Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause - Positionspapier
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Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause 1
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Inhalt Das Wichtigste in Kürze 3 Einleitung 5 1. Pflegebedürftigkeit vorbeugen und Gesundheit bewahren 6 2. Präventive Hausbesuche anbieten 7 3. Voraussetzungen für den Verbleib zu Hause schaffen 8 4. Umfassende medizinische Versorgung sicherstellen 8 5. Leistungen der Pflegeversicherung weiterentwickeln 9 6. Pflegende Angehörige unterstützen und entlasten 10 7. Pflege und Beruf vereinbar machen 11 8. Die Rolle der Kommunen stärken 12 9. Kommunen aufgabengerecht ausstatten 12 10. Für ausreichendes Personal in der ambulanten Pflege sorgen 13 11. Versorgungsstrukturen weiterentwickeln und modernisieren 14 22
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Das Wichtigste in Kürze Unterstützung – familiäre, nachbarschaft- liche, ehrenamtliche und professionelle – Die Sorge für Menschen, die auf Hilfe und müssen individuell aufeinander abgestimmt Pflege angewiesen sind, ist angesichts der werden („Hilfe-Mix“). demografischen Entwicklung eine große ge- sellschaftliche Herausforderung. Nach Mei- Umfassende medizinische Versorgung nung der BAGSO müssen, um die Pflege zu- sicherstellen kunftsfest zu gestalten, auch und vor allem Insbesondere wenn Pflegebedürftigkeit die Rahmenbedingungen für die ambulante vorliegt und weitere Belastungen hinzu- Pflege verbessert werden. kommen, haben ältere Menschen einen besonderen Behandlungs- und Versor- Pflegebedürftigkeit vorbeugen und gungsbedarf. Die BAGSO fordert deshalb Gesundheit bewahren den Ausbau eines wohnortnahen, flächen- Gesundheitsförderung und Prävention sind deckenden Angebots mobiler, ambulanter die besten Wege, um Pflegebedürftigkeit und teilstationärer geriatrischer Behand- entgegenzuwirken sowie ihr Fortschreiten zu lungs- und Rehabilitationsangebote und verhindern oder zu verlangsamen. Wichtig eine qualitativ hochwertige, wohnortnahe ist, dass gesundheitsförderliche Verhältnisse hausärztliche Versorgung. geschaffen und flächendeckend Angebote bereitgestellt werden, die einen gesunden Leistungen der Pflegeversicherung Lebensstil fördern. Diese müssen in den weiterentwickeln unterschiedlichen Lebenswelten älterer Die BAGSO fordert eine regelhafte Dyna- Menschen und auch für Personen mit einge- misierung und eine Flexibilisierung der schränkter Mobilität zugänglich sein. Leistungen der Pflegeversicherung, die den unterschiedlichen Bedarfslagen besser Präventive Hausbesuche sind als eine Form gerecht wird, sowie eine Begrenzung der aufsuchender Hilfe besonders geeignet, Eigenleistungen. Für die sogenannte frühzeitig Hilfebedarfe älterer Menschen 24 Stunden-Betreuung durch meist osteuro- zu erkennen und entsprechende Hilfen zu päische Hilfskräfte fordert die BAGSO drin- organisieren. Sie sollten bundesweit ange- gend gesetzliche Initiativen, um die viel- boten werden. schichtigen Probleme dieser Betreuungsform zu lösen. Voraussetzungen für den Verbleib zu Hause schaffen Pflegende Angehörige unterstützen und Der Hilfs- und Pflegebedarf von zu Hause entlasten lebenden Pflegebedürftigen ist vielfältig Pflegende Angehörige sind unverzichtbar. und kann neben einer spezifischen medi- Sie müssen – unter Berücksichtigung ihrer zinischen und pflegerischen Versorgung Bedürfnisse und Wünsche – unterstützt und hauswirtschaftliche Unterstützung sowie entlastet werden. Die BAGSO fordert deshalb Angebote zur Alltags- und Lebensgestaltung für sie das Recht auf eine eigene Beratung, umfassen. Die verschiedenen Formen der Unterstützung beim Aufbau gemischter 33
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Pflegearrangements und niedrigschwellige Für ausreichendes Personal in der Angebote zur Gesundheitsförderung und ambulanten Pflege sorgen Prävention. Die Arbeitsbedingungen in der ambulanten Pflege haben in den vergangenen Jahren Arbeitgeber sind gefordert, zu einer bes- dafür gesorgt, dass Pflegekräfte zunehmend seren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf in den stationären Sektor abgewandert sind. beizutragen und angemessene Rückkehr- Die Personalgewinnung und -haltung im bedingungen in den Beruf anzubieten. Die ambulanten Sektor muss deshalb eine sehr BAGSO fordert, dass für Fälle der Berufsauf- viel größere Beachtung finden. Neben einem gabe eine Entgeltersatzleistung analog zum Personalbemessungsverfahren, wie es für Elterngeld eingeführt wird. den stationären Sektor entwickelt worden ist, fordert die BAGSO die zügige Umsetzung Kommunen stärken und aufgabengerecht der in der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) ausstatten vereinbarten Maßnahmen. Den Kommunen kommt in der Gestaltung zukunftssicherer Unterstützungs-, Versor- Versorgungsstrukturen weiterentwickeln gungs- und Pflegestrukturen eine besonde- und modernisieren re Rolle zu. Sie müssen gesundheitsförder- Aufgrund der demografischen und sozialen liche Rahmenbedingungen schaffen sowie