Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause - Positionspapier

 
WEITER LESEN
Positionspapier

Zukunft der Hilfe
und Pflege zu Hause

                                        1
BAGSO-Positionspapier                               Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Inhalt

Das Wichtigste in Kürze                                                                            3

Einleitung                                                                                         5

1.    Pflegebedürftigkeit vorbeugen und Gesundheit bewahren                                        6

2.    Präventive Hausbesuche anbieten                                                               7

3.    Voraussetzungen für den Verbleib zu Hause schaffen                                           8

4.    Umfassende medizinische Versorgung sicherstellen                                             8

5.    Leistungen der Pflegeversicherung weiterentwickeln                                           9

6.    Pflegende Angehörige unterstützen und entlasten                                              10

7.    Pflege und Beruf vereinbar machen                                                            11

8.    Die Rolle der Kommunen stärken                                                               12

9.    Kommunen aufgabengerecht ausstatten                                                          12

10. Für ausreichendes Personal in der ambulanten Pflege sorgen                                     13

11.   Versorgungsstrukturen weiterentwickeln und modernisieren                                     14

                                                                                                        22
BAGSO-Positionspapier                              Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Das Wichtigste in Kürze                         Unterstützung – familiäre, nachbarschaft-
                                                liche, ehrenamtliche und professionelle –
Die Sorge für Menschen, die auf Hilfe und       müssen individuell aufeinander abgestimmt
Pflege angewiesen sind, ist angesichts der      werden („Hilfe-Mix“).
demografischen Entwicklung eine große ge-
sellschaftliche Herausforderung. Nach Mei-      Umfassende medizinische Versorgung
nung der BAGSO müssen, um die Pflege zu-        sicherstellen
kunftsfest zu gestalten, auch und vor allem     Insbesondere wenn Pflegebedürftigkeit
die Rahmenbedingungen für die ambulante         vorliegt und weitere Belastungen hinzu-
Pflege verbessert werden.                       kommen, haben ältere Menschen einen
                                                besonderen Behandlungs- und Versor-
Pflegebedürftigkeit vorbeugen und               gungsbedarf. Die BAGSO fordert deshalb
Gesundheit bewahren                             den Ausbau eines wohnortnahen, flächen-
Gesundheitsförderung und Prävention sind        deckenden Angebots mobiler, ambulanter
die besten Wege, um Pflegebedürftigkeit         und teilstationärer geriatrischer Behand-
entgegenzuwirken sowie ihr Fortschreiten zu     lungs- und Rehabilitationsangebote und
verhindern oder zu verlangsamen. Wichtig        eine qualitativ hochwertige, wohnortnahe
ist, dass gesundheitsförderliche Verhältnisse   hausärztliche Versorgung.
geschaffen und flächendeckend Angebote
bereitgestellt werden, die einen gesunden       Leistungen der Pflegeversicherung
Lebensstil fördern. Diese müssen in den         weiterentwickeln
unterschiedlichen Lebenswelten älterer          Die BAGSO fordert eine regelhafte Dyna-
Menschen und auch für Personen mit einge-       misierung und eine Flexibilisierung der
schränkter Mobilität zugänglich sein.           Leistungen der Pflegeversicherung, die
                                                den unterschiedlichen Bedarfslagen besser
Präventive Hausbesuche sind als eine Form       gerecht wird, sowie eine Begrenzung der
aufsuchender Hilfe besonders geeignet,          Eigenleistungen. Für die sogenannte
frühzeitig Hilfebedarfe älterer Menschen        24 Stunden-Betreuung durch meist osteuro-
zu erkennen und entsprechende Hilfen zu         päische Hilfskräfte fordert die BAGSO drin-
organisieren. Sie sollten bundesweit ange-      gend gesetzliche Initiativen, um die viel-
boten werden.                                   schichtigen Probleme dieser Betreuungsform
                                                zu lösen.
Voraussetzungen für den Verbleib zu Hause
schaffen                                        Pflegende Angehörige unterstützen und
Der Hilfs- und Pflegebedarf von zu Hause        entlasten
lebenden Pflegebedürftigen ist vielfältig       Pflegende Angehörige sind unverzichtbar.
und kann neben einer spezifischen medi-         Sie müssen – unter Berücksichtigung ihrer
zinischen und pflegerischen Versorgung          Bedürfnisse und Wünsche – unterstützt und
hauswirtschaftliche Unterstützung sowie         entlastet werden. Die BAGSO fordert deshalb
Angebote zur Alltags- und Lebensgestaltung      für sie das Recht auf eine eigene Beratung,
umfassen. Die verschiedenen Formen der          Unterstützung beim Aufbau gemischter

                                                                                               33
BAGSO-Positionspapier                             Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Pflegearrangements und niedrigschwellige       Für ausreichendes Personal in der
Angebote zur Gesundheitsförderung und          ambulanten Pflege sorgen
Prävention.                                    Die Arbeitsbedingungen in der ambulanten
                                               Pflege haben in den vergangenen Jahren
Arbeitgeber sind gefordert, zu einer bes-      dafür gesorgt, dass Pflegekräfte zunehmend
seren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf       in den stationären Sektor abgewandert sind.
beizutragen und angemessene Rückkehr-          Die Personalgewinnung und -haltung im
bedingungen in den Beruf anzubieten. Die       ambulanten Sektor muss deshalb eine sehr
BAGSO fordert, dass für Fälle der Berufsauf-   viel größere Beachtung finden. Neben einem
gabe eine Entgeltersatzleistung analog zum     Personalbemessungsverfahren, wie es für
Elterngeld eingeführt wird.                    den stationären Sektor entwickelt worden
                                               ist, fordert die BAGSO die zügige Umsetzung
Kommunen stärken und aufgabengerecht           der in der Konzertierten Aktion Pflege (KAP)
ausstatten                                     vereinbarten Maßnahmen.
Den Kommunen kommt in der Gestaltung
zukunftssicherer Unterstützungs-, Versor-      Versorgungsstrukturen weiterentwickeln
gungs- und Pflegestrukturen eine besonde-      und modernisieren
re Rolle zu. Sie müssen gesundheitsförder-     Aufgrund der demografischen und sozialen
liche Rahmenbedingungen schaffen sowie         Entwicklungen, aber auch der Pluralisierung
die verschiedenen Leistungserbringer, die in   von Lebens- und Versorgungsformen wird
den jeweiligen Settings wirken, koordinie-     die Pflege zunehmend differenzierter ge-
ren.                                           staltet werden müssen. Deshalb fordert die
                                               BAGSO eine an die verschiedenen Nutzer-
Für diese Aufgaben müssen sie aufgabenge-      gruppen und deren unterschiedliche Be-
recht ausgestattet werden. Dazu gehört auch    darfslagen angepasste Weiterentwicklung
eine stärkere Mitsprache in der Sozial- und    der ambulanten Versorgung. Besonderes
Pflegeplanung nach SGB V und SBG XI sowie      Augenmerk verdient dabei die Situation von
ein gesetzlicher Rahmen zur Stärkung der       Menschen mit Demenz und ihrer Angehö-
kommunalen Seniorenpolitik.                    rigen. Neue, sektorenübergreifende Wohn-
                                               und Versorgungsformen müssen gefördert
                                               und die Potenziale der Digitalisierung effek-
                                               tiver genutzt werden.

