Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
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Podiumsdiskussion der Abschluss veranstaltung des Projekts „Toledo to do” am 15.08.2019 bei Können wir aus der Geschichte LIFE e. V. des mittelalterlichen Al-Andalus etwas lernen? Verschiedene Perspektiven auf Geschichtslernen Diversity und Erinnerung in der Diskussion Im August 2019 fand, in den Räumlichkeiten von Prof. Dr. Viola Georgi (VG) ist Professorin für LIFE e. V., die gut besuchte Abschlusstagung, des Diversity Education an der Stiftung Universität Projektes „Toledo to do” mit dem Titel „Aus dem Hildesheim und Direktorin des „Zentrums für Mittelalter über Diversität und Antirassismus Bildungsintegration. Diversity und Demokratie lernen?“, statt. Bei einem Podiumsgespräch in Migrationsgesellschaften“ und forscht zu diskutierten die Podiumsgäste über die Notwen- Diversity Education, Heterogenität in der Schule, digkeit von heterogenen Geschichtsnarrativen historisch-politischer Bildung in der Migrations- und deren Bedeutung für die pädagogische gesellschaft und Demokratiepädagogik. Praxis. Die Wissenschaftler*innen erörterten diese Themenkomplexe vor dem Hintergrund Prof. Dr. Dr. Hans-Georg Ziebertz (HZ) ist ihrer je unterschiedlichen Disziplinen sowie katholischer Theologe, Erziehungs- und ihrer eigenen – christlichen, jüdischen und Sozialwissenschaftler und lehrt und forscht muslimischen – Perspektive. Der folgende Text als Professor für Religionspädagogik an der dokumentiert zentrale Aspekte der Diskussion. Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Bei den Redebeiträgen handelt es sich teils um Seine Forschungsschwerpunkte sind die gekürzte oder parapharsierende Passagen, die empirische Religionspädagogik und Jugend- mit den Diskussionsteilehmern abgestimmt forschung sowie Interkulturalität und Inter wurden. religiosität und Religion und Moderne. 1
TOLEDO to do rof. Dr. Frederek Musall (FM) ist Professor P mitnehmen: sind hier historische Erfahrungen für Jüdische Philosophie und Geistes zu finden, aus denen sich übergreifende iden- geschichte an der Hochschule für Jüdische titätsstiftende Gemeinsamkeiten ergeben, die Studien Heidelberg. Die theologischen und unser heutiges Zusammenleben im pluralen mystischen jüdischen Denktraditionen, insbe- Deutschland stärken können? Gibt es etwas aus sondere in seinen Beziehungen zu arabisch- der Geschichte von Al-Andalus für uns heute zu islamischen Denktraditionen, sowie Prozesse lernen? jüdischer Identitätsbildung stehen im Zentrum seiner Forschung. acem Dziri (M.A.) (BD) ist Islamwissen B schaftler am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück und wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Studien der Religion und Kultur des Islams an der Goethe-Universität Frankfurt und am Institut für Islamische Theologie und Religionspäda- 1 Nilüger Göle (2016): Europäischer gogik der Universität Innsbruck. Er forscht zu Islam. Muslime im Alltag, Verlag Klaus islamischer Kultur- und Geistesgeschichte und Wagenbach, Berlin. innerislamischen Diskursen und Kontroversen. 2 Mit dem „Goldenen Zeitalter” von Al-Andalus wird Moderation: Aliyeh Yegane Arani (AY) ist die historische Herrschaft auf der Politikwissenschaftlerin und leitet bei LIFE Iberischen Halbinsel e. V. den Bereich Diskriminierungsschutz und HZ: Bei dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ zwischen 711 und 1494 bezeichnet. Diversität. Als Bildungsreferentin arbeitet sie von Al-Andalus geht es um eine relativ kurze Al-Andalus ist zugleich ein zu Menschenrechten in der Bildung, Diskrimi- Zeitepoche von 700 „goldenen“ Jahren2. Doch historischer wie ein geographischer nierungsschutz in Schulen und religiöser und was kann man aus dieser Geschichte lernen? Begriff. Die, heutige spanische Provinz weltanschaulicher Vielfalt. Denn auch in diesen 700 Jahren sind Städte Andalusien war eines seiner Kerngebiete. niedergebrannt und ausgeplündert worden. Es AY: Geschichte ist in der pluralen Gesellschaft hat Gruppen gegeben, die glücklich waren, weil ein Gegenstand der Verhandlung historischer sie zu den Herrschenden gehörten und andere, Identitäten: was trennt, wo überschneiden sich die weniger glücklich waren, weil sie nicht dazu Geschichten und auf welchen historischen gehörten. Vor diesem Hintergrund würde ich mit Erfahrungen gründen sich übergreifende Blick auf mögliche Lektionen aus Al-Andalus identitätsstiftende Gemeinsamkeiten, die eine aus der Perspektive der historisch-kritischen heterogene Gesellschaft stärken können und Methode drei Fragen stellen: Inspirationen für das Zusammenleben bieten. Die Soziologin Nilüfer Göle1 spricht von einem Die erste ist eine fundamentale Frage beim Blick Europa, das aktuell nach den historischen auf Demokratie und das friedliche Zusammen- Quellen des Pluralismus sucht und verweist leben der Religionen. Denn wenn sich in einer dabei auf die Bedeutung der „mythischen Herrschaftsform weltliche und geistliche Macht Momente der Koexistenz verschiedener Religi- unter einem Dach befinden, dann weiß man nie, onen und Kulturen – der muslimischen, jüdi- wer gerade sozusagen den Hut aufhat. Es bleibt schen und christlichen – zwischen dem 15. und unklar, ob es sich in einzelnen Konflikten um 19. Jahrhundert.“ Vor diesem Hintergrund ist weltliche Machtinteressen oder um religiöse meine Einstiegsfrage an die Podiumsgäste: handelt oder ob Religion benutzt wird, um Was können wir aus dem Blick auf Al-Andalus weltliche Interessen durchzusetzen. Diesen 2
