Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?

Die Seite wird erstellt Sibylle-Hortensia Busse
 
WEITER LESEN
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
Podiumsdiskussion
                                                                          der Abschluss­
                                                                          veranstaltung des
                                                                          Projekts „Toledo to do”
                                                                          am 15.08.2019 bei
Können wir aus der Geschichte                                             LIFE e. V.

des mittel­alterlichen Al-Andalus
etwas lernen?
Verschiedene Perspektiven auf Geschichtslernen
Diversity und Erinnerung in der Diskussion

Im August 2019 fand, in den Räumlichkeiten von      Prof. Dr. Viola Georgi (VG) ist Professorin für
LIFE e. V., die gut besuchte Abschlusstagung, des   Diversity Education an der Stiftung Universität
Projektes „Toledo to do” mit dem Titel „Aus dem     Hildesheim und Direktorin des „Zentrums für
Mittelalter über Diversität und Antirassismus       Bildungsintegration. Diversity und Demokratie
lernen?“, statt. Bei einem Podiumsgespräch          in Migrationsgesellschaften“ und forscht zu
diskutierten die Podiumsgäste über die Notwen-      Diversity Education, Heterogenität in der Schule,
digkeit von heterogenen Geschichtsnarrativen        historisch-politischer Bildung in der Migrations-
und deren Bedeutung für die pädagogische            gesellschaft und Demokratiepädagogik.
Praxis. Die Wissenschaftler*innen erörterten
diese Themenkomplexe vor dem Hintergrund            Prof. Dr. Dr. Hans-Georg Ziebertz (HZ) ist
ihrer je unterschiedlichen Disziplinen sowie        katholischer Theologe, Erziehungs- und
ihrer eigenen – christlichen, jüdischen und         Sozialwissenschaftler und lehrt und forscht
muslimischen – Perspektive. Der folgende Text       als Professor für Religionspädagogik an der
dokumentiert zentrale Aspekte der Diskussion.       Julius-­Maximilians-Universität in Würzburg.
Bei den Redebeiträgen handelt es sich teils um      Seine Forschungsschwerpunkte sind die
gekürzte oder parapharsierende Passagen, die        empirische Religionspädagogik und Jugend-
mit den Diskussionsteilehmern abgestimmt            forschung sowie Interkulturalität und Inter­
wurden.                                             religiosität und Religion und Moderne.

                                                                                                        1
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
TOLEDO to do

                            rof. Dr. Frederek Musall (FM) ist Professor
                           P                                                  mitnehmen: sind hier historische Erfahrungen
                           für Jüdische Philosophie und Geistes­              zu finden, aus denen sich übergreifende iden-
                           geschichte an der Hochschule für Jüdische          titätsstiftende Gemeinsamkeiten ergeben, die
                           Studien Heidelberg. Die theologischen und          unser heutiges Zusammenleben im pluralen
                           mystischen jüdischen Denktraditionen, insbe-       Deutschland stärken können? Gibt es etwas aus
                           sondere in seinen Beziehungen zu arabisch-­        der Geschichte von Al-Andalus für uns heute zu
                           islamischen Denktraditionen, sowie Prozesse        lernen?
                           jüdischer Identitätsbildung stehen im Zentrum
                           seiner Forschung.

                            acem Dziri (M.A.) (BD) ist Islamwissen­
                           B
                           schaftler am Institut für Islamische Theologie
                           an der Universität Osnabrück und wissen-
                           schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Studien
                           der Religion und Kultur des Islams an der
                           Goethe-Universität Frankfurt und am Institut
                           für Islamische Theologie und Religionspäda-
1 Nilüger Göle
(2016): Europäischer       gogik der Universität Innsbruck. Er forscht zu
Islam. Muslime im
Alltag, Verlag Klaus       islamischer Kultur- und Geistesgeschichte und
Wagenbach, Berlin.
                           innerislamischen Diskursen und Kontroversen.
2 Mit dem „Goldenen
Zeitalter” von
Al-Andalus wird
                           Moderation: Aliyeh Yegane Arani (AY) ist
die historische
Herrschaft auf der
                           Politikwissenschaftlerin und leitet bei LIFE
Iberischen Halbinsel       e. V. den Bereich Diskriminierungsschutz und       HZ: Bei dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“
zwischen 711 und
1494 bezeichnet.           Diversität. Als Bildungsreferentin arbeitet sie    von Al-Andalus geht es um eine relativ kurze
­Al-­Andalus ist
 zugleich ein              zu Menschenrechten in der Bildung, Diskrimi-       Zeitepoche von 700 „goldenen“ Jahren2. Doch
 historischer wie
 ein geographischer        nierungsschutz in Schulen und religiöser und       was kann man aus dieser Geschichte lernen?
 Begriff. Die, heutige
 spanische Provinz         weltanschaulicher Vielfalt.                        Denn auch in diesen 700 Jahren sind Städte
 Andalusien war eines
 seiner Kerngebiete.                                                          niedergebrannt und ausgeplündert worden. Es
                         AY: Geschichte ist in der pluralen Gesellschaft      hat Gruppen gegeben, die glücklich waren, weil
                         ein Gegenstand der Verhandlung historischer          sie zu den Herrschenden gehörten und andere,
                         Identitäten: was trennt, wo überschneiden sich       die weniger glücklich waren, weil sie nicht dazu
                         Geschichten und auf welchen historischen             gehörten. Vor diesem Hintergrund würde ich mit
                         Erfahrungen gründen sich übergreifende               Blick auf mögliche Lektionen aus Al-Andalus
                         identitätsstiftende Gemeinsamkeiten, die eine        aus der Perspektive der historisch-kritischen
                         heterogene Gesellschaft stärken können und           Methode drei Fragen stellen:
                         Inspirationen für das Zusammenleben bieten.
                         Die Soziologin Nilüfer Göle1 spricht von einem       Die erste ist eine fundamentale Frage beim Blick
                         Europa, das aktuell nach den historischen            auf Demokratie und das friedliche Zusammen-
                         Quellen des Pluralismus sucht und verweist           leben der Religionen. Denn wenn sich in einer
                         dabei auf die Bedeutung der „mythischen              Herrschaftsform weltliche und geistliche Macht
                         Momente der Koexistenz verschiedener Religi-         unter einem Dach befinden, dann weiß man nie,
                         onen und Kulturen – der muslimischen, jüdi-          wer gerade sozusagen den Hut aufhat. Es bleibt
                         schen und christlichen – zwischen dem 15. und        unklar, ob es sich in einzelnen Konflikten um
                         19. Jahrhundert.“ Vor diesem Hintergrund ist         weltliche Machtinteressen oder um religiöse
                         meine Einstiegsfrage an die Podiumsgäste:            handelt oder ob Religion benutzt wird, um
                         Was können wir aus dem Blick auf Al-Andalus          weltliche Interessen durchzusetzen. Diesen