Entwicklungen, aber auch der Pluralisierung die verschiedenen Leistungserbringer, die in von Lebens- und Versorgungsformen wird den jeweiligen Settings wirken, koordinie- die Pflege zunehmend differenzierter ge- ren. staltet werden müssen. Deshalb fordert die BAGSO eine an die verschiedenen Nutzer- Für diese Aufgaben müssen sie aufgabenge- gruppen und deren unterschiedliche Be- recht ausgestattet werden. Dazu gehört auch darfslagen angepasste Weiterentwicklung eine stärkere Mitsprache in der Sozial- und der ambulanten Versorgung. Besonderes Pflegeplanung nach SGB V und SBG XI sowie Augenmerk verdient dabei die Situation von ein gesetzlicher Rahmen zur Stärkung der Menschen mit Demenz und ihrer Angehö- kommunalen Seniorenpolitik. rigen. Neue, sektorenübergreifende Wohn- und Versorgungsformen müssen gefördert und die Potenziale der Digitalisierung effek- tiver genutzt werden. 4
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Einleitung Wenn es darum geht, die Pflege insgesamt zukunftsfest zu gestalten, muss auch die Die Sorge für Menschen, die auf Hilfe und ambulante Pflege und müssen die zu Hau- Pflege angewiesen sind, ist angesichts der se2 lebenden Pflegebedürftigen und ihre sie demografischen Entwicklung eine große ge- pflegenden An- und Zugehörigen verstärkt sellschaftliche Herausforderung. Das Risiko, in den Blick genommen und unterstützt pflegebedürftig zu werden, steigt mit dem werden. Alter stark an. Bis heute werden die zu Pfle- genden überwiegend von deren Kindern, Etwa 80 % der Pflegebedürftigen werden der Generation der Babyboomer, versorgt. derzeit in ihrer eigenen Häuslichkeit und Mit dem Älterwerden dieser starken Jahr- zum Großteil fast ausschließlich von An- gänge zeichnet sich jedoch ein erhöhter gehörigen gepflegt. Vorzufinden sind auch Pflegebedarf ab, während gleichzeitig die „Pflege- und Hilfe-Mixe“, bei denen die Zahl der potenziellen Pflegekräfte in den Angehörigen Unterstützung und Entlastung nachfolgenden Generationen abnimmt. Für durch Dritte erhalten. Dies können ambu- die Zukunft gilt es, Pflegebedürftigen trotz lante Pflegedienste, professionelle und des Anstiegs ihrer Zahl, des Rückgangs ihrer informelle Hilfen im Haushalt oder Be- familiären Ressourcen und des Fachkräfte- treuungskräfte im Rahmen der sogenann- mangels ein selbstbestimmtes Leben in ten 24 Stunden-Betreuung sein. Die Pflege Würde zu gewährleisten. zu Hause hat jedoch auch Grenzen. Diese können in der Schwere der Pflegebedürftig- „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leis- keit, in den Möglichkeiten der Pflegeperson tungen vorrangig die häusliche Pflege und oder aber in weiteren Umständen begrün- die Pflegebereitschaft der Angehörigen und det sein. Für viele Angehörige ist Pflege mit Nachbarn unterstützen, damit die Pflege- erheblichen Belastungen verbunden. Dies bedürftigen möglichst lange in ihrer häus- hat in der Regel nachteilige Auswirkungen lichen Umgebung bleiben können“ (§ 3 auf deren Gesundheit, die familiären und SGB XI). Im Gegensatz zu diesem Grundsatz sozialen Beziehungen und die Erwerbstätig- „ambulant vor stationär“ stand bei Diskus- keit. Das birgt die Gefahr, dass die häusliche sionen um die Weiterentwicklung der Pfle- Versorgung zusammenbricht und ein von geversicherung bislang die stationäre Pflege den Beteiligten nicht gewünschter Wechsel im Vordergrund.1 in ein Pflegeheim vollzogen wird. In nicht 1 Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) hat der Gesetzgeber den Qualitätsausschuss Pflege damit beauftragt, die gesamte Qualitätsprüfung grundlegend zu überarbeiten. Für die stationäre Pflege ist diese Überarbeitung abgeschlossen. Für den ambulanten Bereich steht sie noch aus. 2 Mit dem Begriff „zu Hause“ ist in diesem Positionspapier die häusliche Pflege gemeint. Dies schließt auch neue Wohnformen mit ein, in denen ambulant Hilfsleistungen erbracht werden, z. B. im Fall des Betreuten Woh- nens. Selbstverständlich stellen auch stationäre Einrichtungen das Zuhause von älteren und pflegebedürftigen Menschen dar. Die stationäre Pflege erfordert jedoch eine spezifische Betrachtung. 5
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause wenigen Fällen scheuen sich Pflegebedürf- und Pflegebedürftigkeit, in erheblichem tige und/oder ihre Angehörigen, Hilfe von Maße vor Ort, in den Kommunen und Dritten oder von ambulanten Diensten in ihren Lebenswelten gesetzt werden, Anspruch zu nehmen. Der Grund kann sein, und dass auch in ländlichen oder struk- dass sie keine „Fremden“ in ihre Häuslich- turschwachen Regionen Hilfen flächen- keit lassen wollen oder dass sie sich schä- deckend vorhanden und wohnortnah men, nicht allein mit der Situation fertig erreichbar sein müssen. zu werden. Es gelingt ihnen nicht, die Hilfe Dritter zu ihrer Entlastung anzunehmen und Die BAGSO erhebt mit diesem Positionspa- die Chance zur Stabilisierung der Pflegesi- pier hierzu eine Reihe von Forderungen.3 tuation zu nutzen. Überforderung darf nicht dazu führen, dass pflegende Angehörige 1. Pflegebedürftigkeit vorbeugen und Schaden an ihrer Gesundheit