Zukunft Soziale Marktwirtschaft
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Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 Bernhard Boockmann / André Schleiter Mit Sozialpartner-Vereinbarungen die Weiterbildung stärken – ein Blick in ausgewählte Branchen Der rasche Wandel in der Arbeitswelt macht Weiterbildung unverzichtbar, um die Kompetenzen der Beschäftigten auf dem neuesten Stand zu halten. Mit Vereinbarungen zur Förderung von Weiterbildung können die Sozialpartner hierfür wichtige Impulse geben und Rahmenbedingungen schaffen. Die zunehmende Digitalisierung von Produkten Wer kann zur Besserung dieser Situation beitra- und Arbeitsprozessen sowie der Übergang zu ei- gen? Im deutschen Weiterbildungssystem teilen ner CO2-armen Wirtschaftsweise verwandelt die sich Politik, Arbeitsagentur und Weiterbildungs- Arbeitswelt tiefgreifend. An vielen Arbeitsplätzen anbieter, Sozialpartner, Unternehmen und verändern sich die Anforderungen an die Kompe- schließlich auch die Beschäftigten die Verantwor- tenzen der Beschäftigten. Für sie wird regelmä- tung für das Weiterbildungsgeschehen. In der so- ßige Weiterbildung immer wichtiger, um beschäf- zialen Marktwirtschaft haben Gewerkschaften tigungsfähig zu bleiben und sich beruflich entwi- und Arbeitgeberverbände große Gestaltungs- ckeln zu können. Das Weiterbildungssystem in möglichkeiten, um auf eine stärkere Verbreitung Deutschland – so attestiert die OECD (2021) – von Weiterbildung hinzuwirken. Als Sozialpartner leistet hierfür jedoch nur unzureichend Unterstüt- können sie den gesetzlichen Rahmen durch Ta- zung. Zwar hat es im zeitlichen Verlauf Fort- rifverträge oder andere Vereinbarungen konkreti- schritte bei der Weiterbildungsbeteiligung gege- sieren und darüberhinausgehende Regelungen ben, doch weiterhin liegt Deutschland in diesem finden, mit denen für den jeweiligen Branchen- Bereich deutlich hinter anderen OECD-Staaten kontext passgenaue Lösungen bereitgestellt wer- wie beispielsweise den Niederlanden oder den. Nicht zuletzt können sie damit auch Unter- Schweden zurück. Bei Investitionen in Wissens- nehmen und Beschäftigten wesentliche Hilfestel- kapital, zu denen auch die Weiterbildung beiträgt, lungen für die Umsetzung der Weiterbildung vor liegen deutsche Unternehmen im internationalen Ort geben. Vergleich auf den hinteren Plätzen (Belitz & Gor- nig 2019).
Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 In einer Reihe von Branchen wurden Sozialpart- Die Vereinbarungen unterscheiden sich nicht nur ner-Vereinbarungen zum Thema Weiterbildung im Hinblick auf die Art der Vereinbarung und den abgeschlossen. Welche Bedeutung haben diese Geltungsbereich, sondern auch hinsichtlich in- bislang? In welchen Bereichen kommt die Rege- haltlicher und prozessualer Aspekte. In einigen lungskompetenz bereits heute zum Tragen und Fällen handelt es sich um umfassende Rege- wo ist sie noch ausbaufähig? Welche Schlussfol- lungswerke, aus denen sich verbindliche Ansprü- gerungen für künftige Vereinbarungen können che ableiten lassen. In anderen Fällen wird in gezogen werden? In der neuen Studie „Vereinba- den Vereinbarungen das Thema Weiterbildung rungen der Sozialpartner zur Weiterbildung – ein nur am Rand erwähnt und die Regelungen sind Blick in ausgewählte Branchen“ der Bertelsmann eher unkonkret. Stiftung wird analysiert, auf welche Regelungsbe- reiche die Vereinbarungen der Sozialpartner zur Weiterbildung bereits heute eingehen und wie sie Blick in einzelne Branchen die Verbreitung von betrieblicher Weiterbildung