                                                                                                                                 2
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
TOLEDO to do

               spannungsreichen Komplex von weltlicher und         schenden Klasse zu deren (anderen) religiösen
               religiöser Macht konnten wir im Mittelalter         Wahrheitsansprüchen überhaupt riskieren
               in Deutschland sehen. Wo, je nachdem nach           können, wenn sie dafür am Ende vielleicht den
               welchem Bekenntnis sich der Fürst nach der          Tod in Kauf nehmen mussten?
               Reformation bekannte hatte, die Leute diese
               Religion annehmen mussten. Wenn in einem            Der dritte kritische Aspekt, ist an sich schon
               der vielen, deutschen Fürstentümer oder             in den ersten zwei enthalten: Da die Idee von
               Königreiche der Bischof gleichzeitig auch der       Intoleranz, die in Religion steckt, mit dem von
               weltliche Herrscher war, dann war das oftmals       ihnen vertretenen Wahrheitsanspruch zu tun
               nicht zum Besten. Und so handelte es sich auch      hat, stellt sich die Frage: Wie sollen Religionen
               in Toledo letztendlich um eine geistliche Herr-     mit ihrem Wahrheitsanspruch umgehen?
               schaft. Auch wenn unterschiedliche muslimische      Können wir hierzu überhaupt etwas aus den
               Gruppierungen nach Al-Andalus, kamen und            Religionen lernen? Letztendlich erheben
               hiervon einige sich als liberaler verstanden, war   Religionen einen Wahrheitsanspruch und bei
               es faktisch eine Herrschaft, in der letztendlich    religiösen Wahrheiten handelt es sich nicht um
               geistliche und weltliche Macht zusammenfielen.      frei verhandelbare Ideen, sondern sie beruhen
               Das kann für heute kein Modell sein.                auf den Anspruch göttlicher Offenbarung.
                                                                   Aufgrund solcher konkurrierenden religiösen
               Die zweite kritische Nachfrage bezieht sich         Wahrheitsansprüche ist die deutsche Geschichte
               darauf, dass Religion nie nur gut ist oder, wie     bis zum Ende der Religionskriege von so vielen
               es mein damaliger Professor während meines          Blutspuren durchzogen. Erst eine Änderung der
               Promotionsstudiums formulierte: Religion ist zu     politischen Ordnung hat diese Religionskriege
               49 Prozent gefährlich und zu 51 Prozent etwas       beendet und endlich Frieden geschaffen. Die
               Gutes. In Religion liegt der Keim von Intoleranz,   dazu nötige Änderung der politischen Ordnung
               Rivalität und Despotismus und je nachdem,           war, dass der Staat kein Urteil mehr dazu abgibt,
               wie domestiziert sie ist bzw. wie aufgeklärt        was eine wahre Religion ist und dass er sich
               die Religion gehandhabt wird, kommen diese          mit keiner Religion – als Staatsreligion oder
               Dispositionen stärker oder schwächer zum            dominante Religion – verbündet oder identifi-
               Ausdruck. Wenn die negativen Dispositionen          ziert. Erst mit dieser neuen Ordnung bzw. seit
               stärker zum Ausdruck kommen, dann können            dem der Staat sich als säkular definiert, konnte
               Religionen nicht nur für Angehörige dieser          er den Bürger*innen mit den verschiedenen
               Religion, die in theologischen Fragen abweichen,    Glaubensbekenntnissen den Raum geben ihre
               sondern auch für die Angehörigen anderer            jeweiligen Glaubensbekenntnisse frei zu leben.
               Religionen zur Schreckensherrschaft werden.         Auch aus der heutigen Perspektive bleibt die
               Auch bei dieser Frage gilt es, sich Al-Andalus      Errichtung eines säkularen Staates weiterhin
               genauer anzuschauen: War es vielleicht so, dass     eine große Herausforderung. Für Deutschland
               Christ*innen und Juden*Jüdinnen nur toleriert       und die meisten Länder Westeuropas, würde
               wurden solange sie bestimmte Rollen erfüllten       ich sagen, sind die dominanten Religionen
               und nur dann gewisse Freiräume zugesprochen         domestiziert worden. Sie haben den säkularen
               bekamen? Was wäre geschehen, wenn sie den           Staat akzeptiert. Aber weltweit betrachtet habe
               Wahrheitsanspruch der damals herrschenden           ich da für manche Länder Zweifel. Dies sind nur
               muslimischen Klasse in Frage gestellt hätten?       drei Aspekte aus einer historisch-kritischen
               Wäre es dann möglicherweise zu stärkeren            Betrachtung, um eine naive Perspektive auf die
               Auseinandersetzungen gekommen? Hätten die           Geschichte von Al-Andalus zu hinterfragen.
               Beherrschten eine Konfrontation mit der herr-

                                                                                                                       3
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
TOLEDO to do

                                                                  abgenabelt, sondern sich lieber selbst einen
                                                                  eigenen Kalifen gestellt. Doch auch dann blieb
                                                                  Al-Andalus aus der Sicht des „Hauptkalifen“ in
                                                                  Bagdad eine Peripherie und war darum für viele
                                                                  Muslim*innen nicht von so großer Bedeutung.
                                                                  Und auch wenn wenn wir uns die damaligen
                                                                  Wanderbewegungen zur Erlangung von Wissen
                                                                  anschauen, so bewegte sich die Gelehrsamkeit
                                                                  der sog. „islamischen Welt“ zu jener Zeit in der
                                                                  Regel ostwärts und nicht nach Westen. Es gab
                                                                  aber immer Ausnahmen, wie etwa Personen, wie
                                                                  Ibn Ziryab, der vom Hof aus Bagdad vertrieben
                                                                  worden war und als eine Art Schöngeist mit der
                                                                  Laute und vielen anderen Kulturgütern nach
               BD: Wenn es so etwas wie kollektives Erinnern      Al-Andalus kam und dort den Hof der ­U­­mayyaden
               oder kollektive Erinnerungen gibt, dann wäre       bereicherte. Bis in die Moderne verliefen die
               Al-Andalus für die meisten Muslim*innen in         Ströme von Wissen und Gelehrsamkeit in der
               unserer heutigen Zeit ein zentraler Erinne-        islamischen Welt oftmals von Westen nach
               rungs- und Sehnsuchtsort. Das ist aber nicht       Osten. Auch während der allmählichen Vertrei-
               immer so gewesen. Ich möchte die Entwicklung,      bung und nach der endgültigen Vertreibung der
               wie Al-Andalus zu einem Sehnsuchtsort für          Juden und Muslime aus Al-Andalus wanderten
               Muslim*innen geworden ist, kurz skizieren:         viele nach Osten ab. Dieser Verlust wurde auch
               Al-Andalus war eigentlich mal ein mehr oder        beklagt, mir ist aber nicht bekannt, dass es hier
               weniger ganz normaler Ort bzw. ein Ort wie jeder   zu einer übergreifenden Ritualisierung dessen
               andere in der sog. „islamischen Welt“. Zunächst    gekommen ist.
               kamen mehrheitlich die Berber*innen, die vom
               afrikanischen Kontinent aus auf der Iberischen     Dahingegen scheint mir Al-Andalus in der
               Halbinsel gelandet sind. Sehr wahrscheinlich       Moderne zu einem solchen Sehnsuchtsort
               handelte es sich nicht nur um Berber*innen,        geworden zu sein. Der neue Fortschrittsglaube
               sondern um eine Vielzahl an verschiedenen          des 19. Jahrhunderts wurde auch von vielen
               Ethnien, die aus Afrika in Al-Andalus einwan-      Araber*innen und Muslim*innen aufgenommen.
               derten. Diese waren nicht unbedingt von            Am Anfang wurde die Moderne von ihnen als
               dem frühen muslimischen Eroberungswillen           europäisch geprägt wahrgenommen und dabei
               getrieben, der zu dieser Zeit schon erlahmt war.   nicht nur ängstlich, sondern zum Teil auch mit
               Hinzu kam, dass die Kalifen schon früh eine zu     Faszination betrachtet. Als man der eigenen
               schnelle Ausdehnung eingrenzen wollten, um die     Misere gewahr wurde, nicht selten unter den
               Kontrolle darüber und damit letztlich auch ihre    Vorzeichen des Kolonialismus, drängte sich
               eigene Macht zu sichern. Die Kalifen in Bagdad     die Frage auf, wie es denn so kommen konnte,
               hatten sich aufgrund der inneren Spannungen        dass die „Römer“ oder „Firinja“ (Franken), auf
               zur konkurrierenden Dynastie der Umayyaden,        einmal zivilisatorisch so einen Vorsprung entwi-
               mit der bis dahin bestehenden Ausdehnung des       ckelten. Das dürfte zumindest mit ein Grund
               Reichs und seinem Zentrum in Bagdad als Mitte      dafür gewesen sein, warum einige muslimische
               der Welt, zufrieden gegeben. Al-Andalus konnte     Reformer in der Moderne Al-Andalus als Sehn-
               darum aus ihrer Perspektive sozusagen den          suchtsort „entdeckt“ hatten. Das Interesse an
               Umayyaden überlassen werden, solange sie das       einer erneuten Rezeption vermeintlich unter-
               Kalifat nicht selbst bedrohten. Irgendwann haben   gegangener Denker wie Ibn Ruschd (Averoes)
               sich die Andalusier aber nicht nur vom Zentrum     kam auf. Schakib Arslan, ein reformorientierter

