Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt

 
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Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
2022
Atlas der

Zivil-
gesell-
schaft
Freiheitsrechte unter Druck
Schwerpunkt Digitalisierung
Zahlen. Analysen. Interviews. Weltweit.
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
Impressum
Herausgeber
Brot für die Welt
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V.
Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin
Telefon +49 30 65211 0, Fax +49 30 65211 3333
info@brot-fuer-die-welt.de
www.brot-fuer-die-welt.de
www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft

Autor:innen Kai Schächtele, Ingo Dachwitz, Felix Zimmermann,
Chris Köver, Christine Meissler, Martina Hahn, Sven Hilbig
Redaktion Martina Hahn, Kai Schächtele, Christine Meissler,
Maike Lukow, Thorsten Herdickerhoff, Franziska Reich, Camila Sanchez
Ugalde, Annemarie Blohm (Fotos)
Inhaltliche Verantwortung Christine Meissler, Silke Pfeiffer, Kai Schächtele
Projektleitung / CvD Martina Hahn
Idee Anne Dreyer, Julia Duchrow
V. i. S. d. P. Klaus Seitz
Layout und Satz Lena Appenzeller
Infografiken und Illustrationen Sabine Hecher
Portraits Julian Rentzsch
Art Direction Nicole Liekenbröcker
Gestaltungskonzept Factor Design, Hamburg
Korrektorat Elena Bruns, Lingen
Fotos Hermann Bredehorst (S. 3), Darren Stewart / Gallo Images / Getty
Images (S. 4, 17), Ajeng Dinar Ulfiana / Reuters (S. 4, 64), Marco Longari /
AFP / Getty Images) (S. 5, 70), Walentyn Ogirenko / Reuters (S. 5, 76),
Oswaldo Rivas / Reuters (S. 23), Rentsendorj Bazarsukh / Reuters (S. 27),
Czarek Sokolowski / picture alliance / Associated Press (S. 31),
Edgard Garrido / Reuters (S. 58), Teun Voeten / Panos Pictures (S. 62),
Fotomontage: fizkes/Shutterstock 2020/Brot für die Welt (S. 69),
Mark Henley / Panos Pictures (S. 74), Alexey Pavlishak / Reuters (S. 80)

Redaktionsschluss dieser Ausgabe 20. Februar 2022

© 2022 oekom verlag, München
oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH
Waltherstraße 29, 80337 München

Druck Friedrich Pustet GmbH & Co. KG

Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-96238-379-4
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
Vorwort

Z            ivilgesellschaftliche Organisati-
onen leiden immer stärker unter Einschrän-
kungen, Verboten und Repressionen: Wieder
                                                                                       ­w urden. Des Weiteren ist zu beobachten, dass
                                                                                       zivilgesellschaftliche Organisationen und
                                                                                       Freiwillige, die sich etwa in der Flüchtlingsar-
verloren weltweit viele ­Partnerorganisationen                                         beit oder für Klima- und Umweltschutz enga-
von Brot für die Welt ihre Registrierung oder                                          gieren, immer häufiger attackiert und bedroht
konnten sie nicht mehr verlängern. Wieder                                              werden. Nicht nur über die Sozialen Medien,
mussten viele ihrer Mitarbeitenden das Land verlassen, um              sondern auch physisch.
nicht verhaftet zu werden. Noch nie mussten so viele Orga-             Hinzu kommt, dass weltweit die Digitalisierung an Bedeu-
nisationen in ihrem Ursprungsland geschlossen werden und               tung gewonnen hat und in immer mehr Bereiche hineinwirkt.
ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen. Dabei sind Men-                Diesem Thema widmet sich daher der Schwerpunkt unserer
schenrechte und zivilgesellschaftliche Initiativen ­essenziell         Publikation. Denn Digitalisierung ist für die Aktivist:innen
für Demokratie, Entwicklung und Frieden.                               Chance und Problem zugleich: Mithilfe moderner Kommu-
Vor diesem Hintergrund veröffentlichen wir nun zum fünften             nikationskanäle können sie einerseits direkter und erfolgrei-
Mal den Atlas der Zivilgesellschaft gemeinsam mit CIVICUS,             cher informieren, mobilisieren, sich vernetzen. Andererseits
dem weltweiten Netzwerk für Bürgerbeteiligung. Die Daten               ­können Autokrat:innen mittels Digitalisierung viel leichter
des CIVICUS-Monitor spiegeln unsere eigenen Beobachtun-                Meinungsäußerungen zensieren und Menschen überwachen.
gen des weltweiten Trends wider: Der Handlungsraum zivilge-            Und doch kommen wir zu dem Fazit, das auch die 2021 er-
sellschaftlicher Organisationen und Akteur:innen schrumpfte            schienene Denkschrift der EKD „Freiheit digital. Die Zehn
im vergangenen Jahr erneut. Die Zahl der Menschen, die in              Gebote in Zeiten des digitalen Wandels“ teilt: Digitalisierung
offenen Gesellschaften leben, sinkt weiter ‒ und die der Men-          ist auch ein wichtiger Baustein für nachhaltige Entwicklung.
schen, die in Staaten leben, deren Regierungen die Zivilgesell-        Vorausgesetzt, dass Barrieren des Zugangs abgebaut und Men-
schaft unterdrücken und schließen, wächst. 70 Prozent der              schenrechte respektiert werden.
Weltbevölkerung leben inzwischen in diesen Ländern, die der            Bei allen Herausforderungen der Digitalisierung, die unser
Atlas orange und rot darstellt.                                        Schwerpunktteil beleuchtet, wird eines klar: Menschenrechts-
14 Länder haben sich in ihrer Einstufung verschlechtert, dar-          organisationen und NGOs, die sich mit Fragen der Digitalisie-
unter auch Polen, das nun neben Ungarn als zweites EU-Mit-             rung beschäftigen, und viele andere setzen sich ­unermüdlich
glied in der Kategorie „beschränkt“ eingestuft wird. Das zeigt,        dafür ein, dass digitale Tools unser Leben bereichern und
dass längst auch im Globalen Norden und der Europäischen               Schäden minimiert werden. Ob Nicht-Diskriminierung bei
Union die zivilgesellschaftlichen Handlungsräume zuneh-                automatisierten Entscheidungen und künstlicher Intelligenz,
mend schrumpfen. Die Zahl der im Atlas der Zivilgesellschaft           bessere Regulierung der Exporte von Überwachungstechno-
grün eingefärbten ‒ also offenen ‒ Länder in der EU hat mit            logien, der biometrischen Erkennung oder der großen Tech-
zwölf einen neuen Tiefstand erreicht.                                  Konzerne, Vermeidung von Hasskriminalität, Bewahrung von
Deutschland gehört weiterhin zu den offenen Staaten. Doch              Datenschutz oder Meinungsfreiheit online: Zivilgesellschaft-
auch hier ist die Situation für die Zivilgesellschaft nicht perfekt.   liche Initiativen erfüllen auch hier ihre wichtige Watch-Dog-
Reporter ohne Grenzen hat Deutschland 2021 in der Rang-                Funktion und wachen darüber, dass Menschen weltweit so
liste der Pressefreiheit eine Kategorie abgewertet, weil Journa-       viel wie möglich von technologischen Entwicklungen profitie-
list:innen stärker als je zuvor von Protestierenden a
                                                    ­ ngegriffen       ren ‒ und dabei Menschenrechte eingehalten werden.

                                                                       Dr. Dagmar Pruin
                                                                       Präsidentin von Brot für die Welt

                                                                                                                      Vorwort        3
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
Inhalt
                                            2   Impressum
                                            3   Vorwort
                                            6   Zusammenfassung
                                            8   Weltkarte
                                           10   Kategorien

                                           1
    8

                                           CIVICUS-Monitor:
                                           Verschärfte Bedingungen für
                                           die Zivilgesellschaft

                                           13   CIVICUS-Report
                                                Auch im zweiten Jahr haben Regierungen die
                                                Pandemie genutzt, um gegen Proteste vorzu-

    13
                                                gehen und Gesetze zu erlassen, die die Freiheit
                                                einschränken. 14 Länder wurden von CIVICUS
                                                herabgestuft, nur eines konnte sich verbessern.