                                                                                               4
BAGSO-Positionspapier                                          Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Einleitung                                                Wenn es darum geht, die Pflege insgesamt
                                                          zukunftsfest zu gestalten, muss auch die
Die Sorge für Menschen, die auf Hilfe und                 ambulante Pflege und müssen die zu Hau-
Pflege angewiesen sind, ist angesichts der                se2 lebenden Pflegebedürftigen und ihre sie
demografischen Entwicklung eine große ge-                 pflegenden An- und Zugehörigen verstärkt
sellschaftliche Herausforderung. Das Risiko,              in den Blick genommen und unterstützt
pflegebedürftig zu werden, steigt mit dem                 werden.
Alter stark an. Bis heute werden die zu Pfle-
genden überwiegend von deren Kindern,                     Etwa 80 % der Pflegebedürftigen werden
der Generation der Babyboomer, versorgt.                  derzeit in ihrer eigenen Häuslichkeit und
Mit dem Älterwerden dieser starken Jahr-                  zum Großteil fast ausschließlich von An-
gänge zeichnet sich jedoch ein erhöhter                   gehörigen gepflegt. Vorzufinden sind auch
Pflegebedarf ab, während gleichzeitig die                 „Pflege- und Hilfe-Mixe“, bei denen die
Zahl der potenziellen Pflegekräfte in den                 Angehörigen Unterstützung und Entlastung
nachfolgenden Generationen abnimmt. Für                   durch Dritte erhalten. Dies können ambu-
die Zukunft gilt es, Pflegebedürftigen trotz              lante Pflegedienste, professionelle und
des Anstiegs ihrer Zahl, des Rückgangs ihrer              informelle Hilfen im Haushalt oder Be-
familiären Ressourcen und des Fachkräfte-                 treuungskräfte im Rahmen der sogenann-
mangels ein selbstbestimmtes Leben in                     ten 24 Stunden-Betreuung sein. Die Pflege
Würde zu gewährleisten.                                   zu Hause hat jedoch auch Grenzen. Diese
                                                          können in der Schwere der Pflegebedürftig-
„Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leis-              keit, in den Möglichkeiten der Pflegeperson
tungen vorrangig die häusliche Pflege und                 oder aber in weiteren Umständen begrün-
die Pflegebereitschaft der Angehörigen und                det sein. Für viele Angehörige ist Pflege mit
Nachbarn unterstützen, damit die Pflege-                  erheblichen Belastungen verbunden. Dies
bedürftigen möglichst lange in ihrer häus-                hat in der Regel nachteilige Auswirkungen
lichen Umgebung bleiben können“ (§ 3                      auf deren Gesundheit, die familiären und
SGB XI). Im Gegensatz zu diesem Grundsatz                 sozialen Beziehungen und die Erwerbstätig-
„ambulant vor stationär“ stand bei Diskus-                keit. Das birgt die Gefahr, dass die häusliche
sionen um die Weiterentwicklung der Pfle-                 Versorgung zusammenbricht und ein von
geversicherung bislang die stationäre Pflege              den Beteiligten nicht gewünschter Wechsel
im Vordergrund.1                                          in ein Pflegeheim vollzogen wird. In nicht

1 Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) hat der Gesetzgeber den Qualitätsausschuss Pflege damit
  beauftragt, die gesamte Qualitätsprüfung grundlegend zu überarbeiten. Für die stationäre Pflege ist diese
  Überarbeitung abgeschlossen. Für den ambulanten Bereich steht sie noch aus.
2 Mit dem Begriff „zu Hause“ ist in diesem Positionspapier die häusliche Pflege gemeint. Dies schließt auch neue
  Wohnformen mit ein, in denen ambulant Hilfsleistungen erbracht werden, z. B. im Fall des Betreuten Woh-
  nens. Selbstverständlich stellen auch stationäre Einrichtungen das Zuhause von älteren und pflegebedürftigen
  Menschen dar. Die stationäre Pflege erfordert jedoch eine spezifische Betrachtung.