                                                                                                                      4
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
TOLEDO to do

               Schriftsteller, Historiker und Diplomat widmete    Aber 900 Jahre muslimische Präsenz auf der
               sich in vielen seiner Schriften diesen Fragen zu   Iberischen Halbinsel waren nicht nur ein Mythos,
               und entwickelte Al-Andalus als Sehnsuchtsort       sondern es gibt auch eine historische Grundlage,
               mit. Obwohl er sich sonst immer westlich klei-     an der europäische Muslim*innen bei ihrer
               dete, ließ er sich auch mal mit einem Turban und   Suche nach einer eigenen Identität anknüpfen
               in einem arabischen Gewand vor einem Hinter-       können. Denn junge Muslim*innen suchen heute
               grund der Großmoschee von Córdoba ablichten,       nach solchen positiven Anknüpfungspunkten,
               also der heutigen Kathedrale. Hiermit wollte       um eine neue muslimisch-europäische Identität
               er andeuten: Zu diesem „Goldenen Zeitalter“        zu schaffen. Hierzu werden auch Legenden
               wollen wir Araber*innen wieder hin. Auch der       geschaffen, bei denen es ausreicht, dass nur
               große ägyptische Dichter Ahmad, der zweitweise     eine Fingerkuppe Wahres dran ist. Hierzu eine
               sogar im spanischen Andalusien im Exil lebte,      kleine Anekdote: In den letzten Jahren war ich
               prägte dieses Bild von Al-Andalus mit. Und der     jedes Jahr mit der Bildungsreise in Andalusien.
               jüdisch-muslimische Reformer Muhammad Asad         Dort habe ich einmal im Café Leyla eine Dame
               verbrachte seinen Lebensabend in Andalusien        kennengelernt, die behauptete, den Tee mit
               und ließ sich auch dort begraben.                  denselben Zutaten und genauso herzustellen,
                                                                  wie es die alten Araber*innen gemacht haben.
               Dieses arabisch-muslimische Bild von               Da es diesen angeblich originalen Tee nur im
               Al-Andalus als Symbol für die Kombination          Café Leyla gab, kamen die Leute dort in Scharen
               von arabisch, muslimisch und fortschrittlich       zusammen. Nach zwei Jahren war der Tee so
               ist erhalten geblieben. Es wird nach meiner        bekannt, dass man ihn an jeder Ecke bekommen
               Einschätzung heute aber durch ein anderes          konnte. Keiner kann genau sagen, warum dieser
               Bild ein Stück weit überlagert, vielleicht sogar   Tee großartiger sein soll als anderer arabischer
               verdrängt. Denn heute gibt es in Europa eine       Tee – zugegeben: er schmeckt schon besonders
               andere Suche nach Al-Andalus als Sehn-             gut. Aber entscheidend ist, dass diese Legende
               suchtsort, nämlich als einen Ort der europäisch    einen Sinn erfüllt: sie hat das das Bedürfnis
               und muslimisch zugleich ist. Auch wenn die         nach diesem Sehnsuchtsort, nach einer eigenen,
               arabische Komponente nicht ganz verschwunden       tiefverwurzelten muslimisch-europäischen
               ist, ist inzwischen im kollektiven Wissen der      Kultur gestillt.
               europäischen Muslim*innen das Europäische
               viel wichtiger geworden. Doch genauso wie das      AY: Wenn ich an meine eigene Schulzeit
               europäische an Al-Andalus, so ist auch das Bild    zurückdenke, dann fehlte diese muslimische
               vom „Goldenen Zeitalter” ein Konstrukt und ein     oder jüdische Perspektive völlig. Über jüdische
               Mythos, der über Jahrzehnte beschworen und         Geschichte und wie das Judentum Europa
               immer wieder hinterfragt wurde. Ein Mythos hat     kulturell geprägt hat, für das Al-Andalus so
               aber auch seine Funktion. Wenn dieser richtig      bedeutsam war, haben wir nichts erfahren.
               kanalisiert wird, kann daraus ein wichtiger        Jüdinnen*Juden haben wir nur in Bezug zum
               Nutzen, vor allem auch für den Bildungskontext     Holocaust kennengelernt. Ich habe den Eindruck,
               und Schulen gewonnen werden. Diese Erfahrung       hier hat sich nichts geändert und auch heute
               habe ich bei meinen zahlreichen Bildungsreisen     noch lernen Schüler*innen nicht mehr über
               nach Andalusien gemacht, die ich mit vorwie-       diesen Teil unserer europäischen Geschichte. Sie
               gend muslimischen Studierenden und Akade-          lernen die Sicht der Minderheiten nicht kennen.
               miker*innen geführt habe. Hierbei habe ich         Sie lernen nicht, unsere Geschichte auch von den
               gemerkt, dass es bei jungen Muslim*innen ein       Rändern her zu denken und dadurch Zentrum
               starkes Bedürfnis nach diesem Sehnsuchtsort        und Rand bzw. Peripherie zu dekonstruieren.
               gibt. Die Bildungsreisen nach Andalusien waren     Hier versuchen wir mit dem Toledo-Rollenspiel,
               immer innerhalb kürzester Zeit ausgebucht.         in dem die jüdische Minderheit ein selbstver-