TOLEDO to do spannungsreichen Komplex von weltlicher und schenden Klasse zu deren (anderen) religiösen religiöser Macht konnten wir im Mittelalter Wahrheitsansprüchen überhaupt riskieren in Deutschland sehen. Wo, je nachdem nach können, wenn sie dafür am Ende vielleicht den welchem Bekenntnis sich der Fürst nach der Tod in Kauf nehmen mussten? Reformation bekannte hatte, die Leute diese Religion annehmen mussten. Wenn in einem Der dritte kritische Aspekt, ist an sich schon der vielen, deutschen Fürstentümer oder in den ersten zwei enthalten: Da die Idee von Königreiche der Bischof gleichzeitig auch der Intoleranz, die in Religion steckt, mit dem von weltliche Herrscher war, dann war das oftmals ihnen vertretenen Wahrheitsanspruch zu tun nicht zum Besten. Und so handelte es sich auch hat, stellt sich die Frage: Wie sollen Religionen in Toledo letztendlich um eine geistliche Herr- mit ihrem Wahrheitsanspruch umgehen? schaft. Auch wenn unterschiedliche muslimische Können wir hierzu überhaupt etwas aus den Gruppierungen nach Al-Andalus, kamen und Religionen lernen? Letztendlich erheben hiervon einige sich als liberaler verstanden, war Religionen einen Wahrheitsanspruch und bei es faktisch eine Herrschaft, in der letztendlich religiösen Wahrheiten handelt es sich nicht um geistliche und weltliche Macht zusammenfielen. frei verhandelbare Ideen, sondern sie beruhen Das kann für heute kein Modell sein. auf den Anspruch göttlicher Offenbarung. Aufgrund solcher konkurrierenden religiösen Die zweite kritische Nachfrage bezieht sich Wahrheitsansprüche ist die deutsche Geschichte darauf, dass Religion nie nur gut ist oder, wie bis zum Ende der Religionskriege von so vielen es mein damaliger Professor während meines Blutspuren durchzogen. Erst eine Änderung der Promotionsstudiums formulierte: Religion ist zu politischen Ordnung hat diese Religionskriege 49 Prozent gefährlich und zu 51 Prozent etwas beendet und endlich Frieden geschaffen. Die Gutes. In Religion liegt der Keim von Intoleranz, dazu nötige Änderung der politischen Ordnung Rivalität und Despotismus und je nachdem, war, dass der Staat kein Urteil mehr dazu abgibt, wie domestiziert sie ist bzw. wie aufgeklärt was eine wahre Religion ist und dass er sich die Religion gehandhabt wird, kommen diese mit keiner Religion – als Staatsreligion oder Dispositionen stärker oder schwächer zum dominante Religion – verbündet oder identifi- Ausdruck. Wenn die negativen Dispositionen ziert. Erst mit dieser neuen Ordnung bzw. seit stärker zum Ausdruck kommen, dann können dem der Staat sich als säkular definiert, konnte Religionen nicht nur für Angehörige dieser er den Bürger*innen mit den verschiedenen Religion, die in theologischen Fragen abweichen, Glaubensbekenntnissen den Raum geben ihre sondern auch für die Angehörigen anderer jeweiligen Glaubensbekenntnisse frei zu leben. Religionen zur Schreckensherrschaft werden. Auch aus der heutigen Perspektive bleibt die Auch bei dieser Frage gilt es, sich Al-Andalus Errichtung eines säkularen Staates weiterhin genauer anzuschauen: War es vielleicht so, dass eine große Herausforderung. Für Deutschland Christ*innen und Juden*Jüdinnen nur toleriert und die meisten Länder Westeuropas, würde wurden solange sie bestimmte Rollen erfüllten ich sagen, sind die dominanten Religionen und nur dann gewisse Freiräume zugesprochen domestiziert worden. Sie haben den säkularen bekamen? Was wäre geschehen, wenn sie den Staat akzeptiert. Aber weltweit betrachtet habe Wahrheitsanspruch der damals herrschenden ich da für manche Länder Zweifel. Dies sind nur muslimischen Klasse in Frage gestellt hätten? drei Aspekte aus einer historisch-kritischen Wäre es dann möglicherweise zu stärkeren Betrachtung, um eine naive Perspektive auf die Auseinandersetzungen gekommen? Hätten die Geschichte von Al-Andalus zu hinterfragen. Beherrschten eine Konfrontation mit der herr- 3
TOLEDO to do abgenabelt, sondern sich lieber selbst einen eigenen Kalifen gestellt. Doch auch dann blieb Al-Andalus aus der Sicht des „Hauptkalifen“ in Bagdad eine Peripherie und war darum für viele Muslim*innen nicht von so großer Bedeutung. Und auch wenn wenn wir uns die damaligen Wanderbewegungen zur Erlangung von Wissen anschauen, so bewegte sich die Gelehrsamkeit der sog. „islamischen Welt“ zu jener Zeit in der Regel ostwärts und nicht nach Westen. Es gab aber immer Ausnahmen, wie etwa Personen, wie Ibn Ziryab, der vom Hof aus Bagdad vertrieben worden war und als eine Art Schöngeist mit der Laute und vielen anderen Kulturgütern nach BD: Wenn es so etwas wie kollektives Erinnern Al-Andalus kam und dort den Hof der Umayyaden oder kollektive Erinnerungen gibt, dann wäre bereicherte. Bis in die Moderne verliefen die Al-Andalus für die meisten Muslim*innen in Ströme von Wissen und Gelehrsamkeit in der unserer heutigen Zeit ein zentraler Erinne- islamischen Welt oftmals von Westen nach rungs- und Sehnsuchtsort. Das ist aber nicht Osten. Auch während der allmählichen Vertrei- immer so gewesen. Ich möchte die Entwicklung, bung und nach der endgültigen Vertreibung der wie Al-Andalus zu einem Sehnsuchtsort für Juden und Muslime aus Al-Andalus wanderten Muslim*innen geworden ist, kurz skizieren: viele nach Osten ab. Dieser Verlust wurde auch Al-Andalus war eigentlich mal ein mehr oder beklagt, mir ist aber nicht bekannt, dass es hier weniger ganz normaler Ort bzw. ein Ort wie jeder zu einer übergreifenden Ritualisierung dessen andere in der sog. „islamischen Welt“. Zunächst gekommen ist. kamen mehrheitlich die Berber*innen, die vom afrikanischen Kontinent aus auf der Iberischen Dahingegen scheint mir Al-Andalus in der