Zum Ursprung der Schildkröten: Ansätze der Vergleichenden Embryologie
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Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (2010) 155(1/2): 21–28 Zum Ursprung der Schildkröten: Ansätze der Vergleichenden Embryologie Ingmar Werneburg (Zürich) Zusammenfassung The origin of turtles: Approaches in Der evolutionäre Ursprung der Schildkröten inner comparative embryology halb der Landwirbeltiere ist stark umstritten. Eine The origin of turtles within land vertebrates is highly nahe Verwandtschaft zu Echsen und Schlangen, zu debated. Relationships to lizards and snakes, to birds Vögeln und Krokodilen oder zu ursprünglichen fos and crocodiles or to groups of ancient fossil reptiles silen Reptiliengruppen wurde vorgeschlagen. Anhand were proposed. Based on new anatomical data of neuer anatomischer Daten zur äusseren Embryologie external embryology the position of turtles is re-ana wurde die Stellung der Schildkröten erneut untersucht. lysed. Hence, a new method to detect evolutionary Dazu diente ein neuartiges Analyseverfahren (Parsi informative characters in Comparative Embryology mov), mit dem evolutionär informative Merkmale aus was used (Parsimov). A sistergroup relationship of der Vergleichenden Embryologie detektiert werden turtles to all remaining living reptiles and a basal können. Das Schwestergruppenverhältnis der Schild position of marine turtles within the hidden-necked kröten zu allen anderen heute lebenden Reptilien und turtles are best supported. Temporally shifting cha eine basale Stellung der marinen Schildkröten inner racters of embryology that distinguish mammals from halb der Halsberger-Schildkröten werden am besten reptiles as well as turtles from Sauria could be corre unterstützt. Zeitliche Verschiebungen von embryo lated to early life and adult anatomy of the respective nalen Merkmalen, die Säugetiere und Reptilien sowie groups. Shifts of characters of evolutionary signifi Schildkröten und Sauria unterscheiden, konnten mit cance are reflected in the ossification sequence of the dem frühen Lebensabschnitt der Tiere und ihrer Adult- whole body of turtles. Anatomie korreliert werden. Evolutionär bedeutsame The article presents approaches, techniques and Merkmalsverschiebungen in der äusseren Morpholo problems of Comparative Embryology and sum gie spiegeln sich auch in der Verknöcherungssequenz marises the major results of five articles previously des gesamten Körpers der Schildkröten wider. published by the author and his colleagues. Der Artikel zeigt Anwendungsbereiche, Tech niken und Probleme der Vergleichenden Embryo logie auf und fasst die Ergebnisse von fünf unlängst erschienenen Artikeln des Autors und seiner Kollegen zusammen. Schlagwörter: Reptilien – Diapsida – Anapsiden – Panzer – Parsimov – Sinnesorgane – Skelettbildung – Verknöcherungen – Ontogenese – Entwicklungsbiologie – Muskeln Key words: reptiles – Diapsida – anapsids – shell – Parsimov – sense organs – skeletal formation – ossification – ontogenesis – developmental biology – muscles 1 EINLEITUNG Entweder entwickelten sie sich innerhalb der ursprüng lichen und ausgestorbenen anapsiden («ohne ein Schläfen 1.1 Die umstrittene Stellung der Schildkröten fenster») oder innerhalb der «modernen» diapsiden («mit Der evolutionäre Ursprung der Schildkröten wird kon zwei Schläfenfenstern») Reptilien (Abb. 1). Die hoch spe trovers diskutiert (Rieppel, 2004; Scheyer et al., 2009). zialisierte Anatomie der Schildkröten lässt sich nur schwer 21
