Zutritt verboten - Wie im Mund die Invasion von Mikroben verhindert wird - der ...

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ZAHNMEDIZIN ALLGEMEIN

Zutritt verboten – Wie im Mund die Invasion
von Mikroben verhindert wird
Georg Conrads

   Indizes
   Speichelzusammensetzung, epitheliale Barriere, immunologische Abwehr, pathogene
   Mikroorganismen, probiotische Bakterien

   Zusammenfassung

   Fast immer unbemerkt werden die Barrieren unserer Mundhöhle von unzähligen Mikroorganismen
   attackiert. Zur Abwehr dieser Keime besitzen wir zunächst drei Abwehrlinien: den Speichelfluss, die
   Mundschleimhaut sowie die immunologische Abwehr. Im Speichel schützen uns mehr als 50 ver-
   schiedene antimikrobielle Peptide und Immunglobuline. Die Epithelzellen der Mundschleimhaut
   bilden eine mehrschichtige Mauer mit Rezeptoren und Verbindungsproteinen. Die Keime haben
   Strategien entwickelt, um genau diese (Glyko-)Proteine für die para- und transzelluläre Invasion und
   Infektion zu nutzen. Alles, was diese beiden ersten Barrieren durchdringt, wird ein Fall für die
   immunologische Abwehr. Mit den Makrophagen und T-Zellen als Leitstellen der unspezifischen bzw.
   spezifischen Immunabwehr steht uns glücklicherweise ein komplexes Netzwerk zur Verfügung, um
   konzertiert Keime, aber auch entartete Zellen zu eliminieren. Weitere Akteure sind neutrophile
   Granulozyten, dendritische, natürliche Killer- und die Antikörper produzierenden B-Zellen. Als
   weitere, „vierte“ Abwehrlinie werden zudem eu- bzw. probiotische Bakterien betrachtet.

Einleitung                                              chanismen ausgestattet sind. In diesem Beitrag sol­
                                                        len dem Leser die wichtigsten Aspekte der Zutritts­
Der Mund ist in vielen Aspekten etwas ganz Beson­       kontrollen unserer Mundhöhle vorgestellt werden.
deres. Jeder mag seine eigenen Assoziationen dazu
haben. Biologisch gesehen ist die Mundhöhle das         Das orale Mikrobiom
Portal zwischen der Umwelt und unserem Körper.
Die oralen Schleimhäute sind dabei vielfältigen Atta­   Die Mundschleimhäute und andere Oberflächen des
cken ausgesetzt: Zusätzlich zu mechanischen, physi­     Mundes stellen den Lebensraum für zahllose Mikro­
kalischen und chemischen Belastungen müssen sich        organismen dar. Neben einigen Pilzarten (z. B. Can­
die Barrieren mehr als 700 dort wohnhaften (resi­       dida albicans), wenigen eukaryotischen Parasiten
denten) sowie zahllosen durchreisenden (transien­       (z. B. Entamoeba gingivalis), wenigen humanen Viren
ten) Bakterien, aber auch Bakterienviren (Phagen),      (zumeist aus der Familie der Herpesviridae) zählen
Pilzen, Viren, einzelligen Parasiten, Antigenen und     wir mehr als 700 verschiedene Bakterienarten,
Allergenen erwehren. Diese Mammutaufgabe kön­           die den Mund als ihren primären Standort gewählt
nen die oralen Grenzwachen nur dann bewältigen,         haben4. Sie werden umschwärmt von unzähligen
wenn sie mit vielfältigen, konzertierten Abwehrme­      Bakterienviren (Phagen), die Genmaterial verbreiten

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Georg Conrads

                                       1. Abwehrlinie: Speichel

                                                                 Agglutinine
      Keimeintrag                                                verklumpen Bakterien

                                                                 Cystatin
                                                                 antiviral
      Mensch

