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ZAHNMEDIZIN ALLGEMEIN Zutritt verboten – Wie im Mund die Invasion von Mikroben verhindert wird Georg Conrads Indizes Speichelzusammensetzung, epitheliale Barriere, immunologische Abwehr, pathogene Mikroorganismen, probiotische Bakterien Zusammenfassung Fast immer unbemerkt werden die Barrieren unserer Mundhöhle von unzähligen Mikroorganismen attackiert. Zur Abwehr dieser Keime besitzen wir zunächst drei Abwehrlinien: den Speichelfluss, die Mundschleimhaut sowie die immunologische Abwehr. Im Speichel schützen uns mehr als 50 ver- schiedene antimikrobielle Peptide und Immunglobuline. Die Epithelzellen der Mundschleimhaut bilden eine mehrschichtige Mauer mit Rezeptoren und Verbindungsproteinen. Die Keime haben Strategien entwickelt, um genau diese (Glyko-)Proteine für die para- und transzelluläre Invasion und Infektion zu nutzen. Alles, was diese beiden ersten Barrieren durchdringt, wird ein Fall für die immunologische Abwehr. Mit den Makrophagen und T-Zellen als Leitstellen der unspezifischen bzw. spezifischen Immunabwehr steht uns glücklicherweise ein komplexes Netzwerk zur Verfügung, um konzertiert Keime, aber auch entartete Zellen zu eliminieren. Weitere Akteure sind neutrophile Granulozyten, dendritische, natürliche Killer- und die Antikörper produzierenden B-Zellen. Als weitere, „vierte“ Abwehrlinie werden zudem eu- bzw. probiotische Bakterien betrachtet. Einleitung chanismen ausgestattet sind. In diesem Beitrag sol len dem Leser die wichtigsten Aspekte der Zutritts Der Mund ist in vielen Aspekten etwas ganz Beson kontrollen unserer Mundhöhle vorgestellt werden. deres. Jeder mag seine eigenen Assoziationen dazu haben. Biologisch gesehen ist die Mundhöhle das Das orale Mikrobiom Portal zwischen der Umwelt und unserem Körper. Die oralen Schleimhäute sind dabei vielfältigen Atta Die Mundschleimhäute und andere Oberflächen des cken ausgesetzt: Zusätzlich zu mechanischen, physi Mundes stellen den Lebensraum für zahllose Mikro kalischen und chemischen Belastungen müssen sich organismen dar. Neben einigen Pilzarten (z. B. Can die Barrieren mehr als 700 dort wohnhaften (resi dida albicans), wenigen eukaryotischen Parasiten denten) sowie zahllosen durchreisenden (transien (z. B. Entamoeba gingivalis), wenigen humanen Viren ten) Bakterien, aber auch Bakterienviren (Phagen), (zumeist aus der Familie der Herpesviridae) zählen Pilzen, Viren, einzelligen Parasiten, Antigenen und wir mehr als 700 verschiedene Bakterienarten, Allergenen erwehren. Diese Mammutaufgabe kön die den Mund als ihren primären Standort gewählt nen die oralen Grenzwachen nur dann bewältigen, haben4. Sie werden umschwärmt von unzähligen wenn sie mit vielfältigen, konzertierten Abwehrme Bakterienviren (Phagen), die Genmaterial verbreiten 1408 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020
Georg Conrads 1. Abwehrlinie: Speichel Agglutinine Keimeintrag verklumpen Bakterien Cystatin antiviral Mensch Cathelizidine durchlöchern gram-positive Bakterien Tier Histatin inhibiert Proteasen, Wundheilung Pflanze Lysozym spaltet das Zellwand-Murein Luft Laktoperoxidase starkes Oxidationsmittel Laktoferrin entzieht essentielles Eisen Wasser Defensine Membraninteraktion, antiviral Nahrung Immunglobuline bilden Komplexe mit Antigenen Umwelt – Speichel Abb. 1 Abwehrfunktion des Speichels. Mehr als 50 verschiedene antimikrobielle Peptide und Immunglobuline reduzieren die aus der Umwelt eindringenden Keime (Transfektion) und so die Evolution vorantreiben. Die erste Abwehrlinie: der