Zusammenoder Widerspiel? - Aspekte von Komplexität in der Lyrik - Germanistik

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IRMGARD NICKEL-BACON / JOHANNES NEWZELLA

                 Zusammen- oder Widerspiel?
                  Aspekte von Komplexität in der Lyrik

                                                1. Forschungsfrage und Theorie-                fachheit und Vielschichtigkeit als textseitige
                                                    design                                      Gegenpole betrachtet werden, die es erlau-
                                                                                                ben, im Bereich der Lyrik unterschiedliche
                                                Komplexität, dt. Vielschichtigkeit, impli-      Grade an Komplexität zu beschreiben, um
                                                ziert aus literaturwissenschaftlicher Per-      daraus didaktische Überlegungen zu ent-
                                                spektive eine besondere Hochwertigkeit          sprechenden Vermittlungsanforderungen
                                                (Jannidis 2003, 306 f.), da sie ästhetische     herzuleiten. Dem textseitigen Kontinuum
                                                Fülle produziert. Komplexe Textstrukturen       von Einfachheit und Vielschichtigkeit der
                                                bedingen im Lektüreprozess Mehr- bis Viel-      Textstrukturen steht das rezeptionsseitige
                                                deutigkeit, die zu Interpretationsversuchen     Kontinuum von „Eindeutigkeiten und Viel-
                                                einlädt, ohne sich auf eine eindeutige Lesart   deutigkeiten“ (Kurz 1999, 96) gegenüber,
                                                festlegen zu lassen (Nickel-Bacon/Ronge         das für vermittlungsbezogene Fragestellun-
                                                2018, 33). Da komplexe(re) Textstrukturen       gen bedeutsam ist, da es Komplexitätsgrade
                                                höhere Anforderungen an die Rezeptions-         im Hinblick auf Verstehensanforderungen
                                                seite stellen als einfache(re), sind mit ihr    benennt. Hinsichtlich der Interpretations-
                                                Anforderungen verbunden, die im Rahmen          bedürftigkeit wäre entsprechend von Ein-
                                                einer didaktischen Analyse (Zabka 2012) zu      bzw. Mehr- bis Vielsinnigkeit zu sprechen
                                                erläutern sind. Mit dem Verständnis kom-        (Abb. 1).
                                                plexer Gedichte ist daher aus literaturdidak-   Doch wie lässt sich Komplexität beschrei-
                                                tischer Sicht ein Schwierigkeitsgrad vorge-     ben, um in didaktischen Analysen eine an-
                                                geben, der erst gegen Ende der schulischen      gemessene Berücksichtigung zu finden? Als
                                                Lesesozialisation erreicht werden kann. Zu      theoretischer Hintergrund dient den folgen-
                                                Beginn wird häufig Lyrik präsentiert, die       den Überlegungen die Annahme, dass di-
                                                eher der Kategorie der „Einfachheit“ (Lypp      daktisches Handeln von der Textauswahl
                                                1984) zuzuordnen ist, da sie leicht verständ-   über die Zielentwicklung bis hin zur me-
                                                liche Inhalte mit regelmäßigen Strukturen       thodischen Umsetzung auf eine möglichst
                                                verbindet und kaum Interpretationsspielräu-     konstruktive Interaktion zwischen Text
                                                me bietet. Vor allem in der Kinderlyrik fin-    und Schüler/in im Rahmen einer konkre-
                                                den sich Beispiele, die tendenziell als ein-    ten Lernsituation abzuzielen hat (Nickel-
                                                sinnig zu betrachten sind.                      Bacon 2006, 97), die den literarischen Text
                                                Zur Annäherung an das Phänomen der              mit seinen manifesten Eigenschaften zum
                                                Komplexität sollen in den folgenden Über-       Ausgangspunkt nimmt. Für die Beschrei-
                                                legungen die beiden Kategorien von Ein-         bung textseitiger Komplexität soll außer-

                                    Textseite             einfache Strukturen      mehrschichtige Strukturen      vielschichtige Strukturen
                                    Rezeptionsseite       Eindeutigkeit            Mehrdeutigkeit                 Vieldeutigkeit
                                    Interpretation        Einsinnigkeit            Mehrsinnigkeit                 Vielsinnigkeit

