Zur möglich-unmöglichen Hintergrundphilosophie einer diskursiven Didaktik
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 351-362 © 2021 Roland Reichenbach - DOI https://doi.org/10.3726/PR032021.0031 Roland Reichenbach Zur möglich-unmöglichen Hintergrundphilosophie einer diskursiven Didaktik „Verstehen beginnt mit der Geburt- und endet mit dem Tod“ Hannah Arendt (1994, S. 110) “Agreement on things is the least important thing; disagreement is not only profitable, but necessary to thinking” (Lin Yutang 1945, S. 1) Vorbemerkungen welche die Betrachtung der Möglichkeiten und Grenzen sowie den Sinn und die Ziele Die folgenden Erörterungen sind den dis- einer diskursiven Didaktik tangieren könn- kurstheoretischen Grundlagen einer dis- ten. Im ersten Teil werden Konsenstypen, kursiven Didaktik gewidmet, nicht einer Diskursvoraussetzungen und diskursive diskursiven Didaktik selbst. Diese Grund- Tugenden angesprochen. Der zweite Teil lagen scheinen sich in einer Dialektik von widmet sich dem Problem des Verstehens Konsens und Dissens sowie des Mögli- und der pädagogisch allgemeinen über- chen und des Unmöglichen zu bewegen. schätzten Wirksamkeit von Argumenten Die momentanen, stark identitätspolitisch bzw. Argumentieren. Schliesslich werden aufgeladenen Diskursmoden scheinen hin- im dritten Teil Fragen der pädagogisch gegen wenig von Dialektik, Ambivalenz und bedeutsamen Diskursfähigkeit und der de- Selbstkritik zu halten und bewegen sich mokratischen Tugend der Dissenstauglich- eher zwischen den Polen der „Vereindeu- keit aufgeworfen. tigung“ einerseits und der Gleichgültigkeit andererseits.1 Beide Extreme entspre- chen eher einer mehr oder weniger raffi- 1. Diskursive Tugenden – Ein nierten Diskursverweigerung. Hoffentlich vorbildlicher Briefwechsel mögen die hier geäusserten Bemerkungen wenigstens „diskursiv“ erscheinen; sie Sei sie universalpragmatisch2 oder aber maßen sich nicht etwa an, „grundlegend“ transzendentalpragmatisch3 begründet: zu sein, sondern betreffen bloss m.E. be- Diskurstheorie ist von einem expliziten deutsame Grundlagen von Diskursivität, oder auch stillschweigenden Telos des 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 351 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Konsenses geprägt. Das Argument einer in diesen Diskursen (bzw. Aushandlungen kontrafaktischen, idealen Sprechsituation, oder Verhandlungen) nicht Argumente – welche die Gesprächspartner sich wech- wiewohl sie immer in der einen oder ande- selseitig unterstellen müssten (oder wür- ren Weise genutzt oder eingesetzt werden den), trifft sicher einen wichtigen Punkt. –, sondern partikulare und gemeinsame Argumentative Diskurse leben von einer Interessen.7 Gleichwohl haben Argumente Art Als-ob-Praxis. Welchen Sinn würde es auch in diesen sehr häufigen Diskurssitua- für Ego machen, mit Alter zu diskutieren, tionen mehr als eine bloss „ornamentale“ wenn von Anfang an klar wäre, dass Egos Funktion, bilden sie doch das wesentliche Argumente keine Wirkung haben können, Kommunikationsmittel der Verständigungs- wenn von vorneherein sicher stünde, dass bemühung, wiewohl ihre Wirkung am Ende weder Ego noch Alter von ihrer Position nicht in der Diskursivität im engeren Sinn abrücken werden, wenn keiner der Inter- bzw. der Überzeugungskraft des Argu- lokatoren von der rationalen Motivation ments liegt. Eine dritte und für das Leben des Gegenübers ausgeht bzw. ausgehen vielleicht bedeutendste Form des Konsen- könnte, wenn also gewiss wäre, dass der ses kann im Hintergrundkonsens gesehen eigentümlich „zwanglose Zwang des bes- werden. Dieser betrifft alle „selbstverständ- seren Arguments“4 eine Chimäre ist und lichen Gegebenheiten, als welche sich die bleibt? Offenbar diskutieren wir miteinan- Grundstrukturen der gemeinsamen Welt der und argumentieren wir gegeneinander vergesellschafteter Individuen darstellen. – denn Argumentieren kann man letztlich Er betrifft Erfahrungen, von denen wir mit nur gegeneinander (d.h. für die eigene völliger Gewissheit annehmen, dass sie und gegen eine andere Position) – auch von anderen geteilt werden, und die wir für wenn von idealen, vielleicht sogar notwen- unrevidierbar halten. Erst auf dem Hinter- digen Diskursbedingungen keine Rede grund dieser fraglos geltenden und inter- sein kann. Tatsächlich scheinen wir hier subjektiv geteilten Überzeugungen können die (wenn auch vielleicht unwahrschein- sich Dissense herausbilden“.8 Zielt nun das liche) Möglichkeit eines Konsenses unter- Adjektiv und Attribut „diskursiv“ auf die Pra- stellen zu müssen. Und in der Tat finden xis des Argumentierens, so wäre auch eine Menschen immer wieder Einigungen, ohne „diskursive Didaktik“ als eine höchst ex- welche soziales Leben gar nicht möglich klusive und voraussetzungsreiche Idee zu wäre. Diese Einigungen oder Konsense betrachten. Die Überschätzung der Bedeu- haben aber doch höchst selten die Quali- tung und Wirksamkeit des Argumentierens tät eines Argumentationskonsenses. Ein scheint aber gerade in der deutschspra- solcher liegt vor, wenn er sich „nicht nur chigen Bildungstradition virulent zu sein. auf das Ergebnis, sondern auch auf die Giegel ist in seiner Skepsis m.E. zuzu- Art der Begründung erstreckt, die zu die- stimmen: „Je mehr die Analyse in konkret sem Ergebnis“ geführt hat.5 Viele Dissen- kommunikative Prozesse, vor allem solche, se finden hingegen „Lösungen“ in Form die in den ausdifferenzierten Teilsystemen von Ergebniskonsensen. Hierbei wird ein moderner Gesellschaften stattfinden, ein- Ergebnis von den Beteiligten akzeptiert, dringt, umso schwieriger wird es, eine „ohne dass dabei aber wechselseitig die zentrale Bedeutung von Konsensbildung Argumentationsbasis übernommen wird, zu erkennen“.9 Die Einsicht in diesen plau- mit der jeder seine Ansprüche oder Mei- sibel erscheinenden Sachverhalt läuft dar- nungen vertritt“.6 Im Grunde genommen auf hinaus, zumindest analytisch genügend handelt es sich dabei letztlich um Ver- strikt zwischen Begründungverfahren und handlungseinigungen: koordiniert werden Einigungsverfahren zu unterscheiden. 