Für die vertiefte Analyse wurden tarifvertragliche unterstützen. Vereinbarungen zur Weiterbildung in drei Bran- chen ausgewertet, in denen solche Vereinbarun- Die Untersuchung analysiert die öffentlich zu- gen besonders verbreitet sind: die Metall- und gänglichen sowie die im Tarifregister eines Bun- Elektroindustrie, die chemische Industrie sowie deslandes enthaltenen Vereinbarungen der Sozi- der Bahn- und Schienenverkehr. In den beiden alpartner zum Thema Weiterbildung. Daneben erstgenannten Branchen ist die Weiterbildungs- wurden Expert:innen aus Sozialpartnerorganisati- beteiligung mit jeweils über einem Drittel der Be- onen dazu befragt, wie die Regelungen in der schäftigten, die pro Jahr an Weiterbildungen teil- Praxis wirken. Ordnet man diese Vereinbarungen nehmen, höher als in der Gesamtwirtschaft und Tarifverträge mit Weiterbildungsinhalten ein- (Dummert 2018). Der Schie- nenverkehr ist durch eine hohe Regulierung der Weiterbildung gekennzeichnet. So besteht für Fahrer:innen im Güter- oder Personenverkehr zu gewerbli- chen Zwecken eine gesetzliche Verpflichtung, regelmäßig an Fort- und Weiterbildung sowie an einem Simulatortraining teil- zunehmen. Damit ist diese Branche ein Beispiel dafür, wie die Sozialpartner gesetzliche Vorgaben konkretisieren. zelnen Branchen zu, zeigen sich Schwerpunkte, Metall- und Elektroindustrie: Vereinbarungen zum Beispiel in der Metall- und Elektroindustrie mit hohem Detailgrad (siehe Abbildung 1). In der Gesamtschau ist die Abdeckung durch solche Vereinbarungen un- Die Metall- und Elektroindustrie (M+E-Industrie) gleichmäßig; in vielen Branchen der deutschen weist spezifische Qualifizierungs- und Weiterbil- Wirtschaft fehlen sie ganz. Abbildung 1 zeigt dungsvereinbarungen auf. Die darin vorgesehene auch, dass die Regelungen zur Weiterbildung Förderung von Weiterbildung wird zumeist detail- meist in Branchentarifvereinbarungen getroffen liert dargestellt. Die Regelungen zur arbeitgeber- werden. In einigen Branchen gibt es auch spezifi- seitigen Kostenübernahme entlasten die Be- sche Qualifizierungsvereinbarungen. Im öffentli- schäftigten und sorgen dafür, dass finanzielle As- chen Dienst ist Weiterbildung ein Gegenstand pekte kein Hindernis für die Weiterbildungsbeteili- der Aushandlung von Manteltarifverträgen. gung der Beschäftigten darstellen. Seite 2
Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 AgenturQ Die AgenturQ wurde als eine gemeinschaftliche Einrichtung der beiden Tarifvertragsparteien IG Me- tall und Südwestmetall in Baden-Württemberg bereits 2001 gegründet. Im Tarifvertrag zur Qualifi- zierung haben die Tarifpartner die Aufgaben der Agentur definiert: • Stärkung des Bewusstseins bei Betrieben und Beschäftigten, dass ständige berufliche Qualifi- zierung notwendig ist. • Entwicklung von Weiterbildungsmaßnahmen für un- und angelernte Beschäftigte, ältere Be- schäftigte und Beschäftigte nach Arbeitszeitunterbrechnungen. • Beobachtung des Wandels der Qualifikationsanforderungen, um Maßnahmen zur Förderung von Beschäftigungschancen und zur Vermeidung von Qualifikationsengpässen zu entwickeln. • Entwicklung neuer Modelle und Qualitätsstandards der betrieblichen Weiterqualifizierung. • Verbesserung der Information zu außerbetrieblichen beruflichen Qualifizierungsangeboten. Die AgenturQ entwickelt gemeinsam mit Unternehmen und Betriebsräten praxisnahe Konzepte, wie beispielsweise den Leitfaden „Prospektive Weiterbildung 4.0 , um Beschäftigte frühzeitig auf die sich verändernden Arbeitsanforderungen zu