                               Abb. 1: Komplexitätsgrade von Lyrik

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dem das Drei-Perspektiven-Modell (Nickel-      dichten vermitteln will. Im Vordergrund
             Bacon 2003; 2018) Anwendung finden.            steht das Vergnügen an den Ausdrucks-
             Eine Analyse der aus den drei Perspekti-       möglichkeiten von Sprache, die dafür nach
             ven resultierenden Ebenen von sprachlich-      einem bestimmten Grundprinzip organi-
             formalen, semantischen und pragmatischen       siert wird. Dies kann etwa ein sprachstruk-
             Texteigenschaften erlaubt die Feststellung     tureller Aspekt sein, wie der Reim. Ein ty-
             von Kohärenzen und Differenzen. Für die        pisches Beispiel dafür findet sich in James
             präzise Beschreibung der formalen Ebe-         Krüss’ Gedicht Der gereimte Löwe (s. Text
             ne wird die Gedichtanalyse (Kayser 1978;       S. 17; vgl. Krüss 1997, 57 f.):
             Burdorf 2015) genutzt. Über die Bildlich-
             keit (Burdorf 2015, 145 ff.) hinaus soll die     Der gereimte Löwe
             semantische Ebene durch eine von Zabka
             (2020) getroffene Unterscheidung in erzäh-       Ein Löwe, groß und fürchterlich,        Der arme Löwe saß und sann,
             lende, beschreibende und reflektierende Su-      Begann vor Wut zu weinen:               Im Ufersande schabend.
             perstrukturen analysiert werden, sofern dies     Er suchte einen Reim auf sich,          Da kam ein weißer Vogel an
             möglich ist.                                     Doch leider fand er keinen.             Und sagte: Guten Abend!
             Aus dem Drei-Perspektiven-Modell lässt
             sich die Kernthese des folgenden Bei-            Er lief durchs ganze Afrika             Laß mich allein!
             trags ableiten: Komplexität entsteht aus         (Am Tag oft zwanzig Stunden)            Erwiderte der Löwe.
             einem textseitig nachweisbaren Wech-             Und fraß so manchen Dichter da,         Ich suche einen Reim auf mich.
             selspiel von sprachlich-formalen und se-         Der keinen Reim gefunden.               Da sprach der Vogel: Möwe!
             mantischen Strukturen, das nur über die
             pragmatische Ebene interpretierbar ist.          Am Kap der Guten Hoffnung, ach,         Zwar reimt sich, sprach sie, Hunz auf Kunz
             Entsprechend ergeben sich aus dem (ein-          War Afrika zu Ende.                     Und andre dumme Sachen;
             sinnigen) Zusammen- oder (mehrsinnigen)          Allein er dachte weiter nach,           Jedoch auch wir zwei reimen uns.
             Wechselspiel auf den verschiedenen Ebe-          Wie er ein Reimwort fände.              Und sie fing an zu lachen.
             nen eines Gedichts nicht nur unterschiedli-
             che Niveaus an Komplexität, sondern auch         Er saß betrübt am Meeresstrand,         Der Löwe lachte ebenfalls
             unterschiedliche Schwierigkeitsgrade des         Wo wilde Wellen schäumen,               Und raste vor Entzücken.
             Verstehens. Somit bedingt ein höheres Ni-        Bedenkend, daß sich rings im Land       Er fiel der Möwe um den Hals,
             veau an textseitiger Komplexität auch ein        Fast alle Tiere reimen.                 Als wollt‘ er sie erdrücken.
             höheres Niveau an schüler/-innenseitigen
             Anforderungen und bedarf in der Regel ei-        Es reimt sich, sprach er, Kuh auf Gnu   Er rief: Ich habe einen Reim!
             nes höheren Niveaus an fachlichen, aber          Und Stiere auf Vampire.                 Hoch lebe jede Möwe!
             auch didaktisch-methodischen Kompeten-           Auch Marabu und Känguruh                Jetzt kehre ich beruhigt heim
             zen, z.B. bei der Gestaltung von Aufgaben        Sind reimverwandte Tiere.               Als der gereimte Löwe.
             oder dem Erstellen von Zusatzmateriali-
             en. Im Folgenden sollen drei Niveaus an          Warum reimt sich der Löwe nicht?        Seitdem sagt jedes Löwenkind
             Komplexität an geeigneten Textbeispielen         Soll er stets reimlos bleiben?          Zu jeder Möwe Tante,
             erläutert werden.                                Wird niemals jemand ein Gedicht         Weil sie doch jetzt Verwandte sind –
                                                              Mit Löwenreimen schreiben?              Zumindest Reimverwandte.

             2. Niveaus von Komplexität in der
                 Lyrik

             2.1 Einfache Strukturen                        Krüss bedient sich auf semantischer Ebene
             In Anthologien finden sich Gedichte mit        anthropomorphisierter Tiere, um die Suche
             einfachen Strukturen, die nach einem be-       nach einem passenden Reimwort auf un-
             stimmten Grundprinzip organisiert sind.        terhaltsame Weise zu gestalten. Die Super-
             Das „imitierende oder freie Spiel mit Lau-     struktur des erzählenden Gedichts (Zabka
             ten“ (Ewers 2008, 108) und regelmäßige         2020, 66) ist leicht erkennbar: Inhaltlich
             Strukturen kennzeichnen die adressaten-        wird Spannung aufgebaut und in einer amü-
             spezifisch gestaltete Kinderlyrik, die po-     santen Schlusspointe aufgelöst. In sprach-
             sitive Erfahrungen beim Umgang mit Ge-         lich-formaler Hinsicht machen zwölf jam-

             Der Deutschunterricht 1/2021                                                                                         15

