Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
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2022 Atlas der Zivil- gesell- schaft Freiheitsrechte unter Druck Schwerpunkt Digitalisierung Zahlen. Analysen. Interviews. Weltweit.
Impressum Herausgeber Brot für die Welt Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin Telefon +49 30 65211 0, Fax +49 30 65211 3333 info@brot-fuer-die-welt.de www.brot-fuer-die-welt.de www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft Autor:innen Kai Schächtele, Ingo Dachwitz, Felix Zimmermann, Chris Köver, Christine Meissler, Martina Hahn, Sven Hilbig Redaktion Martina Hahn, Kai Schächtele, Christine Meissler, Maike Lukow, Thorsten Herdickerhoff, Franziska Reich, Camila Sanchez Ugalde, Annemarie Blohm (Fotos) Inhaltliche Verantwortung Christine Meissler, Silke Pfeiffer, Kai Schächtele Projektleitung / CvD Martina Hahn Idee Anne Dreyer, Julia Duchrow V. i. S. d. P. Klaus Seitz Layout und Satz Lena Appenzeller Infografiken und Illustrationen Sabine Hecher Portraits Julian Rentzsch Art Direction Nicole Liekenbröcker Gestaltungskonzept Factor Design, Hamburg Korrektorat Elena Bruns, Lingen Fotos Hermann Bredehorst (S. 3), Darren Stewart / Gallo Images / Getty Images (S. 4, 17), Ajeng Dinar Ulfiana / Reuters (S. 4, 64), Marco Longari / AFP / Getty Images) (S. 5, 70), Walentyn Ogirenko / Reuters (S. 5, 76), Oswaldo Rivas / Reuters (S. 23), Rentsendorj Bazarsukh / Reuters (S. 27), Czarek Sokolowski / picture alliance / Associated Press (S. 31), Edgard Garrido / Reuters (S. 58), Teun Voeten / Panos Pictures (S. 62), Fotomontage: fizkes/Shutterstock 2020/Brot für die Welt (S. 69), Mark Henley / Panos Pictures (S. 74), Alexey Pavlishak / Reuters (S. 80) Redaktionsschluss dieser Ausgabe 20. Februar 2022 © 2022 oekom verlag, München oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH Waltherstraße 29, 80337 München Druck Friedrich Pustet GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-96238-379-4
Vorwort Z ivilgesellschaftliche Organisati- onen leiden immer stärker unter Einschrän- kungen, Verboten und Repressionen: Wieder w urden. Des Weiteren ist zu beobachten, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und Freiwillige, die sich etwa in der Flüchtlingsar- verloren weltweit viele Partnerorganisationen beit oder für Klima- und Umweltschutz enga- von Brot für die Welt ihre Registrierung oder gieren, immer häufiger attackiert und bedroht konnten sie nicht mehr verlängern. Wieder werden. Nicht nur über die Sozialen Medien, mussten viele ihrer Mitarbeitenden das Land verlassen, um sondern auch physisch. nicht verhaftet zu werden. Noch nie mussten so viele Orga- Hinzu kommt, dass weltweit die Digitalisierung an Bedeu- nisationen in ihrem Ursprungsland geschlossen werden und tung gewonnen hat und in immer mehr Bereiche hineinwirkt. ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen. Dabei sind Men- Diesem Thema widmet sich daher der Schwerpunkt unserer schenrechte und zivilgesellschaftliche Initiativen essenziell Publikation. Denn Digitalisierung ist für die Aktivist:innen für Demokratie, Entwicklung und Frieden. Chance und Problem zugleich: Mithilfe moderner Kommu- Vor diesem Hintergrund veröffentlichen wir nun zum fünften nikationskanäle können sie einerseits direkter und erfolgrei- Mal den Atlas der Zivilgesellschaft gemeinsam mit CIVICUS, cher informieren, mobilisieren, sich vernetzen. Andererseits dem weltweiten Netzwerk für Bürgerbeteiligung. Die Daten können Autokrat:innen mittels Digitalisierung viel leichter des CIVICUS-Monitor spiegeln unsere eigenen Beobachtun- Meinungsäußerungen zensieren und Menschen überwachen. gen des weltweiten Trends wider: Der Handlungsraum zivilge- Und doch kommen wir zu dem Fazit, das auch die 2021 er- sellschaftlicher Organisationen und Akteur:innen schrumpfte schienene Denkschrift der EKD „Freiheit digital. Die Zehn im vergangenen Jahr erneut. Die Zahl der Menschen, die in Gebote in Zeiten des digitalen Wandels“ teilt: Digitalisierung offenen Gesellschaften leben, sinkt weiter ‒ und die der Men- ist auch ein wichtiger Baustein für nachhaltige Entwicklung. schen, die in Staaten leben, deren Regierungen die Zivilgesell- Vorausgesetzt, dass Barrieren des Zugangs abgebaut und Men- schaft unterdrücken und schließen, wächst. 70 Prozent der schenrechte respektiert werden. Weltbevölkerung leben inzwischen in diesen Ländern, die der Bei allen Herausforderungen der Digitalisierung, die unser Atlas orange und rot darstellt. Schwerpunktteil beleuchtet, wird eines klar: Menschenrechts- 14 Länder haben sich in ihrer Einstufung verschlechtert, dar- organisationen und NGOs, die sich mit Fragen der Digitalisie- unter auch Polen, das nun neben Ungarn als zweites EU-Mit- rung beschäftigen, und viele andere setzen sich unermüdlich glied in der Kategorie „beschränkt“ eingestuft wird. Das zeigt, dafür ein, dass digitale Tools unser Leben bereichern und dass längst auch im Globalen Norden und der Europäischen Schäden minimiert werden. Ob Nicht-Diskriminierung bei Union die zivilgesellschaftlichen Handlungsräume zuneh- automatisierten Entscheidungen und künstlicher Intelligenz, mend schrumpfen. Die Zahl der im Atlas der Zivilgesellschaft bessere Regulierung der Exporte von Überwachungstechno- grün eingefärbten ‒ also offenen ‒ Länder in der EU hat mit logien, der biometrischen Erkennung oder der großen Tech- zwölf einen neuen Tiefstand erreicht. Konzerne, Vermeidung von Hasskriminalität, Bewahrung von Deutschland gehört weiterhin zu den offenen Staaten. Doch Datenschutz oder Meinungsfreiheit online: Zivilgesellschaft- auch hier ist die Situation für die Zivilgesellschaft nicht perfekt. liche Initiativen erfüllen auch hier ihre wichtige Watch-Dog- Reporter ohne Grenzen hat Deutschland 2021 in der Rang- Funktion und wachen darüber, dass Menschen weltweit so liste der Pressefreiheit eine Kategorie abgewertet, weil Journa- viel wie möglich von technologischen Entwicklungen profitie- list:innen stärker als je zuvor von Protestierenden a ngegriffen ren ‒ und dabei Menschenrechte eingehalten werden. Dr. Dagmar Pruin Präsidentin von Brot für die Welt Vorwort 3
