1.12. Frieden "aus dem Off". Dilemmata deutscher

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1.12. Frieden „aus dem Off". Dilemmata deutscher
      Außenpolitik
        Corinna Hauswedell

Deutsche Außenpolitik hat es nicht leicht. Das gilt nicht erst, seitdem der
französische Militäreinsatz in Mali die Frage nach dem europäischen Schul-
terschluss wieder aufgeworfen hat. Berlin ist nicht Paris, und schon gar nicht
London oder Washington. Aber die Rufe der größeren westlichen Staaten nach
Übernahme von mehr internationaler „Verantwortung" Deutschlands sind lau-
ter und präziser geworden; die aus der Zeit vor 1989/90 stammende, kalkulierte
Schonfrist für Deutschlands Teilhabe an westlicher Machtausübung ist unwi-
derruflich zu Ende. Gleichzeitig wächst bei den kleineren Partnern in der EU
aber auch der Unmut, wenn neues deutsches Selbstbewusstsein forscher daher-
kommt als es mit solidarischem Handeln vereinbar ist. Ökonomisches Schwer-
gewicht und militärisches Schattendasein scheinen nicht mit den prävalenten
Vorstellungen internationaler Handlungsmaxime zusammen zu passen
     Im Auswärtigen Amt (AA), das schon während der Bonner Republik und
nicht erst seit der EU-Krise oft unter der Kanzler(in)dominanz litt, wird über
„Außenpolitik als Netzwerk" 1 nachgedacht, während Angela Merkel mit und
neben ihrem Verteidigungsminister ein Programm der „Ertüchtigung" auflegt,
das auf den Export von deutschem Militär~Know-How aller Art auch in Kri-
senregionen hinausläuft (vgl. Beitrag 1.10.). Die friedensengagierten Bürge-
rinnen und Bürger, inzwischen in vielfältigen Formen ziviler Konfliktbearbei-
tung - auch im Ausland - unterwegs, bilden allerdings immer noch den Humus
eines aus der deutschen Geschichte wohl begründeten Antimilitarismus: Na-
hezu zwei Drittel der Bevölkerung stehen Kampfeinsätzen der Bundeswehr
weiterhin skeptisch bis ablehnend gegenüber. Angesichts der Afghanistan-
Erfahrungen erlebe Deutschland gar „einen Rückfall in den Pazifismus". 2
     Dass Außenpolitik immer häufiger auf Sicherheitspolitik verengt wird und
dabei friedenspolitische Imperative ins Off gedrängt werden, ist das Thema des
vorliegenden Beitrages. Übernahme von „Verantwortung" meint heute eher
den Waffengang als den politischen Dialog mit Konfliktparteien oder die ent-
wicklungspolitische Investition. Für die Verteidigung nationaler Wirtschafts-
interessen und die Installation einer „vernetzten Sicherheit" wird zusehends
1   Thomas Bagger: Netzwerkpolitik. In einer veränderten Welt wachsen dem Auswärtigen
    Dienst neue Aufgaben zu, in: Internationale Politik (2013): 1, S. 47 .
2   Der Spiegel, 25.03.2013, S. 26.
FRIEDEN „AUS DEM OFF"

der entgrenzte Raum der Globalisierung beansprucht, z.B . ,,am Hindukusch"
oder auf dem afrikanischen Kontinent. Das kollidiert mit dem alten Narrativ
der (militärischen) ,,Zurückhaltung", das - auch als Konzession an deutsche
Mehrheitsbefindlichkeiten - wie eine Endmoräne aus der Zeit des Kalten Krie-
ges bis in die Gegenwart reicht. Ist Friedensförderung, wie es unser Grundge-
setz an mehreren Stellen gebietet, noch ein Hauptziel der Arbeit im Auswärti-
gen Amt? Der wieder entfachte Diskurs über deutsche Außenpolitik 3 markiert
Wegkreuzungen der jüngeren Vergangenheit, die auf einen Richtungswechsel
und Verlust an normativer Orientierung schließen lassen. Was treibt deutsche
Außenpolitik heute an? Welchem Primat folgen ad-hoc-Entscheidungen und
strategische Weichenstellungen der Kanzlerin und des Außenministers?