Ingmar Werneburg Lurche (Lissamphibia) Landwirbeltiere (Tetrapoda) Säugetiere Schlangenhalsschildkröten ira - (Chelidae) od ild (Mammalia) ur ch ) le -S (P er † anapside Reptilien en nd Amniontiere öt e Schnappschildkröten (Amniota) kr alsw † “Anapsida” a A (Chelydridae) H Schildkröten ? (Testudines) b Meeresschildkröten (Reptilia) Reptilien (Chelonioidea) Hal ptodi (Cr sbe ra) † basale diapside Reptilien y c rge † “basale Diapsida” Weichschildkröten r-Sc diapside Reptilien (Trionychia) hi Vögel ldk (Diapsida) C (Aves) röt Archo- sauria en Neuwelt-Sumpfschildkröten Krokodile (Emydidae) B (Crocodylia) Sauria Brückenechsen Echte Landschildkröten (Testudinidae) D (Sphenodontida) Lepido- sauria Schlangen/Echsen (Squamata) Abb. 1. Die vier am häufigsten diskutierten Stellungen der Schildkröten im Stammbaum der Landwirbeltiere (gestrichelte, gewinkelte Linien). Entweder stehen die Schildkröten innerhalb der anapsiden Reptilien (A) oder bilden die Schwestergruppe der Sauria (B), der Archosauria (C) oder der Lepidosauria (D). Innerhalb der Halsberger-Schildkröten werden entweder Schnappschildkröten (a), Meeres schildkröten (b) oder Weichschildkröten (c) als Schwestergruppe aller übrigen Halsberger angesehen (punktierte Linien). Modifiziert nach Werneburg und Sánchez-Villagra (2009). Fig. 1. The four mainly discussed positions of turtles in the tree of tetrapods (dashed, bended lines). Either turtles are situated within the anapsid reptiles (A) or they represent the sistergroup of Sauria (B), Archosauria (C) or Lepidosauria (D). Within hidden-necked turtles either snapping turtles (a), marine turtles (b) or soft-shelled turtles (c) are assumed to be the sistergroup to all remaining hidden- necked turtles (dotted lines). Modified after Werneburg and Sánchez-Villagra (2009). mit jener anderer Gruppen korrelieren. So besitzen sie bei hier freilich nicht mit untersucht werden – resultieren ent spielsweise den einzigartigen Körperpanzer, einen drei weder in der Archosauria- oder Lepidosauriahypothese ästigen Schultergürtel, und im Schädel sind zahlreiche (zusammengefasst bei Rieppel, 2004; Werneburg und Knochenelemente reduziert (Abb. 2). Innerhalb der Schild Sánchez-Villagra, 2009). kröten werden zwei Grossgruppen unterschieden, die durch 1.2 Die vergleichende Embryologie und folgende anatomische Modifikationen charakterisiert sind: Stammbaumrekonstruktionen Als Schutzmechanismus ziehen die Halsberger (Cryptodira) Die Evolutionsbiologie des 20. Jahrhunderts war lange Zeit ihren Hals in einer S-Form in den Panzer zurück, während in unabhängige Forschungsbereiche getrennt (Junker und die Halswender (Pleurodira) ihren Hals seitwärts unter die Hossfeld, 2001; Schlosser, 2006). In der Vergleichenden vordere Kante des Panzers legen. Biologie (inklusive Anatomie und Stammbaumrekonstruk Morphologische (= vergleichend anatomische) und mole tionen) wurden vor allem Merkmale adulter (erwachse kulare Studien resultieren in unterschiedlichen Hypothesen ner) Tiere analysiert. Dabei wurden die Ausprägungen zum Ursprung der Schildkröten (Abb. 1). Untersuchungen bestimmter Merkmale verschiedener Arten miteinander an Reptilienschädeln zeigen eine Affinität der Schildkröten verglichen. Arten, die mehr Gemeinsamkeiten aufwiesen, zu den nur fossil bekannten anapsiden Reptilien. Studien wurden als näher verwandt definiert. Gruppen mit weniger am gesamten Knochengerüst postulieren eine nahe Ver gemeinsamen Merkmalen hingegen mussten in der Evolu wandtschaft der Tiere zu den Echsen und Schlangen (Lepi tion früher voneinander getrennt worden sein. dosauria). Zahlreiche, aber nicht alle molekularen Arbeiten Die Mechanistisch orientierte Biologie hingegen vertrat zeigen eine Affinität der Schildkröten zu den Krokodilen vor allem Ansätze der Genetik und der Experimentellen und Vögeln (Archosauria, inkl. Dinosaurier). Untersu Embryologie. Letztere behandelte das Entwicklungsver chungen von inneren Organen – fossile Gruppen können halten bestimmter Zellpopulationen im Körper (Gilbert, 22