                                                                                                                     5
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
TOLEDO to do

                         ständlicher Teil des Stadtlebens ist, eine Lücke    rabbinischen Autoritäten waren im Osten, also
                         zu schließen. Juden*Jüdinnen werden in der          im Herrschaftsbereich von Bagdad, und diesen
                         Geschichte von Al-Andalus nicht als Rand oder       weiterhin gegenüber loyal zu bleiben hätte sie
                         randständig, sondern als mitten drin erfahren.      folglich in den Augen der konkurrierenden Kali-
                                                                             fate politisch verdächtig gemacht. Hinter jedem
                                                                             Kommunikationsverkehr, der vom Osten herkam,
                                                                             wurden subversive Geheimbotschaften vermutet,
                                                                             in denen womöglich ein Umsturz geplant wurde.
                                                                             Das sephardische Judentum entstand somit
                                                                             eigentlich in dem Moment, als sich ein Teil der
                                                                             Muslim*innen politisch selbständig gemacht und
                                                                             dadurch selbst zur Peripherie „degradiert“ hat.
                                                                             Dadurch wurde die sephardische Gemeinschaft
                                                                             gezwungen sich von jüdischen Gemeinschaften
                                                                             anderer muslimischer Länder, aber auch von
                                                                             denen Lateineuropas zu trennen und einen
                                                                             Sonderweg für sich zu entwickeln. Das ist etwas,
                                                                             was man auch heute noch spürt: Einerseits
                                                                             dieses sephardische Selbstbewusstsein, das sich
                                                                             durch die eigene Geschichte sehr ausgeprägt hat
                                                                             und gleichzeitig dieser sehr große Minderwertig-
                         FM: Hier kann ich wunderbar anknüpfen, denn         keitskomplex, da jüdische Geschichte in Europa
                         eigentlich ist die Peripherie der spannendere       vorrangig immer als aschkenasische Geschichte
                         Ort. Wichtig ist zu berücksichtigen, dass           betrachtet wurde. Auch im Staat Israel waren
                         Toledo seit 1070 unter christlicher Herrschaft      anfangs die Eliten Aschkenasim. Die Sephardim,
                         war. Al-Andalus, das ist die Geschichte des         die aus orientalischen Ländern gekommen
                         muslimischen Spaniens von etwa 711, als die         waren und die man heute auch als Mizrachim
                         Muslim*innen über die Meerenge von Gibraltar        bezeichnet, galten als eine Art zweite Klasse.
                         in Al-Andalus gelandet sind bis zum Fall von        Das jüdische Bild vom Sefarad ist sehr komplex:
                         Granada 1492. Die Blütezeit von Toledo unter        In der langen Geschichte von Al-Andalus waren
                         christlicher Herrschaft zeigt, gerade vor dem       die Sephard*innen immer „die da drüben“, die
                         Hintergrund eines verkürzten Verständnisses         zwar interessante Kontroversen ausfochten
                         der Reconquista, so wie es gerade durch rechte      und interessante Denker*innen hatten, aber
                         Gruppen, wie die Identitären massiv vorange-        diese wurden in der jüdischen Welt lange
                         tragen wird, dass die Geschichte der Reconquista    Zeit nicht rezipiert. Namen wie Abraham ibn
                         auch anders aussehen konnte. Von sephardi-          Daud oder Moses Maimonides klingen heute
                         scher Geschichte zu sprechen, hat auch damit        sehr spannend, standen aber zwischen dem
                         zu tun, dass sich das sephardische Judentum         13. Jahrhundert bis zur Aufklärung nicht
                         als eigenständige Tradition überhaupt erst mit      unbedingt im Zentrum des jüdischen Diskurses.
                         der Aufsplitterung des islamischen Reichs in        Sie wurden ebenso wie Al-Andalus erst im
                         verschiedene Kalifate entwickeln und entfalten      19. Jahrhundert wiederentdeckt. Im Zuge der
3 Moses ben Maimon
(Lateinisch: Moses       konnte. Mit der Spaltung und der Herausbildung      eigenen Emanzipationsbestrebung wurde es
Maimonides) (1134
– 1204), der aus         der Kalifate von Bagdad, Al-Qahira (bzw. Kairo)     für die Juden*Jüdinnen wichtig der christlichen
Al-Andalus kam und
später nach Ägypten
                         und dann noch dem Kalifat von Cordova gab es        Dominanzgesellschaft zu zeigen, dass auch sie
fliehen musste, war
der bedeutendste
                         drei Kalifate, in denen die jüdische Gemeinschaft   Anteil an diesem Europa hatten: Aus ihrer Mitte
jüdische Philosoph       in der Mitte des 10. Jahrhunderts vor einer         war jemand so bedeutsames für die europäische
des Mittelalters. Sein
Werk beeinflusste        schwierigen Situation stand: Alle ihre zentralen    Geistesgeschichte wie Maimonides3 gekommen,
auch die damalige
muslimische
und christliche
Philosophie.
                                                                                                                                6
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
TOLEDO to do