Führungsstärke und Bündnistreue
Zu den Auftaktthemen der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz ge-
                                                                     '
hörte auch die künftige Rolle der Gastgeberin in der Welt. Die Ermunterung
des britischen Historikers Timothy Garton Ash sprach vielen Teilnehmern aus
dem Herzen: ,,Es sei die normalste Sache der Welt für eine mächtige Nation,
dass von ihr Führungsstärke verlangt wird - und dass sie dann mit Kritik leben
müsse, wenn sie diese zeige. " 4
     Der Wunsch nach deutscher Führung ist ambivalent und bezieht sich auf
den Einsatz finanzieller und militärischer Mittel; das wird unter „normal" ver-
standen. Angela Merkels Euro-Rettungs-Sparkurs ist zwar hart umstritten aber
de facto bisher ohne durchsetzungsfähige Alternativen: Die deutsche Eiserne
Lady genießt hohes Ansehen als „mächtigste Frau der Welt", auch wenn man
sich ihre Lektionen in Paris, Rom, London und anderswo gern verbittet. Der
französische Präsident, der seine Soldaten im November 2012 vorzeitig aus
Afghanistan abzog, während Deutsche wohl auch nach 2014 noch dort sein
werden, 5 wünschte sich von der Kanzlerin Schützenhilfe in Mali - und bekam
sie, wenn auch weniger umfangreich als gedacht. Bei den Iran-Gesprächen
    Vgl. u.a. Hanns W. Maull: Deutsche Außenpolitik: Orientierungslos, in: Zeitschrift für
    Politikwissenschaft 21 (2011): 1, S. 93-117; Ulrich Roos: Deutsche Außenpolitik nach
    der Vereinigung. Zwischen ernüchtertem Idealismus und realpolitischem Weltordnungs-
    streben, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 19 (2012): 2, S. 7-40; Eberhard
    Sandschneider: Deutsche Außenpolitik. Eine Gestaltungsmacht in der Kontinuitätsfalle,
    in: APuZ (2012): 10, S. 3-9.
4   Spiegel Online vom 03.02.2013, http://www.spiegel.de/politik/ausland/deutschlands-
    neue-rolle-weltmacht-wider-willen-a-813285.html.
5   „Wir haben aus Afghanistan gelernt." Verteidigungsminister de Maiziere über Einsätze
    deutscher Soldaten im Ausland, Interview in: Süddeutsche Zeitung, 4./5 .11 .2012, S. 5.

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CORINNA HAUSWEDELL

sitzt Deutschland im Format „Fünf plus Eins" mit am Verhandlungstisch, eine
Position, die sich im UN-Sicherheitsrat trotz vielfacher Bemühungen Berlins
in den vergangenen Jahren bisher nicht einnehmen ließ.
     Deutschland ist die „Auch-dabei-Macht", 6 ohne, die international vieles
nicht mehr geht. Für die meisten Bürgerinnen und Bürger der Berliner Re-
publik, aber auch für Teile der politischen Elite ist allerdings ein passender
Umgang mit der neuen Machtfülle noch nicht gefunden. Wird Berlin ein „idea-
les Beispiel für eine moderne geoökonomische Macht" 7 , die zur Einflussnah-
me vorwiegend auf Handelsstrategien statt auf militärischen Druck setzt, oder
funktioniert Machtausübung eben doch nicht ohne den stick und geht es nur
darum, wo und wann er zum Einsatz kommt? Das Leitbild der „Zivilmacht",
mit dem Deutschland im vielstimmigen Chor der EU-Außen- und Sicherheits-
politik seit den 1990er Jahren versuchte einen eigenen Ton anzugeben, hat Fe-
dem gelassen. Soft und hard power scheinen schwer in Einklang zu bringen,

Deutsche Macht- zufällig, widerwillig, eingehegt?
,,Germany - The accidental empire" (,,Weltreich per Zufall") titelte eine Se-
rie im britischen Guardian im Herbst 2012, mit der das linksliberale Blatt
herausfinden wollte, ,,wie das vielleicht am meisten missverstandene Land
Europas [ ... ] tickt." 8 Die Ergebnisse waren erhellend, es kamen nicht nur
Elite-Meinungen zu Wort. Empfohlen wurde den ehemals „hässlichen" Deut-
schen, weniger Ängstlichkeiten sondern ein ähnliches Selbstvertrauen in ihre
(zivile) Kultur und Politik zu entwickeln wie in ihre Wirtschaftskraft. Man-
ches erinnert an Debatten vor mehr als 20 Jahren: Während damals Autoren
der realistischen Schule (,,Weltmacht wider Willen" von Christian Hacke oder
,,Angst vor der Macht" von Gregor Schöllgen) aus dem Zugewinn an deut-
scher Souveränität seit 1990 neben Hemmnissen vor allem Chancen für ei-
ne neue außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands ableiteten, priesen
Vertreter der Friedens- und Konfliktforschung vor allem das „Friedensprojekt
Europa" (Dieter Senghaas): Dies sollte der Raum sein, in dem durch zivilisato-
rische Einhegung und Delegation nationaler Macht im multilateralen Kontext
auch Deutschland seine künftige Rolle finden würde. Die Rede von der „Welt-
innenpolitik" schien einen neuen Horizont diesseits klassischer außenpoliti-
scher Paradigmen zu eröffnen; ,,Kluge Macht" sollte neben den staatlichen Ak-
6     Daniel Brössler: ,,Die Auch-dabei-Macht", in: Süddeutsche Zeitung, 22/23 .09.2012, S. 4.
7     Hans Kundnani: Paradoxon Deutschland. Eine geoökonomische Macht in der Zwickmühle.
      in: Internationale Politik (2011): 6, S. 62-67.
8     Kate Connolly: ,,Bitte etwas mehr Selbstvertrauen!" in: Süddeutsche Zeitung.
      22./23.09.2012, s. 23.

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FRIEDEN „AUS DEM ÜFF"

teuren auch die relevanter gewordene „Gesellschaftswelt" zum Einsatz bringen
(Ernst-Otto Czempiel). Arbeiten am Konzept von Global Governance erlebte
einige Jahre der Konjunktur - auch in den Stuben des AA und mehr noch
im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(BMZ).