Zum Ursprung der Schildkröten: Ansätze der Vergleichenden Embryologie Hierbei wird das zeitliche Auftreten bestimmter embryolo Schädel, viele Knochen reduziert gischer Merkmale zwischen verschiedenen Arten miteinan der verglichen und evolutionär informative Verschiebungen 8 Halswirbel im Erscheinen bestimmter Embryonenmerkmale in einem dreiästiger Schultergürtel vorgegebenen Stammbaum detektiert. 3 cm Ziel der hier zusammengefassten Arbeiten war es, mit Rückenpanzer (Carapax) neuartigen – nämlich embryologischen – Merkmalen und mit den damit verbundenen neu entwickelten Analyse Epiplastron techniken den evolutionären Ursprung der Schildkröten zu erforschen (Scheyer et al., 2009; Werneburg, 2009; Werneburg und Sánchez-Villagra, 2009; Werneburg et al., 2009). 2 MATERIALIEN UND METHODEN Bauchpanzer (Plastron) 2.1 Modellorganismen, Stadientabellen und 10 Rückenwirbel untersuchte Tiere Die leichte Handhabbarkeit und schnelle Reproduktions Abb. 2. Einige besondere anatomischen Merkmale der Schild fähigkeit bestimmter Tierarten prädestinieren diese für kröten dargestellt an einem Skelettpräparat der Malayen-Weich entwicklungsbiologische Experimente: Fruchtfliege (Dro- schildkröte (Dogania subplana), einem Halsberger. Ansicht von unten, der Bauchpanzer ist zur Seite geklappt und von oben sophila melanogaster), Zebrafisch (Danio rerio), Kral zu sehen. (Objekt: Paläontologisches Museum der Universität lenfrosch (Xenopus laevis), Huhn (Gallus gallus) oder Zürich, Lehrsammlung). Hausmaus (Mus musculus) seien hier genannt. Die bedeu Fig. 2. Some particular anatomical characters of turtles exem tendsten entwicklungsgenetischen Erkenntnisse basieren plified at a skeleton of the Malayan soft-shelled turtle (Dogania subplana), a hidden-necked turtle. Ventral view, the plastron is auf Untersuchungen an diesen so genannten «Modellorga opened to the side and visible in dorsal view. (Object: Paläontolo nismen». Bei den Schildkröten ist die Schnappschildkröte gisches Museum der Universität Zürich, teaching collection). (Chelydra serpentina) am häufigsten untersucht worden. Als Handwerkszeug der entwicklungsbiologischen Labore 2006). Die Embryologie stellte für die Erforschung der sind für all diese Arten standardisierte Beschreibungen Stammesgeschichte eine nicht lösbare Herausforderung und Illustrationen der äusseren Embryonenanatomie veröf dar: Zwischenartlich gab es zu viele zeitliche Verschie fentlicht worden (z. B. Hamburger und Hamilton, 1951; bungen im Erscheinen embryologischer Merkmale (Hetero Yntema, 1968). Aus einer Anzahl von oft mehreren Hun chronien), die Haeckel (1896) Caenogenesen nannte. Auch dert Embryonen wurden die Häufungen äusserst auffälliger innerartlich war eine grosse Variabilität eher hinderlich, neuer Merkmale der Embryogenese (Individualentwick um klare Konsequenzen für Verwandtschaftshypothesen lung) als Stadien zusammengefasst. Eine gewisse Abstrak zu formulieren. tion und eine Vernachlässigung der Variabilität im zeit In den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts lichen Auftreten einiger Merkmale werden hier oft in Kauf kamen die Genetik und die Vergleichende Biologie in der genommen. Mit dem wachsenden stammesgeschichtlichen Synthetischen Theorie der Evolution zusammen, die in den Interesse an der Embryologie wurden in den letzten Jahr 80er/90er Jahren, unter Einbindung der Experimentellen zehnten für immer mehr Tierarten – auch für Schildkröten Embryologie, in der Evolutionären Entwicklungsbiologie, – Stadientabellen veröffentlicht (Werneburg, 2009). auch «EvoDevo» genannt, gipfelte (Schlosser, 2006). In den hier vorgestellten Arbeiten wurden die Stadien Erst ab den späten 1990er Jahren – nicht zuletzt dank tabellen von 23 Landwirbeltieren miteinander verglichen fortgeschrittener Computertechnik – wurden verschie (Abb. 3): 1 Salamander (als Aussengruppe), 3 Säugetiere, dene Analysemethoden und -algorithmen entwickelt, die 15 Schildkröten und 4 weitere Reptilien (Werneburg und die Vergleichende Embryologie und Ansätze der Stamm Sánchez-Villagra, 2009). Neben von anderen Auto baumrekonstruktion (Phylogenie) erstmals direkt miteinan ren publizierten Daten stand für die vorgestellten Studien der verbanden (z. B. Smith, 1997; Jeffery et al., 2005). 23