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bische Volksliedstrophen1 mit regelmäßigen                jedoch offen, was mit der zyklischen Un-
                                    Kreuzreimen das Erzählte eingängig. Der                   endlichkeit gemeint sein könnte. Gerade
                                    Harmonie des tierischen Reimpaars Lö-                     wegen des perfekten Zusammenspiels von
                                    we-Möwe entspricht eine tradierte, durch                  Inhalt und Form weist das Dingsymbol über
                                    und durch harmonische Form. Die Verste-                   sich hinaus. Eine kohärente Lesart ist mög-
                                    hensanforderungen sind eher gering, die                   lich durch Rückbezug auf Goethes klassi-
                                    klangliche Gestaltung ist dem Inhalt zuge-                sche Symboltheorie2. Meyers Dinggedicht
                                    ordnet. Der Komplexitätsgrad des Kinder-                  ist daher als mehrsinnig zu betrachten und
                                    gedichts ist als ebenso gering einzuschät-                bedarf zur Interpretation der Berücksichti-
                                    zen wie dessen Interpretationsbedürftigkeit               gung von Fachwissen.
                                    – das ästhetische Vergnügen (Nickel-Bacon
                                    2020, 70 ff.) dagegen umso höher. Exemp-                  Das mehrperspektivische Dinggedicht
                                    larisch kann das Gedicht daher dem Pol der                Die Poetologie des harmonischen Zusam-
                                    Einfachheit zugeordnet werden.                            menspiels bleibt nicht auf die Epoche der
                                                                                              Klassik beschränkt, sondern wirkt bis in das
                                    2.2 Mehrschichtige Strukturen in der                      20. Jahrhundert, etwa bei Hesse oder Rilke.
                                        klassi(zisti)schen Lyrik                              Eine komplexere Form ebenso wie Mehr-
                                    Das harmonische symbolhaltige Gedicht                     perspektivität auf der semantischen Ebene
                                    Mit dem klassischen Harmonie-Konzept                      enthält Rilkes Karussell3 (1907, Rilke 1979,
                                    entsteht eine Literaturform, in der Semantik              56 f.) aus der Sammlung Neue Gedichte:
                                    und Form kohärent zusammenspielen. Ver-
                                    bunden ist dieses Zusammenspiel mit einer                      Das Karussell
                                    symbolischen Überhöhung, die Gedichte in-                      Jardin du Luxembourg
                                    terpretationsbedürftig und damit mehrdeu-
                                    tig macht. Ein prototypisches Beispiel findet                  Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
                                    sich in einem Dinggedicht Conrad Ferdi-                        sich eine kleine Weile der Bestand
                                    nand Meyers (1869, Conrady 2000, 494):                         von bunten Pferden, alle aus dem Land,
                                                                                                   das lange zögert, eh es untergeht.
                                                  Der römische Brunnen                             Zwar manche sind an Wagen angespannt,
                                            Aufsteigt der Strahl und fallend gießt                 doch alle haben Mut in ihren Mienen;
                                              Er voll der Marmorschale Rund                        ein böser roter Löwe geht mit ihnen
                                             Die, sich verschleiernd, überfließt                   und dann und wann ein weißer Elefant.
                                              In einer zweiten Schale Grund;
                                             Die zweite gibt, sie wird zu reich,                   Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
                                               Der dritten wallend ihre Flut,                      nur daß er einen Sattel trägt und drüber
                                             Und jede nimmt und gibt zugleich                      ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
                                                    Und strömt und ruht.
                                                                                                   Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
                                    Auf semantischer Ebene beschreibt das Ge-                      und hält sich mit der kleinen heißen Hand
                                    dicht einen unendlichen Zyklus: Im perfekt                     dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.
                                    gestalteten Marmorbrunnen sind Strömen
                                    und Ruhen in einem harmonischen Aus-                           Und dann und wann ein weißer Elefant.
                                    gleich. Das Gedicht ist sprachlich-formal so
                                    gestaltet, dass selbst das Schrift-Bild diese                  Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
                                    Harmonie repräsentiert: „Gegensätze sind                       auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
                                    in sich aufgehoben: im Bild, im Klang, im                      fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
                                    Rhythmus.“ (Bloch 2001, 288) Inhalt und                        Schauen sie auf, irgendwohin, herüber –
                                    Form spielen kohärent zusammen, lassen                         Und dann und wann ein weißer Elefant.

                                    (1) Es handelt sich um eine aus vier ‚Volksliedzeilen‘ zusammengesetzte Strophe. Ihr Reimschema ist a b a b, meist
                                    wechseln weibliche und männliche Ausgänge (Kayser 1978, 40). Die Gedichtform wurde in der Romantik entwickelt.
                                    (2) „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, son-
                                    dern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.“ (J. W. Goethe: Sämtliche Werke Bd. 9. Hrsg.
                                    von Ernst Beutler u. a. München 1977, 532).
                                    (3) Im Folgenden zitiert als DK.

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Und das geht hin und eilt sich, daß es endet,      nen unterstrichen. Der Wechsel von be-
                  und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.   schreibenden und reflektierenden Passagen
                  Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,        findet in unregelmäßig langen Strophen
                  ein kleines kaum begonnenes Profil –.              mit variierenden Endreimen einen adäqua-
                  Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,           ten Ausdruck, sodass auf semantischer und
                  ein seliges, das blendet und verschwendet          sprachlich-formaler Ebene Mehrschichtig-
                  an dieses atemlose blinde Spiel …                  keit zu konstatieren ist. Zwar ist das Zu-
                                                                     sammenspiel von Inhalt und Form weit-
             Inhaltlich werden Tierfiguren eines Karus-              gehend kohärent zu deuten, jedoch sind
             sells im Pariser Jardin du Luxembourg be-               die semantischen und formalen Strukturen
             schrieben und das Verhalten derer, die es               vielschichtiger als im Römischen Brunnen.
             benutzen. Dabei zeichnen sich drei Pers-                Es kann daher ein mittlerer Komplexitäts-
             pektiven ab, die das Textsubjekt einnimmt:              grad festgestellt werden, sodass von Mehr-
             Einerseits zeigt es eine große Nähe zur                 deutigkeit auszugehen ist.
             freudigen Aufregung der auf dem Karus-
             sell fahrenden Kinder, wie etwa bei der                 2.3 Vielschichtigkeit durch Widerspiel
             Beschreibung einer „kleinen heißen Hand“                    von Inhalt und Form in der Todes-
             (DK III.2) oder eines seligen Lächelns (DK                  fuge
             VII.5–6). Daneben zeigen kommentieren-                  Mit Baudelaires Les fleurs du mal (Baude-
             de Passagen eine Distanz zu dem „Land,                  laire 1961) ist der Prototyp einer moder-
             / das lange zögert, eh es untergeht“ (DK                nen Lyrik gegeben, in der ein Widerspiel
             I.3–4). Hier reflektiert ein abgeklärter Er-            von schockierenden Inhalten und forma-
             wachsener, für den das Karussell das Land               ler Schönheit möglich wird. Diese moderne
             der Kindheit mit ihrem zwecklosen Spiel                 Lyrik stellt einen Bruch mit den konventio-
             repräsentiert. Neben diesem implizit an-                nellen Gedichtformen der klassisch-roman-
             wesenden Erwachsenen und den expli-                     tischen Tradition (Burdorf 2015, 4 f.) dar,
             zit beschriebenen Kindern werden „auch                  die noch bei Rilke nachwirkt. Als Beispiel
             Mädchen“ genannt, die dem kindlichen                    für ein in hohem Maße ästhetisiertes Ge-
             Vergnügen „fast schon entwachsen“ (DK                   dicht, das tradierte lyrische Formen weitge-
             V.2–3) sind und zum Betrachter herüber-                 hend hinter sich lässt, soll Paul Celans To-
             schauen. Kindheit, Jugend und Erwachse-                 desfuge (Celan 1976) betrachtet werden, da
             nenalter sind als unterschiedliche Sicht-               dieses Gedicht den Bruch zwischen inhalt-
             weisen auf das titelgebende Dingsymbol                  licher und formaler Dimension auf kunst-
             präsent, während sich das Karussell im-                 vollste Weise inszeniert. Hier steht die per-
             mer weiterdreht. Im dreimal wiederkehren-               fekte Schönheit der (musikalisch tradierten)
             den Refrain zum „weiße[n] Elefant“ (DK                  Form in hartem Kontrast zur Monstrosität
             I.8, IV, VI) zeigt sich sowohl die Kreisbe-             des Inhalts einer (intertextuell aufgelade-
             wegung als auch die Perspektive des Fla-                nen) Konfrontation von Tätern und Opfern
             neurs (Weinzierl 2019, 51) und somit die                des Holocaust, die über Kontextwissen er-
             Differenz des Erlebens je nach Lebensalter.             schließbar ist.
             Diese erzeugen eine gewisse Ambivalenz
             in der Semantik des Gedichts, die nur „auf              Sprachlich-formale Oberflächenstruktur
             den ersten Blick ‚einfach, vertraulich und              In der Todesfuge4 finden sich kaum sprach-
             leicht‘“ (Sander 2016, 71) ist. Tatsächlich             liche Strukturen, wie sie die klassisch-
             handelt es sich ebenso um ein beschrei-                 romantische Lyrik (Burdorf 2015, 4 f.)
             bendes wie reflektierendes Gedicht, das in              kennzeichnen. Sie entspricht keinem tra-
             der Bewegung des Karussells symbolisch                  ditionellen Reim-, Vers- oder Strophen-
             auf den „Kreislauf des Lebens“ (ebd., 71)               schema, sondern bricht in aller Deutlich-
             anspielen könnte. Formal wird die regel-                keit mit diesen Konventionen: Neben einer
             mäßige Kreisbewegung durch fünfhebige                   Gliederung in unregelmäßig lange Verszei-
             Jamben gespiegelt und durch Alliteratio-                len und sieben Strophen unterschiedlichen