Tabubruch Kosovo
Wie erklärt sich, dass die vom Eis des Kalten Krieges befreiten Jahre zugleich
eine Aufwärmphase für den Probelauf deutscher Außenpolitik in Sachen mi-
litärischer Handlungsfreiheit wurden? Die (bis heute kontroverse) Beteiligung
der Bundeswehr am Luftkrieg der NATO im Kosovo 1999 wurde möglich, ers-
tens weil der Erwartungsdruck des Militärbündnisses gegenüber Deutschland
(und Europa) nach der Eskalation auf dem Balkan unmissverständlich hoch
geworden war, zweitens weil die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen im Rah-
men kollektiver Sicherheitssysteme durch das umstrittene Out-of-area-Urteil
des Bundesverfassungsgerichts von 1994 prinzipiell bestätigt worden war, und
schließlich weil die 1998 ins Amt gekommene rot-grüne Bundesregierung ein
humanitäres Argument ins Feld führte, das in einer Zeit neuer Aufmerksam-
keit für menschliche Sicherheit jeden moralischen Zweifel erübrigte: Die Par-
allele zum Holocaust, der größten Katastrophe der deutschen Geschichte, die
Außenminister Joschka Fischer als Begründung dafür anführte, erstmals seit
dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten und Kampfflugzeuge in den
Krieg zu schicken, hatte Signalwirkung. Dieser Vergleich erlaubte es vielen
Militärskeptikern (auch in den Regierungsparteien) der Intervention zuzustim-'
men. Gegenüber den Bündnispartnern wurde ein „verheerender Ansehens- und
Bedeutungsverlust" - so der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder - ver-
mieden. Mit der Kriegsbeteiligung vollendete die Schröder-Fischer-Regierung
de facto die 1991 nicht unumstrittene Anerkennungspolitik des früheren Au-
ßenministers Hans-Dietrich Genscher gegenüber Slowenien und Kroatien. 9
     Rückblickend halten die 1990er Jahre eine paradox anmutende Lehre für
die deutsche Außenpolitik bereit: Weder klassische Diplomatie noch Militär-
politik konnten angesichts des zerbrechenden Jugoslawiens rechtzeitig eine
friedensfördernde Rolle entfalten; im Falle Bosniens nicht, weil deutsche In-
teressen und alte Machtverbindungen einseitig gegenüber den Konfliktpartei-
en ausgespielt wurden, im Falle Kosovos nicht, weil Bündnistreue und der
Schutz der Menschenrechte eine - wiederum einseitige - Machtexekution le-
9   Vgl. ,,Brennend nach Aktion", in: Spiegel 26/1995, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-
    9199049.html.

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gitimierten, anstatt einen Dialog zur Vermittlung und Vertrauensbildung mit
beiden Seiten, Albanern und Serben, zu generieren. Am Ende stand, dass erst-
mals seit 1945 wieder Ziele deutscher Außenpolitik mit kriegerischen Mitteln
durchgesetzt wurden. Darin bestand der eigentliche Tabubruch, den man je
nach Standort als Sündenfall oder doch als nachhaltige Infragestellung der bis
dahin vorherrschenden Kultur der Zurückhaltung bezeichnen kann.
    Für die im Jahre 2000/01 begonnene Debatte um eine Responsibility to
Protect (R2P) und für künftige Fälle einer Bundeswehrbeteiligung an Kampf-
einsätzen wirkte Fischers Argument wie eine mentale Folie - mit der Kon-
sequenz, dass pazifistische Positionen und völkerrechtliche Bedenken in der
deutschen Gesellschaft zurückgedrängt wurden. Noch hat sich R2P allerdings
international nicht als neue ethische Maßgabe, , die Schutzverantwortung und
Friedenspflicht der UN-Charta in Übereinstimmung bringen könnte, et~blieren
können - das liegt nicht zuletzt an der mangelnden moralischen Selbstbindung
des Westens in der folgenden Dekade des Interventionismus.

Der 11. September 2001 als Katalysator militärisch
gestützter Außenpolitik
Nach den Angriffen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und
das Pentagon potenzierte sich der bündnispolitische Druck derart, dass, nach-
dem Bundeskanzler Schröder seine Versicherung der „uneingeschränkten So-
lidarität" mit den USA abgegeben hatte, eine Teilnahme der Bundeswehr am
UN-mandierten ISAF-Einsatz in Afghanistan außer Frage stand. Der von der
US-Führung ausgerufene war on terror provozierte Kursänderungen für die
Außenpolitiken der meisten in Koalitionen mit den USA verbundenen Staa-
ten: Feindbildprojektionen zwischen westlicher und vom Islam geprägter Welt
dominierten weithin die internationale Kommunikation in der ersten Dekade
des 21. Jahrhunderts; das Paradigma des „Terrorismus" führte zu einer Priori-
sierung militärischer Handlungsmaxime und Interventionen in Krisenregionen
und zum Einsatz neuer Waffensysteme, z.B. der Kampfdrohnen. Die nach dem
Ost-West-Konflikt begonnene Abrüstung stoppte, die internationale Rüstungs-
industrie konnte zwischen 2002 und 2009 Umsatzsteigerungen von bis zu 50
Prozent verbuchen.
    Parallel wurden diplomatische Strategien und Konzepte der Deeskalation
und Vertrauensbildung in den Hintergrund gedrängt. Ansätze zur Entwicklung
einer zunächst von Deutschland favorisierten Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik (GASP) der EU-Staaten stagnierten; der unter Vorspiegelung