Halbinsel gelandet sind. Sehr wahrscheinlich Moderne zu einem solchen Sehnsuchtsort handelte es sich nicht nur um Berber*innen, geworden zu sein. Der neue Fortschrittsglaube sondern um eine Vielzahl an verschiedenen des 19. Jahrhunderts wurde auch von vielen Ethnien, die aus Afrika in Al-Andalus einwan- Araber*innen und Muslim*innen aufgenommen. derten. Diese waren nicht unbedingt von Am Anfang wurde die Moderne von ihnen als dem frühen muslimischen Eroberungswillen europäisch geprägt wahrgenommen und dabei getrieben, der zu dieser Zeit schon erlahmt war. nicht nur ängstlich, sondern zum Teil auch mit Hinzu kam, dass die Kalifen schon früh eine zu Faszination betrachtet. Als man der eigenen schnelle Ausdehnung eingrenzen wollten, um die Misere gewahr wurde, nicht selten unter den Kontrolle darüber und damit letztlich auch ihre Vorzeichen des Kolonialismus, drängte sich eigene Macht zu sichern. Die Kalifen in Bagdad die Frage auf, wie es denn so kommen konnte, hatten sich aufgrund der inneren Spannungen dass die „Römer“ oder „Firinja“ (Franken), auf zur konkurrierenden Dynastie der Umayyaden, einmal zivilisatorisch so einen Vorsprung entwi- mit der bis dahin bestehenden Ausdehnung des ckelten. Das dürfte zumindest mit ein Grund Reichs und seinem Zentrum in Bagdad als Mitte dafür gewesen sein, warum einige muslimische der Welt, zufrieden gegeben. Al-Andalus konnte Reformer in der Moderne Al-Andalus als Sehn- darum aus ihrer Perspektive sozusagen den suchtsort „entdeckt“ hatten. Das Interesse an Umayyaden überlassen werden, solange sie das einer erneuten Rezeption vermeintlich unter- Kalifat nicht selbst bedrohten. Irgendwann haben gegangener Denker wie Ibn Ruschd (Averoes) sich die Andalusier aber nicht nur vom Zentrum kam auf. Schakib Arslan, ein reformorientierter 4
TOLEDO to do Schriftsteller, Historiker und Diplomat widmete Aber 900 Jahre muslimische Präsenz auf der sich in vielen seiner Schriften diesen Fragen zu Iberischen Halbinsel waren nicht nur ein Mythos, und entwickelte Al-Andalus als Sehnsuchtsort sondern es gibt auch eine historische Grundlage, mit. Obwohl er sich sonst immer westlich klei- an der europäische Muslim*innen bei ihrer dete, ließ er sich auch mal mit einem Turban und Suche nach einer eigenen Identität anknüpfen in einem arabischen Gewand vor einem Hinter- können. Denn junge Muslim*innen suchen heute grund der Großmoschee von Córdoba ablichten, nach solchen positiven Anknüpfungspunkten, also der heutigen Kathedrale. Hiermit wollte um eine neue muslimisch-europäische Identität er andeuten: Zu diesem „Goldenen Zeitalter“ zu schaffen. Hierzu werden auch Legenden wollen wir Araber*innen wieder hin. Auch der geschaffen, bei denen es ausreicht, dass nur große ägyptische Dichter Ahmad, der zweitweise eine Fingerkuppe Wahres dran ist. Hierzu eine sogar im spanischen Andalusien im Exil lebte, kleine Anekdote: In den letzten Jahren war ich prägte dieses Bild von Al-Andalus mit. Und der jedes Jahr mit der Bildungsreise in Andalusien. jüdisch-muslimische Reformer Muhammad Asad Dort habe ich einmal im Café Leyla eine Dame verbrachte seinen Lebensabend in Andalusien kennengelernt, die behauptete, den Tee mit und ließ sich auch dort begraben. denselben Zutaten und genauso herzustellen, wie es die alten Araber*innen gemacht haben. Dieses arabisch-muslimische Bild von Da es diesen angeblich originalen Tee nur im Al-Andalus als Symbol für die Kombination Café Leyla gab, kamen die Leute dort in Scharen von arabisch, muslimisch und fortschrittlich zusammen. Nach zwei Jahren war der Tee so ist erhalten geblieben. Es wird nach meiner bekannt, dass man ihn an jeder Ecke bekommen Einschätzung heute aber durch ein anderes konnte. Keiner kann genau sagen, warum dieser Bild ein Stück weit überlagert, vielleicht sogar Tee großartiger sein soll als anderer arabischer verdrängt. Denn heute gibt es in Europa eine Tee – zugegeben: er schmeckt schon besonders andere Suche nach Al-Andalus als Sehn- gut. Aber entscheidend ist, dass diese Legende suchtsort, nämlich als einen Ort der europäisch einen Sinn erfüllt: sie hat das das Bedürfnis und muslimisch zugleich ist. Auch wenn die nach diesem Sehnsuchtsort, nach einer eigenen, arabische Komponente nicht ganz verschwunden tiefverwurzelten muslimisch-europäischen ist, ist inzwischen im kollektiven Wissen der Kultur gestillt. europäischen Muslim*innen das Europäische viel wichtiger geworden. Doch genauso wie das AY: Wenn ich an meine eigene Schulzeit europäische an Al-Andalus, so ist auch das Bild zurückdenke, dann fehlte diese muslimische vom „Goldenen Zeitalter” ein Konstrukt und ein oder jüdische Perspektive völlig. Über jüdische Mythos, der über Jahrzehnte beschworen und Geschichte und wie das Judentum Europa immer wieder hinterfragt wurde. Ein Mythos hat kulturell geprägt hat, für das Al-Andalus so aber auch seine Funktion. Wenn dieser richtig bedeutsam war, haben wir nichts erfahren. kanalisiert wird, kann daraus ein wichtiger Jüdinnen*Juden haben wir nur in Bezug zum Nutzen, vor allem auch für den Bildungskontext Holocaust kennengelernt. Ich habe den Eindruck, und Schulen gewonnen werden. Diese Erfahrung hier hat sich nichts geändert und auch heute habe ich bei meinen zahlreichen Bildungsreisen noch lernen Schüler*innen nicht mehr über nach Andalusien gemacht, die ich mit vorwie- diesen Teil unserer europäischen Geschichte. Sie gend muslimischen Studierenden und Akade- lernen die Sicht der Minderheiten nicht kennen. miker*innen geführt habe. Hierbei habe ich Sie lernen nicht, unsere Geschichte auch von den gemerkt, dass es bei jungen Muslim*innen ein Rändern her zu denken und dadurch Zentrum starkes Bedürfnis nach diesem Sehnsuchtsort und Rand bzw. Peripherie zu dekonstruieren. gibt. Die Bildungsreisen nach Andalusien waren Hier versuchen wir mit dem Toledo-Rollenspiel, immer innerhalb kürzester Zeit ausgebucht. in dem die jüdische Minderheit ein selbstver- 5