Inhalt 2 Impressum 3 Vorwort 6 Zusammenfassung 8 Weltkarte 10 Kategorien 1 8 CIVICUS-Monitor: Verschärfte Bedingungen für die Zivilgesellschaft 13 CIVICUS-Report Auch im zweiten Jahr haben Regierungen die Pandemie genutzt, um gegen Proteste vorzu- 13 gehen und Gesetze zu erlassen, die die Freiheit einschränken. 14 Länder wurden von CIVICUS herabgestuft, nur eines konnte sich verbessern. Die Weltregionen 20 Nord-, Mittel- und Südamerika – In keiner Region gibt es mehr Morde an Journalist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen. 24 Asien-Pazifik-Raum – Repressive Gesetze bedrängen die Zivilgesellschaft. 28 Europa und Zentralasien – Die Missachtung 20 bürgerlicher Grundfreiheiten setzt sich fort – auch in etablierten Demokratien. 32 Afrika südlich der Sahara – In vielen Ländern hat das Militär die Macht übernommen. 35 Naher Osten und Nordafrika – In keiner anderen Region geraten Menschen so sehr unter Druck, wenn sie sich für Demokratie einsetzen. 4 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
3 70 Zivilgesellschaft im Fokus 58 Mexiko – Kein anderes Land hat die Spionage- Software Pegasus so exzessiv eingesetzt. 64 Indonesien – Die Regierung nutzt ein Gesetz zur Regulierung des Online-Handels, um Kritiker:innen zum Schweigen zu bringen. 70 Tansania – Mit einem Internet-Shutdown 2 sicherte der Präsident seine Wiederwahl. 76 Ukraine – Seit Beginn des Konfliks mit Russland sind Falschnachrichten ein zentraler Bestandteil der russischen Kriegsführung. Schwerpunkt Digitalisierung: Gefahren und Chancen für 76 die Zivilgesellschaft im Netz 38 Der digitale Raum wird enger – Das Internet als reines Freiheitsmedium ist Geschichte. Autoritäre Regime missbrauchen es. 42 Interview – Josephine Ballon verteidigt Opfer von Hass, Felix Reda die Grundrechte: ein Ge- spräch über Regulierung und Meinungsfreiheit. 46 Brandbeschleuniger für Konflikte – Facebook ist eine Gefahr für die Demokratie. 48 Kontrolle durch biometrische Überwachung – Digitalisierte Zugänge zu Sozialhilfen beschnei- den die Rechte der Bedürftigsten. Unsere Forderungen 50 Überwachungsstaat: Made in Europe – Weltweit nutzen Autokraten Technologie aus 82 Was zu tun ist Europa, um die Bevölkerung zu unterdrücken. Grundrechte müssen auch im 51 „Geld fließt nur in eine Richtung“ – Es gibt Netz verteidigt werden. Politik einen neuen, digitalen Kolonialismus. Auch und Gesellschaft können an der beutet Menschen im Globalen Süden aus. vielen Punkten ansetzen. 52 Nackt durch Daten früher und heute – Was vor Jahrzehnten undenkbar war, ist heute Alltag. 54 Maschine entscheidet über Mensch – High-Tech bestimmt, wer soziale Leistung erhält. 84 Quellen/Endnoten Inhalt 5
Zusammengefasst 1 Zahlen und Fakten Nur 240 Millionen Menschen (drei Prozent) verbessert und steigt in die Kategorie beeinträch- leben in den 39 o ffenen Staaten der Welt, in denen tigt auf. Belgien, die Tschechische Republik und zivilgesellschaftliche Grundfreiheiten wie Mei- die S alomonen steigen in beeinträchtigt ab. Neben nungs- und Versammlungsfreiheit garantiert sind. Südafrika und Botswana rutscht auch Polen als Das sind zehn Prozent weniger als im Jahr 2020. zweites EU-Land in die Kategorie beschränkt ab. Zusammen mit elf anderen EU-Ländern gehört Abgestiegen in unterdrückt sind Benin, Haiti, Deutschland weiterhin zu den offenen Ländern. Jordanien, Mali, Mosambik und Singapur. Belarus 88 Prozent aller Menschen leben 2021 in Ländern, und Nicaragua gelten nun als geschlossen. in denen die Zivilgesellschaft beschränkt, unter- Frauen sind die am häufigsten von Einschränkun- drückt oder geschlossen ist. Das betrifft 6,9 Milli- gen und Repressionen betroffene Gruppe, gefolgt arden Menschen, die in Ländern leben, in denen von Menschen, die sich für Land-, Arbeits- und Regierungen Grundrechte beschneiden, Kriti- LSBTI-Rechte einsetzen. Als häufigstes Instru ker:innen drangsalieren, verhaften und verfolgen. ment der Repression weltweit hat CIVICUS die Das geschieht in sechs von zehn Ländern. Verhaftungen von Journalist:innen und Aktivist:in- 14 Länder werden gegenüber dem Vorjahr her- nen dokumentiert. abgestuft. Nur ein Land, die Mongolei, hat sich 2 Schwerpunkt Digitalisierung Vielfältig, unzensiert, demokratiefördernd ‒ das sperren das Netz ganz und ü berwachen Aktivist:in- ist das Internet, hofften viele Menschen lange. nen und Journalist:innen gezielt mit digitalen Doch diese Attribute passen aus heutiger Sicht Technologien, oft Made in Europe. nicht ‒ oder nur teilweise. Denn die großen digi- Die Herausforderungen an Politik, P lattformen talen Plattformen und das World Wide Web sind und Zivilgesellschaft sind groß: Sie müssen beides: Medien der Freiheit und der Kontrolle. aushandeln und entscheiden, was dem Hass im Sie helfen der Zivilgesellschaft vielerorts, gefähr- Netz und in den Sozialen Medien entgegengesetzt den sie aber oft auch massiv. werden kann, ohne dass die Meinungsfreiheit Denn einerseits nutzen zivilgesellschaftliche eingeschränkt wird. Wie mehr Menschen gerade Organisationen, Aktivist:innen und Blogger:in- im Globalen Süden einen besseren Zugang zum nen digitale Tools zur Organisation und Effizienz Internet bekommen. Und wie sich die Datensam- steigerung ihrer Arbeit: Sie verbreiten über sie melwut der großen Tech-Konzerne und die damit A nalysen und Kampagnen und tauschen sich da- für die D emokratie von Facebook & Co. ausge- rüber aus. Andererseits schränken R egierungen henden Gefahren eindämmen lassen. Die zivilge- weltweit durch Online-Zensur die Meinungs- und sellschaftlichen Stimmen mehren sich, die mehr Pressefreiheit ein: Sie blockieren den Zugang menschenrechtsorientierte Regulierung und eine zu b estimmten Webseiten oder Plattformen oder Eindämmung des digitalen Kapitalismus fordern. 6 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
3 Länder Vier Länderbeispiele im Atlas der Zivilgesellschaft Partnerorganisationen und verkleinern ihre illustrieren die Chancen, aber auch die Heraus Handlungsräume. Doch die Zivilgesellschaft wehrt forderungen für zivilgesellschaftliches Engagement sich auch mithilfe digitaler Instrumente gegen und Freiheitsrechte im digitalen Raum: In Mexiko staatliche Repression. Sie vernetzt sich und ent- wurden zahlreiche Menschenrechtsverteidiger:in- wickelt neue Formate, um wirkungsvoller zu nen und Journalist:innen mit der Spionagesoftware arbeiten. Die B rot für die Welt-Partnerorganisation Pegasus ausgespäht. In Indonesien beschneiden Mental Health Service beispielsweise nutzt digitale Gesetze die freie Meinungsäußerung im Netz und Tools, um infolge des Kriegs traumatisierte Men- in den Sozialen Medien. In Tansania ließ die Re- schen in der Ostukraine zu therapieren. Und in gierung einen Tag vor den Präsidentschaftswahlen Indonesien informiert die Organisation KontraS 2020 mehrere Tage das Internet abschalten. Und trotz einschränkender IT-Gesetze und Zensur über