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FRIEDEN „AUS DEM ÜFF"

falscher Tatsachen im März 2003 begonnene völkerrechtswidrige Irakkrieg der
USA, Großbritanniens und einer Koalition der Willigen stellte die Mitglieder
der EU vor eine Zerreißprobe. Im Rückblick räsoniert der ehemalige Außen-
minister Fischer, dass „ein isoliertes Nein Deutschlands" die Einbindung ins
westliche Bündnis in Frage gestellt hätte: ,, . . . dieser Preis einer grundsätz-
lichen Revision der außenpolitischen Grundsätze Deutschlands wäre für mich
ein zu hoher Preis gewesen ... ". 10 Das blieb dem deutschen Außenminister
bekanntlich erspart; es sollte eine ausreichende europäische Abstinenz gegen-
über dem Kurs von US-Präsident Bush jun. geben, um keinen deutschen „Son-
derweg" gehen zu müssen. Und später gab es genügend indirekte deutsche
Unterstützung durch Gewährung von Überflugrechten und Bereitstellung von
nachrichtendienstlicher Hilfe, um den innenpolitischen Tribut an die deutsche
Kriegsgegnerschaft mit der Bündnistreue in einer labilen Waage zu halten.

Armee im Einsatz ...
Die im Dezember 2003 unter Javier Solana verabschiedete European Security
Strategy (ESS) war ein deutlicher Reflex der EU auf die Anforderung aus Wa-
shington, sich in der post-9/11-Welt auch militärisch zu engagieren. Es war der
Versuch, eine Teilnahme am war on terror mit dem verblassenden Zivilmacht-
anspruch zu versöhnen. Das Dilemma war nachhaltig: Mit der Bedrohungs-
analyse der ESS wurden so unterschiedliche Probleme, Risiken oder Gefahren
der globalisierten Welt wie Armut, Klimawandel, Ressourcenknappheit und
Terrorismus in einer Weise zusammen gedacht, dass die Trennschärfe verloren
ging, die es ermöglicht (und erfordert), deutlich zwischen zivilen und militäri-
schen Mitteln des Umgangs mit ihnen zu unterscheiden. Es entstand das auch
intellektuell zunächst attraktive, rückblickend jedoch ambivalente Mantra der
„erweiterten Sicherheit" (vgl. Friedensgutachten 2006, Beitrag 1.4.). In seiner
operationalisierten Form als „vernetzte Sicherheit" fand zivil-militärische Ko-
operation Eingang in wichtige außen- und sicherheitspolitische Regierungsdo-
kumente wie das Weißbuch 2006 und die Verteidigungspolitischen Richtlinien
und leitete fortan die Planungen für die „Armee im Einsatz" an - inzwischen
elf Missionen mit 6.540 Soldaten.
    Dass seither eine „Normalität" den Charakter und Typus der deutschen
Streitkräfte betreffend Einzug hält, die auf Dauer der Selbstverständlichkeit ei-
ner französischen oder britischen strategischen Kultur nicht nachstehen muss,
wird erstaunlicherweise auch von erfahrenen Analytikern wie etwa Hanns W.
lO Joschka Fischer: ,,I am not convinced". Der Irak-Krieg und die rot-grtinen Jahre, Köln
   2011, s. 194.

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Maull unterschätzt. Er konstatiert, ,,dass es bis heute nicht zu einer wirkli-
chen Integration des militärischen Instrumentariums in das außenpolitische
Rollenkonzept [ .... ] Deutschlands gekommen ist"; 11 bei den Veränderungen
handle es sich weniger um einen substanziellen Wandel als um schleichende
Anpassung. Ulrich Roos sieht dagegen eine inzwischen „drastisch veränderte
Identität deutscher Außenpolitik", in der am offensichtlichsten die Militärein-
sätze als Ausdruck verlässlicher Partnerschaft gelten und als „selbstverständ-
liches Tauschobjekt für internationales Prestige und Gestaltungsansprüche" 12
Deutschlands auf der Weltbühne fungieren.

. . . Kompass ausgeleiert
Treffend erscheint das Bild vom „ausgeleierten Kompass der deutschen Au-
ßenpolitik", 13 mit dem sich so widersprüchliche Vorgänge wie der inzwischen
zwölfjährige Afghanistaneinsatz, das halblaute Nein zum Irak-Krieg oder die
Enthaltung von Außenminister Westerwelle zur UN-Resolution 1973 im Fal-
le Libyens vor zwei Jahren beschreiben lassen. Die Libyen-Entscheidung der
Bundesregierung, nicht unwesentlich als Tribut an deutsche Wähler gedacht,
hatte den Amtsvorgänger Fischer veranlasst, vom „vielleicht größten außen-
politischen Debakel seit Gründung der Bundesrepublik" 14 zu sprechen: vor al-
lem wegen der Brüskierung der westlichen Partner und dem deshalb befürchte-
ten Gesichts- und Gewichtsverlust als Führungsmacht. Ähnlich argumentierten
Parteiführer der FDP, CDU und SPD. Rückblickend nimmt sich der bündnispo-
litische Schaden jedoch weniger drastisch aus, während der Befriedungserfolg
in Libyen zweifelhaft bleibt. Als Blaupause in Sachen Schutzverantwortung
erwies sich die Militärintervention in Libyen ungeeignet. Die menschenrecht-
liche Dimension in Syrien etwa wird zunehmend durch die Logik eines fata-
len Stellvertreter-Bürgerkrieges überlagert (vgl. Beitrag 3.1.). Zu virulent sind
in der Region des Nahen Ostens die mit dem Arabischen Frühling aufgebro-
chenen inneren und äußeren Interessenkonflikte, um aus friedensförderlicher
Perspektive eine Parteinahme in Gestalt von Bewaffnung oder Intervention be-
fürworten zu können.