qualifizieren. Sie nimmt nicht nur eine beratende Funk- tion gegenüber Betrieben und Beschäftigten zu allen Fragen des Tarifvertrags zur Qualifizierung wahr, sondern kann in Konfliktfällen schlichtend eingreifen. Dabei ist sie zu Neutralität verpflichtet. Vorstand und Beirat der AgenturQ sind paritätisch mit Vertreter:innen der IG Metall sowie der Süd- westmetall besetzt. Mit dem Tarifvertrag zur Qualifizierung für die Be- dung 4.0“ in der Chemie-Industrie). Die Organisa- schäftigten in der M+E-Industrie in Baden-Würt- tion von Weiterbildung innerhalb dieses Rah- temberg haben die Sozialpartner darüber hinaus mens setzt bei den Beteiligten auf der betriebli- mit der AgenturQ – Agentur zur Förderung der chen Ebene allerdings Zeit, Motivation und Enga- beruflichen Weiterbildung in der Metall- und gement voraus. Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. – eine gemeinsame Einrichtung geschaffen (siehe Text- Bahn- und Schienenverkehr: Verbindliche kasten AgenturQ). In keiner anderen Branche ha- Normen bei betrieblich notwendiger ben Tarifpartner eine vergleichbare Organisation Fortbildung eingerichtet. Die Tarifvereinbarungen zur Förderung der Wei- Chemische Industrie: Rahmensetzung für terbildung im Bahn- und Schienenverkehr kon- betriebliche Vereinbarungen kretisieren gesetzliche Bestimmungen für ein- zelne Beschäftigtengruppen. Dabei unterschei- Die Auswertung der Tarifvereinbarungen zur För- den sie zwischen betrieblich notwendiger Fortbil- derung der Weiterbildung in der chemischen In- dung und individueller beruflicher Weiterbildung. dustrie zeigt eine hohe Sensibilisierung der Sozi- Während für die betriebliche Fortbildung sowohl alpartner für die Bedeutung von Weiterbildung. Ansprüche der Beschäftigten gegenüber dem Be- Durch kontinuierliche Weiterbildung sollen der trieb als auch Ansprüche des Betriebs gegenüber Strukturwandel und die Digitalisierung in der den Beschäftigten definiert werden, sind die Re- Branche mitgestaltet werden. Bundesweite Ver- gelungen bezüglich der individuellen beruflichen einbarungen zur Weiterbildung, die Antworten auf Weiterbildung durch einen geringen Grad der diese Herausforderungen zu geben versuchen, Verbindlichkeit gekennzeichnet. sollen auf Betriebsebene konkretisiert werden und so die Bedarfe der Betriebe und Beschäftig- ten stärker berücksichtigen (siehe Textkasten „Sozialpartner-Vereinbarung Zielbild Weiterbil- Seite 3
Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 „Sozialpartner-Vereinbarung Zielbild Weiterbildung 4.0“ in der Chemie-Industrie Die Sozialpartner der Chemie-Industrie haben wiederholt spezifische Sozialpartnervereinbarungen abgeschlossen, mit denen sie auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren. Dem Selbstver- ständnis der Tarifparteien zufolge, handelt es sich bei den Sozialpartner-Vereinbarungen um gemein- same Verständigungsgrundlagen und Rahmensetzungen mit einem außertariflichen Status, die gleichwohl bindende Wirkung entfalten. Mit der „Sozialpartnervereinbarung Zielbild Weiterbildung 4.0“ haben die Sozialpartner einen strategi- schen Rahmen für die im Tarifabschluss 2019 vereinbarte „Qualifizierungsoffensive Chemie“ ge- schaffen. In dieser Vereinbarung setzen sich die Sozialpartner Ziele, die sie im Bereich der Weiterbil- dung bis zum Jahr 2025 erreichen wollen. Um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, wollen die Sozialpartner beispielsweise bestehende Berufsbilder weiterentwickeln und Weiterbildungskonzepte erarbeiten, die auf den angepassten Ausbildungsordnungen