             (4) Im Folgenden zitiert als TF.

             Der Deutschunterricht 1/2021                                                                            17

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Abb. 2: Fernando Prats: Todesfuge (2), 2013, Rauch, Glas, Milch, Stahl und Öl auf Leinwand

                                       Umfangs, fällt ein einziges Reimpaar (TF        als (nahezu) reimlose Lyrik mit unregel-
                                       VI.4 – 5) auf, das besondere Beachtung ver-     mäßigen Rhythmen (Burdorf 2015, 124 f.)
                                       dient. Die 36 Verse und sieben Strophen         einzuordnen. Ein einheitliches Organisati-
                                       des Gedichts sind gleichwohl rhythmisiert,      onsprinzip lässt sich mit den Mitteln der
                                       anfangs überwiegt der Trochäus, später der      Gedichtanalyse (Kayser 1978; Burdorf
                                                                                                                                                © Fernando Prats. Todesfuge (2), 2013. Smoke, glass, milk, steel and oil on canvas.
                                       Daktylus. Innerhalb der Langverse fallen        2015, 53–134) nicht erkennen.
                                       parataktische Reihungen auf, die nicht
                                       durch Satzzeichen getrennt sind – häufig        Oberflächensemantik
                                       sind es zwei (TF I.2, II.2) oder gar drei (TF   Eine grundlegendere Textstruktur zeigt
                                       III.2) in einer Verszeile. Diese werden wie-    sich in der Textsemantik, die eine Anti-
                                                                                                                                                195 x 260 cm - courtesy of the artist and Galeria Joan Prats.

                                       derholt („wir trinken sie abends“, TF I.3),     thetik zwischen „wir“ und „er“ aufbaut,
                                       reduziert („wir trinken und trinken“, TF        welche das Gedicht durchgängig bestimmt.
                                       I.3) sowie erweiternd aufgegriffen („wir        Für jede/n, die/der etwas Allgemeinwis-
                                       trinken sie mittags und morgens wir trin-       sen über den Holocaust und die Judenver-
                                       ken sie nachts“, TF I.2) und zusätzlich va-     nichtung durch die Nationalsozialisten hat,
                                       riiert („wir trinken dich abends und mor-       wird rasch erkennbar, dass Celan mit dem
                                       gens wir trinken und trinken“, TF VI.3). So     nahezu chorisch wirkenden „wir“ den Op-
                                       entsteht der Eindruck von nebengeordne-         fern eine Stimme verleiht, mit der das Text-
                                       ten Wiederholungen und Variationen, die         subjekt dieses Gedichts völlig verschmilzt.
                                       unterschiedlich rhythmisiert sind. Neben        Dem kollektiven Wir steht ein „Mann“ als
                                       diesen variierenden „Wiederholungsfigu-         Kontrastfigur gegenüber, der als ein pro-
                                       ren“ (Barner 1994, 212) ist das Gedicht         totypischer Vertreter der „Mordbürokraten