11    Maull, a.a.O., S. 99.
12    Roos, a.a.O., S. 33.
13    Maull, a.a.O., S. 115.
14    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/libyen-politikfiasko-fisch er-rechnet- mit-
      nachfolger- westerwelle- ab-a- 782882.html.

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FRIEDEN „AUS DEM ÜFF"

Keine Grand Strategy in Sicht
Die Verunsicherung darüber, was seit dem 11. September 2001 durch eine Mi-
litarisierung der internationalen Beziehungen bewirkt wurde - auch hinsicht-
lich neuer innergesellschaftlicher Fragmentierungen in Ländern, die sich von
autoritären Regimes befreiten - sitzt tief. Das ist auch in der deutschen Außen-
politik spürbar. Die deutsche Libyen-Entscheidung, die auch als ein Rückgriff
auf die Politik der Zurückhaltung gedeutet werden kann, mag Ausdruck die-
ser Verunsicherung gewesen sein. Eine seriöse und nüchterne Bilanz dessen
aber, was denn das Militär in Afghanistan, auch im Tandem mit zivilen Ent-
wicklungsvorhaben, tatsächlich bewirkt (und nicht bewirkt) hat- gemessen an
den Zielen und Mandaten der Einsätze - steht bis heute aus. Der in der ZEIT
zu Jahresbeginn als ,,Anti-Interventionist" porträtierte Außenminister soll an-
gesichts des syrischen Dilemmas gesagt haben: ,,Ein gewisser Neobellizismus
bei uns ist erschreckend. Als seien militärische Lösungen das Allheilmittel in
einer immer komplizierter werdenden Zeit." 15 Beim Wort genommen könnte
dies Auftakt für eine öffentlich geführte strategische Debatte darüber werden,
welche (nationalen oder anderen) Interessen jenseits der Landesverteidigung
denn überhaupt den Einsatz von Militär rechtfertigen. Bisher gibt es stattdessen
innerhalb der Bundesregierung unterschiedliche Ansätze, sich des ausgeleier-
ten Kompasses entweder zu bedienen oder an seiner Neujustierung zu arbeiten.
Ob dies als „Deutungskampf um die Ausrichtung deutscher Außenpolitik" 16
zu bezeichnen wäre, womöglich zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt,
könnte im Vorfeld der Bundestagswahlen ein spannender Aspekt der Debatte
werden.

Auf dem Weg zu einer Merkel-Doktrin?
„Interessengeleitet und wertegebunden" sollte die deutsche Außenpolitik laut
Koalitionsvertrag der Bundesregierung sein. Man könnte der Kanzlerin zu-
gute halten, dass das Vorhaben, künftig zunehmend sogenannte Drittstaaten,
das heißt auch Regierungen in Krisenregionen, durch Waffenlieferungen aus
Deutschland zu „ertüchtigen", 17 um in ihrem Umfeld für Ordnung zu sorgen,
besser sei als selbst Kriege zu führen. Aber streng genommen geht hier der
Abbau aller drei Säulen vonstatten, auf denen der alte Konsens deutscher Au-
ßenpolitik beruht: Multilateralismus und Westbindung (never alone), ein auf
15 Matthias Nass: ,,Der Anti-lnterventionist", in: DIE ZEIT, 31.01.2013, S. 9.
16 Jörg Lau: ,,Das bisschen Unterdrückung", in: DIE ZEIT 21.02.2013, S. 7.
17 http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2012/10/2012-10-22rede-merkel-
   bundeswehr.html.

