Europa in und nach der Corona-Krise - Europtimus
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ÖGfE Policy Brief 10’2020 Europa in und nach der Corona-Krise Von Markus Pausch Wien, 16. April 2020 ISSN 2305-2635 Handlungsempfehlungen 1. Die EU braucht eine dialogorientierte Krisenkommunikation. 2. Die EU braucht mehr Kompetenzen im Sozial- und Gesundheitsbereich zur besseren Prävention. 3. Die EU braucht eine Reformdebatte im großen Stil. Zusammenfassung Die Europäische Union scheint aus dem Krisenmo- wenn die Mitgliedstaaten mehr Spielraum für Notfall- dus nicht mehr herauszukommen. Seit mehr als einem maßnahmen haben, so hat die EU doch von der Öf- Jahrzehnt reiht sich eine unerwartete Herausforderung fentlichkeit weitgehend unbemerkt maßgeblich zum an die andere. In einer dauerhaften latenten Krise, die Krisenmanagement beigetragen. Ihr Problem liegt durch ungelöste Struktur- und Prozessfragen (etwa in weniger in der akuten Krisenreaktion als in Versäum- der Asyl- und Migrationspolitik und als Folge der Eu- nissen der Vergangenheit und darin, dass sie in der ro-Krise etc.) gekennzeichnet ist, stellt die akute Krise Propagandaschlacht verschiedener anti-europäischer rund um COVID-19 die Grundprinzipien der Union wei- Akteure nicht durchkommt und noch dazu von man- ter in Frage. In den letzten Wochen zogen sich manche chen Regierungen der Mitgliedstaaten öffentlich des Mitgliedstaaten ohne Abstimmung auf ihre eigene Po- Versagens beschuldigt wird. Darüber hinaus hat sie litik zurück, schlossen Grenzen und verhängten Aus- kaum Kompetenzen im Gesundheits- und Sozialbe- fuhrverbote. Die EU wurde gleichzeitig immer wieder reich, hat wie in anderen Bereichen zu sehr auf ökono- als untätig kritisiert. Doch dieser Vorwurf muss bei ge- mische Effizienz gedrängt und bräuchte dringend eine nauer Betrachtung stark relativiert werden. Denn auch transparente sowie breit geführte Reformdebatte. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 1
ÖGfE Policy Brief 10’2020 Europa in und nach der Corona-Krise Einleitung1 und wenn einzelne Staaten diese Krise nutzen, um in autoritäre Verhältnisse abzudriften, dann werden Als der römische Feldherr Publius Quinctilius Va- anti-europäische Kräfte gestärkt und eine Renatio- rus im Jahre 9 n. Chr. in der nach ihm benannten nalisierung vorangetrieben. Gleichzeitig gibt es aber Schlacht gegen die Germanen eine verheerende auch die Theorie, dass die EU seit ihren Anfängen Niederlage einfuhr, soll Kaiser Augustus ausgeru- aus Krisen gestärkt hervorgehe und danach nötige fen haben: Varus, Varus, gib mir meine Legionen Reformen leichter durchsetzbar wären. Ob das aller- wieder! In Anbetracht der Corona-Krise ist man als dings auch diesmal eintritt, hängt von vielen Fakto- ironie-affiner Pro-Europäer geneigt, den Spruch ren ab. Aus der Corona-Krise können jedenfalls jetzt leicht abzuwandeln in „Virus, Virus, gib mir mein Eu- schon Schlüsse für die EU gezogen werden. ropa wieder!“. Denn nach ohnehin schweren Jahren für die EU scheint die Pandemie den letzten Rest Die akute Krise während der des europäischen Zusammenhalts, der Basis des latenten Krise gesamten Integrationsprozesses, zerstört zu ha- ben. Zumindest vermitteln viele PolitikerInnen und „Seit 2008 kann man von einer raschen Ab- Medien seit Ende Februar, Anfang März 2020 das folge und einem Aufeinandertreffen von meh- Bild, die EU würde versagen (vgl. Bild 29.03.2020), reren Krisen sprechen, also einer Entwick- es gäbe nur Nationalstaaten auf diesem Kontinent, lung, die man so bisher nicht kannte.“ aber keine funktionierende supranationale Union, geschweige denn eine supranationale Solidarität Es gibt die gut gestützte These, dass der eu- (Die Welt 16.03.2020). Dieser Eindruck entsteht in ropäische Integrationsprozess durch die Dialek- erster Linie durch eine nationalstaatlich dominierte tik von Krise und Reform vorangekommen sei (vgl. Kommunikationsstrategie und eine bereits länger Weidenfeld 2017). Das Argument lautet in etwa so: andauernde Propagandaschlacht, in der die Euro- Erst durch Krisen sei in der Vergangenheit der Re- päische Union nicht mithalten kann (vgl. Der Stan- formdruck groß genug geworden, um die entschei- dard 8.04.2020). denden Akteure, insbesondere die Regierungen der Mitgliedstaaten, zum Handeln zu bringen. An Die Corona-Krise zeigt tatsächlich, dass die EU Beispielen mangelt es nicht. Die Eurosklerose der weit davon entfernt ist, im Notfall wie eine Regierung 1970er und frühen 1980er Jahre war der Grund für handeln und kommunizieren zu können. Erstens, die Reformen, die der Kommissionspräsident Jac- weil sie die Kompetenzen dazu nicht hat, zweitens, ques Delors mit Unterstützung des französischen weil es an Loyalität und Solidarität mangelt und drit- Präsidenten Francois Mitterrand und dem deut- tens, weil ihr Krisenmanagement von manchen Mit- schen Kanzler Helmut Kohl eingeleitet hat und die in gliedstaaten unterminiert wird, etwa wenn Grenzen den EU-Vertrag von Maastricht mündeten. Damals ohne Absprache geschlossen oder Ausfuhren in den hatte die EG/EU 12 Mitgliedstaaten. Die verschie- Binnenmarkt gestoppt werden. Daraus resultieren denen Probleme und Herausforderungen am Ende Gefahren für den Zusammenhalt der EU. Wenn die der 1990er und Anfang der 2000er Jahre führten EuropäerInnen den Eindruck gewinnen, die Union zum europäischen Konvent, an dem neben Vertre- bringe ihnen nichts, sondern ließe sie sogar im Stich, terInnen von EU-Kommission und Europäischem Parlament auch Regierungsmitglieder und Abge- ordnete der damals 15 Mitgliedstaaten sowie der 10 1) Stand des Policy Briefs Anfang April 2020. Erweiterungsländer teilnahmen (vgl. Norman 2004). 