                                                                 Cathelizidine
                                                                 durchlöchern gram-positive
                                                                 Bakterien
      Tier
                                                                 Histatin
                                                                 inhibiert Proteasen, Wundheilung

      Pflanze
                                                                 Lysozym
                                                                 spaltet das Zellwand-Murein

      Luft                                                       Laktoperoxidase
                                                                 starkes Oxidationsmittel

                                                                 Laktoferrin
                                                                 entzieht essentielles Eisen
      Wasser

                                                                 Defensine
                                                                 Membraninteraktion, antiviral
      Nahrung
                                                                 Immunglobuline
                                                                 bilden Komplexe mit Antigenen

                                          Umwelt – Speichel

Abb. 1 Abwehrfunktion des Speichels. Mehr als 50 verschiedene antimikrobielle Peptide und Immunglobuline
reduzieren die aus der Umwelt eindringenden Keime

(Transfektion) und so die Evolution vorantreiben.          Die erste Abwehrlinie: der Speichel
Den eigenen Lebensraum sollte man nach Möglich­
keit nicht zerstören und an diese Devise halten sich       Ein Teil dieser Abwehr ist bereits in unserem Speichel
auch die oralen Mikroorganismen, zumindest in den          vorhanden und wirkt noch bevor die erste Stufe einer
meisten Fällen und bei jungen, immunkompetenten            mikrobiellen Infektion – die Adhärenz – erfolgen kann
Individuen. Aber natürlich kann sich der von Keimen        (Abb. 1). Speichel besitzt zahlreiche antimikrobielle
besiedelte, teils auch attackierte Mensch nicht auf        Peptide wie Histatin (Proteaseinhibitor), Lysozym
die „Freundlichkeit“ der Keime verlassen und hat           (Zellwandlyse), Laktoperoxidase (erzeugt radikale
daher ein Arsenal von Abwehrmechanismen ent­               oxidierende Substanzen), Defensine (membranaktiv,
wickelt und in Stellung gebracht.                          antiviral), Cathelizidine (Porenbildner), Laktoferrin