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deutscher Vergangenheit fußendes Werte- und Menschenrechtsbekenntnis (ne-
ver again) und Skepsis gegenüber Militärmacht (politics before force ). Aus der
Perspektive von Friedensförderung und Konfliktforschung gibt es weitere ge-
wichtige Gegenargumente: Alle bisherigen Erfahrungen mit dem Export von
Rüstungsprodukte an Staaten mit fragilen oder autoritären Strukturen zeigen,
dass sich der Umgang mit ihnen nicht konditionieren oder kontrollieren lässt;
vielmehr steigt das Risiko eines unerwünschten Einsatzes bzw. der Weiterver-
breitung dieser Waffen - mit der Folge von Gewalteskalation und Destabili-
sierung samt der Schaffung neuer Feinde, die man glaubte im Zaum halten
zu können. Jüngstes Beispiel: Mali. ,,Waffen schaffen keine Stabilität!" lautete
deshalb das Memento des Waffenexportberichts der GKKE für 2012. 18 Man
muss kein grundsätzlicher Gegner von Rüstungsexporten sein (kann es aber
werden), um zu sehen, dass hier ein Zielkonflikt vorliegt, bei dem die Inter-
essen der Rüstungsindustrie Vorrang vor den Werten menschlicher Sicherheit
erhalten (vgl. Beitrag 1. 10.).
     Der Staat, der bereits trotz vergleichsweise restriktiver Richtlinien zum
Waffenexporteur Nr. 3 der Welt avancierte, hebelt nun zentrale ethische Stan-
dards aus, um Rüstungstransfer zu einem noch lukrativeren Bestandteil der
Außenpolitik zu machen. Diese möglicherweise als „Ersatzhandlung für die
unpopulären Auslandseinsätze" 19 ' gedachte Politik kann doch wohl nicht als
Ausweis deutscher Glaubwürdigkeit gelten - weder zu Hause noch interna-
tional! Man tut den Vorstößen aus dem Kanzleramt jedoch zu viel Ehre an,
wollte man hier schon eine neue „Doktrin" konstruieren. Wäre es so, dann
würden die Widersprüche und Glaubwürdigkeitsdefizite offenkundiger als es
bei dieser „Anpassung" an neue Realitäten gewünscht ist. Dafür bedarf es eben
gerade keiner Grand Strategy; die Dinge geschehen unter der Hand viel effek-
tiver. Und die Geheimhaltungspolitik des Bundessicherheitsrates, wo die meis-
ten dieser Entscheidungen fallen, ist ein wesentlicher Hebel zur Verhinderung
der notwendigen, transparenten Debatte.

Außenpolitik als „Netzwerkpolitik"?
Harmlos und fast trivial nehmen sich neben dem Ertüchtigungsprogramm der
Kanzlerin die Überlegungen im Planungsstab des AA aus, Außenpolitik heu-
te vor allem als „Netzwerkpolitik" zu definieren und dabei dem Ministerium
18 http://www.bicc.de/fileadmin/Dateien/pdf/press/2012/gkke_2012/REB _20 l 2_f%C3%
   BCr_Bundespressekonferenz. pdf.
19 Joachim Käppner: ,,Rüstungsexporte. Frieden schaffen mit mehr Waffen", in: Süddeutsche
   Zeitung, 12.02.2013, S. 4.

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FRIEDEN „AUS DEM ÜFF"

eine „Plattformfunktion" zuzuschreiben. 20 Wirtschafts- und Finanzpolitik im
Rahmen der EU-Krise einerseits und die Militäreinsätze der letzten Jahre, die
neue Rolle von Armee und Rüstung andererseits scheinen der traditionellen
Außenpolitik die Schau gestohlen zu haben. Zu wenig hört man vom schwie-
rigen Geschäft präventiver Bemühungen, Erfolgen und Rückschlägen im Vor-
feld von Krisen oder von Vermittlungsstrategien zur Deeskalation von heißen
Konflikten. Machtpolitische Ambitionen sind keine guten Ratgeber für zivi-
le Formen der Konfliktbearbeitung, bei der es zuvorderst um „gleiche Augen-
höhe", Respekt und Geduld geht. Parteinahme wirkt sich für einen mäßigenden
Zugang zu wichtigen Konfliktakteuren meist negativ aus. Warum scheiterten
z.B. im Vorfeld der Militärintervention in Mali alle auf Verhandlungen mit den
Konfliktparteien angelegten Strategien? Der Europäische Auswärtige Dienst
(BAD) scheint hier keine Relevanz gehabt zu haben. Es darf bezweifelt wer-
den, dass politische und militärische Lösungswege überhaupt erfolgreich par-
allel beschritten werden können. Zu häufig schlossen sich in der Vergangenheit
die Türen des Dialoges, wenn erst die Waffen sprachen. Zu solchen Fragen liest
man nichts im Netzwerk-Konzept des AA. Es kommt nahezu ohne inhaltliche
Bestimmungen aus, hangelt sich an sicherlich wichtigen Strukturfragen wie
Ressourcenbündelung, linkages, Konsultationsformaten etc. entlang.
     Zwar heißt es, dass eine Analyse von unterschiedlichen Interessenlagen
in der Weltpolitik ins AA gehöre, aber nicht, unter welchem Leitmotiv, mit
welchen Kriterien und Maßstäben dies geschehen soll. Neben einer kritischen
Bilanz militärischer Konfliktinterventionen müsste die Berliner und Brüsseler
Außenpolitik der Frage nachgehen, woran die meisten multilateralen Gipfel
der vergangenen Jahre (Doha, Rio +20, u.a.) scheiterten. Denn dort ging es um
das Austarieren konfligierender, aber mit Blick auf künftiges Zusammenle-
ben interdependenter Interessen in Nord, Süd, Ost und West, z.B. hinsichtlich
gerechter Ressourcenverteilung und nachhaltiger Klima- und Energiepolitik.
Man möchte die Debatte darüber nicht den neukonservativen Denkern in der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) überlassen, die an-
gesichts dieses Scheiterns für eine entschiedenere Kombination des Multi-
lateralismus „mit machtpolitischen Kriterien" plädieren. 21 Sicherheit als ge-
meinsames Gut anstatt als Schutz vor anderen zu entwickeln, wäre dagegen
die außenpolitische Aufgabe der Zeit. Dazu sind Politikfelder (und Regionen)
zu identifizieren, bei denen Interessenausgleich ohne Machthabitus, also Win-
win-Situationen, erfolgreich implementiert werden können: z.B. eine neue Ein-
wanderungspolitik der EU gegenüber den nordafrikanischen Gesellschaften.
20 Bagger, a.a.O., S. 49.
21 Sandschneider, a.a.O.