aufbauen. Sie wollen Analyse- und Prognose-Instrumente zur Ermittlung der branchenspezifischen und betrieblichen Qualifikationspro- file und -bedarfe bereitstellen und die Durchführung von regelmäßigen Qualifikationsbedarfsanalysen empfehlen sowie Qualifizierungszeiträume schaffen. Auch sollen Weiterbildungsmentoren ausgebil- det werden, die in den Betrieben niedrigschwellig und arbeitsplatzbezogen beraten. Die Begleitung der aus diesem Zielen abzuleitenden Maßnahmen wird dem „Rat zur Förderung der Berufsbildung in der chemischen Industrie“ übertragen. Zentrale Erkenntnisse Einhaltung der Vereinbarungen und bedeutet auch, dass die Vereinbarungen nicht systema- Wenig Transparenz über vorhandene tisch weiterentwickelt werden und aufeinander Vereinbarungen aufbauen. Generell ist auffällig, dass wenig Transparenz über die Vereinbarungen herrscht, die in den je- Finanzierung und Zeit werden nur in einigen weiligen Branchen gelten. Nach dem Tarifver- Vereinbarungen verbindlich geregelt tragsgesetz gibt es zwar ein Tarifregister beim Mehrheitlich differenzieren die Vereinbarungen Bundesministerium für Arbeit und Soziales, wo nicht explizit zwischen betrieblicher und individu- die Tarifverträge persönlich eingesehen werden eller Weiterbildung. Wo eine Differenzierung vor- können. Doch die fehlende Digitalisierung des Ar- genommen wird, steht jedoch die betriebliche chivs erschwert es, sich schnell einen Überblick Weiterbildung im Vordergrund. Die Teilnahme an zu verschaffen. Auch die befragten Expert:innen Qualifizierungsmaßnahmen gilt meist als Arbeits- in den untersuchten Branchen gaben teilweise zeit. Die Dauer der Freistellung wird in den Ver- an, dass ihnen der Überblick über die vorhande- einbarungen aber sehr unterschiedlich geregelt. nen Vereinbarungen fehle. Dies erschwert die Nur selten lässt sich ein konkreter Zeitanspruch für die Beschäftigten ableiten. Die Kosten von betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen werden in der Regel vollstän- dig oder anteilig vom Betrieb übernommen (siehe Abbildung 2). Die genaue Ausgestaltung regelt jedoch der Betrieb unter Berücksichtigung des betriebli- chen Nutzens der Weiterbil- dung. Die Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen Seite 4
Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 kann auch über einen Weiterbildungsfonds gere- schließen kann, für die Mitgestaltung von Weiter- gelt werden. bildung auf der betrieblichen Ebene besonders wichtig. Aus den Regelungen lassen sich in den meisten Fällen keine verbindlichen Ansprüche für die Be- Zugleich werden Regelungen und Unterstüt- schäftigten ableiten, weil solche Ansprüche z. B. zungsstrukturen auf der Branchenebene für eine mit Verweis auf betriebliche Umstände relativiert nachhaltige Förderung betrieblicher Weiterbil- werden. Das begrenzt das Potenzial der Verein- dung von den Gesprächspartner:innen als not- barungen, zu einer vermehrten Weiterbildungs- wendig angesehen. Eine gemeinsame Strategie teilnahme beizutragen. von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften und gemeinsame Einrichtungen zur Förderung Bedarfsermittlung häufig durch von Weiterbildung werden als hilfreich bewertet. Qualifizierungsgespräche Viele Vereinbarungen formulieren einen An- spruch der Beschäftigten auf regelmäßige Quali- Schlussfolgerungen fizierungsgespräche. Dies kann als wichtiger Sozialpartner-Vereinbarungen zur Weiterbil- Baustein für die Bedarfsermittlung angesehen dung bieten Orientierung und Hilfestellungen werden. Für den