2 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 10’2020 Der daraus hervorgegangene Verfassungsvertrag latenten und einer akuten (vgl. Merkel 2016). Die la- scheiterte zwar in Frankreich und den Niederlanden tente zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich über in Referenden, wurde aber 2009 in etwas abge- einen längeren Zeitraum hin entwickelt und einen schwächter Form im Lissabonner Vertrag akzeptiert gewissen Handlungsspielraum lässt, während die und von dann bereits 27 Staaten ratifiziert. Doch akute plötzlich auftritt und rasches Handeln erfor- dieser Vertrag von Lissabon machte die Union kei- dert. Die Eurosklerose der 1970er und 1980er Jah- neswegs krisenfest. Seit 2008 kann man sogar von re etwa kann als latente Krise betrachtet werden, einer raschen Abfolge und einem Aufeinandertreffen die sich über viele Jahre hinzog und Zeit bot, darauf von mehreren Krisen sprechen, also einer Entwick- durch Vertragsreformen zu reagieren. Die Corona- lung, die man so bisher nicht kannte. Ab 2010 traf Krise hingegen ist ohne jeden Zweifel eine akute, in Europa die so genannte Euro-Krise, die in sich als der umgehend gehandelt werden muss. Banken-, Schulden- oder Wirtschaftskrise auftrat und Folge einer globalen Finanzkrise war. 2014 folg- „Was die Lage 2020 daher so besonders te die Ukraine-Krise, die einen Krieg an den Gren- schwierig macht: Die akute Krise kommt in zen der EU mit sich brachte und viele Menschenle- einer latenten Krise, die bereits seit einigen ben kostete sowie das Verhältnis zu Russland weiter Jahren andauert.“ und nachhaltig verschlechterte. Die Jahre 2015 und 2016 waren geprägt von der so genannten „Flücht- Für die Europäische Union ist es in beiden Kri- lingskrise“, die man besser als Krise der europäi- senformen schwierig, das Heft des Handelns in schen Wertegemeinschaft bezeichnen kann. Durch die Hand zu bekommen. Sowohl latente Krisen als den restriktiven Kurs vieler Mitgliedstaaten wurden auch akute kann sie nur dann erfolgreich angehen, Grundprinzipien des europäischen Einigungswerks wenn die Mitgliedstaaten mitziehen. Denn die Union in Frage gestellt und nationale Alleingänge vollzo- selbst ist weit davon entfernt, wie ein Staat agieren gen. Hinzu kamen Terrorattacken von politischen zu können. Sie ist ein Mix sui generis zwischen einer und religiösen Fanatikern in verschiedenen EU- supranationalen Föderation und einer internationa- Staaten sowie das Austrittsreferendum der Briten, len Organisation (vgl. Hrbek 2003). Wie man an vie- das im Anschluss zum BREXIT führte. Die Wahl Do- len Beispielen der letzten Jahre gesehen hat, sind nald Trumps zum neuen US-Präsidenten und die ihre Handlungsoptionen limitiert. Wenn einzelne Mit- damit verbundene Infragestellung der engen Bezie- gliedstaaten dann noch auf stur schalten und sich hungen zu den USA kann als weitere kritische No- gegen europäische Entscheidungen querlegen, wie vität nach 1945 betrachtet werden. Außerdem wird das etwa bei der Verteilung von Geflüchteten der erstmals gegen zwei Mitgliedstaaten der Artikel 7 Fall war, dann wirkt die Union schnell wie eine lah- bemüht, und zwar gegen Polen und Ungarn. Kei- me Ente. In der öffentlichen Debatte heißt es dann ne dieser zuletzt genannten Entwicklungen wurde stets: Die EU versagt oder die EU-Kommission tut bisher von der Union durch größere Reformbemü- nichts usw. In latenten Krisen kann dieser Eindruck hungen bewältigt. Insofern scheint die Dialektik von auch entstehen, aber in akuten Krisen ist er umso Krise und Reform in den letzten Jahren nicht mehr dramatischer. Die krisenhaften Entwicklungen der zu wirken oder zumindest noch nicht absehbar. Und letzten Jahre, die oben genannt wurden, waren zum in genau dieser Situation trifft die Welt eine globale Teil durchaus akut, aber sie hatten sich seit einigen Pandemie und bringt damit auch das ohnehin ange- Monaten doch eher in eine latente Krise gewandelt. schlagene Europa ins Wanken. Was die Lage 2020 daher so besonders schwierig macht: Die akute Krise kommt in einer latenten Kri- Was als Krise zu bezeichnen ist und was nicht, se, die bereits seit einigen Jahren andauert. ist indes gar nicht so einfach zu beantworten. Im Rahmen der Europäischen Einigung kann man von In Anbetracht dessen verringern sich zumindest mindestens zwei Formen der Krise ausgehen, einer derzeit die Aussichten auf eine ever closer union, Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 3