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CORINNA HAUSWEDELL

Was wollen wir mit wem „gestalten"?
Außenpolitik kann sich weniger denn je auf die Durchsetzung nationaler In-
teressen konzentrieren, sondern ist die Kunst, diese mit den Interessen der an-
deren, vor allem auch der schwächeren Staaten und Gesellschaften in Bezie-
hung zu setzen und auf einen fairen Ausgleich der großen Asymmetrien der
Globalisierung hinzuwirken. Mit diesem überwölbenden, normativen Leitmo-
tiv müsste die Verantwortung von „Gestaltungsmächten" ausgestattet werden.
Stattdessen liest sich das entsprechende Konzept der Bundesregierung 22 eher
wie ein wohl formuliertes Abstecken von claims mit den Stärkeren: An Staaten
wie die BRICS, die zu den ökonomischen Aufsteigern der letzten Jahre gehö-
ren, wird das Attribut „Gestaltungsmacht" vergeben, ohne dass Deutschland
sich selbst - Ausdruck eines subtilen Paternalismus? - als eine solche outen
möchte. In dem Konzept klingen zwar noch Themen von früher nach wie et-
wa Global Govemance, aber es weht ein neuer Geist von Weltordnungshybris
durch den Text - friedensrelevante Schlüsselbegriffe wie Gerechtigkeit oder
Solidarität sucht man vergebens.
    Jede Außenpolitik, die sich demokratisch legitimieren will, ist damit kon-
frontiert, dass nationale Interessen nicht per definitionem einheitlich sind -
weder im Inneren noch folglich in der Außenvertretung. Ein „freier Zugang"
zu Ressourcen und Handelswegen beispielsweise mag für Teile der deutschen
Industrie höchste Priorität haben, mit dem Interesse der vielen Bürger an einem
gedeihlichen Zusammenleben und kulturellen Austausch mit Menschen ande-
rer Regionen kann das kollidieren. Das Bild der Deutschen im Ausland- auch
als Resultat deutscher Außenpolitik - setzt sich deshalb aus sehr unterschied-
lichen Handlungen und ihren Akteuren zusammen. Der Primat der Friedens-
förderung ist am besten geeignet, einen normativen Kompass für außenpoliti-
sche Entscheidungen abzugeben, die immer sowohl interessengeleitet als auch
wertegebunden sind. Das explizite Bekenntnis zur historisch besonders be-
gründeten, deutschen Gestaltungsverantwortung für Frieden gehört dazu und
darf nicht Opportunitäten wie der Sorge um Gesichts- oder Gewichtsverlust
geopfert werden.

22 Auswärtiges Amt (Hrsg.): Globalisierung gestalten - Partnerschaften aus-
   bauen - Verantwortung teilen. Konzept der Bundesregierung, Berlin 2012,
   http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/608384/publicationFile/164370/
   Gestaltungsmaechtekonzept. pdf.

190
FRIEDEN „AUS DEM OFF"

Primat der Friedensförderung ernst nehmen
Die gegenwärtige Berliner Außenpolitik lässt einen klaren Primat vermissen.
Die Verlockungen ökonomischer Macht haben eine Verengung des Interessen-
begriffs bewirkt und bedrohen einen Wertekodex, der sich von Respekt und so-
lidarischem Umgang leiten lässt. Die Operationalisierung von Friedenspolitik
seit 9/11 als „vernetzte Sicherheit" war ein folgenschwerer Irrweg, der nicht
dadurch verzeihlicher wird, dass er im Rahmen des westlichen Bündnisses be-
schritten wurde. Zu sehr geriet das Bündnis zur Raison d'etre, zu wenig zum
Ort der Klärung widerstreitender Interessen. Ohne eine kritische Bilanz der
militärpolitischen Dominanz in der internationalen Politik der letzten zwölf
Jahre wird es keine Neujustierung friedensgerichteter Außenpolitik geben.
     Dabei sind zentrale Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung und
die gewonnenen Erfahrungen ziviler Konfliktbearbeitung in den Blick zu neh-
men: insbesondere die negativen Dynamiken, die in Gewaltkonflikten ausge-
löst werden, wenn es nicht gelingt, die zugrunde liegenden sozialen und poli-
tischen Konfliktursachen zu adressieren. Die Ernüchterung, die der Interventi-
onseuphorie der letzten zwei Jahrzehnte hinsichtlich des Aufbaus von Demo-
kratie und Gerechtigkeit folgte, betrifft zuvorderst den Einsatz und die Weiter-
verbreitung von Waffen als - untaugliche - Gegen-Gewaltmittel. Deshalb ge-
hören neue deutsche Initiativen für die ins Stocken geratenen internationalen
Abrüstungsforen (vgl. Beitrag 1.11.), inklusive der Debatte um die Ächtung
von Kampfdrohnen nach oben auf die außenpolitische Agenda. Die „Delegiti-
mierung von Gewalt" gilt als „elementare Norm" ziviler Konfliktarbeit; nur mit
dieser Zielvorgabe ist die notwendige Akzeptanz „für die Kommunikation über
Interessen, Wahrnehmungen und Bedürfnisse der Konfliktparteien" 23 zu schaf-
fen. Das kann (und will) militärische Intervention sui generis nicht leisten. In
dieser zentralen Differenz liegt begründet, dass der vernetzte Sicherheitsansatz
(comprehensive approach), allgemeiner: parallel oder verbunden laufende, mi-
litärische und zivile Missionen, so häufig kontraproduktive Resultate im Sinne
von Friedensförderung zeitigen. Deshalb muss in Berlin und Brüssel sorgfältig
überlegt werden, in welchen Formaten unter dem Dach der UNO ziviles, po-
lizeiliches und militärisches Personal künftig überhaupt zusammen operieren
soll (vgl. Beitrag 1.8.). Peacekeeping und Peacebuilding müssen noch schärfer
abgegrenzt werden.