Speichel Den eigenen Lebensraum sollte man nach Möglich keit nicht zerstören und an diese Devise halten sich Ein Teil dieser Abwehr ist bereits in unserem Speichel auch die oralen Mikroorganismen, zumindest in den vorhanden und wirkt noch bevor die erste Stufe einer meisten Fällen und bei jungen, immunkompetenten mikrobiellen Infektion – die Adhärenz – erfolgen kann Individuen. Aber natürlich kann sich der von Keimen (Abb. 1). Speichel besitzt zahlreiche antimikrobielle besiedelte, teils auch attackierte Mensch nicht auf Peptide wie Histatin (Proteaseinhibitor), Lysozym die „Freundlichkeit“ der Keime verlassen und hat (Zellwandlyse), Laktoperoxidase (erzeugt radikale daher ein Arsenal von Abwehrmechanismen ent oxidierende Substanzen), Defensine (membranaktiv, wickelt und in Stellung gebracht. antiviral), Cathelizidine (Porenbildner), Laktoferrin QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020 1409
ZAHNMEDIZIN ALLGEMEIN (entzieht den Keimen essentielles Eisen), antivirales noch mit nichtkeratinisiertem, krevikulärem Sulkus Cystatin und viele mehr12. Insgesamt wurden mehr epithel ausgekleidet, das sich zum Sulkusboden hin als 50 antimikrobielle Peptide im Speichel und im fortschreitend verdünnt. Am Fundus selbst, wo die Sulkus nachgewiesen. Diese wirken bakterizid oder Schleimhaut auf den Zahn trifft, findet sich das nicht bakteriostatisch, manche agglutinieren auch einfach vollständig ausdifferenzierte Saumepithel. Es be Keime, sodass sie besser durch den Speichelfluss steht aus nur 3 bis 5 Zelllagen und ist über Hemi- abtransportiert werden. Das Muster der Speichelin Desmosome am Zahn befestigt. Diese histologische gredienzien ist übrigens von Mensch zu Mensch ver Besonderheit ermöglicht einen konstanten Sulkus schieden, was unterschiedliche Anfälligkeit erklärt und fluss, angereichert mit Plasmaproteinen, Zytokinen, diagnostisch sowie kriminaltechnisch eingesetzt Immunglobulinen und Immunzellen11. Durch diese wird1,5. Wie wichtig ein ausreichender Speichelfluss Pforte erfolgt auch der Austritt und die Migration der von 0,3 bis 3 ml/Min. ist, zeigt sich bei Hyposalivati neutrophilen Granulozyten (Neutrophile) in die ge on bzw. Xerostomie. Hier können sich ungehindert samte Mundhöhle. Der Fundus mit seinem dünnen Pilze oder auch säurebildende Karieserreger (Mutans- Saumepithel wird regelmäßig durch Kauprozesse Streptokokken, Laktobazillen) bzw. Parodontalpa und Mundhygienemaßnahmen bewegt und verletzt. thogene (Aggregatibacter actinomycetemcomitans, Dadurch werden Mikroben in tiefere Gewebe Porphyromonas gingivalis) ausbreiten und Krank schichten eingebracht. Sie können die epitheliale heitsbilder deutlich verstärken6. Barriere aber auch para-, inter- oder transzellulär durchdringen. Parodontalpathogene Keime, wie Por Die zweite Abwehrlinie: das Epithel phyromonas gingivalis oder Tannerella forsythia und auch die hochbeweglichen, schraubenartigen Die Mundschleimhaut ist eine Auskleidung der Spirochäten mit Treponema denticola als dem be Mundhöhle. Sie besteht aus der bindegewebigen kanntesten Vertreter, haben starke trypsinähnliche Eigenschicht (Lamina propria), die auch Abwehrzel Proteasen, mit denen sie die verschiedenen Zellver len wie Lymphozyten und Makrophagen enthält, bindungspunkte („Tight-“, „Adherence-“, „Gap- und dem darüber liegenden mehrschichtigen Plat Junctions“, Desmosome) durchlöchern8 (Abb. 2). tenepithel. Im Bereich des harten Gaumens, des Andere Bakterien haben fimbrilläre oder nichtfim Zungenrückens und überall da, wo Beanspruchung brilläre Adhäsine, mit