in der Ostukraine spitzt sich der Konflikt durch Soziale Medien die Öffentlichkeit und tauscht die Verbreitung von Falschnachrichten weiter zu. sich über diese Kanäle mit anderen Organisationen Überwachung im digitalen Raum, Zensur, Netz- aus. Auf diese Weise übt sie auch Druck auf die sperren und Desinformation verletzen die Grund- Regierung aus. freiheiten. Sie erschweren die Arbeit u nserer 4 Unsere politischen Forderungen Damit Menschenrechte weltweit geachtet werden autonom entscheiden oder bei der Entscheidungs- und sich eine unabhängige Zivilgesellschaft enga- findung helfen, nur nach einer Risikoprüfung gieren kann, muss auch die Politik in Deutschland eingeführt werden ‒ diese dürfen keine Grund- handeln. Bundesregierung und Bundestag müs- rechte beschneiden. Zudem sollte die deutsche sen sich hierfür kompromisslos für eine unabhän- Entwicklungszusammenarbeit den Zugang für alle gige Zivilgesellschaft und die universellen Men- zum Internet stärker fördern. schenrechte ‒ auch im digitalen Raum ‒ einsetzen. Unsere politischen Vertreter:innen sollten sich Deutsche Botschaften sollten sich stärker für außerdem dafür starkmachen, dass die Zensur Menschenrechte und deren Verteidiger:innen einzelner Dienste sowie Internet-Shutdowns als engagieren ‒ und dafür, dass die Zivilgesellschaft Menschenrechtsverletzung geächtet werden. Auf vor Ort agieren und teilhaben kann. internationaler Ebene muss ein völkerrechtlicher Die menschenrechtliche Verantwortung der Rahmen entstehen, der festlegt, welche Pflich- deutschen politischen Entscheidungsträger:in- ten die Staaten und welche Verantwortung die Un- nen beginnt bei der eigenen Politik. Sie sollten ternehmen im digitalen Raum haben ‒ und der den E xport von Überwachungsprodukten bis auf garantiert, dass diese im Einklang mit den interna- Einzelfallgenehmigungen verbieten. Sie sollten tionalen Menschenrechten stehen. sicherstellen, dass algorithmische Systeme, die Zusammengefasst 7
CIVICUS-Einstufungen offen beeinträchtigt beschränkt unterdrückt geschlossen Länder, zu denen CIVICUS keine Daten erhebt Siehe auch www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft stark unter Druck Afrika südlich der Sahara: Angola | Äquatorialguinea | Äthiopien | Benin | Botswana | Burkina Faso | Burundi | Dschibuti | Elfenbeinküste | Eritrea | Eswatini | Gabun | Gambia | Ghana | Guinea | Guinea-Bissau | Kamerun | Kap Verde | Kenia | Komoren | Republik Kongo | Demokratische Republik Kongo | Lesotho | Liberia | Madagaskar | Malawi | Mali | Mauretanien | Mauritius | Mosambik | Namibia | Niger | Nigeria | Ruanda | Sambia | São Tomé und Príncipe | Senegal | Seychellen | Sierra Leone | Simbabwe | Somalia | Südafrika | Sudan | Südsudan | Tansania | Togo | Tschad | Uganda | Zentralafrikanische Republik Amerika: Antigua und Barbuda | Argentinien | Bahamas | Barbados | Belize | Bolivien | Brasilien | Chile | Costa Rica | Dominica | Dominikanische Republik | Ecuador | El Salvador | Grenada | Guatemala | Guyana | Haiti | Honduras | Jamaika | Kanada | Kolumbien | Kuba | Mexiko | Nicaragua | Panama | Paraguay | Peru | St. Kitts und Nevis | St. Lucia | St. Vincent und die Grenadinen | Surinam | Trinidad und Tobago | Uruguay | Venezuela | Vereinigte Staaten von Amerika 8 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Asien/Pazifik: Afghanistan | Australien | Bangladesch | Bhutan | Brunei | China | Fidschi | Indien | Indonesien | Japan | Kambodscha | Kiribati | Laos | Malaysia | Malediven | Marshallinseln | Mikronesien | Mongolei | Myanmar | Nauru | Nepal | Neuseeland | Nordkorea | Osttimor | Pakistan | Palau | Papua-Neuguinea | Philippinen | Salomonen | Samoa | Singapur | Sri Lanka | Südkorea | Taiwan ‒ Province of China (offizielle UN-Bezeichnung) | Thailand | Tonga | Tuvalu | Vanuatu | Vietnam Europa/Zentralasien: Albanien | Andorra | Armenien | Aserbaidschan | Belarus | Belgien | Bosnien-Herzegowina | Bulgarien | Dänemark | Deutschland | Estland | Finnland | Frankreich | Georgien | Griechenland | Großbritannien | Irland | Island | Italien | Kasachstan | Kirgisistan | Kosovo | Kroatien | Lettland | Liechtenstein | Litauen | Luxemburg | Malta | Republik Moldau | Monaco | Montenegro | Niederlande | Nordmazedonien | Norwegen | Österreich | Polen | Portugal | Rumänien | Russland | San Marino | Schweden | Schweiz | Serbien | Slowakei | Slowenien | Spanien | Tadschikistan | Tschechien | Türkei | Turkmenistan | Ukraine | Ungarn | Usbekistan | Zypern Naher Osten und Nordafrika: Ägypten | Algerien | Bahrain | Irak | Iran | Israel | Jemen | Jordanien | Katar | Kuwait | Libanon | Libyen | Marokko | Oman | Palästina | Saudi-Arabien | Syrien | Tunesien | Vereinigte Arabische Emirate Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft stark unter Druck 9
Die fünf Kategorien des CIVICUS-Monitors offen (open)* 39 Staaten 3% der Weltbevölkerung Der Staat ermöglicht und garantiert allen Menschen zivil- Andorra, Antigua und Barbuda, Barbados, Dänemark, gesellschaftliche Freiheiten. Sie können ohne rechtliche oder Deutschland, Dominica, Estland, Finnland, Grenada, praktische Hürden Vereinigungen bilden, im öffentlichen Irland, Island, Kanada, Kap Verde, Kiribati, Liechtenstein, Raum demonstrieren, sie bekommen Informationen und Litauen, Luxemburg, Marshallinseln, Mikronesien, dürfen diese auch verbreiten. Autoritäten sind offen für Monaco, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Kritik von zivilgesellschaftlichen Organisationen und bieten Palau, Portugal, Samoa, San Marino, São Tomé und Plattformen für intensiven und konstruktiven Dialog mit Príncipe, Schweden, Schweiz, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, Bürgerinnen und Bürgern. Demonstrierende werden von St. Vincent und die Grenadinen, Surinam, Taiwan ‒ der Polizei grundsätzlich geschützt und die Gesetze zur Rege- Province of China (offizielle UN-Bezeichnung), Tuvalu, lung des Versammlungsrechts entsprechen internationalen Uruguay, Zypern Standards. Es gibt freie Medien, Internetinhalte werden nicht zensiert und Regierungsinformationen sind leicht zugänglich. beeinträchtigt (narrowed)* 41 Staaten 8% der Weltbevölkerung Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen Albanien, Argentinien, Australien, Bahamas, Belize, ist es überwiegend gestattet, ihre Rechte zur Vereinigungs-, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Costa Rica, Versammlungs- und Meinungsfreiheit auszuüben. Trotzdem Dominikanische Republik, Frankreich, Georgien, kommen Verletzungen dieser Rechte vor. Menschen