23 Vgl. Andreas Heinemann-Grtider/lsabella Bauer (Hrsg.): Zivile Konfliktbearbeitung. Vom
   Anspruch zur Wirklichkeit, Opladen 2013, S. 239.

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CORINNA HAUSWEDELL

Die Parallelwelt der zivilen Konfliktbearbeitung
 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass zivile Konfliktbearbeitung
 in Deutschland, von einigen institutionellen Einbindungen wie dem Zivilen
 Friedensdienst (ZFD) oder der Gruppe FriENT abgesehen, die 2004 durch
 den Aktionsplan ,,Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonso-
lidierung" der rot-grünen Bundesregierung auf den Weg gebracht wurden, bis
 heute konzeptionell und praktisch vorwiegend in einer Art Parallelwelt statt-
findet. Als Teil eines außenpolitischen Primats ist sie - anders als z.B. in der
 Schweiz oder in Norwegen - jedenfalls nicht erkennbar. Das mag auch an ei-
 ner nolens-volens-Selbstbeschränkung der befassten Zivilgesellschaft auf den
 nichtstaatlichen Akteursradius der zivilen Konfliktbearbeitung liegen. Diese
Einengung des Begriffs „zivil" müsste in einem neuen Dialogzwischenstaat-
lichen und nichtstaatlichen Konzepten aufgebrochen werden; dafür kann die
2011 im Auftrag des BMZ erfolgte Evaluierung des ZFD ein geeigneter An-
knüpfungspunkt sein. Noch sehen sich die Akteure der zivilen Konfliktbear-
beitung zu wenig selbstbewusst als Teil einer neuen Außenpolitik, die ohne
Formen von Public Diplomacy sowohl bei den entsendenden Staaten als auch
bei den Aushandlungsprozessen innerhalb der Konfliktgesellschaften selbst
nicht mehr auskommen wird. Zivile Konfliktbearbeitung und Friedensförde-
rung sind nicht identisch, müssten aber bei der Neubestimmung des außenpo-
litischen Primats eine deutlichere Integration erfahren.
     Die bevorstehenden Bundestagswahlen sind eine Chance, die überfälli-
ge Debatte mit Substanz zu versehen. Ein jüngst aus der SPD vorgelegtes
,,Eckpunkte-Papier" 24 enthält ein wohl begründetes Plädoyer für „Friedens-
förderung und Konflikttransformation als strategische Querschnittsaufgaben
deutscher Politik - insbesondere der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungs-
politik". Das ist nicht das Gleiche wie Frieden zum Primat der Außenpolitik zu
machen, aber ein Schritt in diese Richtung. Die Stärken des Papiers liegen in
seinem Ressourcenansatz, der kompetente Vorschläge für eine neue strukturel-
le und personelle Ausstattung des Arbeitsfeldes mit bis zu 500 Millionen Euro
jährlich vorsieht. Auf halber Strecke stehen bleibt allerdings seine Analyse, die
kaum kritische Auseinandersetzungen mit den zivil-militärischen Verwischun-
gen des Sicherheitsverständnisses der letzten Jahre anbietet. Die schwierige
Rolle des Militärs, genauer der Bundeswehr, für Friedensförderung bleibt selt-
sam ausgeblendet.

24 Edelgard Buhlmahn u.a.: Eckpunkte einer Strategie für Friedensförderung und Konflikt-
   transformation, Berlin 2013.

192
FRIEDEN „AUS DEM OFF"

     Auf weitere Impulse aus Parteien und NGOs darf man gespannt sein. Man
muss hoffentlich nicht zu den Träumern gehören, um sich den außenpoliti-
schen Primat Deutschlands künftig so vorzustellen, dass Friedensförderung
tatsächlich als Leitmotiv an die erste Stelle rückt und deutsche Interessenver-
tretung im Ausland so erfolgt, dass sie diesem Ziel untergeordnet wird. Dafür
wird eine Revision des Konzepts der „vernetzten Sicherheit" zugunsten einer
klaren Trennung militärischer und ziviler Ziele und Instrumente bei der Kon-
fliktbearbeitung unerlässlich sein.

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