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(entzieht den Keimen essentielles Eisen), antivirales     noch mit nichtkeratinisiertem, krevikulärem Sulkus­
Cystatin und viele mehr12. Insgesamt wurden mehr          epithel ausgekleidet, das sich zum Sulkusboden hin
als 50 antimikrobielle Peptide im Speichel und im         fortschreitend verdünnt. Am Fundus selbst, wo die
Sulkus nachgewiesen. Diese wirken bakterizid oder         Schleimhaut auf den Zahn trifft, findet sich das nicht
bakteriostatisch, manche agglutinieren auch einfach       vollständig ausdifferenzierte Saumepithel. Es be­
Keime, sodass sie besser durch den Speichelfluss          steht aus nur 3 bis 5 Zelllagen und ist über Hemi-
abtransportiert werden. Das Muster der Speichelin­        Desmosome am Zahn befestigt. Diese histologische
gredienzien ist übrigens von Mensch zu Mensch ver­        Besonderheit ermöglicht einen konstanten Sulkus­
schieden, was unterschiedliche Anfälligkeit erklärt und   fluss, angereichert mit Plasmaproteinen, Zytokinen,
diagnostisch sowie kriminaltechnisch eingesetzt           Immunglobulinen und Immunzellen11. Durch diese
wird1,5. Wie wichtig ein ausreichender Speichelfluss      Pforte erfolgt auch der Austritt und die Migration der
von 0,3 bis 3 ml/Min. ist, zeigt sich bei Hyposalivati­   neutrophilen Granulozyten (Neutrophile) in die ge­
on bzw. Xerostomie. Hier können sich ungehindert          samte Mundhöhle. Der Fundus mit seinem dünnen
Pilze oder auch säurebildende Karieserreger (Mutans-      Saumepithel wird regelmäßig durch Kauprozesse
Streptokokken, Laktobazillen) bzw. Parodontalpa­          und Mundhygienemaßnahmen bewegt und verletzt.
thogene (Aggregatibacter actinomycetemcomitans,           Dadurch werden Mikroben in tiefere Gewebe­
Porphyromonas gingivalis) ausbreiten und Krank­           schichten eingebracht. Sie können die epitheliale
heitsbilder deutlich verstärken6.                         Barriere aber auch para-, inter- oder transzellulär
                                                          durchdringen. Parodontalpathogene Keime, wie Por­
Die zweite Abwehrlinie: das Epithel                       phyromonas gingivalis oder Tannerella forsythia
                                                          und auch die hochbeweglichen, schraubenartigen
Die Mundschleimhaut ist eine Auskleidung der              Spirochäten mit Treponema denticola als dem be­
Mundhöhle. Sie besteht aus der bindegewebigen             kanntesten Vertreter, haben starke tryp­sinähnliche
Eigenschicht (Lamina propria), die auch Abwehrzel­        Proteasen, mit denen sie die verschiedenen Zellver­
len wie Lymphozyten und Makrophagen enthält,              bindungspunkte („Tight-“, „Adherence-“, „Gap-
und dem darüber liegenden mehrschichtigen Plat­           Junctions“, Desmosome) durchlöchern8 (Abb. 2).
tenepithel. Im Bereich des harten Gaumens, des            Andere Bakterien haben fimbrilläre oder nichtfim­
Zungenrückens und überall da, wo Beanspruchung            brilläre Adhäsine, mit denen sie an die Epithelober­
durch Kauprozesse erfolgt, ist die Schleimhaut            fläche binden und eine Endozytose, Invasion und
(para-)keratinisiert. Dort haben es auch Keime            Transmission erzwingen. Damit das nicht zu intensiv
schwer, selbst unter mechanischer Reizung invasiv         passiert, hat das Saumepithel eine beeindruckende
zu werden. Über etwa 10 % der Flächen ist die Mund­       Regenerationsrate. Es ist ein wahrer Jungbrunnen
schleimhaut aber eher dünn und nichtkeratinisiert,        mit vielen Überlebens- und Reparaturprogrammen.
was Interaktionen zwischen Mikroben, ihren Antige­        Bei normaler Abwehrfunktion sind bakterielle At­
nen, Allergenen und unserer Immunabwehr zulässt.          tacken und immunologische Abwehr – speziell im
Die sublinguale Schleimhaut beispielsweise lässt          Bereich des Saumepithels – im Gleichgewicht. Aber
sich bekanntermaßen zur Impfung mit Antigenen             ein so dynamischer Prozess kann natürlich nicht
oder zur Aufnahme von Drogen nutzen. Dies zeigt,          immer perfekt ausbalanciert sein. Wie wir wissen,
dass Antigenkontakte in Bereichen besonders dün­          zeigen 40 % der Erwachsenen gewisse Formen
ner Schleimhaut unseren Körper bzw. das Immun­            parodontaler Entzündungen. Phasen von reduzierter
system stimulieren, trainieren oder vergiften kön­        Homöostase (reversible Gingivitis) sind normal
nen11. Als Trainingshalle unserer immunologischen         und besitzen nicht die Gefahr einer Infektion. Wenn
Abwehr wird zumeist der Darm gesehen, aber auch           das immunologische Netzwerk über die Jahre aber
Teile der Mundhöhle übernehmen offensichtlich             an Robustheit verliert oder wenn die bakterielle
eine ähnlich wichtige Funktion.                           Attacke zu gewaltig oder zu aggressiv ist, entgleist
   Ein sehr vulnerabler Bereich der Mundhöhle ist         die Homöostase und es kommt zur irreversiblen,
der Sulcus gingivae. Die Sulkuswand ist zunächst          teils schweren Parodontitis.