                                           Die Weltregionen

                                           20   Nord-, Mittel- und Südamerika – In keiner
                                                Region gibt es mehr Morde an Journalist:innen
                                                und Menschenrechtsverteidiger:innen.
                                           24   Asien-Pazifik-Raum – Repressive Gesetze
                                                bedrängen die Zivilgesellschaft.
                                           28   Europa und Zentralasien – Die Missachtung

    20
                                                bürgerlicher Grundfreiheiten setzt sich fort –
                                                auch in etablierten Demokratien.
                                           32   Afrika südlich der Sahara – In vielen Ländern
                                                hat das Militär die Macht übernommen.
                                           35   Naher Osten und Nordafrika – In keiner
                                                anderen Region geraten Menschen so sehr unter
                                                Druck, wenn sie sich für Demokratie einsetzen.

4       Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
3
 70

                                                        Zivilgesellschaft im Fokus
                                                        58     Mexiko – Kein anderes Land hat die Spionage-
                                                               Software Pegasus so exzessiv eingesetzt.
                                                        64     Indonesien – Die Regierung nutzt ein Gesetz
                                                               zur Regulierung des Online-Handels, um
                                                               Kritiker:innen zum Schweigen zu bringen.
                                                        70     Tansania – Mit einem Internet-Shutdown

2
                                                               sicherte der Präsident seine Wiederwahl.
                                                        76     Ukraine – Seit Beginn des Konfliks mit
                                                              ­Russland sind Falschnachrichten ein zentraler
                                                               Bestandteil der russischen Kriegsführung.

Schwerpunkt Digitalisierung:
Gefahren und Chancen für                                 76
die Zivilgesellschaft im Netz

38   Der digitale Raum wird enger – Das Internet
     als reines Freiheitsmedium ist Geschichte.
     Autoritäre Regime missbrauchen es.
42   Interview – Josephine Ballon verteidigt Opfer
     von Hass, Felix Reda die Grundrechte: ein Ge-
     spräch über Regulierung und Meinungsfreiheit.
46   Brandbeschleuniger für Konflikte –
     Facebook ist eine Gefahr für die Demokratie.
48   Kontrolle durch biometrische Überwachung –
     Digitalisierte Zugänge zu Sozialhilfen beschnei-
     den die Rechte der Bedürftigsten.                   Unsere Forderungen
50   Überwachungsstaat: Made in Europe –
     Weltweit nutzen Autokraten Technologie aus          82     Was zu tun ist
     Europa, um die Bevölkerung zu unterdrücken.                Grundrechte müssen auch im
51   „Geld fließt nur in eine Richtung“ – Es gibt               Netz verteidigt werden. Politik
     einen neuen, digitalen Kolonialismus. Auch                 und Gesellschaft können an
     der beutet Menschen im Globalen Süden aus.                 vielen Punkten ansetzen.
52   Nackt durch Daten früher und heute – Was
     vor Jahrzehnten undenkbar war, ist heute Alltag.
54   Maschine entscheidet über Mensch –
     High-Tech bestimmt, wer soziale Leistung erhält.   84    Quellen/Endnoten

                                                                                                  Inhalt       5
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
Zusammengefasst

                                                             1
                                              Zahlen und Fakten
      Nur 240 Millionen Menschen (drei Prozent)                  ­verbessert und steigt in die Kategorie beeinträch-
      leben in den 39 o
                      ­ ffenen Staaten der Welt, in denen        tigt auf. Belgien, die Tschechische Republik und
      zivil­­­ge­sellschaftliche Grundfreiheiten wie Mei-        die S
                                                                     ­ alomonen steigen in beeinträchtigt ab. Neben
      nungs- und Versammlungsfreiheit garantiert sind.           Südafrika und Botswana rutscht auch Polen als
      Das sind zehn Prozent weniger als im Jahr 2020.            zweites EU-Land in die Kategorie beschränkt ab.
      Zusammen mit elf anderen EU-Ländern gehört                 Abgestiegen in unterdrückt sind Benin, Haiti,
      ­Deutschland weiterhin zu den offenen Ländern.             ­Jordanien, Mali, Mosambik und Singapur. Belarus
      88 Prozent aller Menschen leben 2021 in Ländern,           und Nicaragua gelten nun als geschlossen.
      in denen die Zivilgesellschaft beschränkt, unter-          Frauen sind die am häufigsten von Einschränkun-
      drückt oder geschlossen ist. Das betrifft 6,9 Milli-       gen und Repressionen betroffene Gruppe, gefolgt
      arden Menschen, die in Ländern leben, in denen             von Menschen, die sich für Land-, Arbeits- und
      Regierungen Grundrechte beschneiden, Kriti-                LSBTI-Rechte einsetzen. Als häufigstes Instru­
      ker:innen drangsalieren, verhaften und verfolgen.          ment der Repression weltweit hat CIVICUS die
      Das geschieht in sechs von zehn Ländern.                   ­Verhaftungen von Journalist:innen und Aktivist:in-
      14 Länder werden gegenüber dem Vorjahr her-                nen dokumentiert.
      abgestuft. Nur ein Land, die Mongolei, hat sich

                                                             2
                                    Schwerpunkt Digitalisierung
      Vielfältig, unzensiert, demokratiefördernd ‒ das           ­sperren das Netz ganz und ü
                                                                                            ­ berwachen Aktivist:in-
      ist das Internet, hofften viele Menschen lange.            nen und ­Journalist:innen gezielt mit ­digitalen
      Doch diese Attribute passen aus heutiger Sicht             Technologien, oft Made in Europe.
      nicht ‒ oder nur teilweise. Denn die großen digi-          Die Herausforderungen an Politik, P
                                                                                                   ­ lattformen
      talen Plattformen und das World Wide Web sind              und Zivilgesellschaft sind groß: Sie ­müssen
      ­beides: Medien der Freiheit und der Kontrolle.            ­aushandeln und entscheiden, was dem Hass im
      Sie helfen der Zivilgesellschaft vielerorts, gefähr-       Netz und in den Sozialen Medien ­entgegengesetzt
      den sie aber oft auch massiv.                              ­werden kann, ohne dass die Meinungsfreiheit
      Denn einerseits nutzen zivilgesellschaftliche              ­eingeschränkt wird. Wie mehr Menschen gerade
      ­Organisationen, Aktivist:innen und Blogger:in-            im ­Globalen Süden einen besseren Zugang zum
      nen digitale Tools zur Organisation und Effizienz­         Internet be­kommen. Und wie sich die Datensam-
      steigerung ihrer Arbeit: Sie verbreiten über sie           melwut der großen Tech-Konzerne und die damit
      ­A nalysen und Kampagnen und tauschen sich da-             für die D
                                                                         ­ emokratie von Facebook & Co. ausge-
      rüber aus. Andererseits schränken R
                                        ­ egierungen             henden Gefahren eindämmen lassen. Die zivilge-
      weltweit durch Online-Zensur die Meinungs- und             sellschaftlichen Stimmen mehren sich, die mehr
      Pressefreiheit ein: Sie blockieren den Zugang              men­schenrechtsorientierte Regulierung und eine
      zu b
         ­ estimmten Webseiten oder Plattformen oder             Eindämmung des digitalen Kapitalismus fordern.

6   Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
3
                                                   Länder
Vier Länderbeispiele im Atlas der Zivilgesellschaft       Partnerorganisationen und verkleinern ihre
illustrieren die Chancen, aber auch die Heraus­           ­Handlungsräume. Doch die Zivilgesellschaft wehrt
forderungen für zivilgesellschaftliches Engagement        sich auch mithilfe digitaler Instrumente gegen
und Freiheitsrechte im digitalen Raum: In Mexiko          staatliche Repression. Sie vernetzt sich und ent-
wurden zahlreiche Menschenrechtsverteidiger:in-           wickelt neue Formate, um wirkungsvoller zu
nen und Journalist:innen mit der Spionagesoftware         ­arbeiten. Die B
                                                                         ­ rot für die Welt-Partnerorganisation
Pegasus ausgespäht. In Indonesien beschneiden             ­Mental Health Service beispielsweise nutzt ­digitale
Gesetze die freie Meinungsäußerung im Netz und            Tools, um infolge des Kriegs traumatisierte Men-
in den Sozialen Medien. In Tansania ließ die Re-          schen in der Ostukraine zu therapieren. Und in
gierung einen Tag vor den Präsidentschaftswahlen          ­Indonesien informiert die Organisation KontraS
2020 mehrere Tage das Internet abschalten. Und            trotz ­einschränkender IT-Gesetze und Zensur über
in der Ostukraine spitzt sich der Konflikt durch          ­Soziale Medien die Öffentlichkeit und tauscht
die Verbreitung von Falschnachrichten weiter zu.          sich über diese Kanäle mit anderen Organisa­tionen
Überwachung im digitalen Raum, Zensur, Netz-              aus. Auf diese Weise übt sie auch Druck auf die
sperren und Desinformation verletzen die Grund-           ­Regierung aus.
freiheiten. Sie erschweren die Arbeit u
                                      ­ nserer