Ingmar Werneburg embryologisches Material der Rotbauch-Spitzkopfschild gleichbarkeit zwischen Arten ist oft nicht gegeben, da spe kröte (Emydura subglobosa), der Schwarzknopf-Höcker zifische Merkmale der jeweiligen Organismen in den Vor schildkröte (Graptemys nigrinoda) und vom Kurzschnabel- dergrund gestellt sind. Daher war es für unsere Arbeiten Ameisenigel (Tachyglossus aculeatus) zur Verfügung. zunächst notwenig, eine Liste von klar definierten, leicht erkennbaren, nachvollziehbaren und vergleichbaren Merk 2.2 Merkmalsdefinition malen zu erstellen. So gelten nun 104 Embryonalmerkmale Sämtliche in der Literatur veröffentlichten Entwicklungs für Wirbeltiere (61 Merkmale, Vertebrata), Kiefertiere (26, reihen unterscheiden sich enorm im Umfang sowie dem Gnathostomata), Landwirbeltiere (3, Tetrapoda), Amnion Fokus ihrer Beschreibungen und Illustrationen. Die Ver tiere (7, Amniota: Säugetiere und Reptilien) oder nur für Reptilien (7, Sauropsida) (Werneburg, Lurche Axolotl (Mexikan. Schwanzlurch, Ambystoma mexicanum) 2009). Die definierten Merkmale beschreiben (Lissamphibia) die Entwicklung des Neuralrohres, der Körper Landwirbeltiere (Tetrapoda) Kurzschnabel-Ameisenigel (Tachyglossus aculeatus) segmente (Somiten), der Ohren, Augen, Beine, Säugetiere (Mammalia) Nord-Opossum (Didelphis virginiana) der Ober- und Unterkiefer, der Kiemenbögen, der Südliches Siebenbinden-Gürteltier Augenlider oder des Panzers (Abb. 4). (Dasypus hybridus) Neben den Merkmalsdefinitionen wur Amniontiere (Amniota) Haushuhn (Gallus gallus) den Vorschläge unterbreitet, in welcher Form Archosauria Mississippi-Alligator zukünftige Beschreibungen von Embryonalrei (Alligator mississippiensis) Sauria hen aussehen könnten – exemplarisch demons Brückenechse Lepidosauria (Sphenodon punctatus) triert an Emydura subglobosa (Werneburg et al., 2009) und Tachyglossus aculeatus (Werne Reptilien (Sauropsida) Waldeidechse (Lacerta vivipara) burg und Sánchez-Villagra, 2010). Weiterhin Halswender-Schildkröten Rotbauch-Spitzkopfschildkröte (Pleurodira) (Emydura subglobosa) wurden Protokolle zur Inventarisierung und zur Lederschildkröte Dokumentation von musealen Embryonenbe Schildkröten (Testudines) (Dermochelys coriacea) ständen erläutert, und das Konzept von «Modell Unechte Karettschildkröte Meeressch. (Caretta caretta) organismen» wurde kritisch diskutiert. Zudem (Chelonioidea) Suppenschildkröte kann unsere Datenbasis für zukünftige Studien (Chelonia mydas) zur evolutionären Veränderung embryologischer Halsberger-Schildkröten (Cryptodira) Echte Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata) Merkmale und für Variabilitätsanalysen genutzt Oliv-Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea) werden (Werneburg, 2009; Werneburg und Wallriffschildkröte Sánchez-Villagra, 2009). (Natator depressus) Schnappschildkröten Schnappschildkröte 2.3 Analyse (Chelydridae) (Chelydra serpentina) Mit einem von Jeffery et al. (2005) entwickelten Papua-Weichschildkröte (Carettochelys insculpta) Algorithmus (Parsimov) konnten wir – die Ent Weichsch. (Trionychia) Dornrand-Weichschildkröte wicklungssequenzen der Arten vergleichend (Apalone spinifera) – evolutionär informative Verschiebungen im Chinesische Weichschildkröte (Pelodiscus sinensis) Merkmalsmuster der Embryogenese feststellen Schwarzknopf-Höckerschildkröte und auf einem Stammbaum visualisieren (Wer- Neuwelt- (Graptemys nigrinoda) Sumpfsch. neburg und Sánchez-Villagra, 2009). Es (Emydidae) Zierschildkröte (Chrysemys picta) wurden acht Hypothesen zur Stellung der Schild Buchstaben-Schmuckschildkröte kröten getestet – und jede mit drei alternativen (Trachemys scripta) Echte Landsch. Gruppierungen der Halsberger-Schildkröten Griechische Landschildkröte (Testudinidae) (Testudo hermanni) kombiniert (vgl. Abb. 1a-c). 