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der ‚Herrenrasse‘ in den Todesfabriken“                      brecht 1986) betrachten. Dieses wird kon-
                                                                             (Buck 2002, 39) erkennbar ist. Ihm wer-                      trapunktisch durch ein Gegenthema (Kon-
                                                                             den typische Handlungen zugeschrieben                        trasubjekt) weitergeführt, welches durch
                                                                             (TF I.5–9), die an einen Lagerkommandan-                     den „Mann“ (TF I.5–6) gegeben ist. Die
                                                                             ten erinnern: mörderische Befehle am Tage                    ­Antagonisten dienen auch formal als ent-
                                                                             (TF III, V), sentimentale Briefe am Abend                     scheidende Orientierungspunkte, denn
                                                                             (TF I. 6 f.). Während die Handlungen des                      nach ihrer Vorstellung endet die Expositi-
                                                                             prototypischen Antagonisten meist knapp                       on (TF I.6). Das der Opferseite zugeordne-
                                                                             und präzise benannt werden, sind die Pas-                     te Oxymoron „Schwarze Milch“ markiert
                                                                             sagen, in denen die Opfer sprechen, stärker                   in diesem Verständnis stets den Beginn ei-
                                                                             rhetorisch aufgeladen. Zu nennen ist vor                      ner Durchführung, zu der auch die Expo-
                                                                             allem das zur Deutung auffordernde Oxy-                       sition (TF V. 1-6) sowie die abschließende
                                                                             moron der „Schwarze[n] Milch der Frühe“                       ­Engführung zählen. Demnach werden alle
                                                                             (TF I.1, II.1, IV.1, VI.1), das immer durch                    Variationen der Durchführung (TF II, IV,
                                                                             Großbuchstaben markiert ist. Außerdem                          VI) durch die Opferseite eingeleitet und
                                                                             finden sich die trochäisch geprägten Verse                     durch Beschreibungen zur Täterseite be-
                                                                             in den (Selbst-)Beschreibungen der Opfer,                      endet6.
                                                                             daktylisch geprägte Passagen dagegen nur                     Bevor nach der Exposition durch erneutes
                                                                             in den Aussagen über den Täter (z. B. TF                       Aufgreifen des Grundmotivs die nächste
                                                                             I.6 f.), auf den sich auch das einzige Reim-                   Durchführung kenntlich gemacht wird, er-
                                                                             paar des Gedichts bezieht:                                     folgt entsprechend dem Kompositionsprin-
                                                                                                                                            zip der Fuge jeweils ein Zwischenspiel, wel-
                                                                                  „der Tod ist ein Meister aus Deutschland                  ches durch ein freieres Aufgreifen bereits
                                                                                          sein Auge ist blau                                eingeführter Motive gekennzeichnet ist.
                                                                                  er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich         Solche Zwischenspiele beziehen sich auf
                                                                                          genau“ (VI.4 – VII.1)                             Beschreibungen des Täters, die allerdings
                                                                                                                                            auch das lyrische „Wir“ mit e­ inbeziehen.
                                                                             Der Akt des willkürlichen Mordens wird                         So sind dem „Mann“ im ­ersten Zwischen-
                                                                             zur Pointe des Gedichts, die dem/der Leser/                    spiel konkrete Handlungen zugeschrieben,
                                                                             in nahelegt, sich angesprochen (und getrof-                    die auch die Opfer betreffen: „er pfeift sei-
                                                                             fen) zu fühlen.                                                ne Rüden herbei“ (TF I. 7), „er pfeift seine
                                                                                                                                            Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der
                                                                             Formale Tiefenstruktur der Fuge                                Erde“ (TF I. 8). Variationen seines Verhal-
                                                                             Die semantische Antithetik von Opfern                          tens werden in den anderen Zwischenspie-
                                                                             und Täter lässt sich in einen Formzusam-                       len in gesteigerter Form wiederholt (vgl.
                                                                             menhang mit den variierenden Wiederho-                         TF I.9, II.4–5 und V.1–3).
                                                                             lungen bringen, wenn die Fuge als ein die                      In der fugentypischen Engführung als ab-
                                                                             Gesamtstruktur prägendes Formprinzip5                          schließenden Höhepunkt werden dann alle
                                                                             betrachtet wird. Denn diese Antithetik bil-                    zuvor ausgeführten Motive aufgegriffen und
                                                                             det die Grundlage für ein raffiniertes Spiel                   in raffinierter Weise miteinander verwoben.
                                                                             mit dem kontrapunktischen Kompositions-                        Dies betrifft die beiden letzten Strophen,
                                                                             prinzip, das die ungewöhnlichen Variati-                       wobei in der vorletzten Strophe eine Stei-
195 x 260 cm - courtesy of the artist and Galeria Joan Prats.

                                                                             onen der zentralen Motive erklärt. Wenn                        gerung durch den präzisen tödlichen Schuss
                                                                             diese als strukturierend angesehen wer-                        (TF VI.4-5) und den ebenso präzisen ein-
                                                                             den, lassen sich die wiederkehrenden Ein-                      zigen Reim gegeben ist, um dann mit der
                                                                             gangsverse „Schwarze Milch der Frühe“                          letzten Strophe (TF VII) als Schlusskadenz
                                                                             (TF I.1) bis „wir schaufeln ein Grab in den                    zu enden. Nach dem K   ­ ompositionsprinzip
                                                                             Lüften da liegt man nicht eng“ (TF I.4) als                    der Fuge ergibt sich für die Todesfuge also
                                                                             Thema im Sinne der Fugenform (Egge-                            folgende Makrostruktur:

                                                                             (5) Wir danken Robert Rosenthal für die wertvollen Erläuterungen.
                                                                             (6) Bei Horn (1999, 256 – 258) findet sich eine andere Strukturierung, die jedoch die Signalwirkung des zentralen Oxy-
                                                                             morons Schwarze Milch der Frühe unberücksichtigt lässt.