                                                      4
                          Unsere politischen Forderungen
Damit Menschenrechte weltweit geachtet werden             ­autonom entscheiden oder bei der Entscheidungs-
und sich eine unabhängige Zivilgesellschaft enga-         findung helfen, nur nach einer Risikoprüfung
gieren kann, muss auch die Politik in Deutschland         ­eingeführt werden ‒ diese dürfen keine Grund-
handeln. Bundesregierung und Bundestag müs-               rechte beschneiden. Zudem sollte die deutsche
sen sich hierfür kompromisslos für eine unabhän-          ­Entwicklungszusammenarbeit den Zugang für alle
gige Zivilgesellschaft und die universellen Men-          zum Internet stärker fördern.
schenrechte ‒ auch im digitalen Raum ‒ einsetzen.         Unsere politischen Vertreter:innen sollten sich
Deutsche Botschaften sollten sich stärker für             ­außerdem dafür starkmachen, dass die Zensur
­Menschenrechte und deren Verteidiger:innen               ­einzelner Dienste sowie Internet-Shutdowns als
engagieren ‒ und dafür, dass die Zivilgesellschaft        Menschenrechtsverletzung geächtet werden. Auf
vor Ort agieren und teilhaben kann.                       internationaler Ebene muss ein völkerrechtlicher
Die menschenrechtliche Verantwortung der                  Rahmen entstehen, der festlegt, welche Pflich-
­deutschen politischen Entscheidungsträger:in-            ten die Staaten und welche Verantwortung die Un-
nen beginnt bei der eigenen Politik. Sie sollten          ternehmen im digitalen Raum haben ‒ und der
den E
    ­ xport von Überwachungsprodukten bis auf             ­garantiert, dass diese im Einklang mit den interna-
­Einzelfallgenehmigungen verbieten. Sie sollten           tionalen Menschenrechten stehen.
­sicherstellen, dass algorithmische Systeme, die

                                                                                              Zusammengefasst     7
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
CIVICUS-Einstufungen

      offen

      beeinträchtigt

      beschränkt

      unterdrückt

      geschlossen

      Länder, zu denen CIVICUS keine Daten erhebt

Siehe auch www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft

Die Welt sieht rot:
Zivilgesellschaft stark unter Druck
Afrika südlich der Sahara: Angola | Äquatorialguinea | Äthiopien | Benin | Botswana | Burkina Faso | Burundi | Dschibuti |
Elfenbeinküste | Eritrea | Eswatini | Gabun | Gambia | Ghana | Guinea | Guinea-Bissau | Kamerun | Kap Verde | Kenia | Komoren |
Republik Kongo | Demokra­tische Republik Kongo | Lesotho | Liberia | Madagaskar | Malawi | Mali | Mauretanien | Mauritius |
Mosambik | Namibia | Niger | Nigeria | Ruanda | Sambia | São Tomé und Príncipe | Senegal | Seychellen | Sierra Leone | Simbabwe |
Somalia | Südafrika | Sudan | Südsudan | Tansania | Togo | Tschad | Uganda | Zentralafrikanische Republik

Amerika: Antigua und Barbuda | Argentinien | Bahamas | Barbados | Belize | Bolivien | Brasilien | Chile | Costa Rica |
Dominica | Dominikanische Republik | Ecuador | El Salvador | Grenada | Guatemala | Guyana | Haiti | Honduras | Jamaika |
Kanada | Kolumbien | Kuba | Mexiko | Nicaragua | Panama | Paraguay | Peru | St. Kitts und Nevis | St. Lucia | St. Vincent und
die Grenadinen | Surinam | Trinidad und Tobago | Uruguay | Venezuela | Vereinigte Staaten von Amerika

8      Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
Asien/Pazifik: Afghanistan | Australien | Bangladesch | Bhutan | Brunei | China | Fidschi | Indien | Indonesien | Japan |
Kambodscha | Kiribati | Laos | Malaysia | Malediven | Marshall­inseln | Mikronesien | Mongolei | Myanmar | Nauru | Nepal |
Neuseeland | Nordkorea | Osttimor | Pakistan | Palau | Papua-Neuguinea | Philippinen | Salomonen | Samoa | Singapur |
Sri Lanka | Südkorea | Taiwan ‒ Province of China (offizielle UN-Bezeichnung) | Thailand | Tonga | Tuvalu | Vanuatu | Vietnam

Europa/Zentralasien: Albanien | Andorra | Armenien | Aserbaidschan | Belarus | Belgien | Bosnien-Herzegowina | Bulgarien |
Dänemark | Deutschland | Estland | Finnland | Frankreich | Georgien | Griechenland | Großbritannien | Irland | Island | Italien |
Kasachstan | Kirgisistan | Kosovo | Kroatien | Lettland | Liechtenstein | Litauen | Luxemburg | Malta | Republik Moldau |
Monaco | Montenegro | Niederlande | Nordmazedonien | Norwegen | Österreich | Polen | Portugal | Rumänien | Russland |
San Marino | Schweden | Schweiz | Serbien | Slowakei | Slowenien | Spanien | Tadschikistan | Tschechien | Türkei |
Turkmenistan | Ukraine | Ungarn | Usbekistan | Zypern

Naher Osten und Nordafrika: Ägypten | Algerien | Bahrain | Irak | Iran | Israel | Jemen | Jordanien | Katar | Kuwait | Libanon |
Libyen | Marokko | Oman | Palästina | Saudi-Arabien | Syrien | Tunesien | Vereinigte Arabische Emirate

                                                                Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft stark unter Druck            9
Zivil-gesell- schaft - Atlas der 2022 - Brot für die Welt
Die fünf Kategorien des CIVICUS-Monitors

offen (open)*                                 39 Staaten       3%                  der Weltbevölkerung

Der Staat ermöglicht und garantiert allen Menschen zivil-       Andorra, Antigua und Barbuda, Barbados, Dänemark,
gesellschaftliche Freiheiten. Sie können ohne rechtliche oder   Deutschland, Dominica, Estland, Finnland, Grenada,
praktische Hürden Vereinigungen bilden, im öffentlichen         Irland, Island, Kanada, Kap Verde, Kiribati, Liechtenstein,
Raum demonstrieren, sie bekommen Informationen und              Litauen, Luxemburg, Marshall­inseln, Mikronesien,
dürfen diese auch verbreiten. Autoritäten sind offen für        Monaco, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich,
Kritik von zivilgesellschaftlichen Organisationen und bieten    Palau, Portugal, Samoa, San Marino, São Tomé und
Plattformen für intensiven und konstruktiven Dialog mit         Príncipe, Schweden, Schweiz, St. Kitts und Nevis, St. Lucia,
Bürgerinnen und Bürgern. Demonstrierende werden von             St. Vincent und die Grenadinen, Surinam, Taiwan ‒
der Polizei grundsätzlich geschützt und die Gesetze zur Rege-   Province of China (offizielle UN-Bezeichnung), Tuvalu,
lung des Versammlungsrechts entsprechen internationalen         Uruguay, Zypern
Standards. Es gibt freie Medien, Internetinhalte werden
nicht zensiert und Regierungsinformationen sind leicht
zugänglich.

beeinträchtigt (narrowed)*                    41 Staaten       8%                   der Weltbevölkerung

Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen       Albanien, Argentinien, Australien, Bahamas, Belize,
ist es überwiegend gestattet, ihre Rechte zur Vereinigungs-,    Belgien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Costa Rica,
Versammlungs- und Meinungsfreiheit auszuüben. Trotzdem          Dominikanische Republik, Frankreich, Georgien,
kommen Verletzungen dieser Rechte vor. Menschen können          Ghana, Griechenland, Großbritannien, Guyana, Italien,
Vereinigungen mit einer ganzen Bandbreite von Zielen            Jamaika, Japan, Kosovo, Kroatien, Lettland, Malta,
bilden. Es gibt aber Fälle, in denen als regierungskritisch     Mauritius, Nordmazedonien, Republik Moldau, Mongolei,
geltende Vereinigungen juristisch verfolgt oder anderweitig     Montenegro, Namibia, Panama, Rumänien, Salomonen,
schikaniert werden. Demonstrationen verlaufen weitgehend        Seychellen, Slowakei, Slowenien, Spanien, Südkorea,
ungestört, werden von den Behörden aber teilweise unter         Tonga, Trinidad und Tobago, Tschechien, Vanuatu
Verweis auf Sicherheitsbedenken verboten. Es kommt
auch vor, dass unverhältnismäßige Gewalt wie Tränengas
oder Gummigeschosse gegen friedlich Demonstrierende
eingesetzt wird. Die Medien haben die Freiheit, ein großes
Spektrum an Informationen zu verbreiten. Eine völlig
freie Entfaltung der Presse wird aber entweder durch strikte
Regulierung oder Ausübung von politischem Druck auf
Medienschaffende verhindert.