               der Aristoteles interpretieren konnte und der von     Religion ist folglich nur ein Teil des Problems.
               Thomas von Aquin, von Meister Eckhardt und            Ein anderer wichtiger Teil ist das politische
               Albertus Magnus gelesen wurde. Maimondes              Moment, das sich nicht nur durch Religion
               war einer von ihnen und darum hatten auch die         bestimmen lässt. Da aber die Teile eng mitein-
               Juden*Jüdinnen Anteil an diesem Europa und            ander verbunden und verwoben sind, ist es viel
               an dieser Aufklärung. Das Bedrückende ist,            komplexer als einfache historische Narrative
               dass dieses Einfordern an sich eine Apologie ist.     mit ihren eindeutigen, ethnisch und religiös
               Eine solche Erkenntnis gehört vielleicht zu den       klar eingegrenzten Identitäten abbilden. Dieses
               Dingen, die wir von diesen Orten lernen müssen.       komplexe Verständnis von Identität ist eine
               Ich würde darum statt von einer historisch-­          Fragestellung die im Planspielprojekt thema-
               kritischen Lesart eher von einer Warnung vor          tisiert werden sollte und auch für säkulare
               Projektionen sprechen, die mit solchen Orten          Schüler*innen ein wichtiges Lernziel ist. Von
               und den inneren Bildern, die wir von ihnen            Al-Andalus kann gelernt werden, wie wichtig die
               erschaffen, verbunden sind.                           Möglichkeit zur kulturellen Teilhabe und Chan-
                                                                     cengleichheit, unabhängig von der Religions-
               Weil die Geschichte von Al-Andalus so komplex         zugehörigkeit und Beheimatung, zum Beispiel
               ist, kann es in der Betrachtung der Geschichte        im Bereich von Bildung und Wissenschaft, ist.
               nicht nur um das Thema Religion gehen. In             Es ist manchmal erschreckend, wie naiv unsere
               großen Teilen geht es eigentlich gar nicht            Vorstellungen von Religion sind, die wir dann
               um Religion. Die religiöse Zuordnung ist nur          auf Personen und Gruppen projizieren. Und
               eine Konstruktion, die wir für die damaligen          auch viele muslimische, christliche und jüdische
               Menschen, in diesem Kontext Muslim*innen,             Gelehrte des Mittelalters haben eine ziemlich
               Juden*Jüdinnen, Christ*innen und weiß wer             genaue Vorstellung davon was Religion ist –
               noch, dort in dieser Zeit gelebt hat, benutzen.       nämlich eine Form von sozialer Organisation. Von
               Tatsächlich waren es sehr unterschiedliche            Al-Andalus kann man lernen, dass manchmal
               muslimische Gruppierungen, unterschiedliche           diese Bilder Projektionen sind und stellvertre-
               christliche Gruppierungen sowie unter-                tend für etwas stehen, was wir nicht haben – was
               schiedliche jüdische Gruppierungen. Gerade            wir verloren haben. In den Bildern und den damit
               im 13. Jahrhundert gab es in der jüdischen            verbundenen Traditionen liegt dann vielleicht
               Gemeinde von Toledo Spannungen zwischen               auch ein Wissen und ein Bewusstsein von diesen
               denjenigen, die aus dem muslimischen                  Dingen, die uns abhandengekommen sind, die
               Al-Andalus kamen und denjenigen, die seit             wir aber dadurch in gewisser Weise neu (re-)
               dem 11. Jahrhundert unter christlicher Herr-          konstruieren. Letztendlich ist Al-Andalus auch
               schaft lebten. Die jüdischen Andalusier*innen         eine solche Konstruktion. Wir gehen hier mit
               versuchten verzweifelt zu sagen: „Aber unsere         einer bestimmten Konstruktion der Geschichte
               Tradition ist auch wichtig – nicht nur eure“. Diese   um. Das heißt aber auch, dass wir Gestaltungs-
               Problemlage zog sich auch durch die anderen           möglichkeiten haben: Wir können entscheiden,
               Gruppen: Auch die arabisierten Christ*innen           wie wir die Geschichte von Al-Andalus erzählen
               auf der iberischen Halbinsel, die sogenannten         wollen.
               Mozaraber*innen, die ihre Liturgie und Ritus bis
               ins 13. Jahrhundert auf Arabisch durchführten,        AY: Bei der didaktischen Aufarbeitung und der
               wurden massiv von der katholischen Kirche             Gestaltung des pädagogischen Materials standen
               angegriffen, die von ihnen die Durchführung der       wir oftmals genau vor dieser Herausforderung,
               Liturgie in Latein forderte.                          die Komplexität der Geschichte von Al-Andalus
                                                                     im Rahmen der nur wenigen Hintergrundin-
                                                                     formationen, die im Rahmen des Spiels zur

                                                                                                                        7
Können wir aus der Geschichte des mittel alterlichen Al-Andalus etwas lernen?
TOLEDO to do

               Verfügung gestellt werden können, zu vermitteln,     außerordentlich bedeutsam. Hier lassen sich für
               was notwendiger Weise zu verkürzenden Bildern        die Diversity Education und wie wir uns heute
               führen muss. Da aber für uns aus einer Diversi-      mit Vielfalt auseinandersetzen Brücken zum
               täts- und Intersektionalitäts-Perspektive heraus     historischen Lernen schlagen. Allerdings muss
               gerade die Sensibilisierung für die vielfältigen     dabei immer klar bleiben, dass es sich bei der
               transkulturellen und transreligiösen Prozesse        diskutierten historischen Epoche, dem konkreten
               und Verflechtungen in Toledo ein zentrales           Ort nur um ein Fallbeispiel handelt.
               Bildungsziel darstellte, hatten wir genau darauf
               ein besonderes Augenmerk. Zu dieser schwer
               zu vermittelnden Komplexität gehörte auch,
               dass Toledo eben nicht Al-Andalus war, sondern
               unter christlicher Herrschaft stand und trotzdem
               weiterhin kulturell muslimisch geprägt war, da
               gerade hier ein christlicher Herrscher wesentlich
               dazu beitrug, dass kulturelle Errungenschaften
               des islamischen Al-Andalus beibehalten und
               weitergeführt wurden. Die Rollen im Spiel sind
               zwar den Religionsgruppen zugeordnet, haben
               aber ganz vielfältige Identitäten. Hierzu gehört
               auch, dass sie mehr oder weniger gläubig sind.
               Uns war wichtig gerade diese starren Bilder vor
               allem von Juden*Jüdinnen und Muslim*innen
               aufzubrechen und auszudifferenzieren.
                                                                    Gleichzeitig können wir natürlich nicht verhin-
               VG: Diesen wichtigen Aspekt möchte ich               dern, dass Schüler*innen mit ihren Prägungen
               aufgreifen, da es hierbei tatsächlich um „Diver-     und dadurch mit einem bestimmten Geschichts-
               sity within“ geht. Niemand ist nur Muslim*In         bedürfnis durch die Welt gehen. Durch eigene
               oder nur Jude*Jüdin. Durch viele andere Katego-      Erfahrungen, eigene religiöse Prägungen, die
               rien von Differenz, die man sich in für die dama-    Sozialisation und die Geschichten in der Familie
               lige Zeit denken kann, werden die religiösen         wird der Zugang zur Geschichte geprägt. Da
               Zugehörigkeiten gebrochen. Dass dieser Punkt         finde ich Bacem Dziris Beobachtungen sehr
               im Planspiel aufgegriffen wird, ist eine wirkliche   spannend, dass muslimische Studierende hier
               Qualität.                                            offensichtlich quasi ein Geschichtsbedürfnis
                                                                    empfinden und sich durch diese Widerentde-
               Aus der fachlichen Perspektive der Holocaust         ckung und dieses sichtbar machen ihres europä-
               Education kommend finde ich grundsätzlich die        ischen Erbes in Al-Andalus die Teilhabe an dem
               Frage nach dem „aus der Geschichte lernen“           europäischen Narrativ erhoffen. Hiermit sind wir
               auch sehr problematisch. Diese Sichtweise            im Grunde mitten drin in einem making the new
               führt zu Projektionen, Instrumentalisierung und      narratives. Heute geht es aus einer machtkri-
               vielen anderen sehr problematischen Dingen.          tischen, postkolonialen Perspektive darum, die
               Geschichte eignet sich nicht als Blaupause für       Fragen von den Peripherien her neu zu stellen
               das Hier und Jetzt. Aber die Auseinandersetzung      und vielleicht damit auch die Geschichte der
               mit Geschichte, beispielsweise mit der Frage         Aufklärung nochmals quasi quer zu bürsten.
               danach, wie in der Vergangenheit politisch,          Dies ist ein wichtiges und auch ein berechtigtes
               rechtlich, ökonomisch, ethisch und sozial mit        Unterfangen. Fragen nach dem geschichtskultu-
               Vielfalt umgegangen worden ist und das mit           rellen Wandel in der Einwanderungsgesellschaft
               einer machtkritischen Perspektive, finde ich         spielen auch gerade in den Diskussionen mit