Fall, dass die Bedarfsermittlung Betriebe und Beschäftigte, ganz besonders im zwischen Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber nicht Fall kleinerer Betriebe, können die Frage der zu einer gemeinsamen Einschätzung führt, re- Weiterbildung oft nicht allein lösen. Häufig wurde geln manche Tarifvereinbarungen das Vorgehen in den Expert:innengesprächen auf die fehlenden im Konfliktfall. Eine Schlichtung wird durch den Kapazitäten auf der betrieblichen Ebene verwie- Betriebsrat oder spezielle Kommissionen vorge- sen, die es nicht erlauben, sich nachhaltig mit nommen. dem Thema Weiterbildung auseinanderzusetzen. Die Bedarfsermittlung beschränkt sich allerdings Mitunter befinden sich die Betriebe in einem Teu- in den meisten Fällen auf Qualifizierungsgesprä- felskreis, in dem bereits spürbare Fachkräfteeng- che, deren Organisation und Verbindlichkeit nicht pässe es nicht zulassen, Beschäftigte für die konkret geregelt werden und bei denen nicht Weiterbildung freizustellen und durch Qualifizie- transparent ist, wie – das heißt, auf welcher fach- rungen den künftigen Fachkräftebedarf zu ver- lichen Grundlage – Bedarfe ermittelt werden. Die mindern. genaue Ausgestaltung der Verfahrensweisen zur Die betriebliche Ebene braucht Informationen Bedarfsermittlung wird zumeist den Betrieben und vielfach auch Anstöße, um sich mit der Not- überlassen und nicht in den Vereinbarungen ge- wendigkeit der Weiterbildung auseinanderzuset- regelt. Eine Einbindung der Verfahren in die lang- zen. Hier setzen die vorhandenen Vereinbarun- fristige Geschäftspolitik der Betriebe ist nicht vor- gen ein, indem sie einen Rahmen schaffen und gesehen. Normen für die Weiterbildung definieren. In eini- Betriebliche und Branchenebene gen Branchen gehen die Sozialpartner weiter und bieten Hilfestellungen an. Sie nehmen eine Bera- Die betriebliche Ebene ist der Dreh- und Angel- tungsfunktion wahr und vermitteln bei Konflikten punkt für die Umsetzung von Weiterbildungsmaß- über die Weiterbildung zwischen den Beteiligten nahmen, denn hier entstehen die Weiterbildungs- auf der betrieblichen Ebene. Ferner setzen die bedarfe und das Interesse der Beschäftigten an Sozialpartner Standards für Weiterbildungsange- Qualifizierung. Von der Arbeitgeberseite wird bis- bote und stellen diese Angebote selbst bereit. weilen argumentiert, dass sich Regelungen auf Branchenebene wegen der unterschiedlichen Be- Weiterbildung hat für Sozialpartner zu selten darfe nicht als Blaupausen für die betriebliche strategische Bedeutung Ebene eignen. In diesem Fall ist der Betriebsrat, Die erfolgreichen Beispiele in einigen Branchen der mit dem Arbeitgeber Betriebsvereinbarungen zeigen, dass die Sozialpartner die gemeinsamen Seite 5
Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 Herausforderungen durch den Strukturwandel diesen Bereichen wäre also eine Stärkung der zum Anlass von Vereinbarungen zur Weiterbil- Tarifabdeckung. dung nehmen. Ein besonders markantes Beispiel Gemeinsames Problemverständnis und dafür ist die Chemieindustrie, in der die Tarifver- Vertrauensbeziehungen als Voraussetzungen tragsparteien schon früh einen Demografie-Tarif- vertrag abgeschlossen haben. Weiterbildung ist Ein Grund dafür, warum Weiterbildung bislang für sie eine Möglichkeit, den Strukturwandel plan- nur in relativ wenigen Branchen durch die Sozial- voll mitzugestalten. partner geregelt wird, können die gegensätzli- chen Positionen von Arbeitgeberverbänden und Bei den Sozialpartnern wird Qualifizierung und Gewerkschaften sein. Arbeitgeber