Erhebungen des CIVICUS-Monitors werden laufend aktualisiert. Diesem Bericht liegen die Daten
des Erhebungszeitraums 01. 11. 2020 bis 31. 10. 2021 zugrunde. Tagesaktuelle Daten unter monitor.civicus.org.
* englische Bezeichnung der Kategorie im CIVICUS-Monitor

10     Atlas der Zivilgesellschaft 2022
beschränkt (obstructed)*                      43 Staaten         18 %                       der Weltbevölkerung

Die Regierenden beschneiden eine freie Grundrechtsent­            Armenien, Bhutan, Bolivien, Brasilien, Botswana,
fal­tung durch eine Kombination aus rechtlichen und               Burkina Faso, Chile, Ecuador, El Salvador, Fidschi,
­praktischen Einschränkungen. Zivilgesellschaftliche Orga­        Gambia, Guatemala, Guinea-Bissau, Indonesien, Israel,
nisationen existieren zwar, doch staatliche Stellen ver-          Kasachstan, Kenia, Kirgisistan, Komoren, Lesotho,
suchen sie zu zersetzen, unter anderem, indem sie diese           Libanon, Liberia, Malawi, Malaysia, Malediven, Marokko,
­über­wachen, bürokratisch schikanieren und öffentlich ­          Nauru, Nepal, Osttimor, Papua-Neuguinea, Paraguay,
de­­mütigen. Bürgerinnen und Bürger können sich friedlich         Peru, Polen, Sambia, Senegal, Serbien, Sierra Leone,
versammeln, werden aber häufig von Polizeikräften unter           Sri Lanka, Südafrika, Tunesien, Ukraine, Ungarn,
Einsatz ex­zessiver Gewalt auseinandergetrieben, etwa             Vereinigte Staaten von Amerika
mit Gummigeschossen, Tränengas und Schlagstöcken.
Es gibt Raum für nicht-staatliche Medien und redaktionelle
Unabhängigkeit, aber Journalistinnen und Journalisten
erfahren körperliche Übergriffe und Verleumdungsklagen.
Viele sehen sich daher zur Selbstzensur genötigt.

unterdrückt (repressed)*                      48 Staaten         44 %                          der Weltbevölkerung

Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist stark           Afghanistan, Algerien, Angola, Äthiopien, Bangladesch,
eingeschränkt. Aktivistinnen und Aktivisten, die Macht­           Benin, Brunei, Elfenbeinküste, Eswatini, Gabun,
habende kritisieren, werden überwacht, drangsaliert, einge-       Guinea, Haiti, Honduras, Indien, Jordanien, Kambodscha,
schüchtert, inhaftiert, verletzt oder sogar getötet. Obwohl es    Kamerun, Katar, Kolumbien, Demokra­tische Republik
einige zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, wird deren     Kongo, Republik Kongo, Kuwait, Madagaskar, Mali,
Advocacy-Arbeit regelmäßig verhindert. Die Organisationen         Mauretanien, Mexiko, Mosambik, Myanmar, Niger,
verlieren ihre Registrierung oder werden geschlossen.             Nigeria, Oman, Pakistan, Palästina, Philippinen, Ruanda,
Menschen, die friedliche Demonstrationen organisieren oder        Russland, Simbabwe, Singapur, Somalia, Sudan,
daran teilnehmen, werden häufig von staatlichen Kräften           Tadschikistan, Tansania, Thailand, Togo, Tschad, Türkei,
mit scharfer Munition beschossen oder in Gewahrsam                Uganda, Venezuela
genommen, es gibt Massenverhaftungen. Die Medien geben
typischerweise die Sicht der Regierung wieder. Unabhängige
Stimmen werden routinemäßig durch Razzien, körperliche
Übergriffe oder langwierige Strafverfahren verfolgt. Kritische
Webseiten und Soziale Medien sind blockiert und die Inter-
netnutzung wird stark überwacht.

geschlossen (closed)*                         25 Staaten         26 %                        der Weltbevölkerung

Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist ‒ in recht-     Ägypten, Äquatorialguinea, Aserbaidschan, Bahrain,
licher und praktischer Hinsicht ‒ komplett geschlossen. Es        Belarus, Burundi, China, Dschibuti, Eritrea, Irak,
herrscht eine Atmosphäre der Angst. Staatliche und mäch-          Iran, Jemen, Kuba, Laos, Libyen, Nicaragua, ­Nordkorea,
tige nicht-staatliche Akteur:innen kommen ungestraft davon,       ­Saudi-Arabien, Südsudan, Syrien, Turkmenistan,
wenn sie Menschen für die Wahrnehmung ihrer Rechte                ­Usbekistan, Vereinigte Arabische Emirate, Vietnam,
auf Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit             ­Zentralafrikanische Republik
inhaftieren, misshandeln oder töten. Jegliche Kritik am
Regime wird schwer bestraft. Es gibt keine Pressefreiheit.
Das Internet wird stark zensiert und die meisten Webseiten
sind blockiert.

                                                                 Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft stark unter Druck     11
Teil 1

         CIVICUS-Monitor:
     Verschärfte Bedingungen für
         die Zivilgesellschaft

S       ich gegen soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung oder Umweltzerstörung zu
engagieren, wird in vielen Weltregionen zunehmend schwieriger. Die Pandemie hat diese
Entwicklungen seit 2020 weiter verstärkt und sichtbarer gemacht. Das Jahr 2021 markiert
einen weiteren Tiefpunkt. Mit der Mongolei stieg nur ein Land in eine bessere Kategorie
auf. In 14 Ländern verschlechterte sich die Einstufung.

12   Atlas der Zivilgesellschaft 2022
CIVICUS-Report

                                                                   88%
                                                                   aller Menschen leben in Staaten, in
                                                                   denen die Zivilgesellschaft beschränkt,

S
                                                                   unterdrückt oder geschlossen ist.
                                                                   Nur 240 Millionen Menschen leben in Staaten mit
                                                                   offener Zivilgesellschaft.
          eit mehr als zwei Jahren bestimmt die COVID-19-
Pandemie unser Leben ‒ als ein globales Phänomen, das
keinen Winkel und niemanden ausgespart hat. Wohl jeder
Mensch ist in irgendeiner Weise berührt worden, sei es durch
Erkrankung, Tod und Trauer, Einschränkungen des alltägli-
                                                                   3 % offen   (240 Millionen)
chen Lebens oder ökonomische Folgen.
Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie von Re-
gierungen weltweit erlassen wurden, haben die Möglichkeiten
der Zivilgesellschaft erheblich eingeschränkt: Wo Versamm-         8 % beeinträchtigt     (646 Millionen)
lungen verboten werden, sind auch Demonstrationen nicht
möglich; wenn Lockdown ist, können sich Gruppen nicht tref-
fen. Vielen unserer Partnerorganisationen war es kaum mög-
lich, ihre Zielgruppen zu erreichen. Um arbeitsfähig zu bleiben,
sind sie ins Digitale ausgewichen.                                 18 % beschränkt      (1.427 Millionen)
Im Rahmen seines Monitors sammelt und analysiert die
Nichtregierungsorganisation CIVICUS in jedem Jahr Infor-
mationen darüber, wo und in welchem Maße Regierungen
Freiräume beschneiden und zivilgesellschaftliche Akteur:in-
nen behindern. Auf einer interaktiven Webseite macht der
­CIVICUS erfahrbar, wie es um Freiheitsrechte wie Meinungs-,
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weltweit ­
                                                bestellt
ist. Land für Land kann man dort anklicken und aktuelle Be-
richte lesen.                                                      44 % unterdrückt       (3.458 Millionen)
In der aktuellen Fassung von „People Power Under Attack“ 1
vom vergangenen Dezember weist der CIVICUS-Monitor
deutlich auf die COVID-19-Pandemie als Verstärker von ein-
schränkenden Maßnahmen vor allem autoritärer Regime hin.
Sie nutzten die Lage, um ihre Macht abzusichern.
Marianna Belalba Barreto, Leiterin des CIVICUS-Moni-
tors, sagt es so: „Regierungen auf der ganzen Welt schaffen        26 % geschlossen      (2.008 Millionen)
einen sehr gefährlichen Präzedenzfall, indem sie den Ge-
sundheitsnotstand als Vorwand nutzen, um gegen Proteste            Werte gerundet
vorzugehen und Gesetze zu erlassen oder zu ändern, die die         Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack

                                                                                                     CIVICUS-Report    13
So entsteht der CIVICUS-Monitor

     Ungefähr zwei Dutzend Analyst:innen werten bei
     CIVICUS laufend Berichte von Hunderten ­lokalen
     Nichtregierungsorganisationen, mehr als 20 interna-
     tionalen Partnerorganisationen und öffentlichen
     Quellen aus. Sie wollen wissen, wo und auf w
                                                ­ elche
     Weise der Civic Space angegriffen wird. Es h
                                                ­ andelt
     sich meist um regionale Netzwerke wie das West
     A frican Human Rights Defenders Network oder
     ­
     das Red ­
             L atinoamericana y del Caribe para la
     ­Democracia. Die Quellen werden in einem standar-
     disierten Verfahren evaluiert und die Ergebnisse von
     externen Expert:innen geprüft. CIVICUS misst den
     Einschätzungen ­lokaler Akteur:innen dabei stärkere         Rechte der Menschen weiter einschränken werden. Dies ist
     Bedeutung bei als internationalen Gremien. Daten            eine b
                                                                      ­ esorgniserregende Praxis, die zur neuen Norm werden
     staatlicher ­Stellen fließen nicht ein. Berücksichtigt      könnte, um abweichende Meinungen zu unterdrücken.“ 2 Dabei
     werden auch ­Indizes wie die Rangliste der Presse-          bestreiten auch wir nicht, dass Regierungen dazu ­verpflichtet
     freiheit von Reporter ohne Grenzen. Als neuer Index         sind, zum Schutz der öffentlichen Gesundheit Maßnahmen
     wurde nun der vom ­Varieties of Democracy (V-Dem)           zu ergreifen, die auch mit der temporären Einschränkung von
     entwickelte Indikator für friedliche Versammlun-            Freiheitsrechten verbunden sein können. Sie müssen aber ver-
     gen aufgenommen. Dieser hat den Indikator P
                                               ­ olitical        hältnismäßig und von begrenzter Dauer sein sowie auf einer
     ­Terror Scale (PTS) e
                         ­ rsetzt, denn mit dem V-Dem-­          rechtlichen Grundlage basieren.
     Indikator gibt es nun ein geeigneteres Mittel, die
     ­Versammlungsfreiheit zu messen. Am Ende der Be-            Mehrere Hundert Recherchen vor Ort
     wertung entsteht ein Indexwert für jedes Land, der
     die zivilgesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten          Für seine Analysen greift CIVICUS auf detaillierte Beobach-
     beschreibt. Theoretisch könnte auf dieser Basis eine        tungen aus der ganzen Welt zurück. Grundlage sind die Be-
     Rangliste erstellt werden. ­CIVICUS hat sich dagegen        richte Hunderter lokaler Nichtregierungsorganisationen und
     entschieden: Zu groß sind regionale Besonderheiten          mehr als 20 Partnerorganisationen sowie öffentliche Q
                                                                                                                     ­ uellen.3
     und zu dynamisch die politischen Prozesse, als dass         Um abzubilden, wo und wie der Civic Space angegriffen wird,
     ein ­numerischer Wert exakte Aussagekraft hätte. Die        hat CIVICUS fünf Kategorien entwickelt. Der Raum für
     Staaten werden stattdessen in fünf Gruppen einge-           ­zivilgesellschaftliches Handeln ist „offen“, „beeinträchtigt“,
     teilt: „offen“ ­(Indexwert 100 bis 81), ­„beeinträchtigt“   ­„beschränkt“, „unterdrückt“ oder „geschlossen“.
     (80 bis 61), „beschränkt“ (60 bis 41), „unterdrückt“        88 Prozent aller Menschen leben inzwischen in Ländern
     (40 bis 21) oder ­„ geschlossen“ (20 bis 0).                mit erheblichen Einschränkungen ihrer Rechte und nur
     2021 waren die größten Geldgeber von CIVICUS                drei ­Prozent in Ländern, in denen die Möglichkeiten zivilge-
     die schwedische Behörde für internationale Ent-             sellschaftlichen Handelns als „offen“ eingestuft werden. Das
     wicklungszusammenarbeit (Sida), das dänische                ­bedeutet: Nur 240 Millionen Menschen sind Bürger:innen in
     ­Außenministerium, die Open Society Foundation,             Ländern mit freien Medien und der Möglichkeit, die Meinung
     die Europäische Kommission und die Ford-Stiftung.           frei äußern zu können. Für zwei Milliarden Menschen dage-
     Mehr unter civicus.org                                      gen ‒ 26 Prozent der Weltbevölkerung, also jede:r Vierte ‒ ist
                                                                 es Alltag, dass staatliche Behörden jene inhaftieren, verletzen,
                                                                 misshandeln oder gar töten, die offen Kritik üben oder sich
                                                                 für Menschenrechte starkmachen. Auch China gehört zu den
                                                                 Ländern, die C
                                                                              ­ IVICUS auf seiner Webseite rot und damit als
                                                                 „geschlossen“ markiert hat. Außerdem Saudi-Arabien, Belarus
                                                                 und N
                                                                     ­ icaragua und 21 weitere Länder.
                                                                 Den größten Anteil nehmen die rund 3,5 Milliarden Men-
                                                                 schen ein ‒ fast jede:r Zweite ‒, die in Ländern leben, in denen
                                                                 Freiheitsrechte „unterdrückt“ werden. Dort werden etwa De-
                                                                 monstrant:innen mit scharfer Munition beschossen, Medien
                                                                 geben oftmals die Meinung der Regierung wieder, unabhän-
                                                                 gige Stimmen werden drangsaliert.

14      Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Mehr Ab- als Aufsteiger
                                                                    Insgesamt 15 Länder haben im Erhebungszeitraum
                                                                    zwischen 1. November 2020 und 31. Oktober 2021 die
                                                                    Kategorie gewechselt ‒ nur eines in eine höhere.

                                                                      offen                 beschränkt         geschlossen
                                                                      beeinträchtigt        unterdrückt

                                                                                        Verschlechterung
Auch in Europa gehen Sicherheitskräfte                                        Belgien
gewaltsam gegen Protestierende vor                                      Tschechien
                                                                        Salomonen
14 Länder wurden gegenüber dem Vorjahr herabgestuft; nur
die Mongolei wurde heraufgestuft von „beschränkt“ zu „be-                Botswana

einträchtigt“. Besorgniserregend ist die Verschlechterung der                  Polen

­Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln in Afrika,              Südafrika

wo Südafrika, Botswana, Mali und Mosambik schlechter be-                       Benin
wertet wurden, zwei von „beeinträchtigt“ nach „beschränkt“                      Haiti
und zwei von „beschränkt“ nach „unterdrückt“. In Lateiname-              Jordanien
rika wurden Nicaragua und Haiti als „unterdrückt“ herabge-                      Mali
stuft, und in Asien wurden von 25 Ländern 22 als „geschlos-             Mosambik
sen“, „unterdrückt“ oder „beschränkt“ eingestuft. Taiwan ist              Singapur
dort das einzige Land, das als „offen“ gilt.
                                                                              Belarus
Aus der Perspektive des Globalen Nordens heraus betrachtet
                                                                         Nicaragua
rücken stets die Länder des Globalen Südens in den Fokus,
wenn es darum geht, Menschenrechtsverletzungen anzupran-                                Verbesserung
gern. Dass wir aber gar nicht so weit in die Welt schweifen
                                                                          Mongolei
müssen, um auf menschenrechtsfeindliche Handlungen staat-
licher Behörden zu stoßen, zeigt Belgien. Noch im Vorjahres-
bericht von CIVICUS gehörte das Land, das in Brüssel quasi          Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack
die Hauptstadt Europas beherbergt, zu den wenigen, in denen
die Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft als vorbild-
lich „offen“ gelten. Jetzt ist der Handlungsraum der Zivilgesell-
schaft „beschränkt“. Verantwortlich dafür war die anhaltende
Gewalt seitens der Sicherheitskräfte selbst bei friedlichen Ver-
sammlungen gegen Rassismus und soziale Ungleichheit im
Winter 2020 / 21. Europa hat immer noch die meisten Län-
der, die als „offen“ bewertet wurden. Allerdings wurden neben
­Belgien auch Polen, Belarus und die ­Tschechische Republik
herabgestuft ‒ und damit drei Mitgliedsstaaten der Europäi-
schen Union.
Das eklatante globale Missverhältnis stellt der CIVICUS-Mo-
nitor mit einer treffenden Metapher dar: mit einer Waage,
deren Waagschalen mit dem Anteil der Länder, in denen zivil-
gesellschaftliches Handeln „geschlossen“, „unterdrückt“ oder
„beschränkt“ wird, deutlich schwerer wiegt als die Waagschale,
in der die „offenen“ und „beeinträchtigten“ Länder zusammen-
gefasst sind. In 116 von 196 Ländern sind die bürgerlichen Frei-
heitsrechte in Abstufungen massiv eingeschränkt, in 80 Län-
dern können sich die Menschen frei oder einigermaßen frei
äußern und ihre Rechte wahrnehmen. Anders ausgedrückt: In
der einen symbolischen Schale sind 890 Millionen Menschen,
in der anderen 6,9 Milliarden.

                                                                                                          CIVICUS-Report     15
Ein Blick auf die Welt
In 116 Staaten leidet die Zivilgesellschaft unter
Beschränkungen der bürgerlichen Grundfreiheiten.
Das sind zwei Länder mehr als im Vorjahr.

       13 %
         geschlossen
           25 Staaten
                                          20 %
                                          offen
                                                           Schmähkampagnen, Verhaftungen
                                          39 Staaten
                                                           und gezielte Aufrufe zur Gewalt
                                                           Zu den Repressionen und Einschränkungen gegen Akti­
                                                           vist:innen und zivilgesellschaftliche Initiativen zählen
      24 %                                                 Schmäh­kampagnen, Bedrohungen, willkürliche Verhaftun-
unterdrückt                                                gen bis hin zu physischer, psychischer und sexualisierter Ge-
  48 Staaten                                               walt, von der insbesondere Frauen betroffen sind. Neben den
                                                           staatlichen sind auch nicht-staatliche Akteur:innen, also etwa
                                                           ­Milizen oder rechtsnationale Gruppen, für die schrumpfen-
                                                           den Handlungsräume verantwortlich. Zusätzlich verstärken

         22 %                             21 %             häufig staats- und wirtschaftsnahe Medien Diffamierungen
                                                           durch gezielte Kampagnen und Aufrufe zu Gewalt. Kritik an
     beschränkt                           beeinträchtigt
                                                           der ­Regierung gilt oft als unpatriotisch und wird kriminali-
      43 Staaten                          41 Staaten
                                                           siert. Und wo rechtsstaatliche Strukturen fehlen, kann sich die
                                                           Zivil­gesellschaft kaum gegen Repressionen mit rechtlichen
Berechnung nach Staaten, 196 Staaten = 100 %               Mitteln zur Wehr setzen. Oder sie versucht, für ihre Rechte
Werte gerundet                                             in zumeist zermürbenden, lang andauernden juristischen Ver-
Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack          fahren zu kämpfen.
                                                           Regierungen behindern und schikanieren zivilgesellschaft-
                                                           liche Initiativen, Vereine und soziale Bewegungen mit illegi-
                                                           timen Gesetzen und überbordenden bürokratischen Verord-
                                                           nungen. Neben den Pandemiemaßnahmen missbrauchen sie
                                                           Antiterrorismus-, Sicherheits-, Internet- oder Mediengesetze,
                                                           aber auch das Strafrecht, um die Freiheitsrechte zu beschnei-
                                                           den. Zudem ergeben sich Einschränkungen infolge repressiver
                                                           Gesetzgebung und Regulierungen, die direkt Nichtregierungs-
                                                           organisationen betreffen und etwa den Empfang von Mitteln
                                                           aus dem Ausland beschränken oder Arbeit zu bestimmten
                                                           Themen verbieten. Nur eines von vielen Beispielen: In Uganda
                                                           hat die Regierung im vergangenen Jahr die Arbeit von 54 Or-
                                                           ganisationen gestoppt. Der Vorwurf lautete, sie hätten sich
                                                           nicht an das NGO-Gesetz gehalten. Bürokratisierung, Über-
                                                           regulierung, eine rigide Auslegung von Verordnungen, etwa
                                                           bei Registrierungsprozessen, und steuerliche Hürden sind wei-
                                                           tere Formen dieser regulativen Einschränkungen, die gegen
                                                           das Recht auf Vereinigungsfreiheit verstoßen.
                                                           Besonders häufig hat der CIVICUS-Monitor von November
                                                           2020 bis Oktober 2021 Inhaftierungen von Demonstrant:in-
                                                           nen, Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen
                                                           registriert. Dabei kam es Regimen zupass, dass sie Demonst-
                                                           rationen unter Hinweis auf Bestimmungen zur Eindämmung
                                                           der Pandemie leichter auflösen oder verbieten konnten. Eine

16     Atlas der Zivilgesellschaft 2022
| Am 26. April 2021 protestieren Frauen im südafrikanischen Durban gegen geschlechtsspezifische Gewalt.
            Im CIVICUS-Monitor wird der zivilgesellschaftliche Raum Südafrikas seit dem vergangenen Jahr als „beschränkt“ eingestuft.

                                                                    häufigsten dokumentierte Verletzung des zivilen Raums, in
                                                                    Nord-, Zentral- und Südamerika und in der Karibik sind es
                                                                    die Einschüchterung und Inhaftierung von Demonstrant:in-
                                                                    nen. In Asien und dem Pazifikraum geschehen die meisten
                                                                    Eingriffe in die Freiheitsrechte der Zivilgesellschaft durch re-
                                                                    striktive Gesetzgebung. In Europa und Zentralasien steht die
                                                                    Inhaftierung von Demonstrant:innen ganz oben auf der Liste,
Gefahr für Inhaftierte in pandemischen Zeiten: In engen,            und im Nahen Osten und Nordafrika ist die Inhaftierung von
überbelegten Gefängnis- oder Arrestzellen kann sich das             Menschenrechtsverteidiger:innen der am häufigsten gemel-
­C orona-Virus leichter ausbreiten. Das gefährdete das Leben        dete Verstoß. Dabei sind es nicht nur Massen, durch die sich
gerade derer, die ohnehin kaum Zugang zu adäquater medi-            autoritäre Regierungen unter Druck gesetzt fühlen ‒ es kön-
zinischer Hilfe bekamen. Andere Berichte bestätigen diesen          nen auch einzelne friedliche Demonstrant:innen sein, die für
Anstieg: Laut Reporter ohne Grenzen waren am 1. Dezember            ihr Anliegen auf die Straße gehen und deshalb festgenommen
2021 weltweit mindestens 488 Journalist:innen und andere            werden. Das geschah beispielsweise in Nicaragua, wo Sergio
Medienschaffende wegen ihrer Arbeit im Gefängnis ‒ 20 Pro-          Beteta als Einzelprotestler festgenommen wurde, weil er für
zent mehr als im Vorjahr 4. Ein neues Rekordhoch.                   die Freilassung politischer Häftlinge eintrat, oder in Singapur,
                                                                    wo es LSBTI-Aktivist:innen traf, die vor dem Bildungsminis-

Häufigste Grundrechtsverletzung in                                  terium gegen Trans-Phobie protestierten.
                                                                    Demonstrant:innen kommen aber nicht nur in Haft, wo auto-
Europa und Zentralasien: Haft
                                                                    ritäre Regime jede Kritik zu verhindern versuchen. Verhaftun-
In den fünf Weltregionen lassen sich sowohl Gemeinsamkei-           gen kommen dort zwar häufiger vor, können Demonstrierende
ten, als auch regionale Unterschiede feststellen. In Afrika bei-    aber auch in Ländern treffen, die als „offen“ gelten. Das haben
spielsweise ist die Inhaftierung von Journalist:innen die am        Vorfälle rund um die internationale Klimakonferenz COP26

                                                                                                           CIVICUS-Report          17
Vom Shrinking Space betroffene Gruppen
Einschränkungen treffen nicht alle gleichermaßen. Frauen sind am häufigsten betroffen.