TOLEDO to do ständlicher Teil des Stadtlebens ist, eine Lücke rabbinischen Autoritäten waren im Osten, also zu schließen. Juden*Jüdinnen werden in der im Herrschaftsbereich von Bagdad, und diesen Geschichte von Al-Andalus nicht als Rand oder weiterhin gegenüber loyal zu bleiben hätte sie randständig, sondern als mitten drin erfahren. folglich in den Augen der konkurrierenden Kali- fate politisch verdächtig gemacht. Hinter jedem Kommunikationsverkehr, der vom Osten herkam, wurden subversive Geheimbotschaften vermutet, in denen womöglich ein Umsturz geplant wurde. Das sephardische Judentum entstand somit eigentlich in dem Moment, als sich ein Teil der Muslim*innen politisch selbständig gemacht und dadurch selbst zur Peripherie „degradiert“ hat. Dadurch wurde die sephardische Gemeinschaft gezwungen sich von jüdischen Gemeinschaften anderer muslimischer Länder, aber auch von denen Lateineuropas zu trennen und einen Sonderweg für sich zu entwickeln. Das ist etwas, was man auch heute noch spürt: Einerseits dieses sephardische Selbstbewusstsein, das sich durch die eigene Geschichte sehr ausgeprägt hat und gleichzeitig dieser sehr große Minderwertig- FM: Hier kann ich wunderbar anknüpfen, denn keitskomplex, da jüdische Geschichte in Europa eigentlich ist die Peripherie der spannendere vorrangig immer als aschkenasische Geschichte Ort. Wichtig ist zu berücksichtigen, dass betrachtet wurde. Auch im Staat Israel waren Toledo seit 1070 unter christlicher Herrschaft anfangs die Eliten Aschkenasim. Die Sephardim, war. Al-Andalus, das ist die Geschichte des die aus orientalischen Ländern gekommen muslimischen Spaniens von etwa 711, als die waren und die man heute auch als Mizrachim Muslim*innen über die Meerenge von Gibraltar bezeichnet, galten als eine Art zweite Klasse. in Al-Andalus gelandet sind bis zum Fall von Das jüdische Bild vom Sefarad ist sehr komplex: Granada 1492. Die Blütezeit von Toledo unter In der langen Geschichte von Al-Andalus waren christlicher Herrschaft zeigt, gerade vor dem die Sephard*innen immer „die da drüben“, die Hintergrund eines verkürzten Verständnisses zwar interessante Kontroversen ausfochten der Reconquista, so wie es gerade durch rechte und interessante Denker*innen hatten, aber Gruppen, wie die Identitären massiv vorange- diese wurden in der jüdischen Welt lange tragen wird, dass die Geschichte der Reconquista Zeit nicht rezipiert. Namen wie Abraham ibn auch anders aussehen konnte. Von sephardi- Daud oder Moses Maimonides klingen heute scher Geschichte zu sprechen, hat auch damit sehr spannend, standen aber zwischen dem zu tun, dass sich das sephardische Judentum 13. Jahrhundert bis zur Aufklärung nicht als eigenständige Tradition überhaupt erst mit unbedingt im Zentrum des jüdischen Diskurses. der Aufsplitterung des islamischen Reichs in Sie wurden ebenso wie Al-Andalus erst im verschiedene Kalifate entwickeln und entfalten 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Im Zuge der 3 Moses ben Maimon (Lateinisch: Moses konnte. Mit der Spaltung und der Herausbildung eigenen Emanzipationsbestrebung wurde es Maimonides) (1134 – 1204), der aus der Kalifate von Bagdad, Al-Qahira (bzw. Kairo) für die Juden*Jüdinnen wichtig der christlichen Al-Andalus kam und später nach Ägypten und dann noch dem Kalifat von Cordova gab es Dominanzgesellschaft zu zeigen, dass auch sie fliehen musste, war der bedeutendste drei Kalifate, in denen die jüdische Gemeinschaft Anteil an diesem Europa hatten: Aus ihrer Mitte jüdische Philosoph in der Mitte des 10. Jahrhunderts vor einer war jemand so bedeutsames für die europäische des Mittelalters. Sein Werk beeinflusste schwierigen Situation stand: Alle ihre zentralen Geistesgeschichte wie Maimonides3 gekommen, auch die damalige muslimische und christliche Philosophie. 6
TOLEDO to do der Aristoteles interpretieren konnte und der von Religion ist folglich nur ein Teil des Problems. Thomas von Aquin, von Meister Eckhardt und Ein anderer wichtiger Teil ist das politische Albertus Magnus gelesen wurde. Maimondes Moment, das sich nicht nur durch Religion war einer von ihnen und darum hatten auch die bestimmen lässt. Da aber die Teile eng mitein- Juden*Jüdinnen Anteil an diesem Europa und ander verbunden und verwoben sind, ist es viel an dieser Aufklärung. Das Bedrückende ist, komplexer als einfache historische Narrative dass dieses Einfordern an sich eine Apologie ist. mit ihren eindeutigen, ethnisch und religiös Eine solche Erkenntnis gehört vielleicht zu den klar eingegrenzten Identitäten abbilden. Dieses Dingen, die wir von diesen Orten lernen müssen. komplexe Verständnis von Identität ist eine Ich würde darum statt von einer historisch- Fragestellung die im Planspielprojekt thema- kritischen Lesart eher von einer Warnung vor tisiert werden sollte und auch für säkulare Projektionen sprechen, die mit solchen Orten Schüler*innen ein wichtiges Lernziel ist. Von und den inneren Bildern, die wir von ihnen Al-Andalus kann gelernt werden, wie wichtig die erschaffen, verbunden sind. Möglichkeit zur kulturellen Teilhabe und Chan- cengleichheit, unabhängig von der Religions- Weil die Geschichte von Al-Andalus so komplex zugehörigkeit und Beheimatung, zum Beispiel ist, kann es in der Betrachtung der