2.4 Aufhellungsverfahren Abb. 3. Untersuchte Arten und die am besten unterstützte Verwandtschafts Mit einem von Taylor und van Dyke (1985) hypothese. Modifiziert nach Werneburg und Sánchez-Villagra (2009). entwickelten chemisch-enzymatischen Verfah Fig. 3. Studied species and the best supported phylogeny. Modified after Werneburg and Sánchez-Villagra (2009). ren konnten wir Haut, Muskeln und Nerven von 24
Zum Ursprung der Schildkröten: Ansätze der Vergleichenden Embryologie Embryonen der Schildkröte Emydura subglobosa transpa durch die grösste Anzahl (56) von Merkmalsverschiebungen rent erscheinen lassen, Knochen wurden rot, Knorpel blau unterstützt. Innerhalb der Halsberger-Schildkröten ist eine angefärbt (Abb. 5; Werneburg et al., 2009). Vor dem Auf ursprüngliche Stellung der marinen Schildkröten durch die hellungsverfahren wurden die Eingeweide und Schuppen untersuchten Daten am besten untermauert (Abb. 1B, 3). entfernt. Das Verknöcherungsmuster (Ossifizierung) dieser Damit stimmen unsere Daten mit zahlreichen morpholo Schildkröte wurde mit dem anderer Arten verglichen und gischen Studien – vor allem zur Schädelanatomie – überein, grundlegende Unterschiede zwischen Halsberger- und Hals widersprechen allerdings den (in sich widersprüchlichen) wender-Schildkröten ausgearbeitet (Abb. 1). Ergebnissen der Molekularbiologie, die die Schildkröten als Schwestergruppe der Krokodile/Vögel oder Echsen/ Schlangen ansiedeln. Die sekundär aquatischen Meeres 3 ERGEBNISSE UND DISKUSSION schildkröten zeigen zahlreiche anatomische Merkmale, die als ursprünglich innerhalb der Halsbergerschildkröten 3.1 Die Bewertung von Sequenzverschiebungen angesehen werden (Gaffney, 1979). und der Ursprung der Schildkröten Die rein neontologische (nicht fossil dokumentierte) Bisher wurden nur relativ wenige Studien veröffentlicht, die Natur der hier analysierten Merkmale birgt in sich eine eine adäquate Anwendung und Interpretation von Sequenz natürliche Einschränkung bei der Interpretation des verschiebungen entwicklungsbiologischer Merkmale vor Schildkrötenursprunges. Es ist zum einen möglich, dass stellen oder gar deren evolutionäre Bedeutung diskutieren die Schildkröten innerhalb der ursprünglichen anapsiden (Ziermann, 2008; Werneburg und Sánchez-Villagra, Reptilien entstanden sind (Abb. 1A). Auf der anderen Seite 2010). Daher müssen die Ergebnisse der hier vorgelegten könnten sie innerhalb der diapsiden Reptilien entstan Studien mit Vorbehalt interpretiert werden. Als Beispiel: den sein, bevor es zur Entfaltung der noch heute lebenden Wenn in einer Tiergruppe der Ellbogen des Vorderbeines diapsiden Gruppen, der Sauria (Krokodile/Vögel/Echsen/ relativ früh verglichen mit der Entwicklung des Schwanz Schlangen), kam (Abb. 1B). fortsatzes oder den Schuppen auf dem Hinterbein erschiene, wäre dies anatomisch nur schwer oder gar nicht zu inter 3.2 Biologische Bedeutung pretieren. Molekulare Untersuchungen hingegen wären Die von uns detektierten zeitlichen Verschiebungen in der vielleicht in der Lage, Beziehungen dieser Merkmale mit Embryogenese lassen sich – mit Vorbehalt – mit der Biolo Genexpressionsmustern oder Hormonkonzentrationen zu gie der «Echten Landwirbeltiere» (Amniota, Abb. 1) kor korrelieren. Im Vergleich dazu ein weiteres Beispiel: «Das relieren: Zeitliche Verschiebungen bei der Entwicklung untere Augenlid erscheint in einer Tiergruppe relativ spät der Sinnesorgane unterscheiden Reptilien und Säugetiere. verglichen mit der Ausdehnung des Unterkieferfortsatzes.» Während Säugetiere kurz nach der Geburt eng mit dem In diesem Fall könnte man die im Inneren verbindende Muttertier