können Ghana, Griechenland, Großbritannien, Guyana, Italien, Vereinigungen mit einer ganzen Bandbreite von Zielen Jamaika, Japan, Kosovo, Kroatien, Lettland, Malta, bilden. Es gibt aber Fälle, in denen als regierungskritisch Mauritius, Nordmazedonien, Republik Moldau, Mongolei, geltende Vereinigungen juristisch verfolgt oder anderweitig Montenegro, Namibia, Panama, Rumänien, Salomonen, schikaniert werden. Demonstrationen verlaufen weitgehend Seychellen, Slowakei, Slowenien, Spanien, Südkorea, ungestört, werden von den Behörden aber teilweise unter Tonga, Trinidad und Tobago, Tschechien, Vanuatu Verweis auf Sicherheitsbedenken verboten. Es kommt auch vor, dass unverhältnismäßige Gewalt wie Tränengas oder Gummigeschosse gegen friedlich Demonstrierende eingesetzt wird. Die Medien haben die Freiheit, ein großes Spektrum an Informationen zu verbreiten. Eine völlig freie Entfaltung der Presse wird aber entweder durch strikte Regulierung oder Ausübung von politischem Druck auf Medienschaffende verhindert. Erhebungen des CIVICUS-Monitors werden laufend aktualisiert. Diesem Bericht liegen die Daten des Erhebungszeitraums 01. 11. 2020 bis 31. 10. 2021 zugrunde. Tagesaktuelle Daten unter monitor.civicus.org. * englische Bezeichnung der Kategorie im CIVICUS-Monitor 10 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
beschränkt (obstructed)* 43 Staaten 18 % der Weltbevölkerung Die Regierenden beschneiden eine freie Grundrechtsent Armenien, Bhutan, Bolivien, Brasilien, Botswana, faltung durch eine Kombination aus rechtlichen und Burkina Faso, Chile, Ecuador, El Salvador, Fidschi, praktischen Einschränkungen. Zivilgesellschaftliche Orga Gambia, Guatemala, Guinea-Bissau, Indonesien, Israel, nisationen existieren zwar, doch staatliche Stellen ver- Kasachstan, Kenia, Kirgisistan, Komoren, Lesotho, suchen sie zu zersetzen, unter anderem, indem sie diese Libanon, Liberia, Malawi, Malaysia, Malediven, Marokko, überwachen, bürokratisch schikanieren und öffentlich Nauru, Nepal, Osttimor, Papua-Neuguinea, Paraguay, demütigen. Bürgerinnen und Bürger können sich friedlich Peru, Polen, Sambia, Senegal, Serbien, Sierra Leone, versammeln, werden aber häufig von Polizeikräften unter Sri Lanka, Südafrika, Tunesien, Ukraine, Ungarn, Einsatz exzessiver Gewalt auseinandergetrieben, etwa Vereinigte Staaten von Amerika mit Gummigeschossen, Tränengas und Schlagstöcken. Es gibt Raum für nicht-staatliche Medien und redaktionelle Unabhängigkeit, aber Journalistinnen und Journalisten erfahren körperliche Übergriffe und Verleumdungsklagen. Viele sehen sich daher zur Selbstzensur genötigt. unterdrückt (repressed)* 48 Staaten 44 % der Weltbevölkerung Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist stark Afghanistan, Algerien, Angola, Äthiopien, Bangladesch, eingeschränkt. Aktivistinnen und Aktivisten, die Macht Benin, Brunei, Elfenbeinküste, Eswatini, Gabun, habende kritisieren, werden überwacht, drangsaliert, einge- Guinea, Haiti, Honduras, Indien, Jordanien, Kambodscha, schüchtert, inhaftiert, verletzt oder sogar getötet. Obwohl es Kamerun, Katar, Kolumbien, Demokratische Republik einige zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, wird deren Kongo, Republik Kongo, Kuwait, Madagaskar, Mali, Advocacy-Arbeit regelmäßig verhindert. Die Organisationen Mauretanien, Mexiko, Mosambik, Myanmar, Niger, verlieren ihre Registrierung oder werden geschlossen. Nigeria, Oman, Pakistan, Palästina, Philippinen, Ruanda, Menschen, die friedliche Demonstrationen organisieren oder Russland, Simbabwe, Singapur, Somalia, Sudan, daran teilnehmen, werden häufig von staatlichen Kräften Tadschikistan, Tansania, Thailand, Togo, Tschad, Türkei, mit scharfer Munition beschossen oder in Gewahrsam Uganda, Venezuela genommen, es gibt Massenverhaftungen. Die Medien geben typischerweise die Sicht der Regierung wieder. Unabhängige Stimmen werden routinemäßig durch Razzien, körperliche Übergriffe oder langwierige Strafverfahren verfolgt. Kritische Webseiten und Soziale Medien sind blockiert und die Inter- netnutzung wird stark überwacht. geschlossen (closed)* 25 Staaten 26 % der Weltbevölkerung Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist ‒ in recht- Ägypten, Äquatorialguinea, Aserbaidschan, Bahrain, licher und praktischer Hinsicht ‒ komplett geschlossen. Es Belarus, Burundi, China, Dschibuti, Eritrea, Irak, herrscht eine Atmosphäre der Angst. Staatliche und mäch- Iran, Jemen, Kuba, Laos, Libyen, Nicaragua, Nordkorea, tige nicht-staatliche Akteur:innen kommen ungestraft davon, Saudi-Arabien, Südsudan, Syrien, Turkmenistan, wenn sie Menschen für die Wahrnehmung ihrer Rechte Usbekistan, Vereinigte Arabische Emirate, Vietnam, auf Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit Zentralafrikanische Republik inhaftieren, misshandeln oder töten. Jegliche Kritik am Regime wird schwer bestraft. Es gibt keine Pressefreiheit. Das Internet wird stark zensiert und die meisten Webseiten sind blockiert. Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft stark unter Druck 11
Teil 1 CIVICUS-Monitor: Verschärfte Bedingungen für die Zivilgesellschaft S ich gegen soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung oder Umweltzerstörung zu engagieren, wird in vielen Weltregionen zunehmend schwieriger. Die Pandemie hat diese Entwicklungen seit 2020 weiter verstärkt und sichtbarer gemacht. Das Jahr 2021 markiert einen weiteren Tiefpunkt. Mit der Mongolei stieg nur ein Land in eine bessere Kategorie auf. In 14 Ländern verschlechterte sich die Einstufung. 12 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