                                                                             Der Deutschunterricht 1/2021                                                                                             19

                                                                520217-003_014-023_Nickel.indd 19                                                                                                     11.02.2021 07:35:38
Exposition (1. Durchführung) [I.1–6]
                                    SCHWARZE Milch der Frühe wir trinken sie abends
                                    wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
                                    wir trinken und trinken
                                    wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegtman nicht eng

                                    Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
                                    der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

                                    1. Zwischenspiel [I. 7–9]
                                    er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
                                    er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
                                    er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

                                    2. Durchführung [II]
                                    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

                                    wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
                                    wir trinken und trinken
                                    Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
                                    der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
                                    Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

                                    Zwischenspiel [III]
                                    Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
                                    er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
                                    stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

                                    3. Durchführung [IV]
                                    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
                                    wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
                                    wir trinken und trinken
                                    ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
                                    dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

                                    3. Zwischenspiel [V]
                                    Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
                                    er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
                                    dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

                                    Engführung [VI–VII] mit der Schlusskadenz [VII]
                                    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

                                    wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
                                    wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
                                    der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
                                    er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
                                    ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
                                    er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
                                    er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

                                    dein goldenes Haar Margarete
                                    dein aschenes Haar Sulamith

                20                                                                                       Der Deutschunterricht 1/2021

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Der hochkomplexe Inhalt des Gedichts                      das Auseinanderbrechen der deutsch-jüdi-
             wird durch die Fugenform7 klar gegliedert                 schen Kulturtradition an. Die Bezüge, die
             und korrespondiert perfekt mit ihr. Jedoch                Celan entfaltet, gehen also über die histo-
             weicht die Strophengestaltung am Anfang                   rische Lesart hinaus bis weit in kulturelle
             und am Ende von dieser Makrostruktur ab,                  Überlieferungen hinein.
             sodass das Gedicht keineswegs einem star-                 Somit spielt Celans Todesfuge auf grau-
             ren Schema folgt. Vielmehr spielt es souve-               envolle Realitäten an, erschöpft sich aber
             rän mit verschiedenen Formprinzipien: mit                 nicht in einer beschreibenden Darstellung,
             Syntax, Metrum und Reim ebenso wie mit                    sondern bemächtigt sich eines weiten Kul-
             der Fugenform. Diese komplexe formale                     turraums. Sie ist nicht poésie pure, son-
             Gestaltung bedingt eine berückende Schön-                 dern engagierte Literatur in formvollende-
             heit des Gedichts in der kulturellen Tradi-               ter Gestaltung. Rezeptionsseitig muss das
             tion von Bachs Kunst der Fuge, der jedoch                 widerspruchsvolle Gegenspiel vielschich-
             bedrückende Inhalte gegenüberstehen.                      tiger Textstrukturen erschlossen werden,
                                                                       um unter einer pragmatischen Perspekti-
             Semantische Tiefenstruktur aus pragmati-                  ve zu erkennen, dass in dem Gedicht den
             scher Perspektive                                         Verfolgten ein Denkmal gesetzt und de-
             „Alle Bildelemente in der Todesfuge ha-                   ren Mördern die Deutungs- und Kulturho-
             ben eine präzise historische Entsprechung“                heit entzogen wird. In diesem Sinne ist das
             (Sparr 2020, 69) im Massenmord an den                     komplexe Gedicht auch die Selbstermäch-
             europäischen Juden. Über die anspielungs-                 tigung eines Überlebenden, der keineswegs
             reichen Wiederholungsfiguren verweist das                 in „den Äther der reinen Poesie“ (Holthu-
             Gedicht auf die Realität der Vernichtungsla-              sen 1954, zit. nach Sparr 2020, 142) aus-
             ger: In wenigen prägnanten Motiven kom-                   weicht, sondern sich dem realen Grauen
             men unmenschlichste Befehle der Täter und                 mit allen ihm verfügbaren Mitteln stellt:
             kaum beschreibbares Leiden der Opfer zum                  denen der modernen Poesie ebenso wie
             Ausdruck. Doch es geht nicht um eine Ab-                  denen der tradierten Fuge.
             bildung von Realität, sondern um deren po-
             etisch verdichtete Deutung. Denn die Kluft
             zwischen Täter und Opfern wird fortgeführt                3. Didaktisch-methodische Überle-
             durch eine Antithetik zwischen zwei Frau-                     gungen
             enfiguren, die in der Schlusskadenz noch
             weiter zugespitzt ist. Dabei handelt es sich              Komplexität lässt sich textseitig als ein dif-
             zum Einen um die Adressatin der Briefe, in                ferenziertes Bezugssystem auf sprachlich-
             denen sich der Täter abends an „dein gol-                 formaler, semantischer und pragmatischer
             denes Haar Margarete“ (TF I.6, II.5, IV.4,                Ebene beschreiben, das auch Zusammen-
             VI.6, VII.1) erinnert. Zum Anderen ist es                 und Widerspiele zwischen den Ebenen auf-
             Sulamith, die „Braut des Königs Salomon“                  weist. Am Beispiel der Todesfuge konnte ge-
             (Conrady 2000, 1276), deren Haar bei Celan                zeigt werden, dass Lyrik unabhängig vom
             ergraut, wenn nicht verbrannt ist (TF II.6,               lexikalischen oder syntaktischen Schwie-
             IV.5, VII.2). Während Margarete mit dem                   rigkeitsgrad ein nicht linear aufzulösendes
             Gretchen aus Goethes Faust (Buck 2002,                    Netz bedeutungshaltiger Bezüge von der
             33) assoziiert wird, personifiziert Sulamith              Makro- bis in die Mikrostrukur entfalten
             die Opferseite: Ihr „aschenes Haar“ ver-                  und damit ein äußerst differenziertes Ver-
             weist auf den Tod in den Krematorien (Klü-                hältnis zu außertextuellen Realitäten her-
             ger 2007, 144). Der (unwürdig behandelten)                stellen kann. Damit wird die Anforderung
             Frauenfigur aus dem Faust, der als Inbegriff              in Frage gestellt, in Gedichtinterpretationen
             der deutschen Kultur gelten kann, wird ei-                eine Kohärenz von Inhalt und Form herzu-
             ne Lichtgestalt des Alten Testaments, also                stellen, d. h. diese im Unterricht anzustreben
             der jüdischen Tradition, gegenübergestellt.               bzw. als Bewertungskriterium für Schüler/-
             Damit spielt die Schlusskadenz auch auf                   innenarbeiten anzusetzen. Um angemesse-

             (7) Analogien zum Tanz (Seidensticker/Butzlaff 1960, 40–42) sind auf formaler Ebene nicht nachweisbar.