ÖGfE Policy Brief 10’2020 eine supranationale Föderation. Hätten wir es nur wenn sie ebenso gefährlich sein können. Bei aku- mit latenten Krisen zu tun, dann wäre die Gefahr ei- ten Krisen war die Reaktion Europas die längste Zeit nes raschen und radikalen nationalen Rückzugs ge- fast ausschließlich von den Mitgliedstaaten abhän- ringer. Die EU ist ja trotz aller Schwierigkeiten geübt gig. Diese traten in besonderen Situationen zusam- in langen Aushandlungsprozessen und dem Finden men und stimmten ihr Vorgehen mehr oder weniger von Kompromissen. Im akuten Krisenfall sieht es aufeinander ab. In einigen Fällen veränderten solche schlechter aus: Da ziehen sich die Mitgliedstaaten Krisen tatsächlich auch die Strukturen und Abläufe zurück, sind oft sogar bereit, europäische Regelun- der Europäischen Gemeinschaft. So ist etwa die In- gen eigenmächtig und ohne Abstimmung auszu- stitutionalisierung des Europäischen Rates 1974 auf setzen (vgl. Die Zeit 16.03.2020). Ihre Möglichkei- die Zeit nach dem Ölschock von 1973 zurückzufüh- ten, schnell und wirksam einzugreifen, sind deutlich ren. Bis dahin gab es kein Gremium für die Staats- stärker als jene der Union. Sie können polizeilich und Regierungschefs im Rahmen der Europäischen und militärisch vorgehen, während die EU über kei- Einigung. Da man den supranationalen Gemein- ne eigenen Truppen verfügt. Sie können rasch Not- schafts-Institutionen in den Jahrzehnten davor nicht fallgesetze beschließen oder -verordnungen in Kraft genügend Kompetenzen für Krisenphasen überlas- setzen, während die EU dazu lange Abstimmungen sen wollte, führte man mit dem Europäischen Rat zwischen Institutionen und Mitgliedstaaten benötigt. ein vorerst informelles intergouvernementales Or- Sie können Ausgangsbeschränkungen verhängen gan ein (Bulmer/Wessels 1987). Dies geschah auf und alle Abweichungen von Bestimmungen effizient Initiative des französischen Präsidenten Valéry Gis- und rasch sanktionieren. Kurz: Ein Mitgliedstaat hat card d’Estaing. Und dafür war es nötig, die kleine- in seinem Handlungsbereich eine breite Palette an ren Mitgliedstaaten zu überreden, dass ein solches Maßnahmen, die er im Notfall relativ rasch umset- Leadership-Gremium nicht ausschließlich von den zen kann – und er hat die Mittel und Möglichkeiten, großen Staaten dominiert würde. Die Aufgabe des für die Einhaltung dieser Maßnahmen zu sorgen. Europäischen Rats sollte die Bestimmung der all- Das alles gilt nicht in gleichem Maße für die EU. Und gemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritä- trotzdem hat sie in der Corona-Krise nicht versagt. ten der Europäischen Union sein. Seit 1992 genießt Ihr Hauptproblem liegt eher in einer Propaganda- er offiziellen Status, seit 2009 ist er ein offizielles schlacht, die schon länger andauert sowie in der EU-Organ. Neben den regulären Treffen treten die Unfähigkeit oder dem Unwillen der Mitgliedstaaten, Staats- und Regierungschefs in außergewöhnlichen der Union ihre Erfolge zu gönnen. Situationen zusammen, etwa in der Euro-Krise, nach Terrorattacken, im Zuge des BREXIT, in der „Das Hauptproblem der EU liegt eher in Migrationskrise oder eben jetzt in der Corona-Krise. einer Propagandaschlacht, die schon länger Dies zeigt, dass aus den Krisen der 1970er Jahre andauert sowie in der Unfähigkeit oder dem ein ständiges Organ mit gewissen Krisenkompeten- Unwillen der Mitgliedstaaten, der Union ihre zen geworden ist. Bis heute ist dieses intergouver- Erfolge zu gönnen.“ nementale Gremium der zentrale Akteur in akuten Angelegenheiten. Der Krisenmechanismus des Europäischen Rates und die Rolle der Als Folge der Terrorattacken in New York 2001, Europäischen Kommission in Madrid 2004 und in London 2005 sowie des Tsu- namis im Indischen Ozean 2004 verabschiedete Über Jahrzehnte hinweg gab es auf EU-Ebene der Europäische Rat 2006 die so genannten Kri- gar keinen echten Krisenmechanismus mit einem senkoordinierungsvorkehrungen, die den Informati- klaren Ablauf. Für latente Krisen ist das verständ- onsaustausch und die Koordination zwischen den lich, weil sich diese immer über längere Zeiträume Mitgliedstaaten in Krisenfällen beschleunigen und hinweg ziehen und keinen Notfall darstellen, auch verbessern sollten. 