denen sie an die Epithelober durch Kauprozesse erfolgt, ist die Schleimhaut fläche binden und eine Endozytose, Invasion und (para-)keratinisiert. Dort haben es auch Keime Transmission erzwingen. Damit das nicht zu intensiv schwer, selbst unter mechanischer Reizung invasiv passiert, hat das Saumepithel eine beeindruckende zu werden. Über etwa 10 % der Flächen ist die Mund Regenerationsrate. Es ist ein wahrer Jungbrunnen schleimhaut aber eher dünn und nichtkeratinisiert, mit vielen Überlebens- und Reparaturprogrammen. was Interaktionen zwischen Mikroben, ihren Antige Bei normaler Abwehrfunktion sind bakterielle At nen, Allergenen und unserer Immunabwehr zulässt. tacken und immunologische Abwehr – speziell im Die sublinguale Schleimhaut beispielsweise lässt Bereich des Saumepithels – im Gleichgewicht. Aber sich bekanntermaßen zur Impfung mit Antigenen ein so dynamischer Prozess kann natürlich nicht oder zur Aufnahme von Drogen nutzen. Dies zeigt, immer perfekt ausbalanciert sein. Wie wir wissen, dass Antigenkontakte in Bereichen besonders dün zeigen 40 % der Erwachsenen gewisse Formen ner Schleimhaut unseren Körper bzw. das Immun parodontaler Entzündungen. Phasen von reduzierter system stimulieren, trainieren oder vergiften kön Homöostase (reversible Gingivitis) sind normal nen11. Als Trainingshalle unserer immunologischen und besitzen nicht die Gefahr einer Infektion. Wenn Abwehr wird zumeist der Darm gesehen, aber auch das immunologische Netzwerk über die Jahre aber Teile der Mundhöhle übernehmen offensichtlich an Robustheit verliert oder wenn die bakterielle eine ähnlich wichtige Funktion. Attacke zu gewaltig oder zu aggressiv ist, entgleist Ein sehr vulnerabler Bereich der Mundhöhle ist die Homöostase und es kommt zur irreversiblen, der Sulcus gingivae. Die Sulkuswand ist zunächst teils schweren Parodontitis. 1410 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020
Georg Conrads 2. Abwehrlinie: Epithel Nucleus parazelluläre Invasion, Proteasen, Chemotaxis, aktive Bewegung Adhärenz transzelluläre Invasion Speichel-Sulkus – Epithelien Tight Adherence Gap (Hemi-) transzelluläre Junctions Junctions, Junctions Desmosome Passage Occludin u. a. Cadherin Abb. 2 Abwehrfunktion der Mundschleimhaut. Epithelzellen bilden eine mehrschichtige Mauer, die aber durchlässig und kontaktfreudig konzipiert ist und so durch Rezeptoren und Verbindungsproteine den Keimen Möglichkeiten der para- und transzellulären Invasion und Infektion bietet Die dritte Abwehrlinie: Im Folgenden sollen die wichtigsten Akteure dabei das Immunsystem vorgestellt werden. Ein Teil der Immunabwehr liegt noch vor oder in der Makrophagen und dendritische Zellen Epithelschicht. Die hauptsächliche Immunabwehr Sobald Keime die äußere Zellschicht der epithelia wird aber nach Durchtritt von Keimen in die tieferen, len Barriere durchdrungen haben, lauern sogenann bindegewebigen Gingivaschichten provoziert (Abb. 3). te mononukleäre Phagozyten. Dazu gehören dendri QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020 1411