erleiden und Gesundheit bewahren sie die Pflegebedürftigen von morgen sind. Gesundheitsförderung und Prävention sind Insgesamt gilt, dass die Rahmenbedingun- die besten Wege, um Pflegebedürftigkeit gen für die häusliche Pflege verbessert wer- entgegenzuwirken, das Fortschreiten von den müssen. Dabei ist aus Sicht der BAGSO Erkrankungen zu verhindern oder zu ver- zu berücksichtigen, langsamen und verloren gegangene Fähig- keiten wiederherzustellen. Die Potenziale dass unterschiedliche Formen von Pfle- von Gesundheitsförderung und Prävention gebedürftigkeit und unterschiedliche lassen sich auch noch im hohen Alter, bei familiäre und Haushaltssituationen eingeschränkter Gesundheit und bei Pflege- verschiedene Bedarfslagen mit sich bedürftigkeit aktivieren. Maßnahmen, die bringen, gesunde Lebensstile, eine ausgewogene dass Pflegebedürftige Individuen sind, Ernährung, regelmäßige körperliche Be- mit z. B. unterschiedlichen sozialen, wegung und die soziale Teilhabe fördern, kulturellen, ethnischen oder religiösen können maßgeblich dazu beitragen, ein Al- Hintergründen, sexuellen Orientierungen tern in bestmöglicher Gesundheit und eine oder geschlechtlichen Identitäten, die möglichst selbstständige Lebensführung zu diversitätssensible Ansätze verlangen, gewährleisten, auch bei pflegebedürftigen dass Regelungen offen sind für verschie- Menschen. Wichtig ist, dass gesundheitsför- dene – auch neue – Wohnformen und derliche Verhältnisse geschaffen werden und keine Fehlsteuerungen bedingen, ältere Menschen die individuell notwendige dass die Bedingungen für Gesundheit Unterstützung bei der Alltagsbewältigung und gute individuelle Lebensqualität im erhalten. Alter, auch im Falle von Multimorbidität 3 Dabei stützen wir uns in Teilen auf das BAGSO-Positionspapier zur Weiterentwicklung der Pflege von 2014 (vgl. www.bagso.de) und führen die darin genannten Forderungen weiter. 6
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Um ältere sowie hilfe- und pflegebedürftige Zentrale Ergebnisse der Evaluationen sind, Menschen zu erreichen, braucht es verstärkt dass durch präventive Hausbesuche recht- leicht zugängliche Angebote und – anstelle zeitig Hilfebedarfe erkannt, Leistungsan- zeitlich befristeter Projekte – nachhaltige sprüche gegenüber der Sozialversicherung Strukturen. Dies gilt insbesondere des- oder der Sozialhilfe erschlossen, Hilfenetz- halb, weil die Ergebnisse von Maßnahmen werke aufgebaut und Beratungen, z. B. zur der Gesundheitsförderung und Prävention Wohnraumanpassung, durchgeführt werden oft nicht sofort sichtbar sind. Ziel muss ein können. Durch einen umfassenden Hilfe- wohnortnahes, flächendeckendes Angebot plan, der physische, psychische und soziale von gesundheitsförderlichen, präventiven Aspekte berücksichtigt, und dessen Umset- und rehabilitativen Angeboten – auch im zung begleitet wird, kann ein längeres Ver- ländlichen Raum – sein. Für Menschen mit bleiben in der bisherigen Wohnung ermög- eingeschränkter Mobilität müssen aufsu- licht werden. Dies kann auch pflegebedingte chende Angebote zur Verfügung stehen. Kosten senken. 2. Präventive Hausbesuche anbieten Präventive Hausbesuche können zudem einen niedrigschwelligen Zugang zu schwer Frühzeitige Hilfen zur Alltagsbewältigung erreichbaren Zielgruppen darstellen, die oft- im Alter – und seien es nur Hilfen im Haus- mals einen besonderen Unterstützungsbe- halt – können Situationen stabilisieren und darf haben. Zur unkomplizierten Ansprache Pflegebedürftigkeit vorbeugen. Die im Koali- der Seniorinnen und Senioren haben sich tionsvertrag von 2018 angekündigte Förde- beispielsweise Anschreiben durch die Kom- rung des präventiven Hausbesuchs ist als ein mune sowie gezielte Öffentlichkeitsarbeit für Seniorinnen und Senioren freiwilliges und Werbung an Orten wie Arztpraxen, Apo- Angebot flächendeckend, finanziert aus Mit- theken und Supermärkten bewährt. teln des Präventionsgesetzes, in allen Kom- munen einzuführen. Die positiven Effekte Um den Erfolg präventiver Hausbesuche zu dieser Form der aufsuchenden Hilfe wurden erhöhen, empfiehlt es sich, spezifische Ziel- inzwischen in zahlreichen Modellprojekten gruppen zu bestimmen, lokal unterschied- nachgewiesen und durch langjährige Er- liche Präventionsbedarfe zu berücksichti- fahrungen in anderen Ländern bestätigt.4 gen und an bereits vorhandene Strukturen Die meisten dieser Angebote richten sich anzuknüpfen (z. B. durch Kooperation mit an ältere Menschen ab 70 bzw. 80 Jahren.5 Pflegestützpunkten). Auch die Qualifikation 4 Insbesondere die Umsetzung des präventiven Hausbesuchs in Rheinland-Pfalz („Projekt Gemeindeschwester Plus“) hat Vorbildcharakter für andere Bundesländer (vgl. https://msagd.rlp.de/de/unsere-themen/aeltere-men- schen/gemeindeschwesterplus/). Ähnliche Projekte wurden bzw. werden auch in Hamburg und Radevormwald durchgeführt. Internationale Vorbilder stammen aus Dänemark und den Niederlanden („Küchentischgespräche“). 5 Eine flexible Ausgestaltung kann von Vorteil sein. So richtete sich beispielsweise das Projekt „Gemeinde- schwester Plus“ zunächst an Personen über 80 Jahre, öffnete sich aber auch für jüngere Ältere, die sich pro- aktiv an die Gemeindeschwestern wandten. 7