unterstreichen Weiterbildung allerdings teilweise als ein „Schön- die Notwendigkeit von Flexibilität und nicht bin- wetterthema“ angesehen, das von anderen Re- denden Vereinbarungen, während die Gewerk- gelungsbereichen dominiert wird. Ansprüche auf schaften möglichst konkrete und einklagbare An- Weiterbildung gehören in den Tarifverhandlungen sprüche in den Vereinbarungen festlegen möch- mitunter zur Verhandlungsmasse, die zur Dispo- ten. Dieser Gegensatz erschwert die Identifika- sition steht und gegen andere Verhandlungsge- tion gemeinsamer Interessen. genstände, wie zum Beispiel Sonderzahlungen, eingetauscht werden kann. Nicht nur auf der be- Vor diesem Hintergrund ist das Klima der Tarifbe- trieblichen, sondern auch auf der Branchenebene ziehungen unter den fördernden Faktoren an ers- ist die Nachhaltigkeit der Auseinandersetzung mit ter Stelle zu nennen. Gewachsene Beziehungen, dem Thema Weiterbildung nicht sichergestellt. Vertrauen, eine „Kultur der guten Zusammenar- beit“ fördern den Abschluss von Vereinbarungen Inklusivität der Vereinbarungen nicht überall generell, auch zum Thema Weiterbildung. In der gewährleistet baden-württembergischen Metall- und Elektroin- dustrie dürften die Schaffung gemeinsamer Insti- In vielen der vorliegenden Sozialpartner-Verein- tutionen wie der AgenturQ und das gestiegene barungen wird darauf verwiesen, dass sämtliche Bewusstsein von gemeinsamen Zielen Hand in Beschäftigtengruppen an Qualifizierungsmaß- Hand gegangen sein. In jedem Fall braucht es nahmen teilnehmen sollen und dass Qualifi- gemeinsames Handeln und gemeinsame Zielset- kationsbedarfe insbesondere von an Weiter- zungen, wenn man betriebliche Weiterbildung bildungsmaßnahmen unterrepräsentierten sowie nachhaltig unterstützen möchte. bildungsfernen Beschäftigtegruppen beachtet werden sollen. Allerdings werden in etwa einem Förderlich ist eine gemeinsame Problemsicht auf Viertel der vorhandenen Sozialpartner-Vereinba- die Herausforderungen durch den Strukturwandel rungen Gruppen von Beschäftigten, beispiels- aufgrund von Digitalisierung, Dekarbonisierung weise geringfügig oder befristet Beschäftigte, ex- und demografischer Veränderungen. Eine ge- plizit aus dem Geltungsbereich ausgeschlossen. meinsame Analyse kann zu ähnlichen Sichtwei- sen führen und könnte für die Sozialpartner ein Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Vereinba- erster Schritt dazu sein, gemeinsame Zielvorstel- rungen nur für die Betriebe und Beschäftigten lungen zur Weiterbildung zu formulieren. gelten, die tarifgebunden sind. Dies sind eher diejenigen, die das Thema Weiterbildung auch Übertragbarkeit auf andere Branchen auf betrieblicher Ebene bereits behandeln und unterstützen. Gerade in vielen Dienstleistungs- Die Studie zeigt, dass die Sozialpartner entspre- branchen ist Weiterbildung noch wenig verbreitet. chend den Anforderungen in den jeweiligen Bran- Dort ist auch die Tarifbindung eher gering. chen spezifische Regelungen für die Weiterbil- Voraussetzung für wirksame Vereinbarungen in dung getroffen haben. Vertreter:innen von Sozial- partnerorganisationen aus Branchen, die bislang noch keine Erfahrungen mit Vereinbarungen die- ser Art gesammelt haben, können von diesem Seite 6
Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 Erfahrungsschatz profitieren und die branchen- Zweitens muss die Verbindlichkeit der Vereinba- spezifischen Handlungserfordernisse bei eigenen rungen gestärkt werden. Dies betrifft den An- Vereinbarungen zur Förderung der Weiterbildung spruch der Beschäftigten auf Zeit und finanzielle berücksichtigen. Deswegen stellt sich die Frage, Unterstützung für Weiterbildung ebenso wie den ob solche Vereinbarungen der Sozialpartner Anspruch auf die Durchführung der Bedarfser- auch in anderen Branchen erfolgversprechend mittlung, welche Weiterbildungsmöglichkeiten zur sein könnten. Von den Gesprächspartner:innen Verfügung gestellt werden sollten. Bei der Be- wird die Vorbildfunktion von Tarifverträgen zur darfsermittlung und Gewährung von Weiterbil- Qualifizierung in der Chemie- oder der Metall- dung spielt drittens auch die Transparenz eine und Elektroindustrie unterstrichen. Zugleich wird wichtige Rolle, die beispielsweise mit der Defini- jedoch betont, dass Weiterbildung nur dort eine tion klarer Kriterien gesteigert werden kann. Chance auf Verankerung in der Tarifpolitik habe, wo eine hinreichend große Einsicht in die Not- Dieses Gestaltungspotenzial sollten die Sozial- wendigkeit von Weiterbildung bereits besteht. partner auf Branchen- und betrieblicher Ebene nicht verschenken. Zwar kann der Staat hierfür auch entsprechende Vorgaben machen. Doch wäre das nur die „zweitbeste“ Lösung, da mit Weiterführende Empfehlungen branchenübergreifend einheitlichen Regelungen Weiterbildung mit mehr Ambition verfolgen den jeweiligen Besonderheiten in den Wirt- Angesichts der großen Herausforderungen, vor schaftszweigen nicht adäquat Rechnung getra- denen Unternehmen und ihre Beschäftigten ste- gen werden kann. hen, muss die Weiterqualifizierung mit deutlich Mehr Transparenz schaffen mehr Ambition verfolgt werden. Dafür muss der Staat einen weiterführenden Rahmen schaffen. Die Sozialpartner sollten sich vornehmen, beste- Die Nationale Weiterbildungsstrategie liefert hier- hende tarifliche Vereinbarungen zur Weiterbil- für Ansatzpunkte, die von den Sozialpartnern auf- dung leichter zugänglich zu machen. Sie können gegriffen und für die jeweiligen branchenspezifi- auch darauf hinwirken, dass die Weiterbildungs- schen Herausforderungen angepasst und kon- landschaft übersichtlicher wird. Denn ein Hinder- kretisiert werden sollten. Erst im Zusammenspiel nis für die Wahrnehmung von Weiterbildung ist der Ebenen Staat, Sozialpartner und Unterneh- derzeit die Unübersichtlichkeit und fehlende men kann die betriebliche Weiterbildung ihr vol- Transparenz über Weiterbildungsbedarfe, Weiter- les Potenzial entfalten. Die weiterbildungsaffinen bildungsangebote und ihre Qualität. Sozialpartner Vorreiter unter den Sozialpartnern zeigen, dass können zudem mit Studien Betrieben und Be- ihr Engagement einen Unterschied macht und sie schäftigten eine Orientierung dazu geben, welche wichtige Impulse setzen können. Qualifizierungen notwendig sind. Big Data-ge- stützte Analysen von Stellenanzeigen eröffnen z. Dabei kommt es erstens darauf an, die strategi- B. neue Möglichkeiten, über die Entwicklung von sche Bedeutung der Weiterbildung anzuerkennen Kompetenzbedarfen zu informieren. und in den Vereinbarungen zu fixieren. Zu häufig noch stellt Weiterbildung neben den „harten“ Infrastruktur für Beratung schaffen Themen wie Lohn und Arbeitszeit ein Schönwet- Beratungsangebote der Sozialpartner, gegebe- terthema dar, das in den Hintergrund tritt, wenn nenfalls verbunden mit einer Schlichtungsfunk- es augenscheinlich wichtigere Themen gibt. Für tion, können Betrieben und Beschäftigten eine die Zukunftssicherung mit kompetenten Beleg- wichtige Hilfestellung bieten. Sozialpartner könn- schaften und wettbewerbsfähigen Unternehmen ten auch einen Erfahrungsaustausch dazu orga- reicht das nicht. Weiterbildung muss dauerhaft nisieren, welche Regelungen beispielsweise zur auf die Agenda von Tarifverhandlungen gesetzt Aufbringung von Zeit und Geld oder zur Diag- werden. nose des Qualifizierungsbedarfs sich besonders Seite 7