                                                                                                                   5
BAGSO-Positionspapier                                         Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

wenigen Fällen scheuen sich Pflegebedürf-                   und Pflegebedürftigkeit, in erheblichem
tige und/oder ihre Angehörigen, Hilfe von                   Maße vor Ort, in den Kommunen und
Dritten oder von ambulanten Diensten in                     ihren Lebenswelten gesetzt werden,
Anspruch zu nehmen. Der Grund kann sein,                   und dass auch in ländlichen oder struk-
dass sie keine „Fremden“ in ihre Häuslich-                  turschwachen Regionen Hilfen flächen-
keit lassen wollen oder dass sie sich schä-                 deckend vorhanden und wohnortnah
men, nicht allein mit der Situation fertig                  erreichbar sein müssen.
zu werden. Es gelingt ihnen nicht, die Hilfe
Dritter zu ihrer Entlastung anzunehmen und                Die BAGSO erhebt mit diesem Positionspa-
die Chance zur Stabilisierung der Pflegesi-               pier hierzu eine Reihe von Forderungen.3
tuation zu nutzen. Überforderung darf nicht
dazu führen, dass pflegende Angehörige                    1. Pflegebedürftigkeit vorbeugen und
Schaden an ihrer Gesundheit erleiden und                     Gesundheit bewahren
sie die Pflegebedürftigen von morgen sind.
                                                          Gesundheitsförderung und Prävention sind
Insgesamt gilt, dass die Rahmenbedingun-                  die besten Wege, um Pflegebedürftigkeit
gen für die häusliche Pflege verbessert wer-              entgegenzuwirken, das Fortschreiten von
den müssen. Dabei ist aus Sicht der BAGSO                 Erkrankungen zu verhindern oder zu ver-
zu berücksichtigen,                                       langsamen und verloren gegangene Fähig-
                                                          keiten wiederherzustellen. Die Potenziale
 dass unterschiedliche Formen von Pfle-                  von Gesundheitsförderung und Prävention
  gebedürftigkeit und unterschiedliche                    lassen sich auch noch im hohen Alter, bei
  familiäre und Haushaltssituationen                      eingeschränkter Gesundheit und bei Pflege-
  verschiedene Bedarfslagen mit sich                      bedürftigkeit aktivieren. Maßnahmen, die
  bringen,                                                gesunde Lebensstile, eine ausgewogene
 dass Pflegebedürftige Individuen sind,                  Ernährung, regelmäßige körperliche Be-
  mit z. B. unterschiedlichen sozialen,                   wegung und die soziale Teilhabe fördern,
  kulturellen, ethnischen oder religiösen                 können maßgeblich dazu beitragen, ein Al-
  Hintergründen, sexuellen Orientierungen                 tern in bestmöglicher Gesundheit und eine
  oder geschlechtlichen Identitäten, die                  möglichst selbstständige Lebensführung zu
  diversitätssensible Ansätze verlangen,                  gewährleisten, auch bei pflegebedürftigen
 dass Regelungen offen sind für verschie-                Menschen. Wichtig ist, dass gesundheitsför-
  dene – auch neue – Wohnformen und                       derliche Verhältnisse geschaffen werden und
  keine Fehlsteuerungen bedingen,                         ältere Menschen die individuell notwendige
 dass die Bedingungen für Gesundheit                     Unterstützung bei der Alltagsbewältigung
  und gute individuelle Lebensqualität im                 erhalten.
  Alter, auch im Falle von Multimorbidität

3 Dabei stützen wir uns in Teilen auf das BAGSO-Positionspapier zur Weiterentwicklung der Pflege von 2014
  (vgl. www.bagso.de) und führen die darin genannten Forderungen weiter.

                                                                                                            6
BAGSO-Positionspapier                                          Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Um ältere sowie hilfe- und pflegebedürftige                Zentrale Ergebnisse der Evaluationen sind,
Menschen zu erreichen, braucht es verstärkt                dass durch präventive Hausbesuche recht-
leicht zugängliche Angebote und – anstelle                 zeitig Hilfebedarfe erkannt, Leistungsan-
zeitlich befristeter Projekte – nachhaltige                sprüche gegenüber der Sozialversicherung
Strukturen. Dies gilt insbesondere des-                    oder der Sozialhilfe erschlossen, Hilfenetz-
halb, weil die Ergebnisse von Maßnahmen                    werke aufgebaut und Beratungen, z. B. zur
der Gesundheitsförderung und Prävention                    Wohnraumanpassung, durchgeführt werden
oft nicht sofort sichtbar sind. Ziel muss ein              können. Durch einen umfassenden Hilfe-
wohnortnahes, flächendeckendes Angebot                     plan, der physische, psychische und soziale
von gesundheitsförderlichen, präventiven                   Aspekte berücksichtigt, und dessen Umset-
und rehabilitativen Angeboten – auch im                    zung begleitet wird, kann ein längeres Ver-
ländlichen Raum – sein. Für Menschen mit                   bleiben in der bisherigen Wohnung ermög-
eingeschränkter Mobilität müssen aufsu-                    licht werden. Dies kann auch pflegebedingte
chende Angebote zur Verfügung stehen.                      Kosten senken.

2. Präventive Hausbesuche anbieten                         Präventive Hausbesuche können zudem
                                                           einen niedrigschwelligen Zugang zu schwer
Frühzeitige Hilfen zur Alltagsbewältigung                  erreichbaren Zielgruppen darstellen, die oft-
im Alter – und seien es nur Hilfen im Haus-                mals einen besonderen Unterstützungsbe-
halt – können Situationen stabilisieren und                darf haben. Zur unkomplizierten Ansprache
Pflegebedürftigkeit vorbeugen. Die im Koali-               der Seniorinnen und Senioren haben sich
tionsvertrag von 2018 angekündigte Förde-                  beispielsweise Anschreiben durch die Kom-
rung des präventiven Hausbesuchs ist als ein               mune sowie gezielte Öffentlichkeitsarbeit
für Seniorinnen und Senioren freiwilliges                  und Werbung an Orten wie Arztpraxen, Apo-
Angebot flächendeckend, finanziert aus Mit-                theken und Supermärkten bewährt.
teln des Präventionsgesetzes, in allen Kom-
munen einzuführen. Die positiven Effekte                   Um den Erfolg präventiver Hausbesuche zu
dieser Form der aufsuchenden Hilfe wurden                  erhöhen, empfiehlt es sich, spezifische Ziel-
inzwischen in zahlreichen Modellprojekten                  gruppen zu bestimmen, lokal unterschied-
nachgewiesen und durch langjährige Er-                     liche Präventionsbedarfe zu berücksichti-
fahrungen in anderen Ländern bestätigt.4                   gen und an bereits vorhandene Strukturen
Die meisten dieser Angebote richten sich                   anzuknüpfen (z. B. durch Kooperation mit
an ältere Menschen ab 70 bzw. 80 Jahren.5                  Pflegestützpunkten). Auch die Qualifikation

4 Insbesondere die Umsetzung des präventiven Hausbesuchs in Rheinland-Pfalz („Projekt Gemeindeschwester
  Plus“) hat Vorbildcharakter für andere Bundesländer (vgl. https://msagd.rlp.de/de/unsere-themen/aeltere-men-
  schen/gemeindeschwesterplus/). Ähnliche Projekte wurden bzw. werden auch in Hamburg und Radevormwald
  durchgeführt. Internationale Vorbilder stammen aus Dänemark und den Niederlanden („Küchentischgespräche“).
5 Eine flexible Ausgestaltung kann von Vorteil sein. So richtete sich beispielsweise das Projekt „Gemeinde-
  schwester Plus“ zunächst an Personen über 80 Jahre, öffnete sich aber auch für jüngere Ältere, die sich pro-
  aktiv an die Gemeindeschwestern wandten.