assoziiert sind und von ihm beschützt werden, Struktur – die Trigeminus-Muskulatur – zur Interpretation müssen Reptilien (mit im Vergleich zu Säugetieren frühzei heranziehen. Eine stammesgeschichtlich bedeutsame Ver tig ausgeformten Sinnesorganen) sofort nach dem Schlupf änderung in der Entwicklung dieser Kiefermuskulatur wäre selbständig Prädatoren ausweichen und Nahrung finden. in der Lage, das Entwicklungsmuster der äusseren Morpho Auch Merkmale im Halsbereich unterscheiden die beiden logie zu verändern. Gruppen, was mit dem gut entwickelten Saugmechanismus Statt unberechtigter Spekulationen über die Gründe der Säugetiere korreliert werden kann, für den vor allem der Entwicklungsverschiebungen schlagen Werneburg kräftige Halsmuskeln benötigt werden. und Sánchez-Villagra (2009) vor, die zahlreichen Schildkröten und alle anderen Reptilien unterschei detektierten embryologischen Ereignisse im Stammbaum den sich in der zeitlichen Entwicklung ihrer embryonalen zunächst nur als eine blosse Anzahl existierender Merk Körpersegmentierung (Somiten). Das kann mit der fina male zu vergleichen. Wie oben bereits erwähnt, wurden len Anzahl der Wirbel in Zusammenhang gebracht wer verschiedene Hypothesen zur Stellung der Schildkröten den: Während fast alle Reptilien eine hohe Anzahl an innerhalb der Landwirbeltiere untersucht (Abb. 1). Ein – von Somiten abgeleiteten – Wirbeln besitzen, sind sie Schwestergruppenverhältnis (eine nächst verwandte Posi bei Schildkröten auf acht Hals-, zehn Rücken- und wenige tion) der Schildkröten zu allen anderen heute noch existie Hüft- und Schwanzwirbel reduziert (Abb. 2; Mickoleit, renden Reptiliengruppen (inkl. Vögel) (Abb. 1B, 3) wird 2004). 25
Ingmar Werneburg 3.3 Die Verknöcherungssequenz spiegelt der vordersten Knochenplatte des Bauchpanzers. In dieser die Merkmalsentwicklung der äusseren Hinsicht darf die Kopf-/Halsmuskulatur nicht ausser acht Morphologie gelassen werden. Der Plastrosquamosus- und der Coraco Mit dem sog. Aufhel lungsverfahren konnten Falte des Zungenbein- A kurz vor der Ellenbogen-Bildung (90°) Vorderbein, forelimb AER äussere Hautleiste (AER) D Schlund- Bogens wir Knochen und Knor Augen- bögen (*) pel anfärben: Zahlreiche ader (Fissur) Verschiebungen in der Rückenpanzer- Halsbiegung leiste äusseren Entwicklung mind. 90° * * * * Pupille spiegeln sich deutlich im bildet sich Muster der Verknöcherung Kontur (Ossifizierung) des gesam Herzanlage ist Linse/Iris S-förmig Kloaken- ten Kopfes, des Rumpfes anlage äussere und der Beine (Abb. 5). Ohrbläschen Nasen- einbuchtung E Hinterbein, So zeigen Schildkröten äussere Haut- embryonen verglichen mit Oberkieferanlage auf Höhe Augenvorderrand leiste (AER) Unterkieferanlage auf der Höhe Linsenhinterrand Hinterbein anderen Amniontieren bei pattelförmig spielsweise ein recht spätes B Vorderbein pattelförmig Vorderbein, äussere Hautleiste (AER) Umbiegen des Halses im embryonale Körpersegmente (Somiten) nicht Rückenpanzerleiste Ei, was mit einer frühzei mehr zählbar Neuralfalten tigen Verknöcherung der F vorne noch nicht Wirbelsäule korreliert wer geschlossen den kann. Erst später muss 2. Schlund- der Hals aus Platzgründen gekrümmt werden. Augen- Hinterbein ader (Fissur) In der späten Embryo pattelförmig nalentwicklung zeigen Pupille Kontur Linse/Iris die Halsbergerschildkrö bildet sich ten ein Zurückziehen des Falte des Halses/Kopfes in den Pan C Gesichts-Nasen-Fortsatz Zungenbein- obere Kopfwölbung Bogens zer. Aufgrund von Platz Schlund- problemen sollte ein pas G bögen (*) sives Zurückziehen hier Kloaken- eher in Betracht gezogen anlage werden (im Gegensatz zu * * * * aktiven Muskelkontrak Neuralfalten tionen). Aber mit dem vorne noch nicht geschlossen Zurückziehen verbundene Eingeweide- ausgang (zur indirekte Zugkräfte mögen kurz vor der Ellenbogen-Bildung (90°) Vorderbein, äussere Hautleiste