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause der eingesetzten Fachkräfte trägt maßgeb- Arztbesuchen). Wichtig sind darüber hinaus lich zum Erfolg der Hausbesuche bei. Häufig bezahlbarer Wohnraum, eine lebendige sind dies erfahrene Pflegefachkräfte, die Nachbarschaft, soziale Einbindung und ein speziell geschult werden. barrierefreies Wohnumfeld mit gut erreich- baren Einkaufsmöglichkeiten für den täg- 3. Voraussetzungen für den Verbleib zu lichen Bedarf. Hause schaffen Im Kern geht es darum, verschiedene For- Die meisten Menschen wünschen sich, auch men der Unterstützung – familiäre, nach- im Alter zu Hause wohnen bleiben zu kön- barschaftliche, ehrenamtliche, professio- nen. Pflegebedürftige Menschen brauchen nelle – in einen mit den älteren Menschen hierfür neben der Sicherstellung einer auf individuell abgestimmten Hilfe-Mix („Wel- ihre individuellen Bedarfe ausgerichteten fare-Mix“) zu bringen. Oft mangelt es an spezifischen medizinischen und pflegeri- einfachen Hilfen im Haushalt oder es bedarf schen Versorgung auch zunehmend haus- nur kurzzeitiger oder einmaliger Hilfen. Der wirtschaftliche Unterstützung. Mittels ge- Verbleib im eigenen Zuhause sollte dadurch eigneter Instrumente und Methoden, die nicht erschwert oder davon abhängig sein. beispielweise im Rahmen eines präventiven Derartige Hilfen sollten – je nach Aufwand Hausbesuchs eingesetzt werden, können die – ehrenamtlich oder erwerbswirtschaftlich individuellen Behandlungs-, Versorgungs- (gegen Bezahlung) organisiert werden. und Unterstützungsbedarfe festgestellt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet 4. Umfassende medizinische Versorgung werden. Wichtig ist dabei eine ganzheitliche sicherstellen Sichtweise, die die Menschen in ihrer spezi- fischen Lebenssituation im Blick hat. Insbesondere wenn Pflegebedürftigkeit vorliegt und weitere Belastungen wie z. B. Zur Sicherung von Selbstbestimmung und Inkontinenz, Beeinträchtigungen des Be- Teilhabe ist auch der Zugang zu Angeboten wegungsapparats oder Schmerzen hinzu- der Alltags- und Lebensgestaltung notwen- kommen, haben ältere Menschen einen dig. Dies betrifft z. B. haushaltsnahe Dienst- besonderen Behandlungs- und Versor- leistungen, Information und Beratung zur gungsbedarf. Die BAGSO hat deshalb den Wohnraumanpassung (auch für Menschen Ausbau eines wohnortnahen, flächende- ohne Pflegebedarf), den Einsatz von Mobili- ckenden Angebots mobiler, ambulanter und tätshilfen und technischen bzw. digitalen teilstationärer geriatrischer Behandlungs- Hilfsmitteln (z. B. Hausnotrufsysteme) und und Rehabilitationsangebote und eine die Unterstützung bei außerhäuslichen qualitativ hochwertige, wohnortnahe haus- Aktivitäten (z. B. Begleitung bei Spazier- ärztliche Versorgung gefordert.6 gängen, Sport- und Kulturveranstaltungen, 6 Vgl. BAGSO-Positionspapier „Stärkung und Weiterentwicklung der geriatrischen Versorgung“ (www.bagso.de). 8
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Nicht hinreichend umgesetzt wird bislang auch für pflegebedürftige Menschen weiter- das gesetzlich verankerte Prinzip „Reha- zuentwickeln. Es müssen Voraussetzungen bilitation vor Pflege“. Dies ist deshalb von geschaffen werden, dass immobile Patien- Bedeutung, weil mit der Rehabilitation auch tinnen und Patienten zu Hause aufgesucht und gerade die selbstbestimmte Teilhabe und behandelt werden können, dass Pfle- gefördert werden soll. Gründe hierfür lie- gekräfte über grundlegende Kenntnisse zur gen vor allem in der nicht bedarfsgerechten Zahn- und Mundgesundheit verfügen und Angebotsstruktur sowie in der mangelnden dass Zahnärztinnen und -ärzte in der Be- Identifizierung von Rehabilitationsbedarfen handlung von Pflegebedürftigen aus- und bei älteren und bei pflegebedürftigen Men- weitergebildet werden. Pflege und Zahn- schen. Neben dem Ausbau der ambulanten medizin müssen zudem stärker vernetzt und insbesondere der mobilen Rehabilita- werden. Es ist zu prüfen, ob die Möglich- tion müssen Verantwortliche im Gesund- keit eröffnet werden soll, dass Pflegedienste heitswesen, d.h. in der vertragsärztlichen (einzeln oder gemeinsam) vergleichbar mit Versorgung, im Entlassmanagement im der Regelung in § 119b SGB V mit Zahnarzt- Krankenhaus, bei der Pflegebegutachtung praxen Kooperationsverträge zur Verbesse- und in der ambulanten und stationären rung der zahnärztlichen Versorgung Pflege- Pflege, dem Rehabilitationsbedarf größere bedürftiger schließen. Beachtung schenken, hierfür stärker sensi- bilisiert und darin weitergebildet werden. 