                                                                                                                 7
BAGSO-Positionspapier                                       Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

der eingesetzten Fachkräfte trägt maßgeb-               Arztbesuchen). Wichtig sind darüber hinaus
lich zum Erfolg der Hausbesuche bei. Häufig             bezahlbarer Wohnraum, eine lebendige
sind dies erfahrene Pflegefachkräfte, die               Nachbarschaft, soziale Einbindung und ein
speziell geschult werden.                               barrierefreies Wohnumfeld mit gut erreich-
                                                        baren Einkaufsmöglichkeiten für den täg-
3. Voraussetzungen für den Verbleib zu                  lichen Bedarf.
   Hause schaffen
                                                        Im Kern geht es darum, verschiedene For-
Die meisten Menschen wünschen sich, auch                men der Unterstützung – familiäre, nach-
im Alter zu Hause wohnen bleiben zu kön-                barschaftliche, ehrenamtliche, professio-
nen. Pflegebedürftige Menschen brauchen                 nelle – in einen mit den älteren Menschen
hierfür neben der Sicherstellung einer auf              individuell abgestimmten Hilfe-Mix („Wel-
ihre individuellen Bedarfe ausgerichteten               fare-Mix“) zu bringen. Oft mangelt es an
spezifischen medizinischen und pflegeri-                einfachen Hilfen im Haushalt oder es bedarf
schen Versorgung auch zunehmend haus-                   nur kurzzeitiger oder einmaliger Hilfen. Der
wirtschaftliche Unterstützung. Mittels ge-              Verbleib im eigenen Zuhause sollte dadurch
eigneter Instrumente und Methoden, die                  nicht erschwert oder davon abhängig sein.
beispielweise im Rahmen eines präventiven               Derartige Hilfen sollten – je nach Aufwand
Hausbesuchs eingesetzt werden, können die               – ehrenamtlich oder erwerbswirtschaftlich
individuellen Behandlungs-, Versorgungs-                (gegen Bezahlung) organisiert werden.
und Unterstützungsbedarfe festgestellt und
entsprechende Maßnahmen eingeleitet                     4. Umfassende medizinische Versorgung
werden. Wichtig ist dabei eine ganzheitliche               sicherstellen
Sichtweise, die die Menschen in ihrer spezi-
fischen Lebenssituation im Blick hat.                   Insbesondere wenn Pflegebedürftigkeit
                                                        vorliegt und weitere Belastungen wie z. B.
Zur Sicherung von Selbstbestimmung und                  Inkontinenz, Beeinträchtigungen des Be-
Teilhabe ist auch der Zugang zu Angeboten               wegungsapparats oder Schmerzen hinzu-
der Alltags- und Lebensgestaltung notwen-               kommen, haben ältere Menschen einen
dig. Dies betrifft z. B. haushaltsnahe Dienst-          besonderen Behandlungs- und Versor-
leistungen, Information und Beratung zur                gungsbedarf. Die BAGSO hat deshalb den
Wohnraumanpassung (auch für Menschen                    Ausbau eines wohnortnahen, flächende-
ohne Pflegebedarf), den Einsatz von Mobili-             ckenden Angebots mobiler, ambulanter und
tätshilfen und technischen bzw. digitalen               teilstationärer geriatrischer Behandlungs-
Hilfsmitteln (z. B. Hausnotrufsysteme) und              und Rehabilitationsangebote und eine
die Unterstützung bei außerhäuslichen                   qualitativ hochwertige, wohnortnahe haus-
Aktivitäten (z. B. Begleitung bei Spazier-              ärztliche Versorgung gefordert.6
gängen, Sport- und Kulturveranstaltungen,

6 Vgl. BAGSO-Positionspapier „Stärkung und Weiterentwicklung der geriatrischen Versorgung“ (www.bagso.de).

                                                                                                             8
BAGSO-Positionspapier                             Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Nicht hinreichend umgesetzt wird bislang       auch für pflegebedürftige Menschen weiter-
das gesetzlich verankerte Prinzip „Reha-       zuentwickeln. Es müssen Voraussetzungen
bilitation vor Pflege“. Dies ist deshalb von   geschaffen werden, dass immobile Patien-
Bedeutung, weil mit der Rehabilitation auch    tinnen und Patienten zu Hause aufgesucht
und gerade die selbstbestimmte Teilhabe        und behandelt werden können, dass Pfle-
gefördert werden soll. Gründe hierfür lie-     gekräfte über grundlegende Kenntnisse zur
gen vor allem in der nicht bedarfsgerechten    Zahn- und Mundgesundheit verfügen und
Angebotsstruktur sowie in der mangelnden       dass Zahnärztinnen und -ärzte in der Be-
Identifizierung von Rehabilitationsbedarfen    handlung von Pflegebedürftigen aus- und
bei älteren und bei pflegebedürftigen Men-     weitergebildet werden. Pflege und Zahn-
schen. Neben dem Ausbau der ambulanten         medizin müssen zudem stärker vernetzt
und insbesondere der mobilen Rehabilita-       werden. Es ist zu prüfen, ob die Möglich-
tion müssen Verantwortliche im Gesund-         keit eröffnet werden soll, dass Pflegedienste
heitswesen, d.h. in der vertragsärztlichen     (einzeln oder gemeinsam) vergleichbar mit
Versorgung, im Entlassmanagement im            der Regelung in § 119b SGB V mit Zahnarzt-
Krankenhaus, bei der Pflegebegutachtung        praxen Kooperationsverträge zur Verbesse-
und in der ambulanten und stationären          rung der zahnärztlichen Versorgung Pflege-
Pflege, dem Rehabilitationsbedarf größere      bedürftiger schließen.
Beachtung schenken, hierfür stärker sensi-
bilisiert und darin weitergebildet werden.     5. Leistungen der Pflegeversicherung
                                                  weiterentwickeln
Auch am Lebensende wollen die meisten
Menschen zu Hause versorgt werden. Daher       In der Pflegeversicherung fehlt eine re-
bedarf es außerdem des flächendeckenden        gelhafte Dynamisierung der Leistungen.
Ausbaus ambulanter sowie teilstationärer       Die Diskussion über die Finanzierung der
hospiz- und palliativmedizinischer Ange-       Pflegekosten und der stetige Anstieg der
bote. Dazu zählt auch der Zugang zu An-        Eigenanteile wird meist nur im Zusammen-
geboten der spezialisierten ambulanten         hang mit der stationären Versorgung ge-
Palliativversorgung (SAPV), um selbst bei      führt. Steigende Kosten sind aber auch in
hoher Pflegebedürftigkeit zu Hause bleiben     der ambulanten Pflege problematisch. Die
zu können.                                     gedeckelte Kostenübernahme für private
                                               und professionelle Pflege zu Hause durch
Ebenso wie für ältere Menschen ohne Pfle-      die Pflegekassen kann zu einer Unterver-
gebedarf hat die Mundgesundheit auch bei       sorgung der Pflegebedürftigen führen, wenn
Pflegebedürftigen eine große Bedeutung für     selbst zu zahlende Hilfen nicht in Anspruch
die allgemeine Gesundheit und die indi-        genommen werden. Eine Reihe von bereits
viduelle Lebensqualität. Pflegebedürftige      beschlossenen sowie geplanten Maßnah-
haben deshalb einen Anspruch auf Leistun-      men zur Verbesserung der Situation in der
gen zur Verhütung von Zahnerkrankungen.        Pflege werden mit hoher Wahrscheinlichkeit
Die BAGSO fordert, die zahnmedizinischen       zu weiteren Kostensteigerungen und damit
Versorgungsstrukturen zielgruppengerecht       zu einer Erhöhung der Eigenleistungen füh-