                                 Frauen 26 %                                             15 % Umweltaktivist:innen

                                                                                         15 % Arbeitsrechtsaktivist:innen

                                                                                         13 % LSBTI

                                Sonstige 4 %
                                                                                         12 % Jugendliche
      Flüchtlinge und Migrant:innen 6 %

                     Indigene Gruppen 8 %

Quelle: CIVICUS (2021)

     Was ist Zivilgesellschaft?

     Zivilgesellschaft grenzt sich vom staatlichen und         gezeigt, etwa in Kanada, Norwegen oder Deutschland. Aller-
     wirtschaftlichen Sektor sowie von der ­Privatsphäre       dings sind die Konsequenzen gänzlich andere: Rechtsstaat­
     ab. Sie ist eine lebendige Arena des kollektiven          liche Verfahren, wie es sie in „offenen“ Ländern gibt, sind
     öffentlichen Handelns mit Positionen zu gesell-
     ­                                                         nicht überall auf der Welt selbstverständlich.
     schaftlichen Fragestellungen, Lösungen und Ver-
     fahren. Z
             ­ ivilgesellschaftlichen Akteur:innen sind        Deutschland: Gerichte machten
     etwa ­Vereine, NGOs, Verbände, Kirchen und ­soziale
                                                               Demonstrationen wieder möglich
     ­Bewegungen. Ihr Engagement beruht auf Selbstor-
     ganisation, ist rechtlich gemeinnützig, nicht pro-        Beispiel Deutschland: Auch hier ist die Lage für die Zivil-
     fitorientiert und unabhängig von parteipolitischen        gesellschaft nicht perfekt. Mit dem Beginn der P
                                                                                                              ­ andemie
     ­I nteressen.   ­Z ivilgesellschaftliche   Akteur:innen   haben Bundesregierung und Länderregierungen Freiheits-
     haben viele Rollen: Sie leisten Hilfe für sozial Be-      rechte eingeschränkt. In den meisten Fällen waren die Ent-
     dürftige und Schwache, übernehmen aber auch wich-         scheidungen aber verhältnismäßig ‒ und somit rechtmäßig.
     tige demokratische Funktionen. Vereine und Initia-        Eine Ausnahme war die Aussetzung der Versammlungs-
     tiven können in der Öffentlichkeit Themen setzen          freiheit in einigen ­Bundesländern im Frühjahr 2020. Erst
     oder auf Probleme aufmerksam machen, an die sich          Gerichte ‒ etwa das Bundesverfassungsgericht im April
     staatliche Stellen nicht herantrauen. Sie können          2020 ‒ machten Demonstrationen wieder möglich. B
                                                                                                              ­ esonders
     Druck aufbauen, damit sich etwas ändert. Sie sind         beunruhigend ist die bundesweit stark gestiegene Gewalt
     auf Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Zugang zu           gegen Journalist:innen. Weil Protestierende diese bei De-
     Informationen, Versammlungs- und Vereinigungs-            mo­ns­trationen gegen Pandemiemaßnahmen angriffen, hat
     freiheit angewiesen. Eine ­unabhängige und kritische      ­Reporter ohne Grenzen Deutschland in der „Rangliste der
     Zivilgesellschaft, die sich an Menschenrechten orien-     Pressefreiheit“ heruntergestuft 5.
     tiert, nimmt die Rolle einer Wächterin ein: Sie fordert   Wie gefährlich das Engagement für Menschenrechte und das
     Rechte von Benachteiligten ein, kritisiert die öffent­    Gemeinwohl ist, bestätigen auch Daten anderer Menschen-
     liche Politik, setzt sich für p
                                   ­ olitische Mitgestaltung   rechtsorganisationen: Für das Jahr 2020 erfasste Frontline
     ein und zieht die Regierung zur Rechenschaft. Das         Defenders in ihrer globalen Analyse die Ermordung von min-
     alles macht sie zum Motor für gerechte und nachhal-       destens 331 Menschenrechtsverteidiger:innen.6 Laut Global
     tige Entwicklung.                                         Witness wurden mindestens 227 Landrechtsverteidiger:innen
                                                               und Umweltaktivist:innen im Jahr 2020 umgebracht ‒ mehr

18      Atlas der Zivilgesellschaft 2022
Instrumente der Repression
                                                                  Diese Grundrechtsverletzungen hat CIVICUS
                                                                  zwischen November 2020 und Oktober 2021
                                                                  dokumentiert.

                                                                               Festnahme von Aktivist:innen
                                                                               und Journalist:innen

                                                                                                                      492

als die Hälfte von ihnen in nur drei Ländern: in Kolumbien,
                                                                               Schikanierung und Einschüchterung
Mexiko und auf den Philippinen.7
CIVICUS analysiert auch, welche Gruppierungen besonders                                              316
von Einschränkungen betroffen sind. Die Bedrohung durch
autoritäre Regime und die Einschränkung fundamentaler
Menschenrechte betrifft nicht alle gleich. Frauen, die für ihre                Restriktive Gesetze
Rechte eintreten, bilden die größte Gruppe, die verfolgt, ge-                        163
schlechtsspezifisch bedroht oder verhaftet wird. Staaten über-
all auf der Welt scheinen darin eine besondere Bedrohung zu
sehen, als wähnten sie die von Männern dominierte Welt in                      Angriffe auf Journalist:innen
Gefahr. In 26 Prozent aller berichteten Fälle ist diese Gruppe                      154
betroffen. In einer CIVICUS-Rangliste folgen Aktivist:in-
nen, die sich für Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte oder die
LSBTI-Community einsetzen. Der CIVICUS-Monitor spricht                         Zensur
daher von einer „ungleichen Krise“.                                                142
Allerdings spricht es auch für den Mut und die Unerschro-
ckenheit von Frauen weltweit, dass sie Ungleichbehandlung,                     Übermäßige Gewalt staatlicher
Sexismus, Benachteiligungen weltweit nicht hinnehmen und                       Sicherheitskräfte
für Veränderungen kämpfen. Täten sie das nicht, würden sie
                                                                                  134
viel weniger im Fokus Herrschender stehen.

Zivilgesellschaft brachte Reformen                                             Störung von Protestaktionen

in vielen Ländern voran                                                          125

Im Jahr 2021 sind die Räume für zivilgesellschaftliches Han-
deln weltweit geschrumpft. Es gab ‒ wie unser Regionalteil im     Die Werte beziehen sich auf die Anzahl der Erwähnungen
Atlas zeigt ‒ allerdings auch Länder, in denen die Zivilgesell-   in den CIVICUS-Berichten.
schaft dazu beigetragen hat, dass Regierungen politische Re-      Quelle: CIVICUS (2021): People Power Under Attack
formen veranlasst haben. Länder, in denen sich substantiell
etwas gebessert hat, weil Regierungen verstanden haben, dass
es keine Lösung sein kann, Bedürfnisse der Bevölkerung nach
Beteiligung, nach Fairness und Einhaltung der Menschen-
rechte zu unterdrücken.
Ein leuchtendes Beispiel ist die Mongolei. Sie wurde als ein-
ziges Land gegenüber dem Vorjahr hochgestuft: Ihr zivilge-
sellschaftlicher Raum gilt nun nicht mehr als „beschränkt“,
­sondern als „beeinträchtigt“.
Im April 2021 wurde dort ein Gesetz zum Schutz von Men-
schenrechtsverteidiger:innen verabschiedet. Seitdem ist die
Mongolei das erste Land in Asien, das einen rechtlichen Rah-
men für den Schutz dieser Gruppe hat. Ihr Engagement ist
jetzt gesetzlich geschützt. Ein Schritt, den die UN-Hochkom-
missarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, als „großen
Erfolg“ lobt.