CIVICUS-Report 88% aller Menschen leben in Staaten, in denen die Zivilgesellschaft beschränkt, S unterdrückt oder geschlossen ist. Nur 240 Millionen Menschen leben in Staaten mit offener Zivilgesellschaft. eit mehr als zwei Jahren bestimmt die COVID-19- Pandemie unser Leben ‒ als ein globales Phänomen, das keinen Winkel und niemanden ausgespart hat. Wohl jeder Mensch ist in irgendeiner Weise berührt worden, sei es durch Erkrankung, Tod und Trauer, Einschränkungen des alltägli- 3 % offen (240 Millionen) chen Lebens oder ökonomische Folgen. Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie von Re- gierungen weltweit erlassen wurden, haben die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft erheblich eingeschränkt: Wo Versamm- 8 % beeinträchtigt (646 Millionen) lungen verboten werden, sind auch Demonstrationen nicht möglich; wenn Lockdown ist, können sich Gruppen nicht tref- fen. Vielen unserer Partnerorganisationen war es kaum mög- lich, ihre Zielgruppen zu erreichen. Um arbeitsfähig zu bleiben, sind sie ins Digitale ausgewichen. 18 % beschränkt (1.427 Millionen) Im Rahmen seines Monitors sammelt und analysiert die Nichtregierungsorganisation CIVICUS in jedem Jahr Infor- mationen darüber, wo und in welchem Maße Regierungen Freiräume beschneiden und zivilgesellschaftliche Akteur:in- nen behindern. Auf einer interaktiven Webseite macht der CIVICUS erfahrbar, wie es um Freiheitsrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weltweit bestellt ist. Land für Land kann man dort anklicken und aktuelle Be- richte lesen. 44 % unterdrückt (3.458 Millionen) In der aktuellen Fassung von „People Power Under Attack“ 1 vom vergangenen Dezember weist der CIVICUS-Monitor deutlich auf die COVID-19-Pandemie als Verstärker von ein- schränkenden Maßnahmen vor allem autoritärer Regime hin. Sie nutzten die Lage, um ihre Macht abzusichern. Marianna Belalba Barreto, Leiterin des CIVICUS-Moni- tors, sagt es so: „Regierungen auf der ganzen Welt schaffen 26 % geschlossen (2.008 Millionen) einen sehr gefährlichen Präzedenzfall, indem sie den Ge- sundheitsnotstand als Vorwand nutzen, um gegen Proteste Werte gerundet vorzugehen und Gesetze zu erlassen oder zu ändern, die die Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack CIVICUS-Report 13
So entsteht der CIVICUS-Monitor Ungefähr zwei Dutzend Analyst:innen werten bei CIVICUS laufend Berichte von Hunderten lokalen Nichtregierungsorganisationen, mehr als 20 interna- tionalen Partnerorganisationen und öffentlichen Quellen aus. Sie wollen wissen, wo und auf w elche Weise der Civic Space angegriffen wird. Es h andelt sich meist um regionale Netzwerke wie das West A frican Human Rights Defenders Network oder das Red L atinoamericana y del Caribe para la Democracia. Die Quellen werden in einem standar- disierten Verfahren evaluiert und die Ergebnisse von externen Expert:innen geprüft. CIVICUS misst den Einschätzungen lokaler Akteur:innen dabei stärkere Rechte der Menschen weiter einschränken werden. Dies ist Bedeutung bei als internationalen Gremien. Daten eine b esorgniserregende Praxis, die zur neuen Norm werden staatlicher Stellen fließen nicht ein. Berücksichtigt könnte, um abweichende Meinungen zu unterdrücken.“ 2 Dabei werden auch Indizes wie die Rangliste der Presse- bestreiten auch wir nicht, dass Regierungen dazu verpflichtet freiheit von Reporter ohne Grenzen. Als neuer Index sind, zum Schutz der öffentlichen Gesundheit Maßnahmen wurde nun der vom Varieties of Democracy (V-Dem) zu ergreifen, die auch mit der temporären Einschränkung von entwickelte Indikator für friedliche Versammlun- Freiheitsrechten verbunden sein können. Sie müssen aber ver- gen aufgenommen. Dieser hat den Indikator P olitical hältnismäßig und von begrenzter Dauer sein sowie auf einer Terror Scale (PTS) e rsetzt, denn mit dem V-Dem- rechtlichen Grundlage basieren. Indikator gibt es nun ein geeigneteres Mittel, die Versammlungsfreiheit zu messen. Am Ende der Be- Mehrere Hundert Recherchen vor Ort wertung entsteht ein Indexwert für jedes Land, der die zivilgesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten Für seine Analysen greift CIVICUS auf detaillierte Beobach- beschreibt. Theoretisch könnte auf dieser Basis eine tungen aus der ganzen Welt zurück. Grundlage sind die Be- Rangliste erstellt werden. CIVICUS hat sich dagegen richte Hunderter lokaler Nichtregierungsorganisationen und entschieden: Zu groß sind regionale Besonderheiten mehr als 20 Partnerorganisationen sowie öffentliche Q uellen.3 und zu dynamisch die politischen Prozesse, als dass Um abzubilden, wo und wie der Civic Space angegriffen wird, ein numerischer Wert exakte Aussagekraft hätte. Die hat CIVICUS fünf Kategorien entwickelt. Der Raum für Staaten werden stattdessen in fünf Gruppen einge- zivilgesellschaftliches Handeln ist „offen“, „beeinträchtigt“, teilt: „offen“ (Indexwert 100 bis 81), „beeinträchtigt“ „beschränkt“, „unterdrückt“ oder „geschlossen“. (80 bis 61), „beschränkt“ (60 bis 41), „unterdrückt“ 88 Prozent aller Menschen leben inzwischen in Ländern (40 bis 21) oder „ geschlossen“ (20 bis 0). mit erheblichen Einschränkungen ihrer Rechte und nur 2021 waren die größten Geldgeber von CIVICUS drei Prozent in Ländern, in denen die Möglichkeiten zivilge- die schwedische Behörde für internationale Ent- sellschaftlichen Handelns als „offen“ eingestuft werden. Das wicklungszusammenarbeit (Sida), das dänische bedeutet: Nur 240 Millionen Menschen sind Bürger:innen in Außenministerium, die Open Society Foundation, Ländern mit freien Medien und der Möglichkeit, die Meinung die Europäische Kommission und die Ford-Stiftung. frei äußern zu können. Für zwei Milliarden Menschen dage- Mehr unter civicus.org gen ‒ 26 Prozent der Weltbevölkerung, also jede:r Vierte ‒ ist es Alltag, dass staatliche Behörden jene inhaftieren, verletzen, misshandeln oder gar töten, die offen Kritik üben oder sich für Menschenrechte starkmachen. Auch China gehört zu den Ländern, die C IVICUS auf seiner Webseite rot und damit als „geschlossen“ markiert hat. Außerdem Saudi-Arabien, Belarus und N icaragua und 21 weitere Länder. Den größten Anteil nehmen die rund 3,5 Milliarden Men- schen ein ‒ fast jede:r Zweite ‒, die in Ländern leben, in denen Freiheitsrechte „unterdrückt“ werden. Dort werden etwa De- monstrant:innen mit scharfer Munition beschossen, Medien geben oftmals die Meinung der Regierung wieder, unabhän- gige Stimmen werden drangsaliert. 14 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Mehr Ab- als Aufsteiger Insgesamt 15 Länder haben im Erhebungszeitraum zwischen 1. November 2020 und 31. Oktober 2021 die Kategorie gewechselt ‒ nur eines in eine höhere. offen beschränkt geschlossen beeinträchtigt unterdrückt Verschlechterung Auch in Europa gehen Sicherheitskräfte Belgien gewaltsam gegen Protestierende vor Tschechien Salomonen 14 Länder wurden gegenüber dem Vorjahr herabgestuft; nur die Mongolei wurde heraufgestuft von „beschränkt“ zu „be- Botswana einträchtigt“. Besorgniserregend ist die Verschlechterung der Polen Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln in Afrika, Südafrika wo Südafrika, Botswana, Mali und Mosambik schlechter be- Benin wertet wurden, zwei von „beeinträchtigt“ nach „beschränkt“ Haiti und zwei von „beschränkt“ nach „unterdrückt“. In Lateiname- Jordanien rika wurden Nicaragua und Haiti als „unterdrückt“ herabge- Mali stuft, und in Asien wurden von 25 Ländern 22 als „geschlos- Mosambik sen“, „unterdrückt“ oder „beschränkt“ eingestuft. Taiwan ist Singapur dort das einzige Land, das als „offen“ gilt. Belarus Aus der Perspektive des Globalen Nordens heraus betrachtet Nicaragua rücken stets die Länder des Globalen Südens in den Fokus, wenn es darum geht, Menschenrechtsverletzungen anzupran- Verbesserung gern. Dass wir aber gar nicht so weit in die Welt schweifen Mongolei müssen, um auf menschenrechtsfeindliche Handlungen staat- licher Behörden zu stoßen, zeigt Belgien. Noch im Vorjahres- bericht von CIVICUS gehörte das Land, das in Brüssel quasi Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack die Hauptstadt Europas beherbergt, zu den wenigen, in denen die Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft als vorbild- lich „offen“ gelten. Jetzt ist der Handlungsraum der Zivilgesell- schaft „beschränkt“. Verantwortlich dafür war die anhaltende Gewalt seitens der Sicherheitskräfte selbst bei friedlichen Ver- sammlungen gegen Rassismus und soziale Ungleichheit im Winter 2020 / 21. Europa hat immer noch die meisten Län- der, die als „offen“ bewertet wurden. Allerdings wurden neben Belgien auch Polen, Belarus und die Tschechische Republik herabgestuft ‒ und damit drei Mitgliedsstaaten der Europäi- schen Union. Das eklatante globale Missverhältnis stellt der CIVICUS-Mo- nitor mit einer treffenden Metapher dar: mit einer Waage, deren Waagschalen mit dem Anteil der Länder, in denen zivil- gesellschaftliches Handeln „geschlossen“, „unterdrückt“ oder „beschränkt“ wird, deutlich schwerer wiegt als die Waagschale, in der die „offenen“ und „beeinträchtigten“ Länder zusammen- gefasst sind. In 116 von 196 Ländern sind die bürgerlichen Frei- heitsrechte in Abstufungen massiv eingeschränkt, in 80 Län- dern können sich die Menschen frei oder einigermaßen frei äußern und ihre Rechte wahrnehmen. Anders ausgedrückt: In der einen symbolischen Schale sind 890 Millionen Menschen, in der anderen 6,9 Milliarden. CIVICUS-Report 15
Ein Blick auf die Welt In 116 Staaten leidet die Zivilgesellschaft unter Beschränkungen der bürgerlichen Grundfreiheiten. Das sind zwei Länder mehr als im Vorjahr. 13 % geschlossen 25 Staaten 20 % offen Schmähkampagnen, Verhaftungen 39 Staaten und gezielte Aufrufe zur Gewalt Zu den Repressionen und Einschränkungen gegen Akti vist:innen und zivilgesellschaftliche Initiativen zählen 24 % Schmähkampagnen, Bedrohungen, willkürliche Verhaftun- unterdrückt gen bis hin zu physischer, psychischer und sexualisierter Ge- 48 Staaten walt, von der insbesondere Frauen betroffen sind. Neben den staatlichen sind auch nicht-staatliche Akteur:innen, also etwa Milizen oder rechtsnationale Gruppen, für die schrumpfen- den Handlungsräume verantwortlich. Zusätzlich verstärken 22 % 21 % häufig staats- und wirtschaftsnahe Medien Diffamierungen durch gezielte Kampagnen und Aufrufe zu Gewalt. Kritik an beschränkt beeinträchtigt der Regierung gilt oft als unpatriotisch und wird kriminali- 43 Staaten 41 Staaten siert. Und wo rechtsstaatliche Strukturen fehlen, kann sich die Zivilgesellschaft kaum gegen Repressionen mit rechtlichen Berechnung nach Staaten, 196 Staaten = 100 % Mitteln zur Wehr setzen. Oder sie versucht, für ihre Rechte Werte gerundet in zumeist zermürbenden, lang andauernden juristischen Ver- Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack fahren zu kämpfen. Regierungen behindern und schikanieren zivilgesellschaft- liche Initiativen, Vereine und soziale Bewegungen mit illegi- timen Gesetzen und überbordenden bürokratischen Verord- nungen. Neben den Pandemiemaßnahmen missbrauchen sie Antiterrorismus-, Sicherheits-, Internet- oder Mediengesetze, aber auch das Strafrecht, um die Freiheitsrechte zu beschnei- den. Zudem ergeben sich Einschränkungen infolge repressiver Gesetzgebung und Regulierungen, die direkt Nichtregierungs- organisationen betreffen und etwa den Empfang von Mitteln aus dem Ausland beschränken oder Arbeit zu bestimmten Themen verbieten. Nur eines von vielen Beispielen: In Uganda hat die Regierung im vergangenen Jahr die Arbeit von 54 Or- ganisationen gestoppt. Der Vorwurf lautete, sie hätten sich nicht an das NGO-Gesetz gehalten. Bürokratisierung, Über- regulierung, eine rigide Auslegung von Verordnungen, etwa bei Registrierungsprozessen, und steuerliche Hürden sind wei- tere Formen dieser regulativen Einschränkungen, die gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit verstoßen. Besonders häufig hat der CIVICUS-Monitor von November 2020 bis Oktober 2021 Inhaftierungen von Demonstrant:in- nen, Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen registriert. Dabei kam es Regimen zupass, dass sie Demonst- rationen unter Hinweis auf Bestimmungen zur Eindämmung der Pandemie leichter auflösen oder verbieten konnten. Eine 16 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
| Am 26. April 2021 protestieren Frauen im südafrikanischen Durban gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Im CIVICUS-Monitor wird der zivilgesellschaftliche Raum Südafrikas seit dem vergangenen Jahr als „beschränkt“ eingestuft. häufigsten dokumentierte Verletzung des zivilen Raums, in Nord-, Zentral- und Südamerika und in der Karibik sind es die Einschüchterung und Inhaftierung von Demonstrant:in- nen. In Asien und dem Pazifikraum geschehen die meisten Eingriffe in die Freiheitsrechte der Zivilgesellschaft durch re- striktive Gesetzgebung. In Europa und Zentralasien steht die Inhaftierung von Demonstrant:innen ganz oben auf der Liste, Gefahr für Inhaftierte in pandemischen Zeiten: In engen, und im Nahen Osten und Nordafrika ist die Inhaftierung von überbelegten Gefängnis- oder Arrestzellen kann sich das Menschenrechtsverteidiger:innen der am häufigsten gemel- C orona-Virus leichter ausbreiten. Das gefährdete das Leben dete Verstoß. Dabei sind es nicht nur Massen, durch die sich gerade derer, die ohnehin kaum Zugang zu adäquater medi- autoritäre Regierungen unter Druck gesetzt fühlen ‒ es kön- zinischer Hilfe bekamen. Andere Berichte bestätigen diesen nen auch einzelne friedliche Demonstrant:innen sein, die für Anstieg: Laut Reporter ohne Grenzen waren am 1. Dezember ihr Anliegen auf die Straße gehen und deshalb festgenommen 2021 weltweit mindestens 488 Journalist:innen und andere werden. Das geschah beispielsweise in Nicaragua, wo Sergio Medienschaffende wegen ihrer Arbeit im Gefängnis ‒ 20 Pro- Beteta als Einzelprotestler festgenommen wurde, weil er für zent mehr als im Vorjahr 4. Ein neues Rekordhoch. die Freilassung politischer Häftlinge eintrat, oder in Singapur, wo es LSBTI-Aktivist:innen traf, die vor dem Bildungsminis- Häufigste Grundrechtsverletzung in terium gegen Trans-Phobie protestierten. Demonstrant:innen kommen aber nicht nur in Haft, wo auto- Europa und Zentralasien: Haft ritäre Regime jede Kritik zu verhindern versuchen. Verhaftun- In den fünf Weltregionen lassen sich sowohl Gemeinsamkei- gen kommen dort zwar häufiger vor, können Demonstrierende ten, als auch regionale Unterschiede feststellen. In Afrika bei- aber auch in Ländern treffen, die als „offen“ gelten. Das haben spielsweise ist die Inhaftierung von Journalist:innen die am Vorfälle rund um die internationale Klimakonferenz COP26 CIVICUS-Report 17