                                                                                               9
BAGSO-Positionspapier                                        Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

ren.7 Die BAGSO fordert deshalb auch für die             die mit dieser Versorgungsform verbunden
ambulante Pflege eine regelmäßige Dyna-                  sind, wie z. B. die Finanzierbarkeit durch die
misierung der Leistungen und eine Begren-                Pflegehaushalte, die Sicherstellung adäqua-
zung der Eigenleistungen.                                ter Arbeitsbedingungen und einer angemes-
                                                         senen Entlohnung.
Außerdem ist eine Flexibilisierung der
Leistungen gefordert. Diese kann dazu bei-               6. Pflegende Angehörige unterstützen und
tragen, dass pflegende Angehörige weiter                    entlasten
entlastet werden und sich die ambulante
Versorgung der Pflegebedürftigen verbessert.             In der Versorgung Pflegebedürftiger sind
Die BAGSO begrüßt deshalb den Vorschlag                  die pflegenden Angehörigen unverzichtbar.
des Pflegebevollmächtigten der Bundesre-                 Mehr als zwei Drittel der zu Hause lebenden
gierung, die Leistungen für Verhinderungs-               Pflegebedürftigen werden derzeit alleine
pflege, Kurzzeitpflege und den Entlastungs-              durch pflegende Angehörige versorgt. Der
betrag zu einem Budget zusammenzulegen.                  Verbleib im eigenen Zuhause ist in vielen
So kann die Entlastungswirkung von Leis-                 Fällen davon abhängig, inwieweit es ge-
tungen erhöht werden, indem pflegende                    lingt, pflegende Angehörige unter Berück-
Angehörige eigenverantwortlich darüber                   sichtigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche
entscheiden können, welche Leistungen                    zu unterstützen und zu entlasten. Ange-
ihren individuellen Bedürfnissen am besten               sichts der hohen Bedeutung der häuslichen
entsprechen. Ferner sollte unter dem Ge-                 Pflege bedarf es neben Angeboten, die ihre
sichtspunkt möglicher Vorteile für die Ver-              Lebenssituation und ihre Autonomie be-
sorgung von Pflegebedürftigen die Zusam-                 rücksichtigen, auch eines erweiterten Pfle-
menlegung von Krankenversicherung und                    geverständnisses, das nicht nur die pflege-
Pflegeversicherung geprüft werden.                       bedürftige Person, sondern die gesamte
                                                         Familie im Blick hat. Folglich müssen die
Eine besondere Herausforderung ist die so-               pflegenden Angehörigen stärker als „Ver-
genannte 24 Stunden-Betreuung durch aus-                 sorgungsinstanz“ gesehen und in ihrer Rolle
ländische, meist osteuropäische Hilfskräfte.             stärker beachtet und unterstützt werden.
Die BAGSO begrüßt grundsätzlich den Vor-                 Drohenden Überlastungen, die zur eigenen
schlag des Bundesministeriums für Gesund-                Gesundheitsgefährdung, der Aufgabe eines
heit, einen Teil des Pflegesachleistungsbe-              eigenständigen Lebens und zu beruflichen
trags für diese Betreuungsleistung nutzen zu             Nachteilen führen, und die Ursache für Ver-
können. Allerdings löst eine solche Maß-                 nachlässigung und Gewaltgefährdung des
nahme nicht die vielschichtigen Probleme,                Pflegebedürftigen sein können, muss vor-

7 Hierzu zählen Maßnahmen, die im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) beschlossen wurden, wie die
  Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die (Zurück-)Gewinnung von Pflegepersonal, als auch Maßnahmen
  zur angemessenen Vergütung (Gesetz für bessere Löhne, 2019). Es kann davon ausgegangen werden, dass in
  naher Zukunft weitere Maßnahmen folgen, z. B. flächendeckende Tarifverträge und ein einheitliches Personal-
  bemessungsverfahren.
                                                                                                                10
BAGSO-Positionspapier                                          Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

gebeugt werden. Die BAGSO fordert, dass                    werden aufgefordert, sich mehr für die Nut-
den Angehörigen ein eigener Anspruch auf                   zung der von ihnen anzubietenden Pflege-
Beratung und Unterstützung in allen Fragen                 kurse für Angehörige einzusetzen, die auf
der Pflege und unter Berücksichtigung ihrer                Wunsch auch in der Häuslichkeit der Pflege-
individuellen Bedarfslagen eingeräumt wird.                bedürftigen stattfinden.