Geschichte im Bereich von Bildung und Wissenschaft, ist. nicht nur um das Thema Religion gehen. In Es ist manchmal erschreckend, wie naiv unsere großen Teilen geht es eigentlich gar nicht Vorstellungen von Religion sind, die wir dann um Religion. Die religiöse Zuordnung ist nur auf Personen und Gruppen projizieren. Und eine Konstruktion, die wir für die damaligen auch viele muslimische, christliche und jüdische Menschen, in diesem Kontext Muslim*innen, Gelehrte des Mittelalters haben eine ziemlich Juden*Jüdinnen, Christ*innen und weiß wer genaue Vorstellung davon was Religion ist – noch, dort in dieser Zeit gelebt hat, benutzen. nämlich eine Form von sozialer Organisation. Von Tatsächlich waren es sehr unterschiedliche Al-Andalus kann man lernen, dass manchmal muslimische Gruppierungen, unterschiedliche diese Bilder Projektionen sind und stellvertre- christliche Gruppierungen sowie unter- tend für etwas stehen, was wir nicht haben – was schiedliche jüdische Gruppierungen. Gerade wir verloren haben. In den Bildern und den damit im 13. Jahrhundert gab es in der jüdischen verbundenen Traditionen liegt dann vielleicht Gemeinde von Toledo Spannungen zwischen auch ein Wissen und ein Bewusstsein von diesen denjenigen, die aus dem muslimischen Dingen, die uns abhandengekommen sind, die Al-Andalus kamen und denjenigen, die seit wir aber dadurch in gewisser Weise neu (re-) dem 11. Jahrhundert unter christlicher Herr- konstruieren. Letztendlich ist Al-Andalus auch schaft lebten. Die jüdischen Andalusier*innen eine solche Konstruktion. Wir gehen hier mit versuchten verzweifelt zu sagen: „Aber unsere einer bestimmten Konstruktion der Geschichte Tradition ist auch wichtig – nicht nur eure“. Diese um. Das heißt aber auch, dass wir Gestaltungs- Problemlage zog sich auch durch die anderen möglichkeiten haben: Wir können entscheiden, Gruppen: Auch die arabisierten Christ*innen wie wir die Geschichte von Al-Andalus erzählen auf der iberischen Halbinsel, die sogenannten wollen. Mozaraber*innen, die ihre Liturgie und Ritus bis ins 13. Jahrhundert auf Arabisch durchführten, AY: Bei der didaktischen Aufarbeitung und der wurden massiv von der katholischen Kirche Gestaltung des pädagogischen Materials standen angegriffen, die von ihnen die Durchführung der wir oftmals genau vor dieser Herausforderung, Liturgie in Latein forderte. die Komplexität der Geschichte von Al-Andalus im Rahmen der nur wenigen Hintergrundin- formationen, die im Rahmen des Spiels zur 7
TOLEDO to do Verfügung gestellt werden können, zu vermitteln, außerordentlich bedeutsam. Hier lassen sich für was notwendiger Weise zu verkürzenden Bildern die Diversity Education und wie wir uns heute führen muss. Da aber für uns aus einer Diversi- mit Vielfalt auseinandersetzen Brücken zum täts- und Intersektionalitäts-Perspektive heraus historischen Lernen schlagen. Allerdings muss gerade die Sensibilisierung für die vielfältigen dabei immer klar bleiben, dass es sich bei der transkulturellen und transreligiösen Prozesse diskutierten historischen Epoche, dem konkreten und Verflechtungen in Toledo ein zentrales Ort nur um ein Fallbeispiel handelt. Bildungsziel darstellte, hatten wir genau darauf ein besonderes Augenmerk. Zu dieser schwer zu vermittelnden Komplexität gehörte auch, dass Toledo eben nicht Al-Andalus war, sondern unter christlicher Herrschaft stand und trotzdem weiterhin kulturell muslimisch geprägt war, da gerade hier ein christlicher Herrscher wesentlich dazu beitrug, dass kulturelle Errungenschaften des islamischen Al-Andalus beibehalten und weitergeführt wurden. Die Rollen im Spiel sind zwar den Religionsgruppen zugeordnet, haben aber ganz vielfältige Identitäten. Hierzu gehört auch, dass sie mehr oder weniger gläubig sind. Uns war wichtig gerade diese starren Bilder vor allem von Juden*Jüdinnen und Muslim*innen aufzubrechen und auszudifferenzieren. Gleichzeitig können wir natürlich nicht verhin- VG: Diesen wichtigen Aspekt möchte ich dern, dass Schüler*innen mit ihren Prägungen aufgreifen, da es hierbei tatsächlich um „Diver- und dadurch mit einem bestimmten Geschichts- sity within“ geht. Niemand ist nur Muslim*In bedürfnis durch die Welt gehen. Durch eigene oder nur Jude*Jüdin. Durch viele andere Katego- Erfahrungen, eigene religiöse Prägungen, die rien von Differenz, die man sich in für die dama- Sozialisation und die Geschichten in der Familie lige Zeit denken kann, werden die religiösen wird der Zugang zur Geschichte geprägt. Da Zugehörigkeiten gebrochen. Dass dieser Punkt finde ich Bacem Dziris Beobachtungen sehr im Planspiel aufgegriffen wird, ist eine wirkliche spannend, dass muslimische Studierende hier Qualität. offensichtlich quasi ein Geschichtsbedürfnis empfinden und sich durch diese Widerentde- Aus der fachlichen Perspektive der Holocaust ckung und dieses sichtbar machen ihres europä- Education kommend finde ich grundsätzlich die ischen Erbes in Al-Andalus die Teilhabe an dem Frage nach dem „aus der Geschichte lernen“ europäischen Narrativ erhoffen. Hiermit sind wir auch sehr problematisch. Diese Sichtweise im Grunde mitten drin in einem making the new führt zu Projektionen, Instrumentalisierung und narratives. Heute geht es aus einer machtkri- vielen anderen sehr problematischen Dingen. tischen, postkolonialen Perspektive darum, die Geschichte eignet sich nicht als Blaupause für Fragen von den Peripherien her neu zu stellen das Hier und Jetzt. Aber die Auseinandersetzung und vielleicht damit auch die Geschichte der mit Geschichte, beispielsweise mit der Frage Aufklärung nochmals quasi quer zu bürsten. danach, wie in der Vergangenheit politisch, Dies ist ein wichtiges und auch ein berechtigtes rechtlich, ökonomisch, ethisch und sozial mit Unterfangen. Fragen nach dem geschichtskultu- Vielfalt umgegangen worden ist und das mit rellen Wandel in der Einwanderungsgesellschaft einer machtkritischen Perspektive, finde ich spielen auch gerade in den Diskussionen mit 8