352 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Es darf als diskursive Tugend verstan- man schließen, dass w kein Prädicat ist. den werden, wenn Ego bereit ist, sich Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) durch rationale Argumente von Alter davon derjenigen Klassen die als Ganze sich sel- überzeugen zu lassen und eine interessen- ber nicht angehören. Daraus schliesse ich gebundene Position zu verlassen oder dass unter gewissen Umständen eine defi- zu revidieren. Von solch edlen Haltungen nierbare Menge kein Ganzes bildet“.10 würde man idealiter vielleicht im philoso- Schon wenige Tage später, am 22. Juni phischen, aber nicht etwa im politischen, 1902, antwortet Frege brieflich: „Ihre Ent- ethischen oder ästhetischen Diskurs aus- deckung des Widerspruchs hat mich auf‘s gehen wollen. Doch auch in diesen Be- Höchste überrascht und, fast möchte ich reichen sind möglicherweise weniger sagen, bestürzt, weil dadurch der Grund, Beispiele bekannt als man vermuten möch- auf dem ich die Arithmetik sich aufzubauen te. Ein solches Beispiel ist der brieflichen dachte, in‘s Wanken geräth. Es scheint Diskussion zwischen Bertrand Russell und danach, dass die Umwandlung der Allge- Gottlob Frege zu entnehmen, die im Jahre meinheit einer Gleichheit in eine Werthver- 1902 stattgefunden hat. Russell entdeckte laufsgleichheit (§ 9 meiner Grundgesetze) zusammen mit Ernst Zermelo das soge- nicht immer erlaubt ist, dass mein Gesetz nannte Paradoxon der naiven Mengenleh- V (§ 20. S. 36) falsch ist und dass meine re, das später als „Russellsche Antinomie“ Ausführungen im § 31 nicht genügen, in bekannt geworden ist. Dabei bezog sich allen Fällen meinen Zeichenverbindungen Russell auf den ersten Band von Freges eine Bedeutung zu sichern. Ich muss noch 1893 erschienenen Grundgesetze der weiter über die Sache nachdenken. Sie ist Arithmetik, in der dieser die Arithmetik auf um so ernster, als mit dem Wegfall mei- einem mengentheoretischen Axiomensys- nes Gesetzes V nicht nur die Grundlage tem aufzubauen versuchte. Russell zeigte meiner Arithmetik, sondern die einzig mög- Frege auf, dass sein Axiomensystem, zu liche Grundlage der Arithmetik überhaupt welchem er über mehrere Jahre gearbeitet zu versinken scheint“.11 hatte, widersprüchlich sei. Im Brief vom Die rationale Motivation des Mathe- 16. Juni 1902 schreibt Russell an Frege: matik-Philosophen Gottlob Frege und „In vielen einzelnen Fragen finde ich bei seine diskursive Integrität scheinen be- Ihnen Discussionen, Unterscheidungen, achtlich, wenn nicht sogar vorbildlich und Definitionen, die man vergebens bei zu sein. So schreibt er im Nachwort des anderen Logikern sucht. Besonders über zweiten Bands seiner Grundgesetze der die Funktion (§ 9 Ihrer Begriffsschrift) bin Arithmetik (von 1903): „Einem wissen- ich bis ins Einzelne selbständig zu den- schaftlichen Schriftsteller kann kaum selben Ansichten geführt worden. Nur etwas Unerwünschteres begegnen, als in einem Punkte ist mir eine Schwierig- daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine keit begegnet. Sie behaupten (S. 17) es der Grundlagen seines Baues erschüttert könne auch die Funktion das unbestimmte wird. In diese Lage wurde ich durch einen Element bilden. Dies habe ich früher ge- Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, glaubt, jedoch jetzt scheint mir diese An- als der Druck dieses Bandes sich seinem sicht zweifelhaft, wegen des folgenden Ende näherte.“12 Widerspruchs: Sei w das Prädicat, ein Diskursive Tugenden sind auch episte- Prädicat zu sein welches von sich selbst mologische Tugenden. Solche Tugenden nicht prädicirt werden kann. Kann man w können diskursiv nicht hergestellt werden, von sich selbst prädiciren? Aus jeder Ant- vielmehr sind sie Voraussetzungen des wort folgt das Gegentheil. Deshalb muss (rationalen) Diskurses. Die Autorität des 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 353 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
besseren oder überzeugenderen Argu- Überredende noch der Überredete haben mentes zu akzeptieren, obwohl es gegen die objektive Wahrheit von einem Sachver- die inhaltliche Position und vielleicht auch halt vor ihren Augen, – beide stehen in der persönlichen Interessen von Ego spricht, gemeinsamen Notlage, die es durch einen ist in der zu erwartenden Diskurssituation besonnenen und gut erwogenen Willens- wahrscheinlich selten. Jedoch gibt es in entschluss zu wenden gilt“.15 Das heißt Gesprächs- und Entscheidungssituationen nun für die Überredensproblematik: „Wer auch eine andere kommunikative Autorität, überredet wird, wird – streng genommen die von Bedeutung sein kann, jene der – nicht getäuscht; denn der Überredende praktischen Entschlossenheit. Diese fällt weiß ja genau so wenig, wie die Zukunft nicht dem zu, „der am vernünftigsten ar- entscheiden wird; auch er wagt und spielt gumentiert, sondern dem, der angesichts mit dem Einsatz seiner Existenz, aber er der Unberechenbarkeit der Situation den will und will wirklich; die Entschlossenheit glaubwürdigsten Mut zum Wagnis zeigt seines Willens bewirkt im co-existenten und dadurch die Unentschlossenen und Willen des schwächeren Mitmenschen die Unentschiedenen mitreißt“.13 In den Wor- Gefolgschaft“.16 Diese Bestimmungen