                                                                                                     CIVICUS-Report     19
Einschränkung der Zivilgesellschaft nach Weltregionen

Amerika

                                                  Kanada

                                         Vereinigte Staaten
                                           von Amerika

                                                                                        Bahamas                        St. Kitts und Nevis
                                                                                                                       Antigua und Barbuda
                                                                                        Kuba
                                   Mexiko                                                Jamaika
                                                                                                                       Dominica
                                                                                                                       St. Lucia
                                    s. Seite 58                                                                        St. Vincent und die
                                                                                        Dominik. Republik
                                                              Belize                                                   Grenadinen
                                                                                                                       Barbados
                                                                 Honduras      Haiti                                   Grenada
                                        Guatemala                                                                      Trinidad und Tobago
                                                                 Costa Rica
                                        El Salvador
                                                                                                      Guyana
                                        Nicaragua                                 Venezuela                  Surinam
                                        Panama                                                                 Französisch-Guayana
                                                                        Kolumbien

Die fünf häufigsten                                        Ecuador
Grundrechtsverletzungen

       Einschüchterung                                                 Peru
                                                                                                        Brasilien

       Verhaftung von
       Protestierenden                                                                 Bolivien

       Attacken auf                                                                               Paraguay
       Journalist:innen
                                                                              Chile

       Störung von
       Protestaktionen
                                                                                                                 Uruguay

       Übermäßige Gewalt                                                                 Argentinien
       staatlicher Sicherheitskräfte

       offen              10   Länder
       beeinträchtigt      9   Länder
       beschränkt          9   Länder
       unterdrückt         5   Länder
       geschlossen         2   Land
Gewalt ohne Strafe
In keiner Region werden mehr Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen
ermordert. Bei vielen Verbrechen versagt die staatliche Aufklärung.

Überblick                                                        ­eineinhalb Jahr lang per Dekret regiert, obwohl er kaum
                                                                 mehr Zustimmung genoss. Demonstrationen hat die Poli-
Gegenüber 2020 haben sich die Handlungsräume der Zivil-          zei mit Gewalt unterdrückt. Politische Interessengruppen
gesellschaft auf dem Doppelkontinent 2021 kaum verändert.        ­sowohl auf Seiten der Regierung als auch der Opposition be-
Einschüchterung, Schikane und Kriminalisierung bleiben ge-       waffnen kriminelle Banden, um sich politischen Einfluss zu
nauso an der Tagesordnung wie die Verletzung der Rechte von      sichern. Diese Banden kontrollieren seither insbesondere
Demonstrierenden und Angriffe auf die Medien. In k
                                                 ­ einer         marginalisierte Stadtviertel der Hauptstadt Port-au-Prince,
anderen Region werden mehr Journalist:innen und Men-
­                                                                wo sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben und
schenrechtsverteidiger:innen ermordet. Von den 35 Ländern        die Bewohner:innen einschüchtern, um zu verhindern, dass
des Kontinents wird die Zivilgesellschaft in zehn als „offen“    diese ihre politischen Rechte wahrnehmen. Gewalt gegen
eingestuft, in neun als „beeinträchtigt“ und in weiteren neun    Journalist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen blei-
als „beschränkt“. In fünf Ländern gilt der Handlungsraum         ben meist straffrei. In dieser Situation kommt Akteur:innen
als „unterdrückt“ und in zweien als „geschlossen“: ­Nicaragua    der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zu, sowohl beim
und Kuba . In dem Inselstaat unterdrücken die Behörden           ­Wiederaufbau des Landes als auch bei der Wiederherstellung
systematisch Proteste und schikanieren und verfolgen Akti-       demokratischer Verhältnisse. Doch Hilfsmaßnahmen huma-
vist:innen. Zudem wurden zahlreiche Protestierende in frag-      nitärer Gruppen werden durch Straßenblockaden und Ban-
würdigen Prozessen verurteilt.                                   den behindert.
Die Veränderungen in dieser Region verlaufen eher schlei-        Die systematischen Repressionen von Zivilgesellschaft, Me-
chend; etwa dort, wo Regierungen ihre Kontrolle über die         dien und Opposition machten im November in ­Nicaragua ,
­Zivilgesellschaft festigen oder Stück für Stück erweitern, so   dem zweiten Absteiger der Region, den Weg frei für die um-
wie in Guatemala . Dort hat das Verfassungsgericht ein NGO-      strittene Wiederwahl des Präsidenten D
                                                                                                      ­ aniel ­Ortega. Ins-
Gesetz gebilligt, das es ermöglicht, die Finanzierung aus dem    gesamt sieben Oppositionskandidaten wurden inhaftiert,
Ausland zu kriminalisieren, und das der Regierung eine           zudem kritische Journalist:innen, Menschenrechtsvertei-
strenge Kontrolle über zivilgesellschaftliche Gruppen erlaubt.   diger:innen und Unternehmer:innen. Als einzige Möglich-
Oder in Venezuela , wo die Regierung ebenfalls versucht, die     keit sich politisch zu äußern, blieb die Wahlenthaltung: Über
Aktivitäten der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken, sowie   80 Prozent der ­Nicaraguaner:innen gingen nicht zur Wahl.
in Kolumbien , wo soziale Anführer:innen, Landrechts- und        Zudem fand sie ohne internationale Beobachtung statt. Dass
Umweltaktivist:innen unter großem Druck stehen: In keinem        der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft nun als „ge-
anderen Land werden so viele ermordet.                           schlossen“ eingestuft wird, hat viele Gründe. Seit 2006 hat
Es gibt mehrere Verursacher der Grundrechtsverletzungen.         die Regierung unter Ortega systematisch den staatlichen und
Dazu gehören staatliche Institutionen, Lokalpolitiker:innen,     parastaatlichen Repressionsapparat ausgebaut und jegliche
Landbesitzer:innen, Milizen, Drogenkartelle oder gewalttä-       demo­k ratische Kontrolle unterbunden. Z
                                                                                                        ­ ivilgesellschaftliche
tige Banden. Zu weiteren Grundrechtsverletzungen kommt           Organisationen wurden aufgelöst, ihre Bankkonten gesperrt
es durch das Zusammenspiel von organisierter ­K riminalität,     und selbst die Ausreise ist Aktivist:innen durch Entzug ihres
­Sicherheitskräften, P­olitik und Unternehmen bis hin zu Ge-     Reise­passes oder drohende Festnahme an einer der Landes-
walt im Kontext von Konflikten um Ressourcen zwischen            grenzen oder am Flughafen unmöglich. Die systematische
Konzernen und lokalen Gemeinschaften. Der Staat versagt          Unterdrückung spiegelt sich wider in den vielen Verhaftun-
dabei, Straftaten zu verfolgen und aufzuklären; er schafft es    gen, dem zeitweisen Verschwindenlassen und willkürlicher
nicht, Rechte zu garantieren. Das ermutigt Täter noch.           Haft. Bis Januar 2022 sind mindestens 170 Personen wegen
                                                                 ihres demokratischen Engagements inhaftiert worden. Be-

Das ist passiert                                                 sonders dramatisch ist die Situation für 36 politische Gefan-
                                                                 gene in N
                                                                         ­ icaraguas berüchtigtstem Gefängnis El Chipote:
In Haiti , herabgestuft von „beschränkt“ auf „unterdrückt“,      Frauen wie Männer, allesamt ausgewiesene Kritiker:innen
hatte das Zusammentreffen von politischen, humanitären           des Regimes und zentrale Oppositionelle, darunter frühere
und sicherheitspolitischen Krisen eine erhebliche Veren-         Weggefährten O
                                                                              ­ rtegas. Sie haben keinen Zugang zu Rechts-
gung des zivilgesellschaftlichen Raums zur Folge. Vor ­seiner    vertretung oder Gesundheitsversorgung. Bei einigen der In-
Ermordung im vergangenen Juli hatte Präsident ­
                                              Jovenel            haftierten hat sich der Gesundheitszustand so verschlechtert,
Moïse von Januar 2020 an ohne gewähltes Parlament über           dass ihre Familien um deren Leben fürchten.

                                                                                                    CIVICUS-Monitor         21
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