Pflegende Angehörige müssen darüber hin-                   7. Pflege und Beruf vereinbar machen
aus verstärkt bei der Suche nach den für sie
passenden Entlastungsmöglichkeiten und                     Trotz zahlreicher Verbesserungen in den
beim Aufbau gemischter Pflegearrangements                  vergangenen Jahren bleibt es für pflegende
unterstützt werden. Dies erfordert, dass                   Angehörige – mehrheitlich Frauen – eine
entsprechende Angebote und Strukturen,                     Herausforderung, neben der sogenann-
z. B. Möglichkeiten für eine stundenweise                  ten Sorge-Arbeit weiterhin erwerbstätig zu
Betreuung, Haushaltshilfen und Bereit-                     bleiben. Deshalb ist unter anderem der Auf-
schaftsdienste, auch flächendeckend zur                    und Ausbau von Strukturen, wie z. B. von
Verfügung stehen. Die BAGSO fordert, dass                  Kurz- und Teilzeitpflegeplätzen, notwendig,
die Beratung über die verschiedenen Ent-                   auf die pflegende und erwerbstätige Ange-
lastungsangebote zusammengeführt wird.                     hörige flexibel zugreifen können.
Sie unterstützt die Forderung nach einem
Pflegelotsen.8                                             Nicht selten gehen mit der Entscheidung,
                                                           die Pflege eines Angehörigen zu überneh-
Besondere Beachtung muss der Gesund-                       men, ein langzeitiges Ausscheiden oder der
heit der pflegenden Angehörigen gewid-                     vollständige Ausstieg aus dem Beruf, finan-
met werden. Hierzu bedarf es spezifischer                  zielle Einbußen und schließlich ein erhöhtes
niedrigschwelliger und zielgruppengerechter                Armutsrisiko einher. Die BAGSO fordert, dass
Angebote der Gesundheitsförderung, Prä-                    die häusliche Pflege in diesen Fällen als Er-
vention und Rehabilitation. Zu nennen sind                 werbstätigkeit anerkannt und entsprechend
hier u.a. Entspannungskurse, Sportmöglich-                 entlohnt wird. Dazu wird die Einführung
keiten, Rückentraining, Erfahrungsaustausch                einer Entgeltersatzleistung analog zum El-
in Selbsthilfegruppen und Gesprächskreisen.                terngeld als notwendig erachtet.9
Diese Angebote müssen mit der Möglichkeit
der Teilnahme der zu betreuenden Person                    Eine Rückkehr in den Beruf ist häufig nur
oder mit der Sicherstellung von deren Be-                  mit Nachteilen möglich, z. B. weil während
treuung verbunden sein. Die Pflegekassen                   der Pflege keine Zeit für nötige Qualifizie-

8 So fordert der Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege die Einführung eines Pflege Ko-Piloten zur früh-
  zeitigen Beratung und Begleitung von Pflegehaushalten (vgl. Konzept Pflege Ko-Pilot).
9 So empfiehlt der Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf eine Lohnersatzleistung analog
  zum Elterngeld für bis zu 36 Monate. Sie soll das bisherige Darlehen im Rahmen der Pflege- und Familienpfle-
  gezeit ablösen (vgl. Unabhängiger Beirat zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf).

                                                                                                                   11
BAGSO-Positionspapier                               Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

rungen bleibt. Arbeitgeber und Gewerk-            Darüber hinaus kommt den Kommunen die
schaften sind gefordert, angemessene              Aufgabe einer Koordinierungsinstanz zu, die
Rückkehrregeln in den Beruf zu entwickeln         eine Plattform für die Zusammenarbeit ver-
und zu einer besseren Vereinbarkeit von           schiedener Leistungsträger und Leistungs-
Pflege und Beruf beizutragen, z. B. durch         erbringer bietet und die die Zivilgesellschaft
das Angebot von flexiblen Arbeitszeiten und       dabei unterstützt, ehrenamtliches und
Homeoffice.                                       freiwilliges Engagement zu entfalten („sor-
                                                  gende Gemeinschaften“). Ziel muss es sein,
8. Die Rolle der Kommunen stärken                 ein reibungsloses Ineinandergreifen unter-
                                                  schiedlicher Hilfen zu ermöglichen, sodass
Die Förderung der Gesundheit ist als ein ge-      jeder Pflegehaushalt auf einen bedarfsge-
samtpolitisches Ziel („health in all policies“)   rechten, leistungsfähigen und aufeinander
und als eine gesamtgesellschaftliche Auf-         abgestimmten Hilfe-Mix zugreifen kann.
gabe zu verstehen, zu der Bund, Länder und
Kommunen, die Sozialversicherungen und            Die Hilfen müssen niedrigschwellig ver-
die Zivilgesellschaft gemeinsam beitragen         fügbar und hinreichend ausgestattet sein.
müssen. Wie im Siebten Altenbericht der           Gefordert wird hierzu eine sozialraumorien-
Bundesregierung festgestellt, kommt den           tierte, kleinräumige, zielgruppenorientierte
Kommunen eine zentrale Rolle in der Ge-           und integrierte (sektoren-übergreifende)
staltung zukunftssicherer Unterstützungs-,        Sozialplanung, die zum Ziel hat, nutzer-
Versorgungs- und Pflegestrukturen zu.             orientierte, passgenaue Pflege- und Unter-
                                                  stützungsarrangements zu ermöglichen. Dies
In der Kommune als übergeordnete Lebens-          ist nur auf kommunaler Ebene leistbar.
welt bündeln sich neben eigenen Angebo-
ten die Angebote zur Gesundheitsförderung,        Eine erfolgreiche kommunale Politik für äl-
Prävention und Rehabilitation von unter-          tere Menschen setzt Partizipationsmöglich-
schiedlichen Akteuren (z. B. Krankenkassen,       keiten voraus. Vielerorts wirken ältere Bür-
Wohlfahrts- und Sozialverbänden, Mehrge-          gerinnen und Bürger bereits in beratenden
nerationenhäusern, Seniorenbüros) in ver-         Gremien wie Seniorenbeiräten bzw. -vertre-
schiedenen Settings. Aufgabe der Kommu-           tungen mit. Aus Sicht der BAGSO muss durch
nen muss es sein, Rahmenbedingungen zu            entsprechende Regelungen sichergestellt
schaffen, die die Gesundheit und Lebens-          werden, dass sich Rat und Kommunalver-
qualität fördern und die verbleibenden Res-       waltung mit Anträgen und Vorschlägen der
sourcen des Einzelnen stärken. Dazu zählen        Seniorenvertretungen auseinandersetzen.
die Gestaltung aktivierender und sozial
unterstützender Umwelten, der Abbau von           9. Kommunen aufgabengerecht ausstatten
Barrieren und gesundheitlichen Belastungen
sowie die Förderung von bürgerschaftlichem        Viele Kommunen leisten bereits Unter-
Engagement, sozialer Integration und Parti-       stützung in erheblichem Umfang, indem
zipation.                                         sie entsprechende Sozial- und Pflegeplä-
                                                  ne erstellen, Hilfen selbst erbringen oder