TOLEDO to do Lehrer*innen eine große Rolle. Hier beobachten wen? Wer erzählt? Wer darf nicht erzählen und wir, dass Lehrkräfte, die wir im Rahmen unserer wird stumm gemacht? Die Behandlung oder Forschung interviewen, sagen: „Ja, die muslimi- Nichtbehandlung des Osmanischen Reiches ist schen Jugendlichen, besonders die Jungs, die ein gutes Beispiel dafür. Da werden die Schü- kriegen irgendwann so einen „Osmanen-Tick“4 ler*innen, die eigentlich ein Interesse an dieser und dann müssen wir mit denen das Osmanische Geschichte mitbringen, stumm gemacht. Mit der 4 „Osmanen-Tick“ Reich machen.“ Die Lehrkräfte gehen mit diesem Begründung, dass das nicht im Curriculum steht, ist zitiert aus einem Interview von Prof. Geschichtsbedürfnis dann sehr unterschiedlich wird es von Lehrer*innen abgebügelt. In diesem Georgi. um. Während die einen den Jugendlichen dann Zusammenhang ist es wichtig, Schulbücher beweisen wollen, dass die Idealisierung des und curriculare Vorgaben in Hinblick auf die Osmanischen Reiches „Humbug“ sei, sind Frage der Repräsentation anzuschauen: Welche andere darum bemüht, ihnen zu zeigen, dass Geschichten werden erzählt und welche (noch) sie eigentlich gar nichts darüber wissen. Sie nicht? Welche sollten erzählt werden? Welchen gehen dann davon aus, dass das Interesse der Geschichten müssen wir zur Artikulation Schüler*innen nur darauf beruht, die eigene verhelfen? Damit ist nicht gemeint, dass wir für türkisch-nationalistische Identität stärken zu die muslimischen Schüler*innen muslimische wollen. Bei einem Teil der Lehrkräfte gibt es ein Geschichte, für christlichen Schüler*innen starkes Bedürfnis die positiven Narrative über christliche und so weiter brauchen. Das würde das Osmanische Reich brutal zu dekonstruieren eine Kulturalisierung und eine ethnische und damit jede entsprechende Bezugnahme Engführung bedeuten, die hoch problematisch von Seiten der türkeistämmigen Schüler*innen ist. Letztendlich glaube ich, müssen wir über die quasi abzuwickeln. Es gibt andere Lehrkräfte, divided memories hinaus auch shared memories die davon ausgehen, dass, wenn dieses entwickeln und zu einer gemeinsamen Erzäh- Geschichtsbedürfnis bei den Jugendlichen da lung kommen. Die amerikanische Historikerin ist, sie es aufgreifen und das Osmanische Reich Susan Crane hat das, sehr schön auf den Punkt im Unterricht thematisieren müssen. Auch das gebracht mit ihrer Frage: „How do we take Osmanische Reich ist in der Tat ein spannendes ownership of history?“5 Wie eignen wir uns historisches Beispiel, an dem der Umgang mit Geschichte an? In dem wir sie erlebt haben? In Vielfalt diskutiert werden kann. Es eignet sich als dem wir sie erzählen und weitererzählen? Indem 5 Susan Crane, ein historisches Fallbeispiel, da es tatsächlich wir sie bezeugen? Oder einfach nur: „because Writing the Individual Back into Collective bei Jugendlichen, die aus muslimischen Fami- we care about this history.“ Grundsätzlich Memory, in: American Historical Review 102 lienkontexten stammen und hier ein Zugehörig- sollten wir als Menschen sagen können: „we can (1997) 4, S. 1372-1385. keitsgefühl empfinden, ein Geschichtsbedürfnis care about any kind of history“. Es sollte nicht befriedigt und ein tieferes Interesse auslöst. abhängig von meiner Herkunft sein, ob ich mich Es ist wirklich spannend, wie kontrovers der für jüdische Geschichte oder den Holocaust, das Umgang der Lehrkräfte mit dem Osmanischen Dritte Reich oder für Al-Andalus interessiere. Reich ist. Al-Andalus ist möglicherweise ein An dieser Stelle werden die transkulturellen ähnliches Beispiel. Gerade dann, wenn wir Momente von Geschichtsaneignung deutlich und merken, dass da ein Geschichtsbedürfnis ist, es wird ambivalent und komplex: Wie können gehört das als Teil einer kritischen Auseinander- wir mit dieser Komplexität und Ambiguität einen setzung mit Geschichte und Erinnerungskultur in Geschichtsunterricht konzipieren und historische den Geschichtsunterricht integriert. Ereignisse in die Bildungsarbeit einbetten? Es gilt mit der Herausforderung umzugehen, wie wir Diversityansätze im Kontext von Geschichte unabhängig von Herkunft und Prägung Menschen befassen sich zum Beispiel damit, wie dazu anregen können, dass sie Geschichte Geschichte repräsentiert wird: Wer spricht über annehmen im Sinne von „caring about history“. 9
TOLEDO to do AY: Eine europäische Schulbuchstudie6 zur mich in solchen Fällen durch ein umsichtiges Darstellung von Islam und Muslim*innen in Vorgehen auch eine kritisches Betrachtung Geschichts- und Politikbüchern kam zu dem der Geschichte anzuregen. Hier darf man aber Ergebnis, dass auch deutsche Schulbücher nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Es vereinfachende, essentialisierende Darstel- ist ähnlich wie beim Ablösungsprozess von den 6 Georg-Eckert-Ins- lungen des Islams vermitteln und Muslime als Eltern, in dem es ja auch keinen Sinn macht den titut für internationale Schulbuchforschung/ vorwiegend religiös markiertes Kollektiv zum Kindern zu sagen: „Du musst kritisch gegenüber Kröhnert-Othman, Susanne; Kamp, außereuropäischen „Anderen“ machen. Es wird deinen Eltern sein“. Irgendwann werden sie in Melanie; Wagner, Constantin (2011): ein historisches