10 Fehlannahmen zu Menschen mit Autismus und ihre Widerlegung
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1 10 Fehlannahmen zu Menschen mit Autismus und ihre Widerlegung © Prof. Dr. Matthias Dalferth Fakultät für Sozialwissenschaften, Regensburg In den letzten Jahrzehnten seit der Erstbeschreibung durch L. KANNER 1943 hat sich in Sachen Autismus vieles bewegt. Eine Fülle von Erkenntnissen zu autistischen Syndromen wurde gewonnen. Sie konnten dazu beitragen, eine deutlich veränderte Sicht von dieser Behinderung und den Schlüssel für therapeutische Erfolge zu erhalten Und sie gaben auch Anlass, so manche hypothetische oder waghalsige Vorstellungen über autistischen Syndrome und therapeutische Interventionen über Bord zu werfen, die zuweilen heftig diskutiert wurden. Für einen besseren Bekanntheitsgrad sorgten die Aktivitäten der Elternverbände. Doch es ist auch ein Verdienst der Medien, die im Verlauf der letzten Jahre verstärkt über autistische Syndrome berichtet haben. Zweifelsohne - der Begriff Autismus heute für die meisten Menschen kein Fremdwort mehr. Allerdings birgt die breite Berichterstattung in den Medien auch die Gefahr der Verkürzung und Simplifizierung. So konnten sich auch oberflächliche, pauschalisierende, unscharfe Vorstellungen, ja Zerrbilder von autistischen Syndromen manifestieren, die sich bei genauerer Betrachtung als obsolet erweisen. Die Mythenbildung ist hier nicht abgeschlossen. Immer wieder werden wir mit neuen spektakulären Meldungen zu Ursachen oder Heilungserfolgen konfrontiert. Wollte man hier eine Parallele zwischen Menschen mit Autismus und der sogenannten nicht- behinderten Bevölkerung zu ziehen , dann können wir gleichfalls eine gewisse Rigidität und Beharrlichkeit feststellen: Nicht scheint sich im Gedächtnis schneller festzusetzen als spektakuläre Falschmeldungen - und nichts fällt auch schwerer, als von einer einmal gefassten Vorstellung über Autismus wieder abzurücken.
2 1. Von Autismus ist in Deutschland nur eine kleine Gruppe von Menschen betroffen Über 6 Jahrzehnte ging man davon aus, dass lediglich bei 4 –5 von 10 000 Kindern ein autistisches Syndrom nachgewiesen werden kann. Auf der Basis einer ganzen Reihe von aktuellen epidemiologischen Untersuchungen in den angloamerikanischen Ländern im Verlauf der letzten Jahre müssen wir allerdings zur Kenntnis nehmen: Weitaus mehr Menschen als bislang angenommen sind von autistis chen Syndromen betroffen. Mehrere systematische Untersuchungen des Franzosen FOMBONNE in Canada und die Auswertung der weltweit bekannten epidemiologischen Studien ergaben: Bis zu 65 Personen von 10 000 sind dem sogenannten autistischen Spektrum zuzurechen (vgl. FOMBONNE et al. 2006, POUSTKA 2004,18, DEUTSCHES ÄRZTEBLATT v.14.7.2006, BAIRD et al. LONDON, CHAKRABARTI, FOMBONNE 2001) Autistisches Spektrum bedeutet, dass Autismus in unterschiedlichen Schweregraden und Varianten in Erscheinung treten kann: Mit schweren, mehrfachen Beeinträchtigungen, als Kanner Syndrom mit oder ohne zusätzliche geistige oder körperliche Behinderungen oder als diskrete Störung bei Menschen mit der Diagnose High-Functioning- Autism, Asperger- Syndrom oder Teilautismus. Legt man einen engeren diagnostischen Schlüssel an, dann sind davon 21,6 dem Kanner- Autismus und 10,1 von 10 000 dem Aspergersyndrom zuzurechnen (FOMBONNE 2006). Bei den übrigen handelt es sich um sogenannte TE Störungen mit autistischen Merkmalen (Rett-Syndrom, Fragile- X-Syndrom, desintegrative Störungen des Jugendalters etc.). Es ist davon auszugehen, dass dies für alle westlichen Gesellschaften zutrifft. Leider können wir in Deutschland auf keine vergleichbaren systematischen Erhebungen zurück greifen. Wenn wir diesen Schlüssel zu Grunde legen, dann leben in Deutschland ca. 223 680 Jugendliche und Erwachsene ab 15 Jahren mit Kernsymptomatik und bis zu 535 000 Menschen, die dem autistischen Formenkreis angehören (breiter diagnostischer Schlüssel, Einwohnerzahl Stand: 12/2006). Es handelt sich damit keineswegs um eine kleine, zu vernachlässigende Gruppe .
