancher Bürger erhöht, sich freiwillig durch ge-
Information auch gut zugänglich auf dem Internet bereit- suchte Erkrankung zu immunisieren. Das ist aber kein Ar-
gestellt werden. Bei Auftreten neuer besser gesicherter Er- gument gegen Immunitätszertifikate. Der Wille mancher
kenntnisse können auch die durch das Zertifikat gemach- Bürger, sich selbst anzustecken, wird sich auch ohne ein
ten Feststellungen entsprechend angepasst werden, was deutsches Immunitätszertifikat entwickeln, weil für gewis-
einfach möglich ist, wenn die Zertifikate und die ihnen un- se Tätigkeiten eine Nachfrage nach Immunität ganz unab-
terliegenden Testresultate beispielsweise elektronisch ab- hängig von ihrer Zertifizierung entstehen wird. Dies gilt et-
gelegt sind. wa für die Pflege im familiären Bereich, wo die Pflegenden
Zertifikate sind Instrumente, mit denen wir uns in vielen eine Ansteckung ihrer Gepflegten unbedingt vermeiden
Bereichen den Umgang mit Unsicherheiten erleichtern. möchten und oft bereit sind, dafür das Risiko einer eigenen
All die Lebensmittel-, Universitäts-, und Berufszertifikate Erkrankung auf sich zu nehmen. Es gilt auch für die Arbeit
sagen nicht mit absoluter Sicherheit, dass die zertifizierten innerhalb von Firmen, in denen der Immunitätsstatus der
Lebensmittel, Universitätsabgängerinnen und Handwerks- Mitarbeiter auch ohne Zertifizierung bekannt ist. Und es
meisterin garantiert und ewig fähig sind. Es ist nur viel gilt für Grenzübertritte und internationale Mobilität; da
wahrscheinlicher, dass sie wenigstens für eine gewisse Zeit werden manche Länder auf Quarantäne für Nicht-Immune
besser als irgendwelche nicht-zertifizierten Angebote sind. bestehen.
Das würde auch für Immunitätszertifikate gelten. Das alles bewirkt, dass bei der nächsten Welle eine Nachfra-
Die Zwecke von Immunitätstests sind vielfältig, weil die Si- ge nach Selbstansteckung entstehen wird und sich die Re-
cherheitsanforderungen etwa in der Pflege von Risikoper- gierungen mit der Frage beschäftigen müssen, wie sie von
sonen, in Berufen mit nahem Kontakt mit Nicht-Risikoper- ungeordneter Selbstansteckung zu einer klug gelenkten
WiSt Heft 10 · 2020 31Wissenschaftliche Beiträge
Immunisierung von Freiwilligen unter medizinischer Be- Eichenberger, R., Hegselmann, R., D. Stadelmann (2020b). Zertifizierte Co-
gleitung kommen können, die für die Freiwilligen mit mög- rona-Immunität als entscheidende Ressource: Eine überlegene und robuste
Exit-Strategie, Beiträge zur aktuellen Wirtschaftspolitik No. 2020–07, Cen-
lichst kleinen Gefahren verbunden ist und bei der keine an-
ter for Research in Economics, Management and the Arts (Schweiz), 03. Ap-
deren Personen in Mitleidenschaft gezogen werden. Wer ril 2020. Online: http://www.crema-research.ch/bawp/2020-07.pdf.
sich weigert, Immunitätszertifikate einzuführen und statt- Eichenberger, R., Hegselmann, R., Savage, D. A., Stadelmann, D., B. Torgler
dessen Immune den gleichen Verhaltensbeschränkungen (2020c). Certified Coronavirus Immunity as a Resource and Strategy to
Cope with Pandemic Costs. Kyklos. Vorab online: https://doi.org/10.1111
unterwerfen wird wie Nicht-Immune, schadet der Gesell-
/kykl.12227.
schaft gerade in Zeiten höchster Belastung enorm. Länder Osterloh, M., B.S. Frey (2020). How to avoid borrowed plumes in academia,
hingegen, die für ihre Bürger Immunitätszertifikate ein- Research Policy 49(1), 103831.
führen, werden einen großen Wettbewerbsvorteil daraus Hall, M. A., D. M. Studdert (2020). Privileges and Immunity Certification
During the COVID-19 Pandemic. JAMA 323(22), 2243–2244.
ziehen. Deshalb ist die Frage wohl nicht ob, sondern wann Mankiw, N. G. (2017). Principles of Economics, 8th Edition, Cengage Lear-
und wie genau Corona-Immunitätszertifikate kommen. ning.
Jetter, M., Laudage, S., D. Stadelmann (2019). The Intimate Link Between
Income Levels and Life Expectancy: Global Evidence from 213 Years. Social
7. Schlussbemerkungen Science Quarterly, 100(4), 1387–1403.
Jewell, B. L., Edinah Mudimu, Stover, J., Kelly, S. L., A. Phillips (2020). Po-
Corona-Immunitätszertifikate hätten schon im Rahmen der tential Effects of Disruption to HIV Programmes in sub-Saharan Africa Cau-
sed by COVID-19: Results from Multiple Mathematical Models. Vorab on-
nun in Deutschland verfolgten Unlock-Strategie eine sinn-
line: https://doi.org/10.6084/m9.figshare.12279914.v1.
volle Komponente sein können. In empirischer wie in nor- Kofler, N., F. Baylis (2020). Ten reasons why immunity passports are a bad
mativer Hinsicht lassen sich die gegen Zertifikate vorge- idea. Nature 581, 379–381.
brachten Einwände nämlich ausräumen. Die jetzt faktisch Kirkcaldy, R. D., King, B. A., J. T. Brooks (2020). Covid-19 and Postinfecti-
on Immunity: Limited Evidence, Many Remaining Questions. JAMA. Vorab
eingeschlagene Strategie könnte scheitern, und zwar in Ge-
online: https://doi.org/10.1001/jama.2020.7869.
stalt einer tatsächlichen oder dem akut drohenden Aus- Onder, G., Rezza, G., S. Brusaferro (2020). Case-Fatality Rate and Characte-
bruch einer zweiten Covid-19-Infektionswelle, gegen die ristics of Patients Dying in Relation to COVID-19 in Italy. JAMA. Vorab on-
dann wohl erneut harte Maßnahmen ergriffen würden. Die line: https://doi.org/10.1001/jama.2020.4683.
Persad, G., E. J. Emanuel (2020). The Ethics of COVID-19 Immunity-Based
würden milder ausfallen können, wenn man schon jetzt Im-
Licenses („Immunity Passports”). JAMA, 323(22), 2241–2242.
munitätszertifikate einführen würde, um dann bei einer Snowden, F. M. (2019). Epidemics and Society: From the Black Death to
zweiten Welle jedenfalls alle bereits Immunen von den the Present. Yale University Press.
Maßnahmen ausnehmen zu können. Die Einführung von Streeck, H.; Schulte, B.; Kuemmerer, B.; Richter, E.; Hoeller, T.; Fuhrmann,
C.; Bartok, E.; Dolscheid, R.; Berger, M.; Wessendorf, L.; Eschbach-Bludau,
Immunitätszertifikaten wäre also eine Art Sicherheitsnetz
M.; Kellings, A.; Schwaiger, A.; Coenen, M.; Hoffmann, P.; Noethen, M.; Eis-
und Auffanglinie für den Fall des Scheiterns der nun einge- Huebinger, A.-M.; Exner, M.; Schmithausen, R.; Schmid, M., G. Hartmann
schlagenen Strategie. (2020), ’Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German com-
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