Vom Shrinking Space betroffene Gruppen Einschränkungen treffen nicht alle gleichermaßen. Frauen sind am häufigsten betroffen. Frauen 26 % 15 % Umweltaktivist:innen 15 % Arbeitsrechtsaktivist:innen 13 % LSBTI Sonstige 4 % 12 % Jugendliche Flüchtlinge und Migrant:innen 6 % Indigene Gruppen 8 % Quelle: CIVICUS (2021) Was ist Zivilgesellschaft? Zivilgesellschaft grenzt sich vom staatlichen und gezeigt, etwa in Kanada, Norwegen oder Deutschland. Aller- wirtschaftlichen Sektor sowie von der Privatsphäre dings sind die Konsequenzen gänzlich andere: Rechtsstaat ab. Sie ist eine lebendige Arena des kollektiven liche Verfahren, wie es sie in „offenen“ Ländern gibt, sind öffentlichen Handelns mit Positionen zu gesell- nicht überall auf der Welt selbstverständlich. schaftlichen Fragestellungen, Lösungen und Ver- fahren. Z ivilgesellschaftlichen Akteur:innen sind Deutschland: Gerichte machten etwa Vereine, NGOs, Verbände, Kirchen und soziale Demonstrationen wieder möglich Bewegungen. Ihr Engagement beruht auf Selbstor- ganisation, ist rechtlich gemeinnützig, nicht pro- Beispiel Deutschland: Auch hier ist die Lage für die Zivil- fitorientiert und unabhängig von parteipolitischen gesellschaft nicht perfekt. Mit dem Beginn der P andemie I nteressen. Z ivilgesellschaftliche Akteur:innen haben Bundesregierung und Länderregierungen Freiheits- haben viele Rollen: Sie leisten Hilfe für sozial Be- rechte eingeschränkt. In den meisten Fällen waren die Ent- dürftige und Schwache, übernehmen aber auch wich- scheidungen aber verhältnismäßig ‒ und somit rechtmäßig. tige demokratische Funktionen. Vereine und Initia- Eine Ausnahme war die Aussetzung der Versammlungs- tiven können in der Öffentlichkeit Themen setzen freiheit in einigen Bundesländern im Frühjahr 2020. Erst oder auf Probleme aufmerksam machen, an die sich Gerichte ‒ etwa das Bundesverfassungsgericht im April staatliche Stellen nicht herantrauen. Sie können 2020 ‒ machten Demonstrationen wieder möglich. B esonders Druck aufbauen, damit sich etwas ändert. Sie sind beunruhigend ist die bundesweit stark gestiegene Gewalt auf Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Zugang zu gegen Journalist:innen. Weil Protestierende diese bei De- Informationen, Versammlungs- und Vereinigungs- monstrationen gegen Pandemiemaßnahmen angriffen, hat freiheit angewiesen. Eine unabhängige und kritische Reporter ohne Grenzen Deutschland in der „Rangliste der Zivilgesellschaft, die sich an Menschenrechten orien- Pressefreiheit“ heruntergestuft 5. tiert, nimmt die Rolle einer Wächterin ein: Sie fordert Wie gefährlich das Engagement für Menschenrechte und das Rechte von Benachteiligten ein, kritisiert die öffent Gemeinwohl ist, bestätigen auch Daten anderer Menschen- liche Politik, setzt sich für p olitische Mitgestaltung rechtsorganisationen: Für das Jahr 2020 erfasste Frontline ein und zieht die Regierung zur Rechenschaft. Das Defenders in ihrer globalen Analyse die Ermordung von min- alles macht sie zum Motor für gerechte und nachhal- destens 331 Menschenrechtsverteidiger:innen.6 Laut Global tige Entwicklung. Witness wurden mindestens 227 Landrechtsverteidiger:innen und Umweltaktivist:innen im Jahr 2020 umgebracht ‒ mehr 18 Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Instrumente der Repression Diese Grundrechtsverletzungen hat CIVICUS zwischen November 2020 und Oktober 2021 dokumentiert. Festnahme von Aktivist:innen und Journalist:innen 492 als die Hälfte von ihnen in nur drei Ländern: in Kolumbien, Schikanierung und Einschüchterung Mexiko und auf den Philippinen.7 CIVICUS analysiert auch, welche Gruppierungen besonders 316 von Einschränkungen betroffen sind. Die Bedrohung durch autoritäre Regime und die Einschränkung fundamentaler Menschenrechte betrifft nicht alle gleich. Frauen, die für ihre Restriktive Gesetze Rechte eintreten, bilden die größte Gruppe, die verfolgt, ge- 163 schlechtsspezifisch bedroht oder verhaftet wird. Staaten über- all auf der Welt scheinen darin eine besondere Bedrohung zu sehen, als wähnten sie die von Männern dominierte Welt in Angriffe auf Journalist:innen Gefahr. In 26 Prozent aller berichteten Fälle ist diese Gruppe 154 betroffen. In einer CIVICUS-Rangliste folgen Aktivist:in- nen, die sich für Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte oder die LSBTI-Community einsetzen. Der CIVICUS-Monitor spricht Zensur daher von einer „ungleichen Krise“. 142 Allerdings spricht es auch für den Mut und die Unerschro- ckenheit von Frauen weltweit, dass sie Ungleichbehandlung, Übermäßige Gewalt staatlicher Sexismus, Benachteiligungen weltweit nicht hinnehmen und Sicherheitskräfte für Veränderungen kämpfen. Täten sie das nicht, würden sie 134 viel weniger im Fokus Herrschender stehen. Zivilgesellschaft brachte Reformen Störung von Protestaktionen in vielen Ländern voran 125 Im Jahr 2021 sind die Räume für zivilgesellschaftliches Han- deln weltweit geschrumpft. Es gab ‒ wie unser Regionalteil im Die Werte beziehen sich auf die Anzahl der Erwähnungen Atlas zeigt ‒ allerdings auch Länder, in denen die Zivilgesell- in den CIVICUS-Berichten. schaft dazu beigetragen hat, dass Regierungen politische Re- Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack formen veranlasst haben. Länder, in denen sich substantiell etwas gebessert hat, weil Regierungen verstanden haben, dass es keine Lösung sein kann, Bedürfnisse der Bevölkerung nach Beteiligung, nach Fairness und Einhaltung der Menschen- rechte zu unterdrücken. Ein leuchtendes Beispiel ist die Mongolei. Sie wurde als ein- ziges Land gegenüber dem Vorjahr hochgestuft: Ihr zivilge- sellschaftlicher Raum gilt nun nicht mehr als „beschränkt“, sondern als „beeinträchtigt“. Im April 2021 wurde dort ein Gesetz zum Schutz von Men- schenrechtsverteidiger:innen verabschiedet. Seitdem ist die Mongolei das erste Land in Asien, das einen rechtlichen Rah- men für den Schutz dieser Gruppe hat. Ihr Engagement ist jetzt gesetzlich geschützt. Ein Schritt, den die UN-Hochkom- missarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, als „großen Erfolg“ lobt. CIVICUS-Report 19