der ten Eugen Finks (auf den sich Meyer-Wol- Beratungsgemeinschaft lassen dieselbe in ters bezieht): „Was eine solche ‘Autorität’ einem gewissen Sinne wesentlich „poli- als Mut zur praktischen Entschlossenheit tischer“ erscheinen als die hoffnungslos von der Autorität eines Sachverständigen, überhöhten Beschreibungen des idealen dessen Sachverstand auf theoretischer Diskurses, auch wenn letztere nur als Re- Erkenntnis beruht, stark unterscheidet, gulative fungieren sollen.17 ist, kurz formuliert, dies: die Autorität des Täters, der führend seinen Gefolgsleuten vorangeht, schließt die Betroffenheit durch 2. Verstehen und Argumentieren die gemeinsame Notlage nicht aus, son- dern gerade ein, während die Autorität Kommunizieren als einem durch „Mitteilen des Sachverständigen ein Überhobensein gemeinsam machen“ stellt Verbindung über die Notlage besagt.“14 Ein weiterer her und zielt auf eine Art von Konsens. Unterschied zwischen solchen „Bera- Kommunikation mag auf mehr als nur Ver- tungsgemeinschaften“ und diskursiven ständnis zielen, nämlich auf wechselseiti- Kommunikationsgemeinschaften erscheint ges Verständnis. Lin Yutang meinte: „Ich noch bedeutsamer zu sein. Aus der dis- finde, ‚Verständnis’ ist ein wichtiges Wort. kurstheoretischen und vor allem diskurs- Es bringt die Verwandtschaft der gesam- ethischen Perspektive könnte geargwöhnt ten Menschheit zum Ausdruck, Verwandt- werden, dass in der Beratungsgemein- schaft in ihrer Liebe zur Wahrheit und schaft schließlich nicht Überzeugungs-, Schönheit ebenso wie in ihren Torheiten sondern Überredungsprozesse ausschlag- und Schwächen“.18 Hiermit wird angedeu- gebend sind. Obwohl die diskursethische tet, dass Kommunikation und Verständ- Diskussion sensu Habermas nur in An- nis nicht das gleiche sind oder bedeuten. sätzen angesprungen war, als Fink seine Nach Hans-Georg Gadamer vollzieht sich Lebenslehre und Erziehungswissenschaft im Verstehen eine „wirkliche Horizont- abgeschlossen hatte, benützt er eine Ar- verschmelzung, die mit dem Entwurf des gumentation, welche die ganze Diskussion historischen Horizontes zugleich dessen um die Unterscheidung zwischen „wah- Aufhebung“ vollbringe.19 Die schöne Idee rem“ und „falschem“ Konsens schon da- der Horizontverschmelzung hat natürlich mals hätte befruchten können: „Weder der etwas Bombastisches oder Pathetisches 354 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
an sich. Das lässt aufhorchen. Jochen zwei und vielen eins werden und also zu- Hörisch schrieb in seiner quasi anti-her- grunde gehen“.25 meneutischen Kritik: „Wer Horizonte ver- Im Diskurs geht es um Argumente und schmilzt, lässt eben an der Stelle vieler Gegenargumente, ihm ist ein agonales Mo- Perspektiven eine einzige übrig. Wer einen ment eigen. Man argumentiert, wie schon Universalitätsanspruch erhebt, integriert gesagt, nicht miteinander, sondern gegen- zumindest und subsumiert zumeist alter- einander: Ego vertritt eine Position und native Ansprüche. Wer hermeneutisch auf versucht diese mit Argumenten zu stützen, der Metaebene spricht, dem stellen sich gleichzeitig zielt Ego gegen die Position unübersichtliche Verhältnisse als recht von Alter, mit Gegenargumenten sollen Al- überschaubar dar. Wer eine Hermeneutik ters Position angegriffen bzw. geschwächt des Geistes betreibt, kann die Vielheit der werden. Argumentieren heißt, eine Posi- Geister und Buchstaben souverän verges- tion zu vertreten, Stellung zu nehmen. Das sen. Wer werkimmanent liest, bleibt vor verstehende Moment kommt sicher auch dem Bewusstsein bewahrt, draußen und in vielen Argumentationssituationen zum also an einem anderen Schauplatz zu sein Tragen, ist sogar ein bedeutsames Qua- als der gedeutete Text“.20 Wer interpre- litätsmerkmal der Auseinandersetzung, tiere, wolle Herr zumindest über den Text aber es macht nicht den Kern des Argu- werden.21 „Verstehen“ erhält bei Hörisch mentierens aus. Vielmehr lassen Argu- eine durchaus ambivalente Note, denn mente in gewisser Weise „Takt vermissen“ „der Versuch, andere zu verstehen und (so Hörisch mit Adorno).26 „Argumentieren mit ihnen Einverständnis herzustellen“, ist Krieg“, meinten Lakoff und Johnson in meint er, „ist eine kluge Herrschaftspra- ihrer bekannten und radikalen Metaphert- xis. Sympathischer als brachiale Gewalt heorie: wir verstehen, was Argumentieren und Unterdrückung ist die Herrschafts- ist, weil wir wissen, was physische Aus- praxis gewiss. Kein vernünftiger Mensch einandersetzung ist. Worte statt Fäuste wird ernsthaft wollen, dass die Fäuste und sozusagen. Über das Argumentieren wird nicht etwa die Münder sprechen sollen. im Alltag nahezu ausschließlich in „martia- Kurzum: Es ist teuflisch schwer, Argumen- lischen“ Metaphern gesprochen: „Du hast te gegen ‚Verstehen’ und ‚Verständigung’ Argumente? Schieße los!“, „Seine Argu- zu finden. Aber wir sollen es versuchen“.22 mente trafen ins Schwarze“, „“Der Chef Mit Schleiermacher meint Hörisch, dass hat seine Leute heute wieder richtig fer- Verstehen auch als „eine Verkennungen tiggemacht“, „Ich fühle mich ganz nieder- produzierende Pazifizierungsstrategie“ be- geschlagen nach dieser Debatte“ usw.27 trachtet werden könne.23 Im Unterschied Das Miteinander beim Argumentieren zu zum verstehenden Interpretieren – als betonen, wirkt sehr oft nicht aufrichtig, Ar- einer um Eindeutigkeit bemühten Praxis – gumentieren gleicht denn auch eher einem scheint ihm das Deuten offener zu sein.24 Boxkampf (Schlagabtausch) als einem Gegen Hermeneutik und Kommunikations- Wiener Walzer, das kann man drehen, theorie setzt Hörisch auf „Diskursanalyse“, wie man will. Im agonalen Moment kommt denn wer Dis-kurse analysiere, „analy- der Begegnungscharakter zwischen den siert differenzbetont, wie zwei und mehr „Kontrahenten“ zum Ausdruck. Begegnen dis-currieren = auseinanderlaufen und kann sich nur, was einander entgegen- ebendeshalb aneinandergeraten. Wer hin- kommt. Im Argumentieren begegnen sich gegen auf Kommunikation und Verstehen Subjekte. Die Teilnehmer merken, dass sie setzt, analysiert vermittlungsselig, wie aus gegen Positionen ankämpfen und dabei stoßen sie immer auch auf die Grenzen 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 355 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