2013 wurde daraus die Integ- 4 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 10’2020 rierte Regelung für die politische Reaktion auf Kri- in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten bzw. sen (IPCR). Diese sollte für mehr Flexibilität sorgen dem Europäischen Rat. Im Falle der Corona-Krise und relevante Strukturen stärken (Website Europäi- ist alles genau nach diesem Schema abgelaufen. scher Rat). Für das Management von Notfällen wur- de außerdem bereits im Oktober 2001 als Folge von Die Corona-Krise und die Reaktion 09/11 ein EU-Zivilschutz-Mechanismus entwickelt der EU und 2013 ein Zentrum für die Koordination von Not- fallmaßnahmen eingeführt, das Hilfsanfragen von Im Dezember 2019 trat COVID-19 erstmals in Staaten aufgreift und sie an die Mitgliedstaaten wei- China auf. Es breitete sich zwar rasch aus, aber terleitet. Diese Einrichtung ist bei der EU-Kommissi- anfangs war nicht klar, dass es zu einer Pandemie on angesiedelt (Website Europäische Kommission werden würde. Ende Jänner erreichte es Europa. In a). Dass es sinnvoll war, einen solchen Mechanis- Frankreich wurden erste Fälle gemeldet. Die Welt- mus im Europäischen Rat und ein operatives Zen- gesundheitsorganisation WHO erklärte bald eine trum in der Kommission zu etablieren, zeigte sich gesundheitliche Notlage von internationaler Trag- in den folgenden Jahren immer wieder. Doch erst weite (vgl. Website WHO). Auch die Europäische 2018 erließ der Europäische Rat einen Durchfüh- Union reagierte. Bereits am 28. Jänner aktivierte rungsbeschluss, um die IPCR in einem Rechtsakt der kroatische EU-Vorsitz die europäische Krisen- zu kodifizieren. reaktionsregelung (Website Europäischer Rat). Im Februar ging die Ausbreitung massiv weiter, vor al- Ausgelöst kann der Krisenmechanismus ent- lem in Italien. Protokolle zeigten später, dass die EU- weder durch die Ratspräsidentschaft oder durch Kommission bereits Ende Jänner Hilfe bei der ge- einen Mitgliedstaat werden, der die so genannte meinsamen Beschaffung von Schutzmasken, Tests Solidaritätsklausel auslöst. Tritt dieser Fall ein, wird und Beatmungsgeräten angeboten haben soll (Die die Kommission mit ihren entsprechenden Einrich- Presse 02.04.2020). Die Regierungen der Mitglieds- tungen aktiv. Das Zentrum für die Koordination von länder reagierten laut Berichten zurückhaltend und Notfallmaßnahmen als Teil der Generaldirektion Eu- lehnten das Angebot ab. Am 13. Februar kam der ropäischer Katastrophenschutz und Humanitäre Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit Hilfe ist dabei der funktionale Ort der Katastrophen- und Verbraucherschutz zusammen, um zu beraten. schutzverfahren. Dort wird die Bereitstellung von Einstweilen versuchten die Mitgliedstaaten bereits Hilfsgütern und die Soforthilfe koordiniert. Das Zent- individuelle Lösungen auf die jeweils unterschiedli- rum ist rund um die Uhr im Einsatz und hilft nicht nur chen Szenarien zu finden. In der Kommission wurde in EU-Staaten, sondern auch in Katastrophenfällen ein Krisenstab eingerichtet. Als vorrangige Aufgabe in anderen Teilen der Welt (Website Europäische galt die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Kommission a). Bewältigung der Situation und die Sicherung eines gemeinsamen Vorgehens. Neben dem politischen In akuten Krisenfällen ist der Ablauf also in etwa Krisenstab aktivierte die Kommission ihr Krisenko- wie folgt: Ein Mitgliedstaat aktiviert die Solidaritäts- ordinierungssystem ARGUS, das alle relevanten klausel oder die Ratspräsidentschaft löst den Kri- Stellen der Union im Krisenfall verknüpft und ein ko- senmechanismus aus. Die EU-Kommission mit ordiniertes Vorgehen sicherstellt (Website Europäi- ihren zuständigen Einrichtungen übernimmt die sche Kommission b). Koordination. Wenn ein Katastrophenfall mit huma- nitärer Relevanz vorliegt, wird das Zentrum für die Mit Ende Februar und Anfang März wurden in Koordination von Notfallmaßnahmen aktiv. Auf an- mehreren Staaten die Maßnahmen gegen die Aus- derer Ebene, etwa der wirtschaftlichen, kann die breitung des Virus drastisch verschärft. Es kam zu EU-Kommission mit anderen Generaldirektionen ersten Problemen bei der Einhaltung europäischer aktiv werden und Maßnahmen setzen. All dies stets Regeln. Medien berichteten über zurückgehaltene Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 5
ÖGfE Policy Brief 10’2020 Schutzmasken in Deutschland und beklagten die 1 Gesundheitsmaßnahmen mangelnde Solidarität mit Italien. Die Kritik richtete sich in vielen Berichten und in sozialen Medien je- Die dringendsten Aktivitäten wurden im Bereich doch weniger gegen einzelne Mitgliedstaaten, son- der Gesundheitspolitik gesetzt. Die Kommission rief dern gegen „die EU“ (vgl. Die Welt 16.03.2020). Ab im März ein Beratergremium aus sieben unabhän- 11. März schlossen Österreich und Slowenien für gigen ExpertInnen ein mit dem Ziel, Leitlinien für viele BürgerInnen ihre Grenzübergänge zu Italien, wissenschaftlich fundiertes Risikomanagement zu ohne dies mit den EU-Institutionen abgesprochen entwickeln. Dies beinhaltet die Beratung aller Mit- zu haben. Der französische Präsident Emmanuel gliedstaaten bei ihren Reaktionen, bei Lücken im Macron kritisierte diese Maßnahme als falsch und klinischen Management, bei der Priorisierung von forderte mehr Koordination zwischen den Staaten Gesundheitsversorgung und Katastrophenschutz (Kurier 16.03.2020). Bekanntermaßen gingen diese sowie in Hinblick auf die Eindämmung langfristiger vorerst auf sehr unterschiedliche Weise und in un- Folgen der Pandemie. Am 19. März