                                                                                                                       8
TOLEDO to do

                          Lehrer*innen eine große Rolle. Hier beobachten        wen? Wer erzählt? Wer darf nicht erzählen und
                          wir, dass Lehrkräfte, die wir im Rahmen unserer       wird stumm gemacht? Die Behandlung oder
                          Forschung interviewen, sagen: „Ja, die muslimi-       Nichtbehandlung des Osmanischen Reiches ist
                          schen Jugendlichen, besonders die Jungs, die          ein gutes Beispiel dafür. Da werden die Schü-
                          kriegen irgendwann so einen „Osmanen-Tick“4           ler*innen, die eigentlich ein Interesse an dieser
                          und dann müssen wir mit denen das Osmanische          Geschichte mitbringen, stumm gemacht. Mit der
4 „Osmanen-Tick“          Reich machen.“ Die Lehrkräfte gehen mit diesem        Begründung, dass das nicht im Curriculum steht,
ist zitiert aus einem
Interview von Prof.       Geschichtsbedürfnis dann sehr unterschiedlich         wird es von Lehrer*innen abgebügelt. In diesem
Georgi.
                          um. Während die einen den Jugendlichen dann           Zusammenhang ist es wichtig, Schulbücher
                          beweisen wollen, dass die Idealisierung des           und curriculare Vorgaben in Hinblick auf die
                          Osmanischen Reiches „Humbug“ sei, sind                Frage der Repräsentation anzuschauen: Welche
                          andere darum bemüht, ihnen zu zeigen, dass            Geschichten werden erzählt und welche (noch)
                          sie eigentlich gar nichts darüber wissen. Sie         nicht? Welche sollten erzählt werden? Welchen
                          gehen dann davon aus, dass das Interesse der          Geschichten müssen wir zur Artikulation
                          Schüler*innen nur darauf beruht, die eigene           verhelfen? Damit ist nicht gemeint, dass wir für
                          türkisch-nationalistische Identität stärken zu        die muslimischen Schüler*innen muslimische
                          wollen. Bei einem Teil der Lehrkräfte gibt es ein     Geschichte, für christlichen Schüler*innen
                          starkes Bedürfnis die positiven Narrative über        christliche und so weiter brauchen. Das würde
                          das Osmanische Reich brutal zu dekonstruieren         eine Kulturalisierung und eine ethnische
                          und damit jede entsprechende Bezugnahme               Engführung bedeuten, die hoch problematisch
                          von Seiten der türkeistämmigen Schüler*innen          ist. Letztendlich glaube ich, müssen wir über die
                          quasi abzuwickeln. Es gibt andere Lehrkräfte,         divided memories hinaus auch shared memories
                          die davon ausgehen, dass, wenn dieses                 entwickeln und zu einer gemeinsamen Erzäh-
                          Geschichtsbedürfnis bei den Jugendlichen da           lung kommen. Die amerikanische Historikerin
                          ist, sie es aufgreifen und das Osmanische Reich       Susan Crane hat das, sehr schön auf den Punkt
                          im Unterricht thematisieren müssen. Auch das          gebracht mit ihrer Frage: „How do we take
                          Osmanische Reich ist in der Tat ein spannendes        ownership of history?“5 Wie eignen wir uns
                          historisches Beispiel, an dem der Umgang mit          Geschichte an? In dem wir sie erlebt haben? In
                          Vielfalt diskutiert werden kann. Es eignet sich als   dem wir sie erzählen und weitererzählen? Indem
5 Susan Crane,            ein historisches Fallbeispiel, da es tatsächlich      wir sie bezeugen? Oder einfach nur: „because
Writing the Individual
Back into Collective      bei Jugendlichen, die aus muslimischen Fami-          we care about this history.“ Grundsätzlich
Memory, in: American
Historical Review 102     lienkontexten stammen und hier ein Zugehörig-         sollten wir als Menschen sagen können: „we can
(1997) 4, S. 1372-1385.
                          keitsgefühl empfinden, ein Geschichtsbedürfnis        care about any kind of history“. Es sollte nicht
                          befriedigt und ein tieferes Interesse auslöst.        abhängig von meiner Herkunft sein, ob ich mich
                          Es ist wirklich spannend, wie kontrovers der          für jüdische Geschichte oder den Holocaust, das
                          Umgang der Lehrkräfte mit dem Osmanischen             Dritte Reich oder für Al-Andalus interessiere.
                          Reich ist. Al-Andalus ist möglicherweise ein          An dieser Stelle werden die transkulturellen
                          ähnliches Beispiel. Gerade dann, wenn wir             Momente von Geschichtsaneignung deutlich und
                          merken, dass da ein Geschichtsbedürfnis ist,          es wird ambivalent und komplex: Wie können
                          gehört das als Teil einer kritischen Auseinander-     wir mit dieser Komplexität und Ambiguität einen
                          setzung mit Geschichte und Erinnerungskultur in       Geschichtsunterricht konzipieren und historische
                          den Geschichtsunterricht integriert.                  Ereignisse in die Bildungsarbeit einbetten? Es
                                                                                gilt mit der Herausforderung umzugehen, wie wir
                          Diversityansätze im Kontext von Geschichte            unabhängig von Herkunft und Prägung Menschen
                          befassen sich zum Beispiel damit, wie                 dazu anregen können, dass sie Geschichte
                          Geschichte repräsentiert wird: Wer spricht über       annehmen im Sinne von „caring about history“.