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                                        2. Abwehrlinie: Epithel

                                                                                         Nucleus

                                                                      parazelluläre Invasion, Proteasen,
                                                                       Chemotaxis, aktive Bewegung

                                              Adhärenz
                                                                            transzelluläre Invasion

                                 Speichel-Sulkus – Epithelien
       Tight             Adherence
                                                    Gap              (Hemi-)                    transzelluläre
       Junctions         Junctions,
                                                    Junctions        Desmosome                  Passage
       Occludin u. a.    Cadherin

Abb. 2 Abwehrfunktion der Mundschleimhaut. Epithelzellen bilden eine mehrschichtige Mauer, die aber durchlässig
und kontaktfreudig konzipiert ist und so durch Rezeptoren und Verbindungsproteine den Keimen Möglichkeiten der
para- und transzellulären Invasion und Infektion bietet

Die dritte Abwehrlinie:                                    Im Folgenden sollen die wichtigsten Akteure dabei
das Immunsystem                                            vorgestellt werden.

Ein Teil der Immunabwehr liegt noch vor oder in der        Makrophagen und dendritische Zellen
Epithelschicht. Die hauptsächliche Immunabwehr             Sobald Keime die äußere Zellschicht der epithelia­
wird aber nach Durchtritt von Keimen in die tieferen,      len Barriere durchdrungen haben, lauern sogenann­
bindegewebigen Gingivaschichten provoziert (Abb. 3).       te mononukleäre Phagozyten. Dazu gehören dendri­

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                                 3. Abwehrlinie: Immunsystem
                                                             Makrophagen MØ
                                                          Leitstelle, Zytokin-Abgabe

                                                                                 MØ

                                                Nucleus

                                                                                       Neutrophile Granulozyten
                                                                                       Extravasation, Phagozytose,
                                                                                          Antigen-Präsentation

                                                                                              Dendritische Zelle
                                                                                             Vorgelagerte Abwehr,
                                                                                          Phagozytose, T-Zellaktivierung

                                                                                                         T-Zellen
                                                                                               Leitstelle, Zytokin-Abgabe,
                      transzelluläre Invasion                                                      B-Zell-Rekrutierung
                                                                                            B-Zellen Antikörperproduktion,
                                                                                             immunologisches Gedächtnis
                                                                      Natürliche Killerzellen
                                                                  Perforine töten entartete bzw.
                                                                  virusinfizierte Zellen, Apoptose

                                                                                  Knochenabbau durch
                                                                                    Immunkomplexe
                                 Epithelien – Immunsystem

Abb. 3 Abwehrfunktion des Immunsystems. Mit den Makrophagen und T-Zellen als Leitstellen der angeborenen,
unspezifischen bzw. erworbenen, spezifischen Immunabwehr steht ein komplexes Netzwerk zur Verfügung, um
konzertiert Keime und entartete (mutierte, virusinfizierte) Zellen zu eliminieren

tische Zellen wie auch rekrutierte Monozyten und               Interleukine (IL), speziell IL­1 und IL­8. Diese soge­
Makrophagen. Diese verhindern das weitere Vor­                 nannten proinflammatorischen Mediatoren führen an
dringen der allermeisten Bakterien bis in tiefe Ge­            der Innenseite der lokalen Gefäßwände (Endothel)
webeschichten.                                                 zur Bildung von Selektinen und „Intercellular ad­
    Makrophagen sind die Master der unspezifischen,            hesion molecule 1“ (ICAM­ 1). Hierbei handelt es
zellulären Immunantwort und bilden eine Art Leit­              sich um Moleküle, deren Aufgabe es ist in den Ge­
stelle. Nach Phagozytose der meist opsonisierten,              fäßen patrouillierende polymorphkernige neutro­
d. h. über Immunglobuline oder Komplementfakto­                phile Granulozyten (PMNG) abzufangen, ins Rollen
ren markierten Bakterien schütten die Makrophagen              zu bringen und nach Erweiterung der Gefäßwände
Zytokine aus, wie Tumornekrosefaktor (TNF­α) und               ihre Migration in die attackierten Gewebeschichten