wurden Emp- terschiedlichem Tempo vor. Es folgten Schließun- fehlungen zu Gemeinschaftsmaßnahmen wie Social gen von Universitäten und Schulen, die Absage von Distancing und Teststrategien veröffentlicht. Veranstaltungen, Ausgangsbeschränkungen und andere Maßnahmen. Außerdem versuchte die Kommission die Fehler der Mitgliedstaaten bei der Versorgung mit Schut- Die EU schien in der medialen Debatte entwe- zausrüstung wettzumachen und diese in ganz Eu- der in den Hintergrund zu treten oder als unsolida- ropa sicherzustellen. Nur durch ihre Koordinati- risch und dysfunktional zu gelten. Medien berichte- on konnte die Versorgung zwischen den Staaten ten ausführlich von Hilfsangeboten Chinas, Kubas wiederhergestellt werden. Die Kommission verfügt oder Russlands, um gleichzeitig den Mangel an über den Überblick über die Produktionskapazitä- europäischer Solidarität zu beklagen (Tagesspiegel ten und Lieferketten und hat eine Empfehlung zur 26.03.2020). Marktüberwachung gegeben. Es ging dabei unter anderem um die Herstellung von Gesichtsmasken. Doch im Hintergrund wurde ein Mechanismus Die Kommission setzte sich dafür ein, dass Textil- in Gang gesetzt, der eine Reihe von Notfallmaß- hersteller Schutzmasken herstellen können. Wich- nahmen auf europäischer Ebene ermöglichte. Am tig dabei und auch für andere Geräte und deren 2. März 2020 stufte der Ratsvorsitz die integrierte schnellen Marktzugang war eine dringende Auffor- Regelung für die politische Reaktion auf Krisen auf derung der Kommission an die europäischen Nor- den Vollmodus hoch. Dadurch wurden Round Tab- mierungsgremien und ihre nationalen Mitglieder hier les zur Ausarbeitung konkreter Maßnahmen ermög- ein rasches Vorgehen zu ermöglichen. Zusätzlich licht, mit Teilnahme relevanter Akteure wie der Kom- wurde für Ausfuhren persönlicher Schutzausrüs- mission, der Mitgliedstaaten, der EU-Agenturen und tung in Länder außerhalb der EU eine Ausfuhrge- unter Beiziehung von ExpertInnen. Die Kommissi- nehmigung der Mitgliedstaaten erforderlich, um on übernahm die Koordination der gemeinsamen sicherzustellen, dass die Verfügbarkeit dieser Aus- COVID-19-Krisenreaktion und setzte in wesentli- rüstung innerhalb der Union nicht gefährdet ist. Dies chen Politikbereichen wichtige Maßnahmen, wie die wurde notwendig, weil manche Länder Sorge hat- fogende Aufstellung zeigt (vgl. Website Europäische ten, bei Ausfuhren von Schutzausrüstung selbst in Kommission b). einen Engpass zu geraten. Seit Ende Februar hat die Kommission außerdem vier Beschaffungsverfahren „Doch im Hintergrund wurde ein Mecha- für diese Schutzausrüstung eingeleitet, um Schutz- nismus in Gang gesetzt, der eine Reihe von masken, Handschuhe, Beatmungsgeräte und Test- Notfallmaßnahmen auf europäischer Ebene kits sowie weiteres medizinisch relevantes Material ermöglichte.“ zu beschaffen. Produzenten dieser Geräte reagier- 6 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 10’2020 ten rasch und reichten Angebote ein, die die bean- gesagt. Über die Europäische Investitionsbank soll- tragten Mengen abdecken und sogar überschrei- ten weitere hohe Milliardenbeträge an die Wirtschaft ten. Dadurch wurde es der Kommission ermöglicht, fließen (vgl. Website Europäische Kommission b). einen Vorrat an medizinischer Ausrüstung anzule- gen, um sie an besonders betroffene Länder und Angenommen wurde außerdem ein Vorschlag Regionen zu verteilen. Das war auch die Grundlage der Kommission für eine Investitionsinitiative über dafür, dass viele Hunderte COVID-19-PatientInnen 37 Milliarden Euro. Dieses Geld sollte aus dem Ko- aus Italien oder Frankreich in andere EU-Staaten häsionsfonds von nicht in Anspruch genommenen gebracht und dort behandelt werden konnten. Mitteln stammen. Weitere 28 Milliarden Euro, die den Mitgliedstaaten im Strukturfonds zur Verfü- Insgesamt darf an dieser Stelle nicht übersehen gung stehen, sollten auf Vorschlag der Kommissi- werden, dass die allgemeinen und nicht auf den Kri- on in den Mitgliedstaaten für dringende Ausgaben senfall ausgerichteten EU-Regelungen seit langem freigemacht werden können. Eine der wichtigsten allen EU-BürgerInnen Patientenrechte gewähren, wirtschaftlichen Maßnahmen stellt aber die flexib- die sicherstellen, dass sie bei einem Aufenthalt in le Handhabung der europäischen Haushaltspoli- einem anderen EU-Staat medizinisch versorgt wer- tik dar. Die Kommission hat dazu die so genannte den (vgl. Korzilius 2019). Ausweichklausel aktiviert. Damit macht sie außer- ordentliche fiskalpolitische Unterstützung möglich. 