3 Die Anzahl autistischer Kinder übersteigt die Anzahl der blindgeborenen und gehörlosen Kinder bei weitem . Die hohen epidemiologischen. Zahlen überraschen jedoch: So stellt sich die Frage: Gibt es denn heute mehr Menschen mit dieser Behinderung als vor 50 Jahren – oder gibt es die schon immer? Hier stehen sich wissenschaftliche Meinungen konträr gegenüber: - Nachweisen lässt sich, dass viele Menschen, die früher als geistig behindert etikettiert wurden, heute die Diagnose ASD /AUTISMUS erhalten. So gingen in den Vereinigten Staaten die Diagnosen von G.B. von 28,8 – 19,5 /10 000 (1987 – 1994) zurück. - Nachweisen lässt sich gleichfalls, dass sie heute mit Hilfe der ausgefeilten diagnostischen Instrumentarien früher und sicherer diagnostiziert werden können. - Ob Umweltbedingungen eine Rolle spielen, und wenn ja, welche – darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. - Das verstärkte Aufmerksamwerden auf das Aspergersynd rom im Verlauf der letzten Jahre hat den Blick für diese Menschen geschärft, die früher oftmals anderen Behinderungen, u. a. ADHS oder Borderline-Störungen, zugeordnet wurden. 2. Autismus ist eine Form der geistigen Behinderung Bis in die 70er Jahre hinein wurde vermutet, es handle sich bei Autismus ausschließlich um eine psychische Behinderung, weil für diese Auffälligkeiten keine augenfälligen körperlichen Besonderheiten auszumachen waren. Schließlich konnte man seit den 80er Jahren durch bildgebende Verfahren eine ganze Reihe von morphologischen, funktionellen und auch metabolischen Abweichungen im ZNS nachweisen .Folglich ging man davon aus, dass mindestens 80 % dieser Menschen den geistigen Behinderungen zuzurechen oder zusätzlich geistig behindert wären. Der Augenschein ihres Verhaltens, ihre kommunikativen Beeinträchtigungen ( fehlende Verbalsprache), ihre soziale Unangepasstheit und ein vom Gleichaltrigendurchschnitt abweichend gemessener IQ führte dazu, sie in Orientierung an den Kriterien der American Association of Mental Deficiency den Menschen mit geistigen Behinderungen zuzurechnen.
4 Etliche Menschen mit ASD können sich jedoch mit Hilfe von FC schriftsprachlich ausdrücken. Wir sind überrascht, dass einige über einen eloquenten Wortschatz verfügen. Wir sind sprachlos, weil wir nicht wissen, wie sie das gelernt haben und müssen eingestehen, dass dies so gar nicht an eine geistige Behinderung erinnert. Wir erleben bei anderen Menschen aus dem aut. Spektrum, dass aufgrund von frühen therapeutischen Interventionen die Anpassungs- und Kommunikationsbereitschaft und die Entwicklung von sozialen Verhaltensweisen deutlich erhöht werden konnte. Und wir kennen eine keineswegs geringe Anzahl von Betroffenen mit ASD, die zu ausgeprägten kognitiven (Insel-)Leistungen befähigt sind. Die Spitzenfähigkeiten der so genannten Savants führten schließlich dazu, sich von dieser Etikettierung weitgehend zu distanzieren. Andererseits werden diese Spitzenleistungen kontrastiert durch einen erheblichen Hilfebedarf in lebenspraktischen Dingen, in der Kommunikation, im Zurechtfinden mit der Umwelt. Im Übrigen gilt der Nachweis einer veränderten Funktionsweise des Gehirns, einer veränderten Ausprägung einzelner Hirnteile keinesfalls als Indikator für eine geistige Behinderung. Typisch scheint für Menschen mit ASD vielmehr das spezifische kognitive Profil zu sein D. h. sie verfügen nicht über ein unterdurchschnittliches Leistungsniveau, sondern ihre kognitiven Kompetenzen sind durch einen Spannungsbogen, eine Disharmo nie verschiedener kognitiver Fähigkeiten gekennzeichnet. Und weil hiervon Menschen in ihrer Gesamtheit betroffen sind, sollte man besser von Mehrfachbehinderung sprechen . Von einer vorschnellen Etikettierung eines geistigen Defizits sind mittlerweile viele Wissenschaftler abgewichen. Es hat sich durchgesetzt, dass funktionelle Abweichungen vom durchschnittlichen Niveau nicht zwangsläufig eine Einbuße bedeuten, sondern auf eine Andersartigkeit in der Weltwahrnehmung, in der Verarbeitung von Reizen hinweisen Es zeigt sich, dass diese Abweichung auch eine Ressource mit oft unterschätzten Fähigkeiten bedeuten kann. So wurde in jüngeren psychiatrischen Publikationen wurde die Anzahl der Menschen mit ASD und mit geistigen Behinderungen auf nunmehr lediglich 20 – 50 % (POUSTKA 2007,46) herabdekliniert. Der englische Autismusforscher BARON-COHEN ging noch einen Schritt weiter: Er gelangte zu der weltweit diskutierten Auffassung, es handle sich bei den kognitiven