Nabelschnur) Oberkieferanlage Unterkieferanlage einen direkten Einfluss auf die Verknöcherung Abb. 4. Auswahl einiger embryonaler Merkmale der äusseren Morphologie, die in den Studien einzelner Panzerelemente untersucht worden sind. Ein 32 Tage alter Embryo der Meeresschildkröte (Chelonia mydas) (PIMUZ labNo.2009.63), dargestellt in verschiedenen Ansichten: A) linke Körperseite, B) Körper von oben, C) haben. So unterscheiden Körper von unten, D) linke Kopfseite, E) rechte Seite des Hinterbeins, F) Kopf von oben-hinten, G) sich Halsberger- und Hals Kopf von unten. AER = apical epidermal ridge. Modifiziert nach Werneburg (2009). wenderschildkröten hin Fig. 4. Selected examples of embryonic characters of external morphology as examined in the pre sichtlich der beginnenden sented studies. A 32 days old embryo of the marine turtle (Chelonia mydas) (PIMUZ labNo.2009.63) is shown in different views: A) left body side, B) body from above, C) body from below, D) left side of the Verknöcherung des Epi head, E) right side of the hind limb, F) head from behind, G) head from below. AER = apical epidermal plastrons (Abb. 2 und 5) ridge. Modified from Werneburg (2009). 26
Zum Ursprung der Schildkröten: Ansätze der Vergleichenden Embryologie Abb. 5. Embryonalserie der Rotbauchspitzkopf-Schildkröte (Emy- dura subglobosa, Halswender, Pleurodira). Links sind die unbe handelten Embryonen zu sehen, rechts die gleichen Tiere mit dem Aufhellungsverfahren behandelt. Haut und Muskeln erscheinen transparent, während Knochen rot, Knorpel und Bindegewebe blau gefärbt sind. Das jüngste Tier (oben) wurde nach der Eiab lage 13 Tage inkubiert, das älteste (unten) 55 Tage lang. An dieser Entwicklungsserie ist besonders die innerartliche Variabilität im Verknöcherungsmuster festzustellen. Bei einigen älteren Tieren sind weniger Knochen ossifiziert als bei jüngeren Exemplaren. Massstab je Tier (grauer Balken): ca. 2 mm. Fig. 5. Embryonic series of the red-bellied short-necked turtle (Emydura subglobosa, side-necked turtle, Pleurodira). Left: the untreated embryos; right: the same specimens after the clearing and staining procedure. Skin and muscles are transparent, bones are stained in red, connective tissues and cartilages are stained in blue. The youngest specimen (top) was incubated for 13 days after egg laying, the oldest one (bottom) for 55 days. In the pre sented developmental series a particular intraspecific variability is obvious. Fewer bones are ossified in some older animals than in younger specimens. Scale bar (grey): ca. 2 mm. zur äusseren Morphologie festgestellt werden. Zukünftige Arbeiten sollten den Einfluss der sich entwickelnden Kie fer- und Halsmuskulatur auf die Verknöcherungsmuster zum Gegenstand haben. 4 VERDANKUNGEN Danken möchte ich meinen Co-Autoren und Kollegen Winand Brinkmann, Massimo Delfino, Jasmina Hugi, Christian Mitgutsch, Torsten M. Scheyer, Laura Wilson (alle Zürich), Lennart Olsson (Jena), Johannes Müller (Berlin) und Janine M. Ziermann (Leiden). Ein besonderer Dank gilt hierbei meinem Doktorvater Marcelo R. Sánchez-Villagra (Zürich). Weiterhin danke ich Gilberto Pasinelli (Sempach) und Christian A. Meyer (Basel) für hilfreiche Kommentare zu diesem Artikel sowie der Naturforschenden Gesellschaft Zürich für die finanzielle Unterstützung beim Abdruck der Farbabbildungen. Die hier zusammengefassten Studien wurden vom Forschungskredit der Universität Zürich (Nr. 3772, an IW), dem Schweizerischen Nationalfonds (Nr. 3100A0-116013, an Marcelo R. Sánchez-Villagra) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Nr. Mu 1760/2-3, an Johannes Müller) unterstützt. Bernd Wolff (Lingenfeld, Emydura subglobosa) und Peter Giere hyoideus-Muskel beispielsweise stehen mit dem Schulter (Naturkundemuseum Berlin, Tachyglossus aculeatus) gürtel und dem Bauchpanzer in Verbindung (Werneburg danke ich für die Bereitstellung des Tiermaterials. et al., 2009). Halswender- und Halsbergerschildkröten unterschei den sich in der Verknöcherungssequenz der Kieferkno chen. Hier konnten allerdings keine direkten Kopplungen 27