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zu ermöglichen, wo sie sich schließlich anreichern.        zeigt sich in Patienten mit Mutationen in den korres­
Den oft auch als Granulozyten oder Neutrophilen            pondierenden Steuersystemen. Sobald eines dieser
abgekürzten PMNG ist unten noch ein eigener Ab­            Gene (z. B. ELANE, WAS, LYST, CXCR-4 oder ITGB2)
satz gewidmet.                                             in der Funktion betroffen ist, neigen die Personen
    Dendritische Zellen sind besonders imposant. Sie       zu schweren und aggressiven parodontalen Immun­
haben bäumchen- oder wurzelartige Ausläufer, die           pathologien11.
sie durch die interzelluläre Matrix bis hinauf zum             Neben den Eigenschaften der Phagozytose und
Deckgewebe strecken, um dort bereits nach ersten           Antigen-Präsentation besitzen Neutrophile noch die
Eindringlingen zu suchen. Sie üben als echte Wach­         Fähigkeit antimikrobielle Peptide wie LL-37 und „Hu­
posten und Alarmgeber übergeordnete Kontrollfunk­          man neutrophil peptide“ (HNP) sowie Stickstoffmo­
tionen der zellulären Immunantwort aus. Sie haben          noxid (NO) zu bilden und Netzwerke aus Proteinen
großen Einfluss, denn eine einzige dendritische Zel­       sowie Chromatin (DNA) als „Fallen“ aufzustellen.
le kann 100 bis 3.000 T-Zellen direkt aktivieren. Wei­     Diese noch wenig untersuchten „Neutrophil extra­
terhin spielen Sie eine wichtige Rolle bei der Selbst­     cellular traps“ (NET) wurden erst 2004 entdeckt2.
toleranz und schützen vor Autoimmunreaktion.                   Für die angemessene Immunantwort scheint es
Unter den dendritischen Zellen gibt es verschiedene        insgesamt wichtig zu sein, dass auf einen mikrobiel­
Subtypen. Die Bekanntesten dürften die Langer-             len Reiz hin genau die richtige Anzahl und Aktivität
hans’schen Zellen sein. Obwohl sie alle amöbenar­          der Neutrophilen stimuliert wird. Sowohl zu wenige
tig aussehen und bei ihrer Entdeckung fälschlicher­        als auch zu viele dieser Leukozyten führen zu einer
weise als Nervenzellen eingestuft wurden, können           irreversiblen, destruktiven Entzündung.
Sie doch sehr unterschiedlichen Ursprungs sein und
sich z. B. aus Monozyten oder Vorläufern von B-            Lymphozyten
oder T-Zellen entwickeln9.                                 T- und B-Zellen findet man zahlreich in der Gingiva.
                                                           Auch unter gesunden Bedingungen werden im Zu­
Polymorphkernige neutrophile                               sammenspiel dieser beiden Zelltypen spezifische
Granulozyten (PMNG)
                                                           Immunglobulin (Ig)A- und IgG-Antikörper produziert
Die zahlenmäßig wichtigste Abwehrlinie im Sulkus           und im Speichel sowie dem Sulkusfluid ausgeschie­
stellen PMNG dar. Sie machen hier 95 % aller Leuko­        den. Im Kontext mit Parodontitis haben B-Zellen und
zyten aus und steigen in der Anzahl proportional zu        ihre Antikörper sowohl protektive als auch immun­
einer Entzündung. Nicht weniger als 30.000 Neutro­         pathologische Wirkung. Antikörper-/Antigenkomple­
phile machen sich jede Minute auf den Weg, um ihre         xe sind stets auch entzündungsfördernd und tragen
keimabwehrende, phagozytierende Aufgabe in einer           beispielsweise zum Abbau des Alveolarknochens
menschlichen Mundhöhle zu verrichten. Die Granu­           durch Aktivierung von Osteoklasten und Inaktivie­
lozyten sind bekannt für ihre Rolle bei der Kontrolle      rung von Osteoblasten bei. Die T-Zellpopulation ist
der Mikrobenanzahl. Sie fressen und verdauen die           besonders gut untersucht. Unter gesunden Bedingun­
Eindringlinge, was noch nicht wirklich spannend ist        gen sind T4-Helferzellen die dominierende Fraktion.
und auf ihre Abstammung von Einzellern zurückzu­           Sie sind Teil des immunologischen Gedächtnisses.
führen ist. Gewissermaßen sind es domestizierte            Nach Kontakt mit aktivierten Makrophagen, dendriti­
Amöben. Eine tragende Rolle im immunologischen             schen Zellen oder Granulozyten (siehe oben) leisten
Netzwerk bekommen sie erst dadurch, dass sie nach          T-Zellen einen wichtigen Beitrag zur lokalen Patho­
der Verdauung die Essensreste – allesamt Anti­-            genabwehr. Unter den T-Zellen spielen die FOXP3+-
gene – auf ihrer Oberfläche präsentieren und               Zellen – auch „Treg“ („Regulatory T cells“) genannt –
durch Ausschüttung weiterer Zytokine als Nächstes          eine prominente Rolle zum Erhalt der Homöostase.
T-Helferzellen rekrutieren. Damit wird das Signal          Interessanterweise ist noch wenig darüber bekannt,
von der unspezifischen an die spezifische, also er­        wie genau die T- und B-Zellen in die Gingivagewebe
worbene Immunfunktion weitergeleitet. Wie wichtig          rekrutiert werden. Zudem ist wenig bekannt über die
Neutrophile bei der Kontrolle der Parodontitis sind,       Antigenspezifität der gingivaständigen T-Zellen11.