Einschränkung der Zivilgesellschaft nach Weltregionen Amerika Kanada Vereinigte Staaten von Amerika Bahamas St. Kitts und Nevis Antigua und Barbuda Kuba Mexiko Jamaika Dominica St. Lucia s. Seite 58 St. Vincent und die Dominik. Republik Belize Grenadinen Barbados Honduras Haiti Grenada Guatemala Trinidad und Tobago Costa Rica El Salvador Guyana Nicaragua Venezuela Surinam Panama Französisch-Guayana Kolumbien Die fünf häufigsten Ecuador Grundrechtsverletzungen Einschüchterung Peru Brasilien Verhaftung von Protestierenden Bolivien Attacken auf Paraguay Journalist:innen Chile Störung von Protestaktionen Uruguay Übermäßige Gewalt Argentinien staatlicher Sicherheitskräfte offen 10 Länder beeinträchtigt 9 Länder beschränkt 9 Länder unterdrückt 5 Länder geschlossen 2 Land
Gewalt ohne Strafe In keiner Region werden mehr Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen ermordert. Bei vielen Verbrechen versagt die staatliche Aufklärung. Überblick eineinhalb Jahr lang per Dekret regiert, obwohl er kaum mehr Zustimmung genoss. Demonstrationen hat die Poli- Gegenüber 2020 haben sich die Handlungsräume der Zivil- zei mit Gewalt unterdrückt. Politische Interessengruppen gesellschaft auf dem Doppelkontinent 2021 kaum verändert. sowohl auf Seiten der Regierung als auch der Opposition be- Einschüchterung, Schikane und Kriminalisierung bleiben ge- waffnen kriminelle Banden, um sich politischen Einfluss zu nauso an der Tagesordnung wie die Verletzung der Rechte von sichern. Diese Banden kontrollieren seither insbesondere Demonstrierenden und Angriffe auf die Medien. In k einer marginalisierte Stadtviertel der Hauptstadt Port-au-Prince, anderen Region werden mehr Journalist:innen und Men- wo sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben und schenrechtsverteidiger:innen ermordet. Von den 35 Ländern die Bewohner:innen einschüchtern, um zu verhindern, dass des Kontinents wird die Zivilgesellschaft in zehn als „offen“ diese ihre politischen Rechte wahrnehmen. Gewalt gegen eingestuft, in neun als „beeinträchtigt“ und in weiteren neun Journalist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen blei- als „beschränkt“. In fünf Ländern gilt der Handlungsraum ben meist straffrei. In dieser Situation kommt Akteur:innen als „unterdrückt“ und in zweien als „geschlossen“: Nicaragua der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zu, sowohl beim und Kuba . In dem Inselstaat unterdrücken die Behörden Wiederaufbau des Landes als auch bei der Wiederherstellung systematisch Proteste und schikanieren und verfolgen Akti- demokratischer Verhältnisse. Doch Hilfsmaßnahmen huma- vist:innen. Zudem wurden zahlreiche Protestierende in frag- nitärer Gruppen werden durch Straßenblockaden und Ban- würdigen Prozessen verurteilt. den behindert. Die Veränderungen in dieser Region verlaufen eher schlei- Die systematischen Repressionen von Zivilgesellschaft, Me- chend; etwa dort, wo Regierungen ihre Kontrolle über die dien und Opposition machten im November in Nicaragua , Zivilgesellschaft festigen oder Stück für Stück erweitern, so dem zweiten Absteiger der Region, den Weg frei für die um- wie in Guatemala . Dort hat das Verfassungsgericht ein NGO- strittene Wiederwahl des Präsidenten D aniel Ortega. Ins- Gesetz gebilligt, das es ermöglicht, die Finanzierung aus dem gesamt sieben Oppositionskandidaten wurden inhaftiert, Ausland zu kriminalisieren, und das der Regierung eine zudem kritische Journalist:innen, Menschenrechtsvertei- strenge Kontrolle über zivilgesellschaftliche Gruppen erlaubt. diger:innen und Unternehmer:innen. Als einzige Möglich- Oder in Venezuela , wo die Regierung ebenfalls versucht, die keit sich politisch zu äußern, blieb die Wahlenthaltung: Über Aktivitäten der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken, sowie 80 Prozent der Nicaraguaner:innen gingen nicht zur Wahl. in Kolumbien , wo soziale Anführer:innen, Landrechts- und Zudem fand sie ohne internationale Beobachtung statt. Dass Umweltaktivist:innen unter großem Druck stehen: In keinem der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft nun als „ge- anderen Land werden so viele ermordet. schlossen“ eingestuft wird, hat viele Gründe. Seit 2006 hat Es gibt mehrere Verursacher der Grundrechtsverletzungen. die Regierung unter Ortega systematisch den staatlichen und Dazu gehören staatliche Institutionen, Lokalpolitiker:innen, parastaatlichen Repressionsapparat ausgebaut und jegliche Landbesitzer:innen, Milizen, Drogenkartelle oder gewalttä- demok ratische Kontrolle unterbunden. Z ivilgesellschaftliche tige Banden. Zu weiteren Grundrechtsverletzungen kommt Organisationen wurden aufgelöst, ihre Bankkonten gesperrt es durch das Zusammenspiel von organisierter K riminalität, und selbst die Ausreise ist Aktivist:innen durch Entzug ihres Sicherheitskräften, Politik und Unternehmen bis hin zu Ge- Reisepasses oder drohende Festnahme an einer der Landes- walt im Kontext von Konflikten um Ressourcen zwischen grenzen oder am Flughafen unmöglich. Die systematische Konzernen und lokalen Gemeinschaften. Der Staat versagt Unterdrückung spiegelt sich wider in den vielen Verhaftun- dabei, Straftaten zu verfolgen und aufzuklären; er schafft es gen, dem zeitweisen Verschwindenlassen und willkürlicher nicht, Rechte zu garantieren. Das ermutigt Täter noch. Haft. Bis Januar 2022 sind mindestens 170 Personen wegen ihres demokratischen Engagements inhaftiert worden. Be- Das ist passiert sonders dramatisch ist die Situation für 36 politische Gefan- gene in N icaraguas berüchtigtstem Gefängnis El Chipote: In Haiti , herabgestuft von „beschränkt“ auf „unterdrückt“, Frauen wie Männer, allesamt ausgewiesene Kritiker:innen hatte das Zusammentreffen von politischen, humanitären des Regimes und zentrale Oppositionelle, darunter frühere und sicherheitspolitischen Krisen eine erhebliche Veren- Weggefährten O rtegas. Sie haben keinen Zugang zu Rechts- gung des zivilgesellschaftlichen Raums zur Folge. Vor seiner vertretung oder Gesundheitsversorgung. Bei einigen der In- Ermordung im vergangenen Juli hatte Präsident Jovenel haftierten hat sich der Gesundheitszustand so verschlechtert, Moïse von Januar 2020 an ohne gewähltes Parlament über dass ihre Familien um deren Leben fürchten. CIVICUS-Monitor 21
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