5. Leistungen der Pflegeversicherung weiterentwickeln Auch am Lebensende wollen die meisten Menschen zu Hause versorgt werden. Daher In der Pflegeversicherung fehlt eine re- bedarf es außerdem des flächendeckenden gelhafte Dynamisierung der Leistungen. Ausbaus ambulanter sowie teilstationärer Die Diskussion über die Finanzierung der hospiz- und palliativmedizinischer Ange- Pflegekosten und der stetige Anstieg der bote. Dazu zählt auch der Zugang zu An- Eigenanteile wird meist nur im Zusammen- geboten der spezialisierten ambulanten hang mit der stationären Versorgung ge- Palliativversorgung (SAPV), um selbst bei führt. Steigende Kosten sind aber auch in hoher Pflegebedürftigkeit zu Hause bleiben der ambulanten Pflege problematisch. Die zu können. gedeckelte Kostenübernahme für private und professionelle Pflege zu Hause durch Ebenso wie für ältere Menschen ohne Pfle- die Pflegekassen kann zu einer Unterver- gebedarf hat die Mundgesundheit auch bei sorgung der Pflegebedürftigen führen, wenn Pflegebedürftigen eine große Bedeutung für selbst zu zahlende Hilfen nicht in Anspruch die allgemeine Gesundheit und die indi- genommen werden. Eine Reihe von bereits viduelle Lebensqualität. Pflegebedürftige beschlossenen sowie geplanten Maßnah- haben deshalb einen Anspruch auf Leistun- men zur Verbesserung der Situation in der gen zur Verhütung von Zahnerkrankungen. Pflege werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Die BAGSO fordert, die zahnmedizinischen zu weiteren Kostensteigerungen und damit Versorgungsstrukturen zielgruppengerecht zu einer Erhöhung der Eigenleistungen füh- 9
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause ren.7 Die BAGSO fordert deshalb auch für die die mit dieser Versorgungsform verbunden ambulante Pflege eine regelmäßige Dyna- sind, wie z. B. die Finanzierbarkeit durch die misierung der Leistungen und eine Begren- Pflegehaushalte, die Sicherstellung adäqua- zung der Eigenleistungen. ter Arbeitsbedingungen und einer angemes- senen Entlohnung. Außerdem ist eine Flexibilisierung der Leistungen gefordert. Diese kann dazu bei- 6. Pflegende Angehörige unterstützen und tragen, dass pflegende Angehörige weiter entlasten entlastet werden und sich die ambulante Versorgung der Pflegebedürftigen verbessert. In der Versorgung Pflegebedürftiger sind Die BAGSO begrüßt deshalb den Vorschlag die pflegenden Angehörigen unverzichtbar. des Pflegebevollmächtigten der Bundesre- Mehr als zwei Drittel der zu Hause lebenden gierung, die Leistungen für Verhinderungs- Pflegebedürftigen werden derzeit alleine pflege, Kurzzeitpflege und den Entlastungs- durch pflegende Angehörige versorgt. Der betrag zu einem Budget zusammenzulegen. Verbleib im eigenen Zuhause ist in vielen So kann die Entlastungswirkung von Leis- Fällen davon abhängig, inwieweit es ge- tungen erhöht werden, indem pflegende lingt, pflegende Angehörige unter Berück- Angehörige eigenverantwortlich darüber sichtigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche entscheiden können, welche Leistungen zu unterstützen und zu entlasten. Ange- ihren individuellen Bedürfnissen am besten sichts der hohen Bedeutung der häuslichen entsprechen. Ferner sollte unter dem Ge- Pflege bedarf es neben Angeboten, die ihre sichtspunkt möglicher Vorteile für die Ver- Lebenssituation und ihre Autonomie be- sorgung von Pflegebedürftigen die Zusam- rücksichtigen, auch eines erweiterten Pfle- menlegung von Krankenversicherung und geverständnisses, das nicht nur die pflege- Pflegeversicherung geprüft werden. bedürftige Person, sondern die gesamte Familie im Blick hat. Folglich müssen die Eine besondere Herausforderung ist die so- pflegenden Angehörigen stärker als „Ver- genannte 24 Stunden-Betreuung durch aus- sorgungsinstanz“ gesehen und in ihrer Rolle ländische, meist osteuropäische Hilfskräfte. stärker beachtet und unterstützt werden. Die BAGSO begrüßt grundsätzlich den Vor- Drohenden Überlastungen, die zur eigenen schlag des Bundesministeriums für Gesund- Gesundheitsgefährdung, der Aufgabe eines heit, einen Teil des Pflegesachleistungsbe- eigenständigen Lebens und zu beruflichen trags für diese Betreuungsleistung nutzen zu Nachteilen führen, und die Ursache für Ver- können. Allerdings löst eine solche Maß- nachlässigung und Gewaltgefährdung des nahme nicht die vielschichtigen Probleme, Pflegebedürftigen sein können, muss vor- 7 Hierzu zählen Maßnahmen, die im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) beschlossen wurden, wie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die (Zurück-)Gewinnung von Pflegepersonal, als auch Maßnahmen zur angemessenen Vergütung (Gesetz für bessere Löhne, 2019). Es kann davon ausgegangen werden, dass in naher Zukunft weitere Maßnahmen folgen, z. B. flächendeckende Tarifverträge und ein einheitliches Personal- bemessungsverfahren. 10