                                                                                                   12
BAGSO-Positionspapier                                     Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Hilfen Dritter ermöglichen, fördern oder              Länder auf, entsprechende (Altenhilfestruk-
koordinieren. Sie geraten jedoch vielfach             tur-)Gesetze zu erlassen.
an fachliche, personelle und finanzielle
Grenzen. Darüber hinaus sind sie an einer             10. Für ausreichendes Personal in der
umfassenden, auch die Versorgungs- und                    ambulanten Pflege sorgen
Pflegestrukturen integrierenden Sozial- und
Pflegestrukturentwicklung gehindert, da die           Das Engagement von Angehörigen und
Pflegekassen nicht an die Sozial- und Pfle-           Ehrenamtlichen in der Pflege ist nicht hoch
gepläne der Kommunen gebunden sind.                   genug zu würdigen. Dennoch braucht es
                                                      – gerade auch zu deren Entlastung – qua-
Ein Zusammenwirken von Sozialversiche-                lifizierte Pflegekräfte. Insbesondere dort,
rung und Kommunen ist notwendig. Wie                  wo Pflegearrangements mit geteilter Ver-
schon in früheren Stellungnahmen10 fordert            antwortung nicht entstehen können, muss
die BAGSO deshalb eine aufgabengerech-                die professionelle Unterstützung weiterhin
te finanzielle Ausstattung der Kommunen               greifen.
sowie im SGB V eine verpflichtende Be-
rücksichtigung der Sozial- und Pflegepla-             Ambulante Pflege vollzieht sich anders als
nung der Kommunen bei der Zulassung von               stationäre Pflege. Sie ist eine Teilversorgung,
Pflegeeinrichtungen. Die Krankenkassen                die sich nach den Wünschen und den finan-
sind aufgefordert, sich mehr als bisher für           ziellen Möglichkeiten der pflegebedürftigen
die Prävention in den Lebenswelten älterer            Menschen und der sie pflegenden Angehö-
Menschen zu öffnen. Krankenkassen und                 rigen bemisst, insbesondere danach, wel-
Kommunen müssen aufeinander zugehen                   chen Umfang und welche Teile der Pflege sie
und gemeinsam agieren.                                selbst übernehmen wollen und können und
                                                      welche Teile von (professionellen) Pflege-
Den oben beschriebenen Aufgaben kön-                  kräften zu übernehmen sind. Ambulante
nen Kommunen nur vollumfänglich gerecht               Pflege ist entsprechend der Situation der
werden, wenn – wie im Siebten Altenbericht            Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ein
vorgeschlagen – ein gesetzlicher Rahmen               (unter Umständen täglicher) Aushandlungs-
zur Stärkung der kommunalen Senioren-                 prozess.
politik besteht und die nötigen finanziellen
Ausstattungen garantiert sind. Andernfalls            Die Arbeitsbedingungen in der ambulanten
verhindert die unterschiedliche kommuna-              Pflege haben in den vergangenen Jahren
le Handlungsfähigkeit das in Artikel 72 des           dafür gesorgt, dass (qualifizierte) Pflege-
Grundgesetzes geforderte Ziel, gleichwertige          kräfte zunehmend in den stationären Sektor
Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzu-             abgewandert sind. Der rückläufigen Ver-
stellen. Die BAGSO fordert deshalb Bund und           fügbarkeit von Personal steht der steigende

10 Vgl. BAGSO-Stellungnahme zum Siebten Altenbericht „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune –
   Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften" (www.bagso.de).

                                                                                                        13
BAGSO-Positionspapier                                        Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Bedarf für die Betreuung häuslich lebender               len. Gleichzeitig muss aufgrund der demo-
Pflegebedürftiger und eine Pluralisierung                grafischen und sozialen Entwicklungen, aber
der Bedarfslagen gegenüber. So ist es nicht              auch der Pluralisierung von Lebens- und
unüblich, dass Pflegedienste mit Ablehnung               Versorgungsformen in den zurückliegenden
von Anfragen, Reduzierung der Dienstleis-                Jahren davon ausgegangen werden, dass die
tungen, Verkleinerung der Pflegedienste und              Pflege zunehmend differenzierter gestaltet
kurzfristigen Kündigungen von Verträgen                  werden muss. Seit Inkrafttreten der Pflege-
reagieren. In der Fachöffentlichkeit wird vor            versicherung sind auch in der ambulanten
einer Gefährdung der Versorgung gewarnt.                 Versorgung die Kapazitäten ausgeweitet und
Die Personalgewinnung und -haltung im                    die Infrastruktur verbessert worden. Unter-
ambulanten Sektor muss deshalb eine sehr                 blieben ist allerdings eine Ausdifferenzie-
viel größere Beachtung finden. Gefordert                 rung der Leistungsangebote, die verschie-
wird ein Personalbemessungsverfahren für                 denen Bedarfslagen gerecht werden kann.
den ambulanten Bereich, wie es für den                   Infolge der demografischen Entwicklung ha-
stationären Sektor entwickelt worden ist.11              ben sich das Krankheitsgeschehen und die
                                                         Bedarfslagen jedoch verändert. Zu versorgen
Die Konzertierte Aktion Pflege (KAP) hat eine            sind Menschen mit höchst unterschied-
Reihe von Vereinbarungen zur Personalbe-                 lichen Biografien und gesundheitlichen
schaffung und -bindung getroffen. Der erste              Voraussetzungen, z. B. demenziell Erkrankte,
Umsetzungsbericht zeigt, dass erste Erfolge              chronisch Erkrankte in den Spätstadien des
zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen,                 Krankheitsverlaufs, Menschen mit komple-
z. B. ein einheitlicher Mindestlohn ab Juli              xen und/oder technikintensivem Pflege-
2021, erzielt worden sind. Die BAGSO fordert,            bedarf, allein lebende Ältere, ältere Men-
dass weitere Maßnahmen (z. B. erweiterte                 schen mit Behinderung. Mit ihrem engen
Versorgungsbefugnisse für Pflegekräfte, Digi-            Angebotsprofil mit einheitlich beschreib-
talisierung der Pflege) zügig umgesetzt und              baren Leistungen können die ambulanten
evaluiert werden. Sie hält außerdem den                  Dienste den vorzufindenden Bedarfslagen
Abschluss flächendeckender Tarifverträge für             nur unzureichend gerecht werden. Deshalb
dringlich.                                               fordert die BAGSO eine an die verschiedenen
                                                         Nutzergruppen und deren unterschiedliche
11. Versorgungsstrukturen weiterentwi-                   Bedarfslagen angepasste Weiterentwicklung
    ckeln und modernisieren                              der ambulanten Versorgung.