                                                                                                                                    9
TOLEDO to do

                           AY: Eine europäische Schulbuchstudie6 zur              mich in solchen Fällen durch ein umsichtiges
                           Darstellung von Islam und Muslim*innen in              Vorgehen auch eine kritisches Betrachtung
                           Geschichts- und Politikbüchern kam zu dem              der Geschichte anzuregen. Hier darf man aber
                           Ergebnis, dass auch deutsche Schulbücher               nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Es
                           vereinfachende, essentialisierende Darstel-            ist ähnlich wie beim Ablösungsprozess von den
6 Georg-Eckert-Ins-        lungen des Islams vermitteln und Muslime als           Eltern, in dem es ja auch keinen Sinn macht den
titut für internationale
Schulbuchforschung/        vorwiegend religiös markiertes Kollektiv zum           Kindern zu sagen: „Du musst kritisch gegenüber
Kröhnert-Othman,
Susanne; Kamp,             außereuropäischen „Anderen“ machen. Es wird            deinen Eltern sein“. Irgendwann werden sie in
Melanie; Wagner,
Constantin (2011):         ein historisches Bild vermittelt, in dem der Islam     der Pubertät ohnehin in eine kritische Distanz
Keine Chance auf
Zugehörigkeit? −           und ein modernes Europa zwei, sich gegenseitig         übergehen, und vielleicht irgendwann ein
Schulbücher europä-
ischer Länder halten       ausschließende, in sich homogene Einheiten             gesundes Mittelmaß zwischen Aneignung und
Islam und modernes
Europa getrennt.
                           sind, die vor allem konfrontative Berührungs-          Veränderung finden. Es gibt mehrere Möglich-
Ergebnisse einer           punkte, jedoch so gut wie keine Überschnei-            keiten um eine kritische Geschichtsreflexion
Studie zu aktuellen
Darstellungen von          dungen oder Ähnlichkeiten aufweisen. Anknüp-           der sog. „islamischen Geschichte“ zu stiften. Es
Islam und Muslimen
in Schulbüchern            fend an diese Studie würde ich gerne die Frage         gibt nahezu kein Thema, zu dem es nicht auch
europäischer Länder.
Georg-Eckert-Institut      in die Runde geben, ob es für Sie Sinn machen          eine hochinteressante Kontroverse gab. Auch die
für Internationale
Schulbuchforschung.        würde, Al-Andalus stärker nicht nur im Rahmen          muslimische Geschichte ist reich an Fehlern –
Download:
www.repository.gei.de/     der außerschulischen Bildung, wie durch                und das sollte sie auch bleiben dürfen.
handle/11428/172
                           unser Projekt, sondern auch in Schulcurricular
                           und -Bücher aufzunehmen?                               HZ: Ich erinnerte mich gerade an die 1968
                                                                                  erschienene Schrift von Habermas „Erkenntnis
                           VG: Zunächst passt die Geschichte von                  und Interesse.“ Hier hat Habermas herausge-
                           ­Al-Andalus unter dem Aspekt der Kulturkontakte        arbeitet, dass den Fokus, mit dem wir eine Zeit
                            wunderbar in die historische Bildung. Darüber         betrachten, die Fragen beispielsweise, die wir an
                            hinaus fände ich es vor dem Hintergrund des           die Geschichte richten, nie ohne ein bestimmtes
                            Geschichtsbedürfnis muslimischer Jugendlicher         persönliches Interesse sind: Was ist jetzt mein
                            sinnvoll, Al-Andalus stärker in Geschichtsbü-         Erkenntnisinteresse? Für wen tue ich das?
                            chern zu verankern. Dass dieses Geschichtsbe-         Dziri hat davon erzählt, wie möglicherweise die
                            dürfnis besteht, machen Dziris Beobachtungen          Interessenlage von muslimischen Studierenden
                            mit seinen Studierenden, aber auch die Erfah-         mit Fragen ihrer eigenen religiösen Identitätsbil-
                            rungen der Toledo Planspiele an Schulen deut-         dung heute in Europa zusammenhängen, auch
                            lich. Für die Zukunft plädiere ich unbedingt dafür,   wenn die Religion im Al-Andalus des Mittelalters
                            als ein weiteres Beispiel für das transkulturelle     im puristischen Sinn nicht dem entspricht, was
                            historische Lernen und eine islamisch-euro-           wir heute unter Religion verstehen. Das gilt
                            päische Kontaktgeschichte die Geschichte des          nicht nur für Muslim*innen, sondern war auch
                            Osmanischen Reichs aufzunehmen. Damit diese           im christlichen Teil so: Die meisten Menschen
                            einseitig negativen Bilder über die Muslim*innen      konnten nicht lesen und ihre Theologie bestand
                            nicht so dominant bleiben, sollten genau solche       daraus, dass sie die Deckengewölbe der
                            Kontaktgeschichten miteinbezogen und ein Stück        Kirchen betrachteten und sahen, das Gott auf
                            weit positiv erzählt werden.                          einer Wolke sitzt. Wir können unser heutiges
                                                                                  Verständnis von Religion und theologischem
                           BD: Ein solches Geschichtsbedürfnis bemerke            Bewusstsein damit nicht vergleichen und
                           ich auch an meinen Studierenden in Osnabrück,          sollten das nicht ins Mittelalter projizieren. Es
                           Frankfurt und Innsbruck. Hier kommt es regel-          sollte sichtbar werden, dass es eine islamisch
                           mäßig vor, was sonst eher selten ist, dass nach        geprägte Hochkultur – nicht nur, aber auch – in
                           dem Unterricht weiter gefragt wird. Ich bemühe         Europa gab. Ich kann mir vorstellen, dass das für

                                                                                                                                       10
TOLEDO to do

               europäische Muslim*innen wichtig ist, die zwar       muslimische Al-Andalus bezogen, sondern so
               in den meisten europäischen Ländern formal           auch für überall anderswo gültig sind, da es
               vor dem Gesetz gleich sind, denen aber oftmals       damals nirgendwo eine Trennung von Religion
               die gesellschaftliche Anerkennung versagt            und Staat und eine säkulare Politik gab. Die
               wird. Dieser Aspekt spielt auf der Ebene von         vorsäkularen politischen Verhältnisse – das kann
               Individual- und Sozialpsychologie eine Rolle und     man nicht nur Al-Andalus anlasten, sondern
               ist auch didaktisch wichtig: Erkundungen in eine     das war in allen anderen europäischen Gebieten
               Zeit zu machen, für die sich Muslim*innen nicht      damals nicht anders – sind insgesamt nicht
               schämen müssen, auf die sie stolz sein können.       pluralitäts- bzw. diversitätsfähig und darum nicht
                                                                    übertragbar auf die die heutige Zeit.

                                                                    Aus einer didaktischen Perspektive der Unter-
                                                                    richts- und Bildungsplanung sind folgende
                                                                    Fragen zentral: Für wen entwerfe ich Lernpro-
                                                                    zesse? Was und welche Gruppe soll was daraus
                                                                    ziehen? Mir hat mal eine Nürnberger Lehrerin
                                                                    gesagt: „Was soll ich hier machen? Ich habe
                                                                    28 Schüler*innen und 14 Nationen und Ethnien
                                                                    sind hier vertreten“. Alle diese Schüler*innen
                                                                    haben ihren jeweils eigenen Hintergrund und
                                                                    Sozialisation und lernen auf ihre Weise. Ich finde
                                                                    die Herausforderung von solchen Curricula
                                                                    liegt darin, den unterschiedlichen Herkünften
                                                                    der Schüler*innen gerecht zu werden und sie
                                                                    trotzdem auf ein Ziel hinzuführen. Dieses eine
                                                                    gemeinsame Ziel kann kein anderes sein, als
               Doch wie ist das für Christ*innen, die mit           eine gewisse Reflexivität zu erreichen, mitei-
               Al-Andalus wahrscheinlich durch einen Spanien­       nander streiten zu lernen ohne sich die Köpfe
               urlaub in Berührung gekommen sind: was ist           einzuschlagen und am Ende eben die Lektion
               ihr Zugang? In Reiseführern werden die mauri-        zu lernen: Es kann Wahrheitsansprüche geben,
               schen Stätten als Hochkultur wertschätzend           die ich vertrete. Ich darf sie nur nicht für alle
               dargestellt und als Tourist*in ist man von der       anderen geltend machen, sondern ich muss sie
               maurischen Ästhetik beeindruckt, denn sie            für mich und meine Gruppe behalten. Ich muss
               verbreitet eine wunderbare Stimmung. Diese           die anderen nach ihrem Gusto leben lassen
               christlich-verklärte Perspektive auf die Ästhetik    können.
               der maurischen Kultur ist häufig zu finden. Doch
               mit dem Begriff maurisch wird der Begriff Islam      BD: Autobiografisch habe ich selbst sehr oft
               und damit die religiöse Dimension vermieden.         die Erfahrung gemacht, dass „unsere“ Kultur
               Sobald man den eben noch schwärmenden                auf letztlich zwei Quellen zurückgehe: Die
               Tourist*innen sagt, das ist auch alles Islam, kann   jüdisch-christliche und die griechisch-römische.
               sich die eben noch wertschätzende Stimmung           Wenn man das als junger Muslim rezipiert,
               schnell ändern.                                      bekommt man den Eindruck als würde man wie
                                                                    ein „Barbar“ wahrgenommen werden. Entweder
               Wichtig ist, dass die von mir aus der Perspektive    ist man inexistent oder wird abgewertet – keine
               der historisch-kritischen Methode erwähnten          gute Ausgangslage. Ich selbst musste mir als
               kritischen Punkte sich nicht spezifisch auf das      Schüler also selbst meine Bezüge schaffen, in