2 Grenz- und Mobilitätsmaßnahmen Die Regierungen können dadurch Mehrausgaben für die Bewältigung der Krise ohne Konsequenzen Die EU hat neben den Gesundheitsmaßnahmen für die Haushaltsregeln geltend machen. vor allem im Bereich Grenzen und Mobilität einen weiteren großen Aufgabenbereich in dieser Krise. Ein weiteres Instrument wurde zur Minderung So wurde einer vorübergehenden Beschränkung von Arbeitslosigkeitsrisiken aktiviert (SURE - Sup- nicht wesentlicher Reisen in die EU auf 30 Tage zu- port mitigating Unemployment Risks in Emergency). gestimmt. Die Kommission gab am 23. März Leitli- Es soll dazu beitragen, durch die Pandemie bedroh- nien für so genannte prioritäre Fahrspuren (Green te Arbeitsplätze zu schützen. Dafür werden bis zu Lanes) heraus, um einen zügigen Warenfluss zu 100 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt und den Mit- sichern. Besonders wichtig sind Rückholaktionen gliedstaaten in Form von EU-Darlehen zu günstigen von EU-BürgerInnen. So wurden bereits im Jän- Bedingungen gewährt. ner mit französischen Maschinen Menschen aus Wuhan ausgeflogen, später auch aus anderen Tei- Dass wirtschaftspolitisch noch viel weitergehen- len Chinas, aus Japan, den USA, Marokko, Tunesi- de Maßnahmen nötig sind und mit großer Wahr- en oder Georgien usw., wobei die Union logistisch scheinlichkeit auch gesetzt werden, wird sich nach und finanziell Unterstützung gewährte (Website Eu- Bewältigung der gesundheitlichen Notfallsituation ropäische Kommission c). zeigen. Erste Vorschläge zu einem Marshall-Plan für Europa wurden bereits vom spanischen Premiermi- 3 Wirtschaftsmaßnahmen nister Pedro Sánchez und von Kommissionspräsi- dentin Ursula von der Leyen geäußert (Tiroler Tages- Die dritte Ebene, auf der die EU und insbesondere zeitung 05.04.2020). Auch die Verhandlungen der die Kommission aktiv wurde, ist die wirtschaftliche. Euro-Gruppe über adäquate Maßnahmen kamen Die Kommission sagte 1 Milliarde Euro aus dem EU- Anfang April in Schwung. Dabei stand wieder einmal Haushalt als Garantie für den Europäischen Investi- die Frage nach Euro- oder Corona-Bonds im Raum. tionsfonds zu, um kleine und mittlere Unternehmen Die EU-Kommission macht sich in der Debatte für liquide zu halten. Weitere 8 Milliarden wurden zur ein Konjunkturpaket im nächsten EU-Haushalt stark Unterstützung weiterer 100.000 Unternehmen zu- (Website Europäische Kommission d). Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 7
ÖGfE Policy Brief 10’2020 „Dass wirtschaftspolitisch noch viel weiter- heit und Soziales, dass die EU mehr Engagement gehende Maßnahmen nötig sind und mit gro- in Richtung einer Harmonisierung oder zumindest ßer Wahrscheinlichkeit auch gesetzt werden, einer besseren Koordinierung benötigt, um die Prä- wird sich nach Bewältigung der gesundheitli- vention für solche Krisen zu stärken. Daraus leiten chen Notfallsituation zeigen.“ sich folgende Handlungsempfehlungen ab: 4 Förderung der Forschung • Die EU braucht eine dialogorientierte und breite Krisenkommunikation. Die Förderung der Forschung ist ein ganz we- sentlicher Teil des gemeinsamen Europas auch in „In der Krisenkommunikation der Kommis- Normalzeiten. In der Krise wurde das noch einmal sion und des Parlaments gibt es Wege, besser unterstützt und verstärkt. Die Kommission stellte zu werden.“ 140 Millionen Euro für die Entwicklung von Impf- stoffen, Behandlungsmethoden, Diagnosetests etc. Wenn hier die Rede von einer besseren Krisen- zur Verfügung, um das Coronavirus zu bekämpfen. kommunikation ist, dann ist damit nicht mehr PR In verschiedenen hochkarätig besetzten Projekten oder monologhafte Werbung gemeint, sondern eine wird zu diesen und anderen Fragen geforscht. transparente, offensive, dialogorientierte Information mit Verweis auf die eigenen Kompetenzen, Aktivitä- 5 Bekämpfung von Desinformation ten, Strukturen und Prozesse. Es ist ein altbekanntes Problem der EU, dass sie ihre Vorteile und Errun- Schließlich setzte sich die Kommission auch für genschaften nicht breit und wirkungsvoll vermitteln eine objektive, medizinisch und wissenschaftlich ge- kann. Dies hat mehrere Gründe. So fehlt es an Wis- sicherte Kommunikation zum Coronavirus in denso- sen darüber, wie die EU funktioniert, wie man mit zialen Medien ein und bekämpfte die dort grassie- ihr in Verbindung treten kann und wie sie Entschei- rende Fehlinformation. Die zuständige Kommissarin dungen trifft. Es fehlt also ganz allgemein an Europa- Věra Jourová sprach mit großen Internet-Akteuren bildung. Wer mehr über die Union, ihre Entstehung über Wege zur Entlarvung gefährlicher Fake News und ihre Strukturen weiß, kann auch ihre Bedeutung (Handelsblatt 18.03.2020). besser einschätzen und ist eher geneigt, sie als po- sitiv zu erachten (Pausch 2011). Europabildung in Schlussfolgerungen und den Schulen, in der Erwachsenenbildung usw. wäre Handlungsempfehlungen daher nach wie vor wünschenswert, lässt sich aber nur von den Mitgliedstaaten realisieren. Die Beschreibung der akuten Krise, die durch die Pandemie über die Welt und Europa gezogen ist, Ein weiterer Grund ist der Fokus nationaler Me- zeigt einige Probleme der Union auf, die nicht ganz dien auf den jeweils eigenen Nationalstaat und die neu sind. Erstens befindet sich die EU seit Jahren Mängel einer europäischen Öffentlichkeit. Hier ste- in einer latenten Krise, aus der sie sich nur mit Re- hen in erster Linie nationale Akteure, PolitikerInnen, formideen