Auch künftig werden die eigenen vier Wän-                Besondere Herausforderungen ergeben sich
de weiterhin der Ort bleiben, in denen                   im Hinblick auf die zunehmende Hoch-
Menschen bevorzugt gepflegt werden wol-                  altrigkeit und die wachsende Anzahl von

11 Vgl. Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung
   des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß § 113c SGB
   XI (PeBeM), S. 336 ff.

                                                                                                               14
BAGSO-Positionspapier                            Zukunft der Hilfe und Pflege zu Hause

Menschen mit Demenz. Sie sind Teil unserer     munikations- und Sicherheitstechnologien
Gesellschaft und können in vielen Fällen       („Smart Home“) können zur Steigerung der
auch zu Hause leben und versorgt werden.       Versorgungssicherheit und -qualität bei-
Dazu braucht es geeignete Hilfestrukturen,     tragen und sollten Pflegebedürftigen über
in denen relevante Akteure wie Kommune,        die Hilfsmittelkataloge nach SGB V und SGB
Einrichtungen, Dienstleister, Vereine und      XI zur Verfügung stehen. In der professio-
Bürgerinnen und Bürger zusammenwirken.         nellen Pflege kann der Einsatz von digita-
Die BAGSO unterstützt deshalb mit der Netz-    len Technologien Kommunikations- und
werkstelle Lokale Allianzen für Menschen       Verwaltungsprozesse effizienter gestalten.
mit Demenz bundesweit den Auf- und Aus-        Pflegedienste und andere Leistungserbringer
bau von lokalen Unterstützungsnetzwerken       müssen deshalb in der Anbindung an die
und deren überregionale Vernetzung.12 Als      technische Infrastruktur sowie im Erwerb
Selbsthilfeorganisationen bieten die Deut-     digitaler Kompetenzen geschult und unter-
sche Alzheimer Gesellschaft und ihre Mit-      stützt werden.
gliedsgesellschaften seit Jahrzehnten Bera-
tung und Unterstützung von Menschen mit        Dieses Positionspapier wurde von der
Demenz und ihrer Angehörigen vor Ort.13        Fachkommission Gesundheit und Pflege
                                               erarbeitet und im Februar 2021 vom
Schließlich müssen neue, sektorenüber-         Vorstand der BAGSO verabschiedet.
greifende Wohn- und Versorgungsformen
gefördert werden, die eine flexible Hinzu-
nahme von Leistungen erlauben, ohne dafür
umziehen zu müssen. Solche Hybridkonzep-                                       Herausgeber
te, die Übergänge zwischen ambulanter und
stationärer Pflege vereinfachen oder deren        BAGSO
strikte Trennung ganz auflösen, scheinen          Bundesarbeitsgemeinschaft
besonders geeignet zu sein, individuellen         der Seniorenorganisationen e. V.
Bedarfen besser gerecht zu werden und
unterschiedliche Formen der Unterstützung         Noeggerathstr. 49
zu integrieren.                                   53111 Bonn
                                                  Telefon 0228 / 24 99 93-0
Mit Blick auf die Zukunft gilt es auch, die       Fax 0228 / 24 99 93-20
Potenziale der Digitalisierung effektiver zu      kontakt@bagso.de
nutzen und entsprechende Technologien
sinnvoll in die Pflegearbeit zu integrieren.      www.bagso.de
Insbesondere Assistenztechnologien zur            facebook.com/bagso.de
(Selbst-)Pflege, digitale und häusliche Kom-      twitter.com/bagso_de

12 Vgl. www.netzwerkstelle-demenz.de
13 Vgl. www.deutsche-alzheimer.de

                                                                                              15
Die BAGSO – Stimme der Älteren                   Die BAGSO fördert ein differenziertes Bild
                                                 vom Alter, das die vielfältigen Chancen eines
Die BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft            längeren Lebens ebenso einschließt wie
der Seniorenorganisationen vertritt die          Zeiten der Verletzlichkeit und Hilfe- bzw.
Interessen der älteren Generationen in           Pflegebedürftigkeit. Gegenüber Politik,
Deutschland. Sie setzt sich für ein aktives,     Gesellschaft und Wirtschaft tritt sie für Rah-
selbstbestimmtes und möglichst gesundes          menbedingungen ein, die ein gutes und
Älterwerden in sozialer Sicherheit ein. In der   würdevolles Leben im Alter ermöglichen –
BAGSO sind rund 120 Vereine und Verbände         in Deutschland, in Europa und weltweit.
der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen,
die von älteren Menschen getragen werden         In Positionspapieren und Stellungnahmen
oder die sich für die Belange Älterer enga-      gibt die BAGSO Anstöße und Empfehlungen
gieren.                                          für politisches Handeln in Bund, Ländern
                                                 und Kommunen. Die BAGSO veröffentlicht
                                                 eine Vielzahl von Publikationen zu unter-
                                                 schiedlichen Themen, die kostenfrei zu be-
                                                 stellen sind oder auf der BAGSO-Internet-
                                                 seite heruntergeladen werden können.
Sie können auch lesen