ihrer Wirksamkeit. Mit der „Bisubjekvität“ 3. Diskursfähigkeit und verschwindet die Souveränität. Dissenstauglichkeit Dieser Sachverhalt der „Begegnungs- thematik“ ist u. a. von Otto Friedrich Boll- „Es gibt Dinge, über die man sich einigen now aufgenommen worden, der an die kann, und wichtige Dinge“, soll Max Planck existentialistischen Arbeiten von Martin formuliert haben. Man muss der zeitge- Buber, aber auch von Romano Guardini nössischen Gewohnheit, Partizipation, anknüpft.28 In der Begegnung in diesem Mitbestimmung und Diskurs (auch im Be- starken Sinne fallen die Menschen „aus der reich der Bildung) für wünschenswert zu Rolle“, sie werden gezwungen, sich und/ halten, nicht widersprechen, um die These oder die anderen – je nach Art und Gegen- zu vertreten, wonach es weniger der ge- stand der Begegnung – neu zu verstehen lingende, in einer Konsenslösung endende bzw. zu deuten.29 Der Mensch stoße „auf Diskurs ist, der – politisch, psychologisch, eine Wirklichkeit, die ihm nicht nachgibt, pädagogisch, betriebswirtschaftlich oder sondern die seinem Angriff standhält“.30 in welcher Hinsicht auch immer – bedeut- Die „eigentümliche Härte“, eine „Unerbitt- sam ist, als vielmehr der gescheiterte oder lichkeit und Unausweichlichkeit“, das sind der teilweise gescheiterte Diskurs, an die Attribute der Begegnung. „Die Be- dessen Ende die Teilnehmer und Teilneh- gegnung fällt zunächst bedrängend über merinnen in wesentlichen Fragen im Dis- den Menschen her und verschlägt ihm sens verbleiben. Diese These könnte trivial den Atem“.31 Er hat ein Problem, aber er ausgelegt werden, wenn sie bloß besagen ist mit einer Wirklichkeit, vielleicht einer sollte, dass Menschen ja vor allem durch Wahrheit in Kontakt gekommen. Ohne gescheiterte Bemühungen lernen würden, dieses (unfreiwillige) Gegeneinander ver- dass solches Scheitern im Einigungspro- passen sich die Menschen in ihren sozia- zess dazu stimulieren würde, sich selbst len Beziehungen. Martin Buber spricht in und die Positionen, die man vertritt, zu seinen autobiographischen Fragmenten überdenken. Abgesehen davon, dass eine davon, dass er seiner Mutter „vergegnet“ solche Argumentation empirisch kaum sei. Er habe sich „das Wort ‚Vergegnung’ eindeutig ist, weil wir wissen, dass Men- zurechtgemacht, womit etwa das Verfeh- schen durchaus nicht notwendigerweise len einer wirklichen Begegnung zwischen aus Fehlern und gescheiterten Projekten Menschen bezeichnet war“.32 Den Ande- lernen, kann die These in einem anderen, ren zu verstehen, heißt nicht, mit ihm glei- gleichzeitig aber stärkeren Sinne vertreten cher Meinung zu sein – und die Meinung werden. Sie würde dann besagen, dass mit dem anderen zu teilen, heißt nicht, ihn Menschen durch Erfahrungen geschei- auch zu verstehen. Einigung wird oft an- terter Konsensbemühungen (und damit gestrebt, aber ihre soziale Bedeutung wird impliziert: durch Erfahrungen fehlender überschätzt. Konsense werden angestrebt Argumente bzw. fehlender Überzeugungs- und meist nicht gefunden, die bedeut- kraft der Argumentation) sozusagen ins same Frage ist nicht, wie dies zu ändern große Reich der menschlichen Inkompe- wäre, sondern wie im und mit Dissens tenz und Unverbesserlichkeit hineinwach- gelebt werden kann. Der so witzige, wie sen, um es belletristisch zu formulieren, auch eigenwillige und oft im behaupten- d. h., dass sie so zunehmend lernen, den Modus verharrende Autor Lin Yutang sich damit abgeben zu müssen, dass es meinte: “Agreement on things is the least „Dinge“ gibt, über welche man sich – zu- important thing; disagreement is not only mindest vorläufig – nicht einigen kann. profitable, but necessary to thinking”.33 356 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Diese These folgt einer Intuition, nach suchen. In Anlehnung an Charles Taylors welcher sich Menschen in einem minima- Abhandlung Das Unbehagen an der Mo- len Sinne respektieren und achten lernen, derne ließe sich formulieren, dass die nicht obwohl, sondern weil ihre differenten Etablierung des Ideals der symmetrischen Selbst- und Weltauslegungen das Faktum Kommunikation – sei dies in der „romanti- der Pluralität der Menschenwelt bezeugen schen“ Form (Authentizität) oder in der auf- und die eigenen Interpretationen sowohl klärerischen Version (Autonomie) – mit der bereichern als immer auch irritieren, stö- Vorstellung subjektiver Freiheit überhaupt ren und manchmal bedrohen. Der Dissens erst möglich wird.35 gibt sozusagen Kunde über die vielfälti- Es lässt sich kaum übersehen, dass das gen Möglichkeiten und Mittel, das eige- in zeitgenössischen Diskursen allgemein ne Leben zu sehen und zu führen; diese verbreitete Postulat nach vermehrter Par- „Lebens-Mittel“, wie sich Eugen Fink aus- tizipation – sprich: Mitbestimmung – meist drückte, werden mit dem Dissens in ihrer wenig komplex dargeboten wird und dass Vielfalt, Relativität und Stärke überhaupt regelmäßig unklar bleibt, was nun ge- erst erfahrbar.34 Der Vorrang des Dissens meint ist: Handelt es sich um Partizipation vor dem Konsens erhält seine Bedeutung als Gemeinschaftsleben und -denken, als