ZAHNMEDIZIN ALLGEMEIN 3. Abwehrlinie: Immunsystem Makrophagen MØ Leitstelle, Zytokin-Abgabe MØ Nucleus Neutrophile Granulozyten Extravasation, Phagozytose, Antigen-Präsentation Dendritische Zelle Vorgelagerte Abwehr, Phagozytose, T-Zellaktivierung T-Zellen Leitstelle, Zytokin-Abgabe, transzelluläre Invasion B-Zell-Rekrutierung B-Zellen Antikörperproduktion, immunologisches Gedächtnis Natürliche Killerzellen Perforine töten entartete bzw. virusinfizierte Zellen, Apoptose Knochenabbau durch Immunkomplexe Epithelien – Immunsystem Abb. 3 Abwehrfunktion des Immunsystems. Mit den Makrophagen und T-Zellen als Leitstellen der angeborenen, unspezifischen bzw. erworbenen, spezifischen Immunabwehr steht ein komplexes Netzwerk zur Verfügung, um konzertiert Keime und entartete (mutierte, virusinfizierte) Zellen zu eliminieren tische Zellen wie auch rekrutierte Monozyten und Interleukine (IL), speziell IL1 und IL8. Diese soge Makrophagen. Diese verhindern das weitere Vor nannten proinflammatorischen Mediatoren führen an dringen der allermeisten Bakterien bis in tiefe Ge der Innenseite der lokalen Gefäßwände (Endothel) webeschichten. zur Bildung von Selektinen und „Intercellular ad Makrophagen sind die Master der unspezifischen, hesion molecule 1“ (ICAM 1). Hierbei handelt es zellulären Immunantwort und bilden eine Art Leit sich um Moleküle, deren Aufgabe es ist in den Ge stelle. Nach Phagozytose der meist opsonisierten, fäßen patrouillierende polymorphkernige neutro d. h. über Immunglobuline oder Komplementfakto phile Granulozyten (PMNG) abzufangen, ins Rollen ren markierten Bakterien schütten die Makrophagen zu bringen und nach Erweiterung der Gefäßwände Zytokine aus, wie Tumornekrosefaktor (TNFα) und ihre Migration in die attackierten Gewebeschichten 1412 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020
Georg Conrads zu ermöglichen, wo sie sich schließlich anreichern. zeigt sich in Patienten mit Mutationen in den korres Den oft auch als Granulozyten oder Neutrophilen pondierenden Steuersystemen. Sobald eines dieser abgekürzten PMNG ist unten noch ein eigener Ab Gene (z. B. ELANE, WAS, LYST, CXCR-4 oder ITGB2) satz gewidmet. in der Funktion betroffen ist, neigen die Personen Dendritische Zellen sind besonders imposant. Sie zu schweren und aggressiven parodontalen Immun haben bäumchen- oder wurzelartige Ausläufer, die pathologien11. sie durch die interzelluläre Matrix bis hinauf zum Neben den Eigenschaften der Phagozytose und Deckgewebe strecken, um dort bereits nach ersten Antigen-Präsentation besitzen Neutrophile noch die Eindringlingen zu suchen. Sie üben als echte Wach Fähigkeit antimikrobielle Peptide wie LL-37 und „Hu posten und Alarmgeber übergeordnete Kontrollfunk man neutrophil peptide“ (HNP) sowie Stickstoffmo tionen der zellulären Immunantwort aus. Sie haben noxid (NO) zu bilden und Netzwerke aus Proteinen großen Einfluss, denn eine einzige dendritische Zel sowie Chromatin (DNA) als „Fallen“ aufzustellen. le kann 100 bis 3.000 T-Zellen direkt aktivieren. Wei Diese noch wenig untersuchten „Neutrophil extra terhin spielen Sie eine wichtige Rolle bei der Selbst cellular traps“ (NET) wurden erst 2004 entdeckt2. toleranz und schützen vor Autoimmunreaktion. Für die angemessene Immunantwort scheint es Unter den dendritischen Zellen gibt es verschiedene insgesamt wichtig zu sein, dass auf einen mikrobiel Subtypen. Die Bekanntesten dürften die Langer- len Reiz hin genau die richtige Anzahl und Aktivität hans’schen Zellen sein. Obwohl sie alle amöbenar der Neutrophilen stimuliert wird. Sowohl zu wenige tig aussehen und bei ihrer Entdeckung fälschlicher als auch zu viele dieser Leukozyten führen zu einer weise als Nervenzellen eingestuft wurden, können irreversiblen, destruktiven Entzündung. Sie doch sehr unterschiedlichen Ursprungs sein und sich z. B. aus Monozyten oder Vorläufern von B- Lymphozyten oder T-Zellen entwickeln9. T- und B-Zellen findet man zahlreich in der Gingiva. Auch unter gesunden Bedingungen werden im Zu Polymorphkernige neutrophile sammenspiel dieser beiden Zelltypen spezifische