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause gebeugt werden. Die BAGSO fordert, dass werden aufgefordert, sich mehr für die Nut- den Angehörigen ein eigener Anspruch auf zung der von ihnen anzubietenden Pflege- Beratung und Unterstützung in allen Fragen kurse für Angehörige einzusetzen, die auf der Pflege und unter Berücksichtigung ihrer Wunsch auch in der Häuslichkeit der Pflege- individuellen Bedarfslagen eingeräumt wird. bedürftigen stattfinden. Pflegende Angehörige müssen darüber hin- 7. Pflege und Beruf vereinbar machen aus verstärkt bei der Suche nach den für sie passenden Entlastungsmöglichkeiten und Trotz zahlreicher Verbesserungen in den beim Aufbau gemischter Pflegearrangements vergangenen Jahren bleibt es für pflegende unterstützt werden. Dies erfordert, dass Angehörige – mehrheitlich Frauen – eine entsprechende Angebote und Strukturen, Herausforderung, neben der sogenann- z. B. Möglichkeiten für eine stundenweise ten Sorge-Arbeit weiterhin erwerbstätig zu Betreuung, Haushaltshilfen und Bereit- bleiben. Deshalb ist unter anderem der Auf- schaftsdienste, auch flächendeckend zur und Ausbau von Strukturen, wie z. B. von Verfügung stehen. Die BAGSO fordert, dass Kurz- und Teilzeitpflegeplätzen, notwendig, die Beratung über die verschiedenen Ent- auf die pflegende und erwerbstätige Ange- lastungsangebote zusammengeführt wird. hörige flexibel zugreifen können. Sie unterstützt die Forderung nach einem Pflegelotsen.8 Nicht selten gehen mit der Entscheidung, die Pflege eines Angehörigen zu überneh- Besondere Beachtung muss der Gesund- men, ein langzeitiges Ausscheiden oder der heit der pflegenden Angehörigen gewid- vollständige Ausstieg aus dem Beruf, finan- met werden. Hierzu bedarf es spezifischer zielle Einbußen und schließlich ein erhöhtes niedrigschwelliger und zielgruppengerechter Armutsrisiko einher. Die BAGSO fordert, dass Angebote der Gesundheitsförderung, Prä- die häusliche Pflege in diesen Fällen als Er- vention und Rehabilitation. Zu nennen sind werbstätigkeit anerkannt und entsprechend hier u.a. Entspannungskurse, Sportmöglich- entlohnt wird. Dazu wird die Einführung keiten, Rückentraining, Erfahrungsaustausch einer Entgeltersatzleistung analog zum El- in Selbsthilfegruppen und Gesprächskreisen. terngeld als notwendig erachtet.9 Diese Angebote müssen mit der Möglichkeit der Teilnahme der zu betreuenden Person Eine Rückkehr in den Beruf ist häufig nur oder mit der Sicherstellung von deren Be- mit Nachteilen möglich, z. B. weil während treuung verbunden sein. Die Pflegekassen der Pflege keine Zeit für nötige Qualifizie- 8 So fordert der Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege die Einführung eines Pflege Ko-Piloten zur früh- zeitigen Beratung und Begleitung von Pflegehaushalten (vgl. Konzept Pflege Ko-Pilot). 9 So empfiehlt der Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf eine Lohnersatzleistung analog zum Elterngeld für bis zu 36 Monate. Sie soll das bisherige Darlehen im Rahmen der Pflege- und Familienpfle- gezeit ablösen (vgl. Unabhängiger Beirat zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf). 11
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause rungen bleibt. Arbeitgeber und Gewerk- Darüber hinaus kommt den Kommunen die schaften sind gefordert, angemessene Aufgabe einer Koordinierungsinstanz zu, die Rückkehrregeln in den Beruf zu entwickeln eine Plattform für die Zusammenarbeit ver- und zu einer besseren Vereinbarkeit von schiedener Leistungsträger und Leistungs- Pflege und Beruf beizutragen, z. B. durch erbringer bietet und die die Zivilgesellschaft das Angebot von flexiblen Arbeitszeiten und dabei unterstützt, ehrenamtliches und Homeoffice. freiwilliges Engagement zu entfalten („sor- gende Gemeinschaften“). Ziel muss es sein, 8. Die Rolle der Kommunen stärken ein reibungsloses Ineinandergreifen unter- schiedlicher Hilfen zu ermöglichen, sodass Die Förderung der Gesundheit ist als ein ge- jeder Pflegehaushalt auf einen bedarfsge- samtpolitisches Ziel („health in all policies“) rechten, leistungsfähigen und aufeinander und als eine gesamtgesellschaftliche Auf- abgestimmten Hilfe-Mix zugreifen kann. gabe zu verstehen, zu der Bund, Länder und Kommunen, die Sozialversicherungen und Die Hilfen müssen niedrigschwellig ver- die Zivilgesellschaft gemeinsam beitragen fügbar und hinreichend ausgestattet sein. müssen. Wie im Siebten Altenbericht der Gefordert wird hierzu eine sozialraumorien- Bundesregierung festgestellt, kommt den tierte, kleinräumige, zielgruppenorientierte Kommunen eine zentrale Rolle in der Ge- und integrierte (sektoren-übergreifende) staltung zukunftssicherer Unterstützungs-, Sozialplanung, die zum Ziel hat, nutzer- Versorgungs- und Pflegestrukturen zu. orientierte, passgenaue Pflege- und Unter- stützungsarrangements zu ermöglichen. Dies In der Kommune als übergeordnete Lebens- ist nur auf kommunaler Ebene leistbar. welt bündeln sich neben eigenen Angebo- ten die Angebote zur Gesundheitsförderung, Eine erfolgreiche kommunale Politik für äl- Prävention und Rehabilitation von unter- tere Menschen setzt Partizipationsmöglich- schiedlichen Akteuren (z. B. Krankenkassen, keiten voraus. Vielerorts wirken ältere Bür- Wohlfahrts- und Sozialverbänden, Mehrge- gerinnen und Bürger bereits in beratenden nerationenhäusern, Seniorenbüros) in ver- Gremien wie Seniorenbeiräten bzw. -vertre- schiedenen Settings. Aufgabe der Kommu- tungen mit. Aus Sicht der BAGSO muss durch nen muss es sein, Rahmenbedingungen zu entsprechende Regelungen sichergestellt schaffen, die die Gesundheit und Lebens- werden, dass sich Rat und Kommunalver- qualität fördern und die verbleibenden Res- waltung mit Anträgen und Vorschlägen der sourcen des Einzelnen stärken. Dazu zählen Seniorenvertretungen auseinandersetzen. die Gestaltung aktivierender und sozial unterstützender Umwelten, der Abbau von 9. Kommunen aufgabengerecht ausstatten Barrieren und gesundheitlichen Belastungen sowie die Förderung von bürgerschaftlichem Viele Kommunen leisten bereits Unter- Engagement, sozialer Integration und Parti- stützung in erheblichem Umfang, indem zipation. sie entsprechende Sozial- und Pflegeplä- ne erstellen, Hilfen selbst erbringen oder 12