Zukunft Soziale Marktwirtschaft Policy Brief #2021/03 bewährt haben. Initiativen zur Einrichtung von Bil- Dummert, S. (2018). Betriebliche Berufsausbil- dungsmentor:innen eröffnen neue Zugänge, um dung und Weiterbildung in Deutschland. Institut Beschäftigte zu einer verstärkten Weiterbildungs- für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Nürnberg. teilnahme zu motivieren. Qualitätssicherung und Verfügbar unter https://www.bibb.de/doku- Evaluation sind weitere Anliegen, die die Sozial- mente/pdf/a2_iab-expertise_2018.pdf. partner gemeinsam voranbringen sollten. OECD (2021). Weiterbildung in Deutschland. Verfügbar unter https://www.oecd-ilibrary.org/employ- Digitale Weiterbildungsangebote bewerben ment/continuing-education-and-training-in-ger- Stärker als bisher ist die Nutzung digitaler Weiter- many_1f552468-en. bildungsangebote zu ermöglichen. Bislang wer- V.i.S.d.P. den diese digitalen Formate in den Vereinbarun- Bertelsmann Stiftung gen der Sozialpartner nicht explizit benannt. Pri- Carl-Bertelsmann-Straße 256 mär entscheiden die Betriebe über den Modus D-33311 Gütersloh der Weiterbildung. Die Sozialpartner könnten aber durchaus die Vorteile digitaler Lernformen Armando Garcia Schmidt für Beschäftigte und Betriebe herausstellen. In- Telefon: +49 5241 81-81543 dem diese die Kosten für die Betriebe reduzieren armando.garciaschmidt@bertelsmann-stiftung.de und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stär- ken, können sie dazu beitragen, dass sich auch Dr. Thieß Petersen Beschäftigtengruppen weiterbilden, die bislang Telefon: +49 5241 81-81218 zu wenig an Weiterbildung teilgenommen haben. thiess.petersen@bertelsmann-stiftung.de Ausführliche Studie Eric Thode Boockmann, B., Maier, A. & Schafstädt, C. Telefon: +49 5241 81-81581 (2021). Vereinbarungen der Sozialpartner zur eric.thode@bertelsmann-stiftung.de Förderung der Weiterbildung – ein Blick in ausge- wählte Branchen. Studie im Auftrag der Bertels- mann Stiftung. Gütersloh.) Verfügbar unter www.bertelsmann-stiftung.de/sozialpartnervereinbarung Literatur Bildnachweis Bahnmüller, R., Fischbach, S. & Jentgens, B. Titelbild: © Robert Kneschke - stock.adobe.com (2005). Die Qualifizierungstarifverträge für die ba- den-württembergische M+E-Industrie und die Autoren | Kontakt westdeutsche T+B-Industrie: Konzepte, Umset- zung, Wirkungen und Konsequenzen. Verfügbar Prof. Dr. Bernhard Boockmann Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. unter https://bit.ly/3j6ZzUY. (IAW) Belitz, H. & Gornig, M. (2019). Internationaler bernhard.boockmann@iaw.edu Vergleich des Wissenskapitals. Verfügbar unter Telefon: +49 7071 989620 https://bit.ly/3xERFpK. Bundesinstitut für Berufsbildung (2020). Datenre- André Schleiter port zum Berufsbildungsbericht 2018. Informatio- Programm Arbeit neu denken nen und Analysen zur Entwicklung der berufli- Bertelsmann Stiftung chen Bildung. Verfügbar unter Datenreport / Datenre- andre.schleiter@bertelsmann-stiftung.de port 2018 (bibb.de). Telefon: +49 5241 81 81262 Bundesministerium für Arbeit und Soziales und ISSN: 2191-2459 Bundesministerium für Bildung und Forschung (2019). Nationale Weiterbildungsstrategie. Verfügbar unter https://bit.ly/2Q2zjeV. Seite 8
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