Granulozyten (PMNG) Immunglobulin (Ig)A- und IgG-Antikörper produziert Die zahlenmäßig wichtigste Abwehrlinie im Sulkus und im Speichel sowie dem Sulkusfluid ausgeschie stellen PMNG dar. Sie machen hier 95 % aller Leuko den. Im Kontext mit Parodontitis haben B-Zellen und zyten aus und steigen in der Anzahl proportional zu ihre Antikörper sowohl protektive als auch immun einer Entzündung. Nicht weniger als 30.000 Neutro pathologische Wirkung. Antikörper-/Antigenkomple phile machen sich jede Minute auf den Weg, um ihre xe sind stets auch entzündungsfördernd und tragen keimabwehrende, phagozytierende Aufgabe in einer beispielsweise zum Abbau des Alveolarknochens menschlichen Mundhöhle zu verrichten. Die Granu durch Aktivierung von Osteoklasten und Inaktivie lozyten sind bekannt für ihre Rolle bei der Kontrolle rung von Osteoblasten bei. Die T-Zellpopulation ist der Mikrobenanzahl. Sie fressen und verdauen die besonders gut untersucht. Unter gesunden Bedingun Eindringlinge, was noch nicht wirklich spannend ist gen sind T4-Helferzellen die dominierende Fraktion. und auf ihre Abstammung von Einzellern zurückzu Sie sind Teil des immunologischen Gedächtnisses. führen ist. Gewissermaßen sind es domestizierte Nach Kontakt mit aktivierten Makrophagen, dendriti Amöben. Eine tragende Rolle im immunologischen schen Zellen oder Granulozyten (siehe oben) leisten Netzwerk bekommen sie erst dadurch, dass sie nach T-Zellen einen wichtigen Beitrag zur lokalen Patho der Verdauung die Essensreste – allesamt Anti- genabwehr. Unter den T-Zellen spielen die FOXP3+- gene – auf ihrer Oberfläche präsentieren und Zellen – auch „Treg“ („Regulatory T cells“) genannt – durch Ausschüttung weiterer Zytokine als Nächstes eine prominente Rolle zum Erhalt der Homöostase. T-Helferzellen rekrutieren. Damit wird das Signal Interessanterweise ist noch wenig darüber bekannt, von der unspezifischen an die spezifische, also er wie genau die T- und B-Zellen in die Gingivagewebe worbene Immunfunktion weitergeleitet. Wie wichtig rekrutiert werden. Zudem ist wenig bekannt über die Neutrophile bei der Kontrolle der Parodontitis sind, Antigenspezifität der gingivaständigen T-Zellen11. QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020 1413
ZAHNMEDIZIN ALLGEMEIN 4. Abwehrlinie: nützliche Mikroben Streptococcus gordonii Neuraminsäure-Bindung, Verdrängung der Pathogene Nucleus Bifidobacterium longum Erhöhung der Tight Junctions-Expression Streptococcus salivarius Bacteriocin und H2O2-Produktion Lactobacillus spp. Bacteriocin und H2O2-Produktion Speichel-Sulkus – Epithelien Abb. 4 Abwehrfunktion durch „gute“ eu- oder probiotische Bakterien. Da wir nicht in einer sterilen Umgebung leben, ist es wichtig die nützlichsten Bakterien wie z. B. einige Streptokokken, Bifidobakterien und Laktobazillen auf den Epithelien anzureichern 1414 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020
Georg Conrads Eine Unterart der T-Zellen sind die „natürlichen Expression von Gewebematrixbestandteilen redu Killerzellen“. Diese Zellen erkennen entartete zieren und so den intakten Zellverband des Epithels menschliche Zellen, die z. B. mutiert oder durch Vi weiter durchlöchern14. ren befallen sind. Nach Kontakt der Killerzelle mit Schließlich sollte noch eine vierte Abwehrlinie in der betroffenen menschlichen Zelle werden von ihr der Mundhöhle Erwähnung finden (Abb. 4). Unter zytotoxische Effektormoleküle (Perforine, Granzy den mehr als 700 oralen Bakterienarten gibt es me) ausgeschüttet, die entartete Zellen für den Zell auch viele „gute“. Dazu