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                               4. Abwehrlinie: nützliche Mikroben

                 Streptococcus gordonii
                 Neuraminsäure-Bindung,
                Verdrängung der Pathogene

                                                                                                          Nucleus

                                                                      Bifidobacterium longum
                                                                Erhöhung der Tight Junctions-Expression

                                                                      Streptococcus salivarius
                                                                    Bacteriocin und H2O2-Produktion

                                                                          Lactobacillus spp.
                                                                    Bacteriocin und H2O2-Produktion

                                         Speichel-Sulkus     – Epithelien

Abb. 4 Abwehrfunktion durch „gute“ eu- oder probiotische Bakterien. Da wir nicht in einer sterilen Umgebung leben,
ist es wichtig die nützlichsten Bakterien wie z. B. einige Streptokokken, Bifidobakterien und Laktobazillen auf den
Epithelien anzureichern

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    Eine Unterart der T-Zellen sind die „natürlichen          Expression von Gewebematrixbestandteilen redu­
Killerzellen“. Diese Zellen erkennen entartete                zieren und so den intakten Zellverband des Epithels
menschliche Zellen, die z. B. mutiert oder durch Vi­          weiter durchlöchern14.
ren befallen sind. Nach Kontakt der Killerzelle mit               Schließlich sollte noch eine vierte Abwehrlinie in
der betroffenen menschlichen Zelle werden von ihr             der Mundhöhle Erwähnung finden (Abb. 4). Unter
zytotoxische Effektormoleküle (Perforine, Granzy­             den mehr als 700 oralen Bakterienarten gibt es
me) ausgeschüttet, die entartete Zellen für den Zell­         auch viele „gute“. Dazu zählen Laktobazillen, Bifido­
tod (Apoptose) programmieren. Auch sie besitzen               ­bakterien und auch bestimmte Streptokokken-Arten
wohl ein Gedächtnis, da sie bei Wiederauftreten der            (Streptococcus salivarius7, S. gordonii10, S. dentisani3).
veränderten Zellen schneller und stärker reagieren.            All diese „guten“ eu- oder probiotischen Bakterien­
So sind auch T-Zellen an dem Erhalt eines gesunden             arten produzieren dabei nicht nur H2O2, womit die
Gingivagewebes maßgeblich beteiligt.                          sauerstoffempfindlichen Anaerobier getötet werden,
                                                              sondern auch mehr spezifische, antimikrobiell wir­
Fazit                                                         kende, zelleigene Antibiotika, die wir Bacteriocine
                                                              nennen. Bacteriocine wirken zellwanddurchlöchernd
Die menschliche Mundhöhle hat mindestens drei                 und halten gefährliche Keime wie den roten Komplex
ver­schiedene Abwehrlinien entwickelt, um den                 oder auch Aggregatibacter actinomycetem­comitans
mikrobi­ellen und sonstigen Attacken entgegenzu­              in Schach3. Weiterhin stärken sie die epithelialen