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Hilfen Dritter ermöglichen, fördern oder Länder auf, entsprechende (Altenhilfestruk- koordinieren. Sie geraten jedoch vielfach tur-)Gesetze zu erlassen. an fachliche, personelle und finanzielle Grenzen. Darüber hinaus sind sie an einer 10. Für ausreichendes Personal in der umfassenden, auch die Versorgungs- und ambulanten Pflege sorgen Pflegestrukturen integrierenden Sozial- und Pflegestrukturentwicklung gehindert, da die Das Engagement von Angehörigen und Pflegekassen nicht an die Sozial- und Pfle- Ehrenamtlichen in der Pflege ist nicht hoch gepläne der Kommunen gebunden sind. genug zu würdigen. Dennoch braucht es – gerade auch zu deren Entlastung – qua- Ein Zusammenwirken von Sozialversiche- lifizierte Pflegekräfte. Insbesondere dort, rung und Kommunen ist notwendig. Wie wo Pflegearrangements mit geteilter Ver- schon in früheren Stellungnahmen10 fordert antwortung nicht entstehen können, muss die BAGSO deshalb eine aufgabengerech- die professionelle Unterstützung weiterhin te finanzielle Ausstattung der Kommunen greifen. sowie im SGB V eine verpflichtende Be- rücksichtigung der Sozial- und Pflegepla- Ambulante Pflege vollzieht sich anders als nung der Kommunen bei der Zulassung von stationäre Pflege. Sie ist eine Teilversorgung, Pflegeeinrichtungen. Die Krankenkassen die sich nach den Wünschen und den finan- sind aufgefordert, sich mehr als bisher für ziellen Möglichkeiten der pflegebedürftigen die Prävention in den Lebenswelten älterer Menschen und der sie pflegenden Angehö- Menschen zu öffnen. Krankenkassen und rigen bemisst, insbesondere danach, wel- Kommunen müssen aufeinander zugehen chen Umfang und welche Teile der Pflege sie und gemeinsam agieren. selbst übernehmen wollen und können und welche Teile von (professionellen) Pflege- Den oben beschriebenen Aufgaben kön- kräften zu übernehmen sind. Ambulante nen Kommunen nur vollumfänglich gerecht Pflege ist entsprechend der Situation der werden, wenn – wie im Siebten Altenbericht Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ein vorgeschlagen – ein gesetzlicher Rahmen (unter Umständen täglicher) Aushandlungs- zur Stärkung der kommunalen Senioren- prozess. politik besteht und die nötigen finanziellen Ausstattungen garantiert sind. Andernfalls Die Arbeitsbedingungen in der ambulanten verhindert die unterschiedliche kommuna- Pflege haben in den vergangenen Jahren le Handlungsfähigkeit das in Artikel 72 des dafür gesorgt, dass (qualifizierte) Pflege- Grundgesetzes geforderte Ziel, gleichwertige kräfte zunehmend in den stationären Sektor Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzu- abgewandert sind. Der rückläufigen Ver- stellen. Die BAGSO fordert deshalb Bund und fügbarkeit von Personal steht der steigende 10 Vgl. BAGSO-Stellungnahme zum Siebten Altenbericht „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften" (www.bagso.de). 13
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Bedarf für die Betreuung häuslich lebender len. Gleichzeitig muss aufgrund der demo- Pflegebedürftiger und eine Pluralisierung grafischen und sozialen Entwicklungen, aber der Bedarfslagen gegenüber. So ist es nicht auch der Pluralisierung von Lebens- und unüblich, dass Pflegedienste mit Ablehnung Versorgungsformen in den zurückliegenden von Anfragen, Reduzierung der Dienstleis- Jahren davon ausgegangen werden, dass die tungen, Verkleinerung der Pflegedienste und Pflege zunehmend differenzierter gestaltet kurzfristigen Kündigungen von Verträgen werden muss. Seit Inkrafttreten der Pflege- reagieren. In der Fachöffentlichkeit wird vor versicherung sind auch in der ambulanten einer Gefährdung der Versorgung gewarnt. Versorgung die Kapazitäten ausgeweitet und Die Personalgewinnung und -haltung im die Infrastruktur verbessert worden. Unter- ambulanten Sektor muss deshalb eine sehr blieben ist allerdings eine Ausdifferenzie- viel größere Beachtung finden. Gefordert rung der Leistungsangebote, die verschie- wird ein Personalbemessungsverfahren für denen Bedarfslagen gerecht werden kann. den ambulanten Bereich, wie es für den Infolge der demografischen Entwicklung ha- stationären Sektor entwickelt worden ist.11 ben sich das Krankheitsgeschehen und die Bedarfslagen jedoch verändert. Zu versorgen Die Konzertierte Aktion Pflege (KAP) hat eine sind Menschen mit höchst unterschied- Reihe von Vereinbarungen zur Personalbe- lichen Biografien und gesundheitlichen schaffung und -bindung getroffen. Der erste Voraussetzungen, z. B. demenziell Erkrankte, Umsetzungsbericht zeigt, dass erste Erfolge