                                                                                                                         11
TOLEDO to do

               nahezu jedem Unterrichtsfach. Es ist mir nicht      wiederfinden. Als drittes halte ich es für
               immer gut gelungen. Meine Hausarbeit zu den         wichtig, deutlich zu machen, dass es auch eine
               Islambezügen französischer Philosophen wie          gemeinsame jüdisch-muslimische Geschichte
               Voltaire und Montesquieu z. B. war sicher über-     und gemeinsame Erfahrungen gibt, die nicht
               interpretiert, und wurde entsprechend bewertet.     Nah-Ost-Konflikt heißen. Damit nicht ständig
               Aber ich musste das machen, weil ich sonst in       eine Reduzierung auf die Konflikte stattfindet,
               einem kulturellen Vakuum und in der Bedeu-          habe ich ein starkes Interesse, auch andere
               tungslosigkeit versunken wäre. Ich denke ähnlich    Geschichten mit in das Gespräch hinein zu holen.
               verhält es sich noch heute bei vielen deutschen     Abschließend möchte ich noch eine Idee
               Muslimen und ihrer Goethe-Rezeption. Ich            einbringen: die Geschichte von Al-Andalus hat
               glaube, es ist immens wichtig diese Themen im       sehr viel mit Vielsprachigkeit zu tun und hiermit
               Curriculum zu verankern und im Unterricht gut       pädagogisch zu arbeiten, bietet viele, gerade
               aufzubereiten, denn inexistent sind deutsche        auch für heute spannende Reflexionsmöglich-
               Muslime nun mal nicht und Abwertungen               keiten und eine Chance für die Verbesserung
               möchten sie natürlich auch nicht erfahren.          des Verständnisses füreinander: Was bedeutet
                                                                   es Ideen und Konzepte in andere Sprachen
               FM: Das kommt mir als jüdischer Schüler             zu übertragen? Verstehen wir wirklich das
               bekannt vor. Auch wenn es lange her ist, kann       Gleiche in den Sprachen, die uns wichtig sind?
               ich mich noch daran erinnern: Entweder war          Ich mache zum Beispiel an der Universität eine
               es etwas mit Brunnenvergiftung oder es war          Übersetzungsübung mit jüdisch-arabischen
               die Shoa, anders kamen wir Juden*Jüdinnen           Manuskripten, die eigentlich immer eine der
               nicht vor. Aus drei Gründen ist es darum wichtig,   schönsten Übungen ist. Die Studierenden aus der
               Geschichte und Geschichten beispielsweise           Islamwissenschaft können kein Arabisch und die
               aus Al-Andalus oder Toledo in das Curriculum        aus den jüdischen Studien kein Hebräisch lesen.
               zu integrieren. Denn wenn es auch nicht allen       Gemeinsam „puzzeln“ sie sich die Übersetzung
               Schüler*innen Recht gemacht werden kann, da         dann zusammen, denn die einen können es
               manchmal zu viele Bedürfnisse in der Klasse         entziffern und die anderen wissen was da steht.
               sind, kann mit einer Exemplarität gearbeitet
               werden. Ein unwahrscheinliches, diverses            AY: Das erinnert mich sehr stark an eine Aktivität
               Szenario kann exemplarisch für etwas stehen. Es     aus unserem Toledo Planspiel: hierbei kommen
               muss sich nicht jeder und jede automatisch eins     Mitglieder aus den drei Religionen zusammen
               zu eins in dem Beispiel wiederfinden, und doch      und sie bekommen die Aufgabe, ein kurzes
               besteht eine gewisse Anschlussfähigkeit über        Zitat von einem arabischen Philosophen der
               Analogien, die helfen können, genau die Kompe-      damaligen Zeit in eine Sprache ihrer Wahl zu
               tenzen einzuüben, die gefordert sind.               übersetzen. Diese gemeinsame Aktivität bringt
                                                                   den Teilnehmer*innen immer wahnsinnig viel
               Der zweite Punkt ist, dass jüdische Geschichte      Spaß und jedes Mal kommt dabei ein ganz
               nicht ständig auf drei Dinge reduziert werden       phänomenales Ergebnis heraus.
               sollte. Benny Fischer, der langjährige Präsident
               der European Union of Jewish Students, hat mal      Nun sind wir am Ende der Podiumsdiskussion
               auf einer Podiumsdiskussion treffend gesagt:        angekommen und ich bedanke mich ganz herz-
               „Wir werden immer nur auf drei Dinge reduziert.     lich bei den Podiumsgästen für ihre spannende
               Das sind Israel, die Shoa und Antisemitismus.       Beiträge.
               Etwas anderes gibt es nicht.“ Es ist wichtig,
               dass es eben auch andere jüdische Geschichten
               gibt, in denen sich auch andere Erfahrungen

                                                                                                                        12
TOLEDO to do

               Impressum

               Herausgegeben von:

               LIFE Bildung Umwelt Chancengleichheit e. V.
               Rheinstraße 45 /46, 12161 Berlin
               www.life-online.de | www.toledo-planspiel.de

               V.i.S.d.P.
               Mara Höhl / LIFE e. V. Berlin
               Redaktion und Text: Aliyeh Yegane,
               Projektleitung TOLEDO to do / LIFE e. V.

               Gestaltung: Peter Frey | kursiv, Berlin
               Fotos Podiumsteilnehmer*innen: metinyilmaz.de
               Fotos "Übersetzungsaktivität" LIFE e. V.

                                                               Ergebnisse der
                                                               Übersetzungsaktivität
                                                               aus dem Toledo to do
                                                               Planspiel.

                                                                                13
Sie können auch lesen