zählen Laktobazillen, Bifido tod (Apoptose) programmieren. Auch sie besitzen bakterien und auch bestimmte Streptokokken-Arten wohl ein Gedächtnis, da sie bei Wiederauftreten der (Streptococcus salivarius7, S. gordonii10, S. dentisani3). veränderten Zellen schneller und stärker reagieren. All diese „guten“ eu- oder probiotischen Bakterien So sind auch T-Zellen an dem Erhalt eines gesunden arten produzieren dabei nicht nur H2O2, womit die Gingivagewebes maßgeblich beteiligt. sauerstoffempfindlichen Anaerobier getötet werden, sondern auch mehr spezifische, antimikrobiell wir Fazit kende, zelleigene Antibiotika, die wir Bacteriocine nennen. Bacteriocine wirken zellwanddurchlöchernd Die menschliche Mundhöhle hat mindestens drei und halten gefährliche Keime wie den roten Komplex verschiedene Abwehrlinien entwickelt, um den oder auch Aggregatibacter actinomycetemcomitans mikrobiellen und sonstigen Attacken entgegenzu in Schach3. Weiterhin stärken sie die epithelialen wirken. Wie wir wissen, funktioniert dies aber nicht Zellverbindungen. So erhöht z. B. Bifidobacterium immer perfekt. Vor allem mit nachlassender Immun longum die „Tight Junctions“ (TJ)-Expression13 oder funktion gibt es Lücken in der Abwehr. In einem lan besetzt auch einfach die Neuraminsäure-Reste an der gen Prozess der Coevolution konnten z. B. parodon Epitheloberfläche, die sonst gerne von schädlichen topathogene Bakterien eine Reihe von Mechanismen Bakterien und selbst Grippe- bzw. SARS-Viren (als entwickeln, um all diese Barrieren zu überwinden. Nebenrezeptor zum Angiotensin-konvertierenden Porphyromonas gingivalis und andere Proteolyten Enzym 2 [ACE2]) für den Kontakt genutzt werden. (siehe oben) können die Eiweiße der interzellulären Der Einsatz von Antibiotika zur Verbesserung der Matrix (E-Cadherin, Okkludin, Desmosome) zerstö Mundflora, z. B. im Rahmen einer Parodontitisthera ren und Bakterien dadurch die parazelluläre Trans pie, sollte auf ein Minimum beschränkt bleiben und lokation ermöglichen (Abb. 2). Die Proteasen sind nur bei wirklich invasiven Erkrankungsformen wie zudem in der Lage Immunglobuline, Zytokine und nekrotisierender ulzerierender Gingivitis (NUG) und Komplement faktoren (Opsonine) zu spalten und nekrotisierender ulzerierender Parodontitis (NUP), zu inaktivieren. Die freigesetzten Proteine dienen Abszessen, Periimplantitis oder aggressiven bzw. diesen und anderen Keimen als Nahrungsquelle. hochgradigen Parodontopathien erwogen werden. Dadurch wächst der Biofilm aufgrund der Tätigkeit Es werden bei einer antibiotischen Therapie eben einiger weniger Schlüsselpathogene auch insgesamt. nicht nur die Pathogene, sondern auch diese wichti Aggregatibacter actinomycetemcomitans hat zudem gen eubiotischen Keime dezimiert und die von der ein potentes Leukotoxin, das Granulozyten schnell Natur entwickelten Gleichgewichtsprozesse mögli und effizient auflöst. Zudem kann dieser Keim die cherweise nachhaltig gestört. Literatur 1. Bhuptani D, Kumar S, Vats M, 2. Brinkmann V, Reichard U, 3. Conrads G, Westenberger J, Sagav R. Age and gender related Goosmann C et al. Lurkens M, Abdelbary MMH. changes of salivary total protein Neutrophil extracellular traps Isolation and bacteriocin-related levels for forensic application. kill bacteria. Science 2004;303: typing of Streptococcus dentisani. J Forensic Odontostomatol 1532-1535. Front Cell Infect Microbiol 2019; 2018;36:26-33. 9:110. QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 71 • Ausgabe 12 • Dezember 2020 1415
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