chronisch Erkrankte in den Spätstadien des zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Krankheitsverlaufs, Menschen mit komple- z. B. ein einheitlicher Mindestlohn ab Juli xen und/oder technikintensivem Pflege- 2021, erzielt worden sind. Die BAGSO fordert, bedarf, allein lebende Ältere, ältere Men- dass weitere Maßnahmen (z. B. erweiterte schen mit Behinderung. Mit ihrem engen Versorgungsbefugnisse für Pflegekräfte, Digi- Angebotsprofil mit einheitlich beschreib- talisierung der Pflege) zügig umgesetzt und baren Leistungen können die ambulanten evaluiert werden. Sie hält außerdem den Dienste den vorzufindenden Bedarfslagen Abschluss flächendeckender Tarifverträge für nur unzureichend gerecht werden. Deshalb dringlich. fordert die BAGSO eine an die verschiedenen Nutzergruppen und deren unterschiedliche 11. Versorgungsstrukturen weiterentwi- Bedarfslagen angepasste Weiterentwicklung ckeln und modernisieren der ambulanten Versorgung. Auch künftig werden die eigenen vier Wän- Besondere Herausforderungen ergeben sich de weiterhin der Ort bleiben, in denen im Hinblick auf die zunehmende Hoch- Menschen bevorzugt gepflegt werden wol- altrigkeit und die wachsende Anzahl von 11 Vgl. Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß § 113c SGB XI (PeBeM), S. 336 ff. 14
BAGSO-Positionspapier Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause Menschen mit Demenz. Sie sind Teil unserer munikations- und Sicherheitstechnologien Gesellschaft und können in vielen Fällen („Smart Home“) können zur Steigerung der auch zu Hause leben und versorgt werden. Versorgungssicherheit und -qualität bei- Dazu braucht es geeignete Hilfestrukturen, tragen und sollten Pflegebedürftigen über in denen relevante Akteure wie Kommune, die Hilfsmittelkataloge nach SGB V und SGB Einrichtungen, Dienstleister, Vereine und XI zur Verfügung stehen. In der professio- Bürgerinnen und Bürger zusammenwirken. nellen Pflege kann der Einsatz von digita- Die BAGSO unterstützt deshalb mit der Netz- len Technologien Kommunikations- und werkstelle Lokale Allianzen für Menschen Verwaltungsprozesse effizienter gestalten. mit Demenz bundesweit den Auf- und Aus- Pflegedienste und andere Leistungserbringer bau von lokalen Unterstützungsnetzwerken müssen deshalb in der Anbindung an die und deren überregionale Vernetzung.12 Als technische Infrastruktur sowie im Erwerb Selbsthilfeorganisationen bieten die Deut- digitaler Kompetenzen geschult und unter- sche Alzheimer Gesellschaft und ihre Mit- stützt werden. gliedsgesellschaften seit Jahrzehnten Bera- tung und Unterstützung von Menschen mit Dieses Positionspapier wurde von der Demenz und ihrer Angehörigen vor Ort.13 Fachkommission Gesundheit und Pflege erarbeitet und im Februar 2021 vom Schließlich müssen neue, sektorenüber- Vorstand der BAGSO verabschiedet. greifende Wohn- und Versorgungsformen gefördert werden, die eine flexible Hinzu- nahme von Leistungen erlauben, ohne dafür umziehen zu müssen. Solche Hybridkonzep- Herausgeber te, die Übergänge zwischen ambulanter und stationärer Pflege vereinfachen oder deren BAGSO strikte Trennung ganz auflösen, scheinen Bundesarbeitsgemeinschaft besonders geeignet zu sein, individuellen der Seniorenorganisationen e. V. Bedarfen besser gerecht zu werden und unterschiedliche Formen der Unterstützung Noeggerathstr. 49 zu integrieren. 53111 Bonn Telefon 0228 / 24 99 93-0 Mit Blick auf die Zukunft gilt es auch, die Fax 0228 / 24 99 93-20 Potenziale der Digitalisierung effektiver zu kontakt@bagso.de nutzen und entsprechende Technologien sinnvoll in die Pflegearbeit zu integrieren. www.bagso.de Insbesondere Assistenztechnologien zur facebook.com/bagso.de (Selbst-)Pflege, digitale und häusliche Kom- twitter.com/bagso_de 12 Vgl. www.netzwerkstelle-demenz.de 13 Vgl. www.deutsche-alzheimer.de 15
Die BAGSO – Stimme der Älteren Die BAGSO fördert ein differenziertes Bild vom Alter, das die vielfältigen Chancen eines Die BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft längeren Lebens ebenso einschließt wie der Seniorenorganisationen vertritt die Zeiten der Verletzlichkeit und Hilfe- bzw. Interessen der älteren Generationen in Pflegebedürftigkeit. Gegenüber Politik, Deutschland. Sie setzt sich für ein aktives, Gesellschaft und Wirtschaft tritt sie für Rah- selbstbestimmtes und möglichst gesundes menbedingungen ein, die ein gutes und Älterwerden in sozialer Sicherheit ein. In der würdevolles Leben im Alter ermöglichen – BAGSO sind rund 120 Vereine und Verbände in Deutschland, in Europa und weltweit. der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen, die von älteren Menschen getragen werden In Positionspapieren und Stellungnahmen oder die sich für die Belange Älterer enga- gibt die BAGSO Anstöße und Empfehlungen gieren. für politisches Handeln in Bund, Ländern und Kommunen. Die BAGSO veröffentlicht eine Vielzahl von Publikationen zu unter- schiedlichen Themen, die kostenfrei zu be- stellen sind oder auf der BAGSO-Internet- seite heruntergeladen werden können.
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