Bild vermittelt, in dem der Islam der Pubertät ohnehin in eine kritische Distanz Keine Chance auf Zugehörigkeit? − und ein modernes Europa zwei, sich gegenseitig übergehen, und vielleicht irgendwann ein Schulbücher europä- ischer Länder halten ausschließende, in sich homogene Einheiten gesundes Mittelmaß zwischen Aneignung und Islam und modernes Europa getrennt. sind, die vor allem konfrontative Berührungs- Veränderung finden. Es gibt mehrere Möglich- Ergebnisse einer punkte, jedoch so gut wie keine Überschnei- keiten um eine kritische Geschichtsreflexion Studie zu aktuellen Darstellungen von dungen oder Ähnlichkeiten aufweisen. Anknüp- der sog. „islamischen Geschichte“ zu stiften. Es Islam und Muslimen in Schulbüchern fend an diese Studie würde ich gerne die Frage gibt nahezu kein Thema, zu dem es nicht auch europäischer Länder. Georg-Eckert-Institut in die Runde geben, ob es für Sie Sinn machen eine hochinteressante Kontroverse gab. Auch die für Internationale Schulbuchforschung. würde, Al-Andalus stärker nicht nur im Rahmen muslimische Geschichte ist reich an Fehlern – Download: www.repository.gei.de/ der außerschulischen Bildung, wie durch und das sollte sie auch bleiben dürfen. handle/11428/172 unser Projekt, sondern auch in Schulcurricular und -Bücher aufzunehmen? HZ: Ich erinnerte mich gerade an die 1968 erschienene Schrift von Habermas „Erkenntnis VG: Zunächst passt die Geschichte von und Interesse.“ Hier hat Habermas herausge- Al-Andalus unter dem Aspekt der Kulturkontakte arbeitet, dass den Fokus, mit dem wir eine Zeit wunderbar in die historische Bildung. Darüber betrachten, die Fragen beispielsweise, die wir an hinaus fände ich es vor dem Hintergrund des die Geschichte richten, nie ohne ein bestimmtes Geschichtsbedürfnis muslimischer Jugendlicher persönliches Interesse sind: Was ist jetzt mein sinnvoll, Al-Andalus stärker in Geschichtsbü- Erkenntnisinteresse? Für wen tue ich das? chern zu verankern. Dass dieses Geschichtsbe- Dziri hat davon erzählt, wie möglicherweise die dürfnis besteht, machen Dziris Beobachtungen Interessenlage von muslimischen Studierenden mit seinen Studierenden, aber auch die Erfah- mit Fragen ihrer eigenen religiösen Identitätsbil- rungen der Toledo Planspiele an Schulen deut- dung heute in Europa zusammenhängen, auch lich. Für die Zukunft plädiere ich unbedingt dafür, wenn die Religion im Al-Andalus des Mittelalters als ein weiteres Beispiel für das transkulturelle im puristischen Sinn nicht dem entspricht, was historische Lernen und eine islamisch-euro- wir heute unter Religion verstehen. Das gilt päische Kontaktgeschichte die Geschichte des nicht nur für Muslim*innen, sondern war auch Osmanischen Reichs aufzunehmen. Damit diese im christlichen Teil so: Die meisten Menschen einseitig negativen Bilder über die Muslim*innen konnten nicht lesen und ihre Theologie bestand nicht so dominant bleiben, sollten genau solche daraus, dass sie die Deckengewölbe der Kontaktgeschichten miteinbezogen und ein Stück Kirchen betrachteten und sahen, das Gott auf weit positiv erzählt werden. einer Wolke sitzt. Wir können unser heutiges Verständnis von Religion und theologischem BD: Ein solches Geschichtsbedürfnis bemerke Bewusstsein damit nicht vergleichen und ich auch an meinen Studierenden in Osnabrück, sollten das nicht ins Mittelalter projizieren. Es Frankfurt und Innsbruck. Hier kommt es regel- sollte sichtbar werden, dass es eine islamisch mäßig vor, was sonst eher selten ist, dass nach geprägte Hochkultur – nicht nur, aber auch – in dem Unterricht weiter gefragt wird. Ich bemühe Europa gab. Ich kann mir vorstellen, dass das für 10
TOLEDO to do europäische Muslim*innen wichtig ist, die zwar muslimische Al-Andalus bezogen, sondern so in den meisten europäischen Ländern formal auch für überall anderswo gültig sind, da es vor dem Gesetz gleich sind, denen aber oftmals damals nirgendwo eine Trennung von Religion die gesellschaftliche Anerkennung versagt und Staat und eine säkulare Politik gab. Die wird. Dieser Aspekt spielt auf der Ebene von vorsäkularen politischen Verhältnisse – das kann Individual- und Sozialpsychologie eine Rolle und man nicht nur Al-Andalus anlasten, sondern ist auch didaktisch wichtig: Erkundungen in eine das war in allen anderen europäischen Gebieten Zeit zu machen, für die sich Muslim*innen nicht damals nicht anders – sind insgesamt nicht schämen müssen, auf die sie stolz sein können. pluralitäts- bzw. diversitätsfähig und darum nicht übertragbar auf die die heutige Zeit. Aus einer didaktischen Perspektive der Unter- richts- und Bildungsplanung sind folgende Fragen zentral: Für wen entwerfe ich Lernpro- zesse? Was und welche Gruppe soll was daraus ziehen? Mir hat mal eine Nürnberger Lehrerin gesagt: „Was soll ich hier machen? Ich habe 28 Schüler*innen und 14 Nationen und Ethnien sind hier vertreten“. Alle diese Schüler*innen haben ihren jeweils eigenen Hintergrund und Sozialisation und lernen auf ihre Weise. Ich finde die Herausforderung von solchen Curricula liegt darin, den unterschiedlichen Herkünften der Schüler*innen gerecht zu werden und sie trotzdem auf ein Ziel hinzuführen. Dieses eine gemeinsame Ziel kann kein anderes sein, als Doch wie ist das für Christ*innen, die mit eine gewisse Reflexivität zu erreichen, mitei- Al-Andalus wahrscheinlich durch einen Spanien nander streiten zu lernen ohne sich die Köpfe urlaub in Berührung gekommen sind: was ist einzuschlagen und am Ende eben die Lektion ihr Zugang? In Reiseführern werden die mauri- zu lernen: Es kann Wahrheitsansprüche geben, schen Stätten als Hochkultur wertschätzend