5 Besonderheiten von Menschen mit Autismus lediglich um eine besonders ausgeprägte Variante des männlichen Gehirns. Er führt dies auf einen Testosteronüberschuss im Verlauf einer prägenden Phase während der Schwangerschaft zurück.. 3. Autistische Menschen sind beziehungsgestört und lehnen jeden Kontakt ab. Sie leben wie in einer Muschel, lassen keinen an sich heran und sie fühlen sich am wohlsten, wenn sie in Ruhe gelassen werden. Die Symptomatik von Kleinkindern mit ASD ist bekannt: Sie befassen sich gerne und ausgiebig mit bestimmten Objekten, die stereotyp bewegt werden und mit denen sie ihre Sinne stimulieren. An Menschen zeigen sie weniger Interesse. Im späteren Lebensalter sind es Spezialthemen (Dinosaurier, Seeräuber, Flugpläne, Raumschiffe, Liegestühle, Staubsauger o.ä.), die ihre Aufmerksamkeit gefangen nehmen. Gleichfalls ist bekannt, dass sie sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigen und ihre soziale Umwelt scheinbar nicht zur Kenntnis nehmen. Viele sträuben sich als Kleinkinder dagegen, auf den Arm genommen zu werden. Sie meiden längeren Blickkontakt, sehen eher durch einen hindurch oder über einen hinweg und entziehen sich sofort bei unerwarteten Berührungen. Dies veranlasste den Erstbeschreiber des Syndroms KANNER zu der Vermutung, es handle sich bei Autismus um eine“ angeborene Störung des affektiven Kontakts“ (KANNER 1943). Sind autistische Kinder damit an sozialem, zwischenmenschlichem Kontakt gar nicht interessiert, wollen sie am liebsten in Ruhe gelassen werden? Verstoßen wir gegen das Selbstbestimmungsrecht, wenn wir Menschen mit Autismus mit einer Realität konfrontieren, der sie lieber ausweichen möchten? Forschungen in Großbritannien im Verlauf der letzten 20 Jahre konnten Zusammenhänge dieser Störung deutlich erhellen und differenzieren: (vgl. HOBSON 1986 a, b; FRITH 1992; BARON-COHEN u. BOLTON 1993). Zunächst: Art und Ausmaß der Fähigkeit zur wechselseitigen Interaktion und die Intensität der Selbstbezogenheit kann von Fall zu Fall sehr stark variieren: Menschen aus dem autistischen Spektrum zeigen damit ganz unterschiedliche Formen von Kontaktstörungen, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können. WING hat nach Beobachtungen drei typische Verhaltensformen bei Kindern diskriminiert: (WING nach FRITH 1992, 14 ff)
6 Das distanzierte Kind: Hier handelt es sich um eine besonders ausgeprägte Form des Rückzugs und der Abkapselung. Man hat das Gefühl, nicht zur Kenntnis genommen zu werden. Blickkontakt und Körperkontakt werden vermieden oder abgewehrt. Keine Wiedersehensfreude kommt auf, wenn Familienmitglieder den Raum betreten, keine Heimwehreaktionen bei Abwesenheit der Eltern. Die Zuwendung der Bezugspersonen wird kaum erwidert. Das passive Kind wehrt hingegen soziale Annäherungen nicht ab, sondern nimmt sie eher gleichgültig hin. Es sind Kontaktverhaltenweisen, die wir insbesondere von Menschen mit Aspergersyndrom kennen: Sie sind mit dabei, ohne selbst an den Gesprächen anderer Kinder oder Jugendlicher durch Fragen Interesse zu bekunden oder teilzuhaben. Sie tun, was man ihnen sagt und geraten dadurch zur Zielscheibe des Spotts der Kameraden, weil sie die listigen Absichten nicht durchschauen können. Fragen werden direkte und ehrlich beantwortet. Versuche, soziale Kontakte aufzunehmen, wirken zumeist recht unbeholfen. Das sonderbare Kind reagiert hingegen im Kontaktverhalten eher ungewöhnlich: In geradezu lästiger, ja penetranter Weise wird