herausmanövrieren kann. Kommt eine Parteien, auch Medien etc. in der Pflicht. Sie müss- akute Krise wie jetzt zur latenten hinzu, so wird es ten auf das blame game verzichten und die europä- besonders schwierig. Zweitens steht die EU-Kom- ischen Interessen vor die nationale PR stellen. Auch mission (wie auch das Europäische Parlament) in das lässt sich für die EU nur bedingt verändern. In einem kommunikativen Wettbewerb um das Image der Krisenkommunikation der Kommission und des der Union, und zwar einerseits gegenüber man- Parlaments jedoch gibt es Wege, besser zu werden. chen Mitgliedstaaten, andererseits gegenüber anti- So fällt auf, dass die verschiedenen EU-Agenturen europäischen AkteurInnen innerhalb und außerhalb oder -Stellen, wie etwa konkret das Zentrum für die Europas. Drittens zeigt sich im Politikfeld Gesund- Koordination von Notfallmaßnahmen, nicht öffentlich 8 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 10’2020 bekannt sind. Eine Website gibt es nur in englischer besondere der Kommission, auf ihre bisherige Effizi- und französischer Sprache, und selbst diese ist nur enzorientierung, auch im Gesundheitsbereich, wäre durch lange Recherchen zu finden. Auftritte in Soci- dringend anzuraten. Der europäische Einigungspro- al Media fehlen ebenfalls. Europäische BürgerInnen, zess ist in den letzten Jahren in vielen Bereichen von die diese Einrichtungen und ihre Tätigkeiten nicht einer Ökonomisierung geprägt, welche die EU-Kom- kennen, wissen nichts von dem, was in Krisenzeiten mission zumindest mitverantworten muss. Dieser in der EU passiert. Es wäre Aufgabe der nationalen Weg sollte nun überdacht werden. Die Corona-Krise EU-Stellen, BürgerInnenservices, Kommissions-Au- zeigt, dass die Gesundheit und das Leben von Eu- ßenstellen und natürlich auch der EU-Abgeordneten, ropäerInnen davon abhängen, wie gut die europä- die Leistungen an die BürgerInnen noch besser zu ischen Gesundheitssysteme ausgestattet sind und vermitteln, und zwar nicht monologartig, sondern auch davon, in welchem Staat mit welcher Gesund- mit der Bereitschaft und dem Aufruf zum demokra- heitspolitik die Menschen leben. Und sie zeigt auch, tischen, kritischen Dialog. Beginnen könnte man mit wie die sozialen Folgen einer solchen Situation je Websites und Social Media-Auftritten nicht nur von nach Staat unterschiedlich ausfallen. Die Resilienz der Kommission und ihren Generaldirektionen, son- Europas, sowohl gesundheitlich als auch sozial, wür- dern von zentralen, sicherheits- und krisenrelevanten de von einer Kompetenzverlagerung profitieren. Einrichtungen. Hilfreich könnte auch eine stärkere öffentliche Sichtbarmachung des oder der Krisen- • Die EU braucht eine Reformdebatte in KommissarIn sein, bei dem oder der die Fäden zu- großem Stil. sammenlaufen. Alles in allem braucht es öffentlich erkennbare Gesichter und Institutionen im Krisen- „Das zeigt sich auch daran, dass etwa mit management sowie Transparenz und Information. Ungarn ein Land die Krise genutzt hat, um weitere Standards europäischer Demokratien • Die EU braucht mehr Kompetenzen im außer Kraft zu setzen.“ Sozial- und Gesundheitsbereich. Man könnte es als Standard-Empfehlung wohl für „Ein selbstkritischer Blick der EU, insbe- jeden Policy Brief nennen, aber im Zuge der Corona- sondere der Kommission, auf ihre bisherige Krise wird es noch einmal besonders deutlich: Die Effizienzorientierung, auch im Gesundheits- EU braucht endlich eine öffentliche Reformdebat- bereich, wäre dringend anzuraten.“ te in großem Stil. Das zeigt sich auch daran, dass etwa mit Ungarn ein Land die Krise genutzt hat, um Wie die Corona-Krise einmal mehr zeigt, sind So- weitere Standards europäischer Demokratien außer zial- und Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten Kraft zu setzen. Es ist aber besonders relevant, weil sehr unterschiedlich. Das beginnt bei der Anzahl ohne eine solche transparente und breitenwirksame der ÄrztInnen und führt bis hin zur so wichtigen Debatte die anti-europäischen Kräfte innerhalb und Verfügbarkeit von Intensivbetten. Die Diskrepanz außerhalb Europas leichtes Spiel haben, den Zu- zwischen den Staaten wurde schon häufig aufge- sammenhalt zu zersetzen. Auch wenn diverse Um- zeigt (Eurostat 2017). Dass im Fall einer Pandemie fragen darauf hindeuten, dass seit dem BREXIT die so unterschiedliche Ausgangslagen vorherrschen, Zustimmung zur Union in den verbliebenen 27 Län- bringt die Krisenbewältigung in Probleme. Die Prä- dern wieder gestiegen ist, so vermindert das nicht vention solcher Entwicklungen fordert eine stärkere die Notwendigkeit einer Reform, zumal in akuten Anpassung. Das sollte auch die Prioritäten relativie- Krisen die Gefahr besteht, dass sich die Stimmung ren. Intakte Sozial- und Gesundheitssysteme in ganz wieder verschlechtert. Dass die Union aus jeder Kri- Europa sollten angestrebt werden. Dazu wäre eine se gestärkt hervorgeht, mag in vielen Beispielen der Verlagerung entsprechender Kompetenzen auf EU- Vergangenheit richtig gewesen sein, aber es ist kein Ebene nötig. Ein selbstkritischer Blick der EU, ins- Automatismus. Die Reformdebatte, etwa in einem Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 9