             Der Deutschunterricht 1/2021                                                                               21

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ne Vermittlungsprozesse zu konzipieren, ist     auch eine bewusste Überforderung darstel-
                                    vielmehr eine Analyse der Textstrukturen        len kann. Dann allerdings ist eine besonders
                                    ebenso unverzichtbar wie die Berücksichti-      sorgfältige methodische Aufbereitung not-
                                    gung von relevantem Welt- und Fachwissen        wendig, die Texttreue zu wahren hat. j
                                    (Rupp 2014, 136). Eine textadäquate Lesart
                                    setzt sorgfältige lehrer/-innenseitige Analy-
                                    sen sowohl in fachlicher wie in didaktischer    Literatur
                                    Hinsicht voraus.                                Primärtexte
                                    Komplexität ist daher ein Phänomen, das         Baudelaire, Charles (1961): Les Fleurs du Mal
                                                                                       [1857]. Paris.
                                    zuallererst die Vermittelnden zu interes-       Celan, Paul (1976): Todesfuge [1948/1952]. In:
                                    sieren hat, denn es ist deren Aufgabe, das         Ders.: Mohn und Gedächtnis. Gedichte. 2.
                                    Komplexitätsniveau eines Gedichts ange-            Aufl. Frankfurt/M., 35–39.
                                    messen einzuschätzen, um über Fragen der        Conrady, Karl Otto (Hrsg.) (2000): Der neue
                                    Passung (Frickel 2018) für eine bestimm-           Conrady. Das große deutsche Gedichtebuch.
                                                                                       Erw. Ausg., Düsseldorf.
                                    te Lernsituation nachzudenken. Hier erfor-      Krüss, James (1997): Der wohltemperierte Lei-
                                    dern komplexe Texte Polyvalenz-Toleranz            erkasten. 12 mal 12 Gedichte für Kinder,
                                    (Barsch 2000), wie sie didaktisch als ein          Erwachsene und andere Leute. Mit einem
                                    sich Einlassen auf die „Unabschließbar-            Nachwort von Erich Kästner [1961]. 2. Auf.
                                    keit des Sinnbildungsprozesses“ (Spinner           München.
                                                                                    Rilke, Rainer Maria (1979): Neue Gedichte und
                                    2006, 12) beschrieben wurde. Komplexität           Der Neuen Gedichte anderer Teil [1907/08].
                                    erklärt auch die Notwendigkeit textanalyti-        5. Aufl. München.
                                    scher Aufgaben, auf deren Basis vertretbare
                                    Lesarten eines Gedichts zu entwickeln sind.
                                    Denn die mit der Vielschichtigkeit gegebe-      Sekundärtexte
                                    ne „Pluralität von Verständnisakten“ (Kurz      Barner, Wilfried u. a. (1994): Geschichte der
                                                                                       deutschen Literatur von 1945 bis zur Ge-
                                    1999, 95) ist keineswegs grenzenlos, son-
                                                                                       genwart. München.
                                    dern durch die Texteigenschaften begrenzt,      Barsch, Achim (2000): Ein integrativer Blick auf
                                    die erlebt, wahrgenommen und beschrieben           literarische Konventionen. In: LUMIS-Schrif-
                                    sein wollen. Aus drei Gründen ist daher die        ten 59, 3 – 31.
                                    Analyse des Komplexitätsniveaus didak-          Bloch, Peter André (2001): Der Teil und das Gan-
                                                                                       ze. Conrad Ferdinand Meyers Gedicht ‚Der
                                    tisch relevant:
                                                                                       römische Brunnen‘ im Spiegel seiner Vari-
                                    – erstens im Hinblick auf die Textauswahl          anten. In: Monika Ritzer (Hg.): Conrad Fer-
                                       für bestimmte Lerngruppen (Schulform,           dinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und
                                       Jahrgang) oder Individuen (Binnendiffe-         die Wahrheit der Kunst. Tübingen, 269 – 290.
                                       renzierung, Inklusion),                      Buck, Theo (2002): Interpretation der Todesfu-
                                                                                       ge. In: Ders. (Hg.): Paul Celan: Todesfuge.
                                    – zweitens im Hinblick auf die didaktisch
                                                                                       2. Aufl. Aachen, 31– 51.
                                       zu begründende Zielsetzung (Spinner          Burdorf, Dieter (2015): Einführung in die Ge-
                                       2006; Zabka 2013; Spinner 2013),                dichtanalyse [1994]. 3. Aufl. Stuttgart.
                                    – drittens im Hinblick auf die methodi-         Eggebrecht, Hans Heinrich (1986): Fuge. In:
                                       sche Umsetzung (vgl. etwa Spinner               Ders.: Meyers Kleines Lexikon Musik.
                                                                                       Mannheim, 113f.
                                       2005; Nickel-Bacon 2006).
                                                                                    Ewers, Hans-Heino (2008): Romantik. In: Rei-
                                                                                       ner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen
                                    Der Komplexität von Gedichten, deren Ni-           Kinder- und Jugendliteratur. 3. Aufl. Stutt-
                                    veau in einer lehrer/-innenseitigen Textana-       gart, 96 –130.
                                    lyse beschreibbar ist, steht also eine Mehr-    Frickel, Daniela (2018): Textpassung. Theoreti-
                                                                                       sche und empirische Ansätze zur Ermittlung
                                    dimensionalität didaktisch-methodischer
                                                                                       der Gegenstandsadäquanz von (literarischen)
                                    Entscheidungen gegenüber, die mindes-              Texten zwischen ‚Einfachheit‘ und ‚Komple-
                                    tens Textauswahl, Zielsetzung und methodi-         xität‘. In: Jan Boelmann (Hg.): Forschungs-
                                    sche Umsetzung umfassen. In dieser Mehr-           felder in der Deutschdidaktik. Baltmannswei-
                                    dimensionalität gibt es keinen linearen Weg        ler, 185 – 201.
                                                                                    Horn, Eric (1999): Lyrik nach Auschwitz. Paul
                                    von der Lerngruppe zum Text oder umge-
                                                                                       Celans Todesfuge. In: Gerhard Rupp (Hg.):
                                    kehrt. Zentral ist vielmehr die für eine kon-      Klassiker der deutschen Literatur: Epochen-
                                    krete Lernsituation gewählte Zielsetzung im        Signaturen von der Aufklärung bis zur Ge-
                                    Rahmen der literarischen Sozialisation, die        genwart. Würzburg, 251– 271.