also vorwiegend im Lichte einer ange- symmetrische Umgangsform in Projekt strebten Pluralismustauglichkeit, welche und Spiel, d. h. auch als Citoyenität, oder in demokratischen Lebensformen sowohl handelt es sich um die Polis-Partizipation, moralisch als auch politisch als ein begrü- d. h. um den diskursiven Kampf um Ent- ßenswertes, vielleicht sogar notwendiges scheidung und Einfluss. Da Menschen Bildungs- und Erziehungsziel betrachtet von Geburt auf unter Menschen leben, werden kann. und zwar zum allergrößten Teil in „unfrei- Schon der oberflächliche Blick über die willigen Assoziationen“, wie Michael Wal- Geschichte der Kindheit zeigt, dass der zer sagen würde, besagt das bloße Wort Umgang mit den „Neuankömmlingen in der „Partizipation“ zunächst herzlich wenig.36 Welt der Menschen“ höchst unterschied- Die theoretischen Quellen des Partizipa- liche Formen und Qualitäten aufweisen tionspostulats im Sinne diskursiver Mitent- kann. Was das erzieherische Verhältnis seit scheidung sind in demokratietheoretischen dem 20. Jahrhundert in unseren Breiten- Ansätzen, sozialistischen Theorieansätzen, graden zunehmend zu bestimmen begann, Theorien der Persönlichkeitsentwicklung, könnte als die Etablierung des Ideals der Theorien der Produktivitätssteigerung, symmetrischen Kommunikation bezeichnet aber auch in pädagogischen Ansätzen ins- werden. Dieses Ideal zeigt sich in zwei sehr besondere der moralischen Erziehung und unterschiedlichen, mitunter sogar inkompa- politischen Bildung zu finden.37 Wiewohl tiblen Ausgestaltungen, nämlich einerseits es keineswegs gleichgültig ist, in welchem als „Emotionalisierung“ und „Psychologi- Bereich menschlicher Praxis welches tat- sierung“ des erzieherischen Verhältnisses, sächliche oder vorgegebene Motiv für andererseits als dessen „Diskursivierung“. die mehr oder weniger gleichberechtigte Während die Wurzeln der ersten Tendenz Partizipation an Entscheidungsprozessen – Psychologisierung – im modernen Ideal präferiert wird, kann für (fast) alle Ansätze der Authentizität gesehen werden können, festgehalten werden, dass sie eine proze- sind die Ursprünge der Diskursivierung durale Antwort auf ein gesellschaftliches des Erziehungsprozesses im Emanzipati- Problem zu formulieren versuchen, das ons- und Autonomieideal – kurz: in moder- darin besteht, dass das Ideal der symme- ner Autonomiepädagogik sensu Kant – zu trischen Kommunikation einen erhöhten 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 357 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Rechtfertigungsdruck erzeugt, damit einen Konsenssuche kann aus diesem und ande- erhöhten Konsensdruck und insgesamt ren Gründen in Fragen des Erziehungsan- eine erhöhte Diskursivität. spruches nicht als Kriterium dienen. Das Habermas’sche Ideal des rationa- Dass aber Menschen immer wieder len Konsenses setzt bekanntlich ein hohes Einigungen finden, dass das Leben vol- Vertrauen in die sogenannte „Kraft des ler Einigungsprozesse und -produkte ist, besseren Arguments“ und eine von den ist zugleich eine Binsenwahrheit und ein Diskursteilnehmern geteilte „rationale Moti- bedeutsames Faktum für die Diskussion. vation“ voraus.38 Damit der Konsens in Fra- Es scheint, dass Argumentationskonsense gen der Wahrheit und der Moral von einem nur exklusiven Charakter haben und päd- „common non-sense“ zumindest analytisch agogisch deshalb eher Einigungskonsen- unterschieden werden kann, formulierten se41 interessieren müssen, durch welche Konsenstheoretiker seit den 70er Jahren Menschen zeigen, dass sie sich in konkre- des 20. Jahrhunderts ideale, nach Meinung ten Fragen arrangieren können, wiewohl einiger Vertreter notwendige und zugleich sie in „wichtigen Dingen“ im Dissens ver- kontrafaktisch präsupponierte Kommuni- bleiben. Das Ideal des „rationalen“ oder kationsbedingungen, welche die Hoffnung „wahren“ Konsens sensu Habermas hat erlauben sollten, einen „wahren“ von einem pädagogisch kaum Bedeutung; dies än- „falschen“ Konsens unterscheidbar zu ma- dert nichts an der diskurs-ethischen Ein- chen. Diese Bedingungen betreffen u. a. sicht, dass Argumentation ohne das Telos die Diskursfähigkeit der Diskursteilnehmer des Konsenses im Grunde sinnlos wäre und setzten – meist „stillschweigend“, wie (bzw. ein rein expressives Unterfangen). sich Höffe ausdrückte – eine Diskursbereit- Aus ethischer und pädagogischer Per- schaft voraus, von welcher diskurstheore- spektive kommt es vielleicht darauf an, tisch nicht klar sein kann, woher sie nun Diskursfähigkeit kontrafaktisch zu unter- kommt, da die Diskursbereitschaft nur in stellen: wie man Sprechen nur durch Begriffen der Tugend, nicht aber der Kom- Sprechen lernt und Skifahren nur durch petenz diskutiert werden kann.39 Vertreter Skifahren, so erwirbt man diskursive Fä- der kritischen Erziehungstheorie übernah- higkeiten nur im Diskurs. Daher ist es men zum Teil ein soziologisches Vokabular problematisch, die Diskursfähigkeit als le- und vertraten etwa die Ansicht, dass der gitimes Berechtigungskriterium für die Teil- Erziehungsanspruch gegenüber einem nahme an Diskursen bzw. den Ausschluss Menschen nur so lange aufrechterhalten davon zu betrachten. Dies entspräche bzw. legitimiert werden könne, bis dieser einem Denken, das der demokratischen seine Diskursfähigkeit, nämlich die Fähig- Staats- und Lebensform widerstrebt. Auf keit, autonom zu entscheiden, erworben der anderen Seite sind demokratische habe.40 Subsumiert man, wie etwa bei Ha- Staats- und Lebensformen realistisch bermas, postkonventionelle Urteils- und Ar- genug, eben genau nicht auf rationalen gumentationsfähigkeiten sensu Kohlberg Konsens – oder überhaupt Konsens – zu unter die geforderten Kompetenzen für die bauen. Sie sind, wie Welsch aufzeigt, viel- Teilnahme an rationalen Diskursen, so ließe mehr den Dissensrechten verpflichtet.42 sich mit empirischen Indizien leicht argu- Das können sie aber nur, indem sie sich mentieren, dass auch die große Mehrheit keiner Konsensustheorie der Wahrheit der Erwachsenen sich gegen den benann- oder der Richtigkeit verschreiben und ten Erziehungsanspruch nicht emanzi- sich zum Zeitpunkt des Entschlusses in pieren kann. Die Fähigkeit zu rationaler Bezug auf Wahrheitsansprüche abstinent 358 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
verhalten. Demokratie ist die Antwort und so wichtig er ist, garantiert im Alltags- vielleicht das Heilmittel für gescheiterte leben überhaupt nichts. Diese Fähigkeit Konsenssuche. Doch der Umstand, dass muss vielmehr immer wieder neu aktiviert die Suche nach rationalen Argumenta- werden, und das wird sie vornehmlich tionskonsensen meistens erfolglos bleibt, dadurch, dass alter präsent ist und Ego macht Argumentation keineswegs über- in seiner moralischen Selbstgewissheit flüssig. Vielmehr ist es der vorausgehende und routinierten Gedankenlosigkeit be- Diskurs, der den Schnitt zwischen Mehr- einträchtigt. Diskurse stören das Meinen heit und Minderheit auch für relevante mo- – ihre herausragende Funktion ist nicht ralische Fragen verantwortbar macht. die konsensuelle Lösung eines Problems, Reale Diskurse gleichen Verhand- sondern die Artikulation der Differenzen lungen, in welchen die Bedeutung des zwischen den Menschen. So also wird am verallgemeinerbaren Arguments massiv ehesten an den Anderen gedacht, wenn überschätzt wird.43 Wiewohl die morali- dieser sich selbst einmischt. Was danach sche Argumentation in realen Diskursen geschieht, kann nie und von niemandem benützt und benötigt wird, um eine be- vorausgesagt werden, weil dieses Sich- stimmte Position zur Lösung eines konkre- Einmischen einer „Praxis der Freiheit“ ent- ten Problems zu stützen, kommt es letztlich spricht, um es mit Arendt zu sagen.45 Wie darauf an, dass die Interessen und Be- auch immer wünschenswert es sein mag, dürfnisse der Betroffenen berücksichtigt in Konsensverfahren einzuführen und Kon- werden. Reale Diskurse sind deshalb in senskompetenzen zu fördern, so ist doch der Mehrzahl keine Normenbegründungs- gerade für demokratische Lebensformen diskurse, keine Normenanwendungsdis- entscheidend, dass mit Dissens gelebt kurse, sondern Diskurse um vertretbare werden kann, wenigstens „halbwegs ge- Interessenkoordinationen. Ihre funktionale sittet“, d. h. gewaltfrei. Bedeutung besteht nicht unbedingt in ers- Wer meint, die Gesellschaft finde ter Linie darin, dass eine Lösung gefunden ihren Zusammenhalt vor allen Dingen wird, sondern dass die Interessen, Bedürf- durch argumentative Kommunikation, der nisse und Sichtweisen der Anderen, die in muss auch glauben, dass man sich auf der Gedankenlosigkeit und Egozentrizität dem Boden der „wichtigen Dinge“ argu- des Handelns Einzelner übergangen wer- mentativ einigen kann. Dennoch könnte den, störend Eingang finden. Diskurse es sich erweisen, dass der Gebrauch korrigieren, nicht unbedingt, weil sie dem dieser architektonischen Metaphern – Einzelnen ermöglichen, einen Perspekti- „Grundwerte“ und „Fundamente“ – in die venwechsel vorzunehmen, sondern weil Irre führt. Ganz abgesehen davon, dass der Einzelne durch die pure Anwesenheit Grundwertedebatten schon aus infrastruk- der Anderen in seiner Entschlusskraft und turellen Gründen kaum wirklich gesamt- Urteilssicherheit gestört und irritiert wird. gesellschaftlich geführt werden können, Seyla Benhabib schreibt passend: „The kann die Ansicht vertreten werden, dass cultivation of one’s moral imagination flou- es letztlich nur darum gehen kann, dass rishes in (…) a culture in which the self- sich die Einzelmenschen in ihrer Urteils- centered perspective of the individual is fähigkeit entwickeln und zu reifen Perso- constantly challenged by the multiplicity nen werden, d.h. Menschen, die sich zu and diversity of perspectives that constitu- sich selbst und zur Welt in ein reflektiertes te public life“.44 Der Erwerb der Fähigkeit, Verhältnis setzen können. Im Sinne Harry sich in die Schuhe des anderen zu setzen, Frankfurts ließe sich argumentieren, dass 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 359 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
sich diese Bildung auf die Entwicklung würden (oder könnten).49 Aber auch in die- von Wünschen zweiter Ordnung bezieht.46 sen Fällen geht es am Ende immer darum, Wünsche zweiter Ordnung betreffen die dass und wie sich die Beteiligten und Be- Fähigkeit der Person, die Wünschens- troffenen in ihrem Zusammenleben arran- wertigkeit der eigenen Wünsche (erster gieren; diese Arrangements können nicht Ordnung) zu befragen; Wünsche zweiter auf Argumentationskonsensen ruhen, son- Ordnung sind – Charles Taylor zufolge – dern erzielen höchstens die Ebene des immer in einem kontrastiven Vokabular Ergebniskonsenses. verfasst (feige-mutig, gläubig-ungläubig, Die damit verbundene und immer wie- schön-hässlich, gut-böse etc.).47 Auf die- der erforderliche Dissenstauglichkeit, also ser Ebene geht es immer um den Streit die Bereitschaft und Fähigkeit, mit Dissens der (Selbst-)Interpretationen (Bin ich feige, leben zu können, erscheint wie andere be- wenn ich meinem Freund nicht sage, dass deutsame Haltungen und Einstellungen mit ich ihn in der Sache x belogen habe?). Die- zunehmenden Dissenserfahrungen zwar ser „Streit“ ist von fundamentaler Bedeut- lernbar, aber nur sehr begrenzt lehrbar zu samkeit für die Bildung des Menschen. Es sein. Im Unterschied zu Konsenskompe- ist mitunter die Zumutung des Erzogen- tenzen ist die Dissenstauglichkeit primär werdens, es sind diese „Angriffe“48 auf die als eine Tugend zu begreifen, also als eine eigenen Welt- und Selbstinterpretationen, Art Willensstärke oder persönliches Ethos die dazu zwingen oder auffordern, dass der diskursiven Auseinandersetzung. Dis- Ego die Welt und sich selbst bzw. seine senstauglichkeit ist eine Anstrengung, eine Handlungen anders zu sehen und deuten Leistung, die im sozialen Raum immer wie- lernt. Doch auch der erwachsene Mensch der neu Achtung verdient. wird durch das Leben selbst, d.h. die zu bewältigenden Probleme in Selbstver- ständlichkeit, Selbstgewissheit und viel- leicht sogar Selbstgerechtigkeit – kurz in Anmerkungen seiner Selbstbeschreibungsfreiheit – mehr 1 Vgl. Bauer, Thomas (2018). Die Vereindeuti- oder weniger produktiv gestört und einge- gung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeu- schränkt. Der Streit um die richtige Inter- tigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam. pretation könnte in Anlehnung an Lyotard 2 Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kom- in seiner Form entweder als „Rechtsstreit“ munikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrati- (le litige) oder aber als „Widerstreit“ (la onalität und gesellschaftliche Rationalisierung; différence) gedeutet werden: Im ersteren Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Ver- teilen die Beteiligten einen gemeinsamen nunft) Frankfurt/M.: Suhrkamp; Habermas, Jürgen (1983). Moralbewusstsein und kommu- Verstehenshorizont, ein gemeinsames nikatives Handeln. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Sprachspiel, und die „guten“ Argumente 3 Apel, Karl-Otto (1988). Diskurs und Verant- erweisen hier ihre Kraft als „überzeugende“ wortung. Das Problem des Übergangs zur Argumente bzw. haben das Potential dazu. postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M: Doch häufig befinden sich Menschen und Suhrkamp. Menschengruppen in der Situation des 4 Habermas, Jürgen (1991). Erläuterungen zur „Widerstreits“, wo es keine argumentative Diskursethik. Frankfurt/M, Suhrkamp. In J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik. Lösung geben kann und die Beteiligten in Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 119-226, hier: ihren (heterogenen) Interpretationswelten S. 132. verbleiben, weil diese ihnen (für ihr Selbst- 5 Giegel, Hans-Joachim (1992) Einleitung. Kom- verständnis) zu wichtig sind, als dass sie munikation und Konsens in modernen Gesell- sie durch Gegenargumente aufgegeben schaften. In ders. (Hrsg.), Kommunikation und 360 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Konsens in modernen Gesellschaften. Frank- 20 Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- furt a.M.: Suhrkamp, S. 7-17, hier: S. 9. stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original 6 Ebd. 1988), S. 76. 7 Vgl. Reichenbach, Roland (1994). Moral, Dis- 21 Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- kurs und Einigung. Bern u.a.: Lang. stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original 8 Giegel, Hans-Joachim (1992) Einleitung. Kom- 1988), S. 80. munikation und Konsens in modernen Gesell- 22 Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- schaften. In ders. (Hrsg.), Kommunikation und stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original Konsens in modernen Gesellschaften. Frank- 1988), S. 103. furt a.M.: Suhrkamp, S. 7-17, hier: S. 9). 23 Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- 9 Giegel, Hans-Joachim (1992) Einleitung. Kom- stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original munikation und Konsens in modernen Gesell- 1988), S. 80. schaften. In ders. (Hrsg.), Kommunikation und 24 „Denn anders als im ‚interpretieren’ schwingt Konsens in modernen Gesellschaften. Frank- im ‚deuten’ ein okkasionalistisches, ein will- furt a.M.: Suhrkamp, S. 7-17, hier: S. 16). kürliches, ein autochtones Moment mit. Meint 10 https://www.hs-augsburg.de/~harsch/ ‚deuten’ doch nicht die ausdrückliche Expli- germanica/Chronologie/19Jh/Frege/fre_brif. kation des immer schon (Vor-)Verstandenen, html (15.2.2021). sondern die Strukturierung des ansonsten 11 https://www.hs-augsburg.de/~harsch/ Unverständlichen. ‚Deutung’ versteht sich – germanica/Chronologie/19Jh/Frege/fre_brif. und das unterscheidet sie von der Interpre- html (15.2.2021). tation – nicht mimetisch, sondern arbiträr.“ 12 Frege, Gottlob (1903). Grundlagen der Arith- Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- metik, II, 1903, Anhang S. 253-261 (1988 stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original im Felix Mei-ner Verlag, Hamburg). Vgl. auch 1988), S. 83. https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/ 25 Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- 1209415 (15.2.2021). stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original 13 Meyer-Wolters, Hartmud (1997). Selbst- 1988), S. 105 (Hervorhebung R. R.). bestimmung als Notlösung. Zur Aktualität 26 vgl. Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- des anthropologischen und bildungstheore- stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original tischen Denkens von Eugen Fink. Vierteljah- 1988), S. 107. „Argumente sind immer auch resschrift für wissenschaftliche Pädagogik, unfein. Sie lassen Takt vermissen. Nötigen 73(2), 206-225, hier: S. 218). sie doch den, an den sie adressiert sind, zur 14 Fink, Eugen (1970). Erziehungswissenschaft Zustimmung. Kunstwerke hingegen verzich- und Lebenslehre. Freiburg i. Br.: Rombach, ten, wie man spätestens seit Kants Kritik der S. 186. Urteilskraft weiss, auf Zustimmungsgewalt. 15 Fink, Eugen (1970). Erziehungswissenschaft Ihr Grundgestus ist ‚desinvolture’ (der Unge- und Lebenslehre. Freiburg i. Br.: Rombach, zwungenheit – ein Lieblingswort Adornos).“ S. 191. Hörisch, Jochen (1998). Die Wut des Ver- 16 Fink, Eugen (1970). Erziehungswissenschaft stehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original und Lebenslehre. Freiburg i. Br.: Rombach, 1988), S. 107f. Argumente sind weiter, „weil S. 191f. sie auf Akzeptanz hin organisiert sein müssen, 17 Vgl. Reichenbach, Roland (2001). Demokra- automatisch dümmer als etwa idiosynkrati- tisches Selbst und dilettantisches Subjekt. sche ästhetische Urteile, die sich, da sie ja Münster: Waxmann, S. 104. nicht stimmen, wohl aber in sich stimmig sein 18 Lin Yutang (1966). Glück des Verstehens. müssen, Ignoranz auch gegenüber höheren Weisheit und Lebenskunst der Chinesen. Banalitäten (…) leisten können.“ Hörisch, Stuttgart: Klett (amerikanisches Original „The Jochen (1998). Die Wut des Verstehens. Importance of Understanding“. Cleveland & Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original 1988), New York: The World Publishing Company, S. 108. 1960), S. 17. 27 Lakoff, George & Johnson, Mark (2000). 19 Gadamer, Hans-Georg (1990). Wahrheit und Leben in Metaphern. Konstruktion und Ge- Methode. Grundzüge einer philosophischen brauch von Sprachbildern (2., korr. Aufl.). Hermeneutik. Tübingen: Mohr (Original Heidelberg: Carl-Auer-Systeme (amerikani- 1960), S. 383. sches Original 1980). 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 361 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
28 Vgl. Bollnow, Otto F. (1977). Existenzphiloso- Suhrkamp; Habermas, Jürgen (1991). Er- phie und Pädagogik. Stuttgart: Kohlhammer läuterungen zur Diskursethik. Frankfurt/M, (Original 1959), S. 87-131; Bollnow, Otto Suhrkamp. In J. Habermas, Erläuterungen F. (1983). Anthropologische Pädagogik (3. zur Diskursethik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, Aufl.). Bern: Haupt (Original 1971), S. 60-64. S. 119-226. 29 Bollnow, Otto F. (1983). Anthropologische 39 Höffe, Otfried (1979). Ethik und Politik. Pädagogik (3. Aufl.). Bern: Haupt (Original Grundmodelle und -probleme der praktischen 1971), S. 63, vgl. Loch, Werner (1969). Die Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Struktur der Begegnung im Horizont der Er- 40 Vgl. Hoffmann, Dieter (1978). Kritische Erzie- ziehung. In B. Gerner (Hrsg.), Begegnung. hungswissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer. Ein anthropologisch-pädagogisches Grunde- 41 Vgl. Giegel, Hans-Joachim (1992) Einleitung. reignis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch- Kommunikation und Konsens in modernen gesellschaft, S. 295-405, hier: S. 404. Gesellschaften. In ders. (Hrsg.), Kommunika- 30 Bollnow, Otto F. (1977). Existenzphiloso- tion und Konsens in modernen Gesellschaf- phie und Pädagogik. Stuttgart: Kohlhammer ten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (Original 1959), S. 99. 42 Welsch, Wolfgang (1992). Topoi der Post- 31 Bollnow, Otto F. (1977). Existenzphiloso- moderne. In H. R. Fischer, A. Retzer, & phie und Pädagogik. Stuttgart: Kohlhammer J. Schweitzer (Hrsg.), Das Ende der gro- (Original 1959), S. 101. ßen Entwürfe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 32 Buber, Martin (1986). Begegnung. Autobio- S. 35-55. graphische Fragmente. Heidelberg: Lambert 43 Reichenbach, Roland (1994). Moral, Diskurs Schneider (Original 1960), S. 10f. und Einigung. Bern u.a.: Lang. 33 Lin Yutang (1945). Between Tears and 44 Benhabib, Seyla (1992). Situating the self. Laughter. Garden City, New York: Blue Gender, community and postmodernism in Ribbon Books, S. 1. contemporary ethics. New York: Routledge, 34 Fink, Eugen (1970). Erziehungswissenschaft S. 424. und Lebenslehre. Freiburg i. Br.: Rombach. 45 Arendt, Hannah (1994). Zwischen Vergan- 35 Taylor, Charles (1995). Das Unbehagen an genheit und Zukunft. Übungen im politischen der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Denken I. München & Zürich: Piper (Original: (Original: “The malaise of modernity”, 1991; "Between past and future" 1968); Arendt, vgl. Menke, Christoph (1996). Tragödie im Hannah (1996). Vita Activa oder Vom tätigen Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Leben. München & Zürich: Piper (Original: Hegel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. “The human condition” 1958). 36 Walzer, Michael (1999). Vernunft, Politik 46 Frankfurt, Harry (1971). Freedom of the will und Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie. and the concept of a person. Journal of Philo- Frankfurt a. M.: Fischer. sophy, 67, 1, 5-20. 37 Vgl. dazu Gerhardt, Volker (2007). Partizipa- 47 Taylor, Charles (1992). Negative Freiheit? tion. Das Prinzip der Demokratie. München: Zur Kritik des neuzeitlichen Individuums. Beck. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (aus den „Philo- 38 Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kom- sophical papers“, 1985, ausgewählte und munikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsratio- übersetzte Aufsätze). nalität und gesellschaftliche Rationalisierung; 48 Thiemann, Friedrich (1993). Angriffe – Kinder Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen erleben Erziehung. Reinbek bei Hamburg: Vernunft) Frank-furt/M.: Suhrkamp; Haber- Rowohlt. mas, Jürgen (1983). Moralbewusstsein und 49 Lyotard, Jean-François (1989). Der Wider- kommunikatives Handeln. Frankfurt/M.: streit. München: Fink (Original 1983). 362 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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