Ingmar Werneburg 5 LITERATUR Schlosser, G. 2006. Embryonalentwicklung im evolutionären Wandel – Einblicke in die Evolutionäre Entwicklungsbiologie. Gaffney, E.S. 1979. Comparative cranial morphology of recent Naturwissenschaftliche Rundschau 59, 185–193. and fossil turtles. Bulletin of the American Museum of Natural History 164(2), 67–376. Smith, K.K. 1997. Comparative patterns of craniofacial deve lopment in eutherian and metatherian mammals. Evolution 51(5), Gilbert, S.F. 2006. Developmental Biology. Sinauer Associates, 1663–1678. Sunderland, Massachusetts, 785 pp. Taylor, W. & Van Dyke, G. 1985. Revised procedures for stai Junker, T. & Hossfeld, U. 2001. Die Entdeckung der Evolution ning and clearing small fishes and other vertebrates for bone and – Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte. Wissenschaft cartilage study. Cybium 9(2), 107–119. liche Buchgesellschaft, Darmstadt, 264 pp. Werneburg, I. 2009. A standard system to study vertebrate em Haeckel, E. 1896. Systematische Phylogenie. Zweiter Theil, bryos. PLoS One, 4(6): e5887, doi:10.1371/journal.pone.0005887, Systematische Phylogenie der wirbellosen Thiere (Invertebrata). freier Zugang/open access: http://dx.plos.org/10.1371/journal. Georg Reimer, Berlin, 720 pp. pone.0005887 Hamburger, V. & Hamilton, H.L. 1951. A series of nor Werneburg, I., Hugi, J., Müller, J. & Sánchez-Villagra, mal stages in the development of the chick embryo. Journal of M.R. (2009). Embryogenesis and ossification of Emydura sub- Morphology 88, 49–92. globosa (Testudines, Pleurodira, Chelidae) and patterns of turtle Jeffery, J.E., Bininda-Emonds, O.R.P., Coates, M.I. & development. Developmental Dynamics 238(11), 2770–2786, doi: R ichardson, M.K. 2005. A new technique for identifying 10.1002/dvdy.22104 sequence heterochrony. Systematic Biology 54(2), 230–240. Werneburg, I. & Sánchez-Villagra, M.R. (2009). Timing Mickoleit, G. 2004. Phylogenetische Systematik der Wirbel of organogenesis support basal position of turtles in the amniote tiere. Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München, 675 pp. tree of life. BMC Evolutionary Biology, 9:82, doi:10.1186/1471- 2148-9-82 freier Zugang/open access: http://www.biomedcentral. R ieppel, O. 2004. Kontroversen innerhalb der Tetrapoda – die com/1471–2148/9/82 Stellung der Schildkröten (Testudines). Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 43, 201–221. Werneburg, I. & Sánchez-Villagra, M.R. (2010). The early development of the echidna, Tachyglossus aculeatus (Mamma Scheyer, T.M., Werneburg, I., Mitgutsch, C., Delfino, M. lia: Monotremata) and patterns of mammalian development. Acta & Sánchez-Villagra, M.R. 2009. Three ways to tackle the Zoologica, im Druck. turtle: integrating evolutionary, developmental, and bone histo logical data to elucidate a highly peculiar body plan. In: «Spe Yntema, C.L. 1968. A series of stages in the embryonic deve cial Publication of the Royal Tyrrell Museum: Gaffney Turtle lopment of Chelydra serpentina. Journal of Morphology 125, Symposium, Abstracts and Program, 17–18 October 2009», D.R. 219–251. BRAMAN editor. pp. 154–161, Royal Tyrrell Museum, Drum Ziermann, J.M. 2008. Evolutionäre Entwicklung larvaler Crani heller, Ab, Canada, 202 pp. almuskulatur der Anura und der Einfluss von Sequenzheterochro nien [Doktorarbeit]. Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 347 pp. Dipl. Biol. Ingmar Werneburg (Zürich), Paläontologisches Institut und Museum, Karl-Schmid-Strasse 4, 8006 Zürich, E-Mail: ingmar_werneburg@yahoo.de, www.ingmar-werneburg.de 28
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