ÖGfE Policy Brief 10’2020 Konvent aus Politik und Zivilgesellschaft, sollte nicht Hrbek, Rudold 2003. Föderalismus sui generis–der länger aufgeschoben werden. Die Demokratisierung Beitrag des Konvents zur Verfassungsstruktur der Union muss vorangetrieben werden, um den au- der erweiterten EU, in: Zeitschrift für Staats- und toritären Tendenzen etwas entgegenzusetzen. Europawissenschaften 1, 3 (2003), S. 430–446 Literatur Korzilius, Heike 2019. Europäische Gesundheitspo- litik. Wie viel Europa darf es sein?, abgerufen am Bild online vom 29.03.2020, abgerufen am 07.04.2020 unter: https://www.aerzteblatt.de/ar- 08.04.2020 unter: https://www.bild.de/news/ chiv/207266/Europaeische-Gesundheitspolitik- inland/news-inland/coronavirus-sigmar-ga- Wie-viel-Europa-darf-es-sein briel-rechnet-mit-europaeischer-union-eu- ab-69697130.bild.html Kurier online vom 16.03.2020, abgerufen am 30.03.2020 unter: https://kurier.at/politik/aus- Bulmer, Simon/Wessels, Wolfgang 1987. The Euro- land/grenzkontrollen-macron-kritisier t-ein- pean Council. Decision Making in European Poli- seitige-und-nicht-abgestimmte-entscheidun- tics, London: Palgrave MacMillan. gen/400782713 Die Presse online vom 02.04.2020, abgerufen Merkel, Wolfgang 2016. Krise der Demokratie? An- am 03.04.2020, unter: https://www.diepresse. merkungen zu einem schwierigen Begriff, in: Aus com/5795063/corona-lehnten-regierungen-eu- Politik und Zeitgeschichte, Bundeszentrale für hilfe-ab politische Bildung, Bonn, Vol. 66, Iss. 40/42, S. 4-11. Die Welt online vom 16.03.2020, abgerufen am 05.04.2020 unter: https://www.welt.de/debatte/ Norman, Peter 2004. The Accidential Constitution. kommentare/plus206533793/Corona-Krise-Die- The Story of the European Convention, Brussels: EU-laesst-Italien-im-Stich-Wir-merken-uns-das. EuroComment. html Pausch, Markus 2011. Politische Bildung und Eu- Die Zeit online vom 16.03.2020, abgerufen am ropa, in: Popp, Reinhold/Pausch, Markus/Rein- 03.04.2020 unter: https://www.zeit.de/politik/ hardt, Ulrich (Hrsg.). Zukunft.Bildung.Lebensqua- deutschland/2020-03/grenzschliessungen-coro- lität, Wien: LIT-Verlag, S. 167-190. navirus-pandemie-deutschland-eu Pausch, Markus 2020. Perspectives for Europe. Eurostat 2017: Statistiken zur Gesundheitsversor- Historical Concepts and Future Challenges, Ba- gung, abgerufen am 5.04.2020 unter: https:// den-Baden: Nomos Verlag. ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/in- dex.php?title=Archive:Healthcare_provision_sta- Website Europäische Kommission a: Emergency tistics/de&oldid=357319 Response Coordination Centre, abgerufen am 03.04.2020 unter: https://ec.europa.eu/echo/ Handelsblatt online vom 18.03.2020, abgerufen am what/civil-protection/emergency-response-coor- 07.04.2020 unter: https://www.handelsblatt.com/ dination-centre-ercc_en politik/international/coronavirus-eu-kommissi- onsvizin-jourova-warnt-vor-fake-news-ueber- Website Europäische Kommission b: Coronavirus messenger-dienste-/25658146.html?ticket=ST- – Krisenreaktion, abgerufen am 03.04.2020 un- 860264-KOe5tIJayeds5GcC9WyS-ap1 ter: https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/ health/coronavirus-response_de 10 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
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ÖGfE Policy Brief 10’2020 Über den Autor Prof. (FH) Dr. Markus Pausch ist Professor am Studiengang Soziale Arbeit und Soziale Innovation der Fachhochschule Salzburg. Er beschäftigt sich u.a. mit Demokratie, demo- kratischen Innovationen und der Zukunft der EU. Aktuelle Publikation als Hrsg: Perspectives for Europe. Historical Concepts and Future Challenges, Nomos-Verlag 2020. www.markuspausch.eu Kontakt: markus.pausch@fh-salzburg.ac.at Über die ÖGfE Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhän- giger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische In- tegration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von eu- ropapolitischen Informationen. ISSN 2305-2635 Impressum Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck Österreichische Gesellschaft für Europapolitik kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE Rotenhausgasse 6/8-9 oder jener Organisation, für die der Autor arbeitet, überein. A-1090 Wien, Österreich Schlüsselwörter Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt Corona-Krise, COVID-19, Europäische Union, Reformde- Verantwortlich: Dr. Susan Milford-Faber batte, Krisenmanagement, Demokratisierung Tel.: +43 1 533 4999 Zitation Fax: +43 1 533 4999 – 40 Pausch, M. (2020). Europa in und nach der Corona-Krise. E-Mail: policybriefs@oegfe.at Wien. ÖGfE Policy Brief, 10’2020 Web: http://oegfe.at/policybriefs 12 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
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