die ich vertrete. Ich darf sie nur nicht für alle dargestellt und als Tourist*in ist man von der anderen geltend machen, sondern ich muss sie maurischen Ästhetik beeindruckt, denn sie für mich und meine Gruppe behalten. Ich muss verbreitet eine wunderbare Stimmung. Diese die anderen nach ihrem Gusto leben lassen christlich-verklärte Perspektive auf die Ästhetik können. der maurischen Kultur ist häufig zu finden. Doch mit dem Begriff maurisch wird der Begriff Islam BD: Autobiografisch habe ich selbst sehr oft und damit die religiöse Dimension vermieden. die Erfahrung gemacht, dass „unsere“ Kultur Sobald man den eben noch schwärmenden auf letztlich zwei Quellen zurückgehe: Die Tourist*innen sagt, das ist auch alles Islam, kann jüdisch-christliche und die griechisch-römische. sich die eben noch wertschätzende Stimmung Wenn man das als junger Muslim rezipiert, schnell ändern. bekommt man den Eindruck als würde man wie ein „Barbar“ wahrgenommen werden. Entweder Wichtig ist, dass die von mir aus der Perspektive ist man inexistent oder wird abgewertet – keine der historisch-kritischen Methode erwähnten gute Ausgangslage. Ich selbst musste mir als kritischen Punkte sich nicht spezifisch auf das Schüler also selbst meine Bezüge schaffen, in 11
TOLEDO to do nahezu jedem Unterrichtsfach. Es ist mir nicht wiederfinden. Als drittes halte ich es für immer gut gelungen. Meine Hausarbeit zu den wichtig, deutlich zu machen, dass es auch eine Islambezügen französischer Philosophen wie gemeinsame jüdisch-muslimische Geschichte Voltaire und Montesquieu z. B. war sicher über- und gemeinsame Erfahrungen gibt, die nicht interpretiert, und wurde entsprechend bewertet. Nah-Ost-Konflikt heißen. Damit nicht ständig Aber ich musste das machen, weil ich sonst in eine Reduzierung auf die Konflikte stattfindet, einem kulturellen Vakuum und in der Bedeu- habe ich ein starkes Interesse, auch andere tungslosigkeit versunken wäre. Ich denke ähnlich Geschichten mit in das Gespräch hinein zu holen. verhält es sich noch heute bei vielen deutschen Abschließend möchte ich noch eine Idee Muslimen und ihrer Goethe-Rezeption. Ich einbringen: die Geschichte von Al-Andalus hat glaube, es ist immens wichtig diese Themen im sehr viel mit Vielsprachigkeit zu tun und hiermit Curriculum zu verankern und im Unterricht gut pädagogisch zu arbeiten, bietet viele, gerade aufzubereiten, denn inexistent sind deutsche auch für heute spannende Reflexionsmöglich- Muslime nun mal nicht und Abwertungen keiten und eine Chance für die Verbesserung möchten sie natürlich auch nicht erfahren. des Verständnisses füreinander: Was bedeutet es Ideen und Konzepte in andere Sprachen FM: Das kommt mir als jüdischer Schüler zu übertragen? Verstehen wir wirklich das bekannt vor. Auch wenn es lange her ist, kann Gleiche in den Sprachen, die uns wichtig sind? ich mich noch daran erinnern: Entweder war Ich mache zum Beispiel an der Universität eine es etwas mit Brunnenvergiftung oder es war Übersetzungsübung mit jüdisch-arabischen die Shoa, anders kamen wir Juden*Jüdinnen Manuskripten, die eigentlich immer eine der nicht vor. Aus drei Gründen ist es darum wichtig, schönsten Übungen ist. Die Studierenden aus der Geschichte und Geschichten beispielsweise Islamwissenschaft können kein Arabisch und die aus Al-Andalus oder Toledo in das Curriculum aus den jüdischen Studien kein Hebräisch lesen. zu integrieren. Denn wenn es auch nicht allen Gemeinsam „puzzeln“ sie sich die Übersetzung Schüler*innen Recht gemacht werden kann, da dann zusammen, denn die einen können es manchmal zu viele Bedürfnisse in der Klasse entziffern und die anderen wissen was da steht. sind, kann mit einer Exemplarität gearbeitet werden. Ein unwahrscheinliches, diverses AY: Das erinnert mich sehr stark an eine Aktivität Szenario kann exemplarisch für etwas stehen. Es aus unserem Toledo Planspiel: hierbei kommen muss sich nicht jeder und jede automatisch eins Mitglieder aus den drei Religionen zusammen zu eins in dem Beispiel wiederfinden, und doch und sie bekommen die Aufgabe, ein kurzes besteht eine gewisse Anschlussfähigkeit über Zitat von einem arabischen Philosophen der Analogien, die helfen können, genau die Kompe- damaligen Zeit in eine Sprache ihrer Wahl zu tenzen einzuüben, die gefordert sind. übersetzen. Diese gemeinsame Aktivität bringt den Teilnehmer*innen immer wahnsinnig viel Der zweite Punkt ist, dass jüdische Geschichte Spaß und jedes Mal kommt dabei ein ganz nicht ständig auf drei Dinge reduziert werden phänomenales Ergebnis heraus. sollte. Benny Fischer, der langjährige Präsident der European Union of Jewish Students, hat mal Nun sind wir am Ende der Podiumsdiskussion auf einer Podiumsdiskussion treffend gesagt: angekommen und ich bedanke mich ganz herz- „Wir werden immer nur auf drei Dinge reduziert. lich bei den Podiumsgästen für ihre spannende Das sind Israel, die Shoa und Antisemitismus. Beiträge. Etwas anderes gibt es nicht.“ Es ist wichtig, dass es eben auch andere jüdische Geschichten gibt, in denen sich auch andere Erfahrungen 12
TOLEDO to do Impressum Herausgegeben von: LIFE Bildung Umwelt Chancengleichheit e. V. Rheinstraße 45 /46, 12161 Berlin www.life-online.de | www.toledo-planspiel.de V.i.S.d.P. Mara Höhl / LIFE e. V. Berlin Redaktion und Text: Aliyeh Yegane, Projektleitung TOLEDO to do / LIFE e. V. Gestaltung: Peter Frey | kursiv, Berlin Fotos Podiumsteilnehmer*innen: metinyilmaz.de Fotos "Übersetzungsaktivität" LIFE e. V. Ergebnisse der Übersetzungsaktivität aus dem Toledo to do Planspiel. 13
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