wirken. Wie wir wissen, funktioniert dies aber nicht          Zellverbindungen. So erhöht z. B. Bifidobacterium
immer perfekt. Vor allem mit nachlassender Immun­             longum die „Tight Junctions“ (TJ)-Expression13 oder
funktion gibt es Lücken in der Abwehr. In einem lan­          besetzt auch einfach die Neuraminsäure-Reste an der
gen Prozess der Coevolution konnten z. B. parodon­            Epitheloberfläche, die sonst gerne von schädlichen
topathogene Bakte­rien eine Reihe von Mechanismen             Bakterien und selbst Grippe- bzw. SARS-Viren (als
entwickeln, um all diese Barrieren zu überwinden.             Nebenrezeptor zum Angiotensin-konvertierenden
Porphyromonas gingivalis und andere Proteolyten               Enzym 2 [ACE2]) für den Kontakt genutzt werden.
(siehe oben) können die Eiweiße der interzellulären               Der Einsatz von Antibiotika zur Verbesserung der
Matrix (E-Cadherin, Okkludin, Desmosome) zerstö­              Mundflora, z. B. im Rahmen einer Parodontitisthera­
ren und Bakterien dadurch die parazelluläre Trans­            pie, sollte auf ein Minimum beschränkt bleiben und
lokation ermöglichen (Abb. 2). Die Proteasen sind             nur bei wirklich invasiven Erkrankungsformen wie
zudem in der Lage Immunglobuline, Zytokine und                nekrotisierender ulzerierender Gingivitis (NUG) und
Komplement­  faktoren (Opsonine) zu spalten und               nekrotisierender ulzerierender Parodontitis (NUP),
zu inaktivieren. Die freigesetzten Proteine dienen            Abszessen, Periimplantitis oder aggressiven bzw.
diesen und anderen Keimen als Nahrungsquelle.                 hochgradigen Parodontopathien erwogen werden.
Dadurch wächst der Bio­film aufgrund der Tätigkeit            Es werden bei einer antibiotischen Therapie eben
einiger weniger Schlüssel­pathogene auch insgesamt.           nicht nur die Pathogene, sondern auch diese wichti­
Aggregatibacter actinomy­cetemcomitans hat zudem              gen eubiotischen Keime dezimiert und die von der
ein potentes Leukotoxin, das Granulozyten schnell             Natur entwickelten Gleichgewichtsprozesse mögli­
und effizient auflöst. Zudem kann dieser Keim die             cherweise nachhaltig gestört.

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                               Georg Conrads                                 Klinik für Zahnerhaltung,
                                                                             Parodontologie und Präventive
                               Univ.-Prof. Dr. rer. nat.
                                                                             Zahnheilkunde
                               Leiter Lehr- und Forschungsgebiet
                                                                             Universitätsklinik der Rheinisch-
                               Orale Mikrobiologie und
                                                                             Westfälischen Technischen
                               Immunologie
                                                                             Hochschule Aachen (RWTH)
                               E-Mail: gconrads@ukaachen.de                  Pauwelsstraße 30
                                                                             52074 Aachen

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