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520217-003_014-023_Nickel.indd 22                                                                                              11.02.2021 07:35:38
Jannidis, Fotis (2003): Polyvalenz – Konventi-       Sander, Gisela Maria (2016): Die Lyrik Rainer
                on – Autonomie. In: Fotis Jannidis/Gerhard           Maria Rilkes. Braunschweig u. a.
                Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hg.):         Seidensticker, Peter/Wolfgang Butzlaff (1960):
                Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Be-            Zwei Bemühungen um ein Gedicht: Paul Ce-
                deutung literarischer Texte. Berlin, 305 – 329.      lans ‚Todesfuge‘. In: Der Deutschunterricht
             Kayser, Wolfgang (1978): Kleine deutsche Vers-          12/3, 34 – 51.
                schule. 19. Aufl., Bern-München: Francke.         Sparr, Thomas (2020): Todesfuge. Biografie ei-
             Klüger, Ruth (2007): Paul Celan Todesfuge. In:          nes Gedichts. München: DVA.
                Dies.: Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik.       Spinner, Kaspar (2005): Umgang mit Lyrik in der
                Göttingen,142 –145.                                  Sekundarstufe I. 6. Aufl., Baltmannsweiler.
             Kurz, Gerhard (1999): Macharten. Über Rhyth-         Spinner, Kaspar (2006): Elf Aspekte des literari-
                mus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit. Göttingen.       schen Lernens. In: Praxis Deutsch 200/2006,
             Lypp, Maria (1984): Einfachheit als Kategorie           6 –16.
                der Kinderliteratur. Frankfurt/M.                 Spinner, Kaspar (2013): Ästhetische Bildung und
             Nickel-Bacon, Irmgard (2003): Vom Spiel                 Literaturunterricht. In: Carola Rieckmann/
                der Fiktionen mit Realitäten. Basisartikel.          Jessica Gahn (Hg.): Poesie verstehen – Lite-
                In: Praxis Deutsch H. 180, 4 –12.                    ratur unterrichten. Baltmannsweiler, 19 – 34.
             Nickel-Bacon, Irmgard (2006): Positionen der         Weinzierl, Ulrich (2019): Das Karussell. In:
                Literaturdidaktik – Methoden des Literatu-           Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Rainer Maria
                runterrichts. In: Norbert Groeben/Bettina            Rilke. Und ist ein Fest geworden. 33 Ge-
                Hurrelmann (Hg.): Empirische Unterrichts-            dichte mit Interpretationen. 5. Aufl. Mün-
                forschung: Literatur- und Lesedidaktik.              chen, 50 – 52.
                Weinheim, 95 –114.                                Zabka, Thomas (2012): Didaktische Analyse li-
             Nickel-Bacon, Irmgard (Hg.) (2018): Poesie ge-          terarischer Texte. Theoretische Überlegun-
                gen Gewalt. Komplexität und Mehrdeutigkeit           gen zu einer Lehrerkompetenz. In: Danie-
                in Else Lasker-Schülers Gedicht Mein blau-           la A. Frickel/Clemens Kammler/Gerhard
                es Klavier. In: Dies. (Hg.): Ästhetische Er-         Rupp (Hg.): Literaturdidaktik im Zeichen
                fahrung mit Literatur. Textseitige Potenzia-         von Kompetenzorientierung und Empirie.
                le, rezeptionsseitige Prozesse, didaktische          Perspektiven und Probleme. Freiburg i. Br.,
                Schlussfolgerungen. Unter Mitarbeit von              139 –162.
                Verena Ronge und Mitgliedern der AG Li-           Zabka, Thomas (2013): Ästhetische Bildung.
                teraturdidaktik im SDD. München, 87–100.             In: Volker Frederking/Hans-Werner Hune-
             Nickel-Bacon, Irmgard (2020): Ästhetische Sen-          ke/Axel Krommer/Christel Meier (Hg.): Ta-
                sibilisierung mit (Kinder)Lyrik in Grund-            schenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2:
                schule und Orientierungsstufe. In: Leseräu-          Literatur- und Mediendidaktik. 2. Aufl. Balt-
                me 7/6, 1–14.                                        mannsweiler, 471– 487.
             Nickel-Bacon, Irmgard/Verena Ronge (2018):           Zabka, Thomas (2020): Laboratorium des Ver-
                Textseitige Potenziale. In: Irmgard Nickel-          stehens. Modale Superstrukturen von Ge-
                Bacon (Hg.) (2018): Ästhetische Erfahrung            dichten als Interpretationsrahmen. In: Kat-
                mit Literatur. München, 30 – 36.                     rin Kloppert/Stefan Neumann/Verena Ronge
             Rupp, Gerhard (2014): Deutschunterricht lehren          (Hg.): Textzugänge ermöglichen. Gattungs-
                weltweit. Basiswissen für MEd-Studierende            spezifische und methodische Perspektiven.
                und Deutschlehrer/innen. Baltmannsweiler.            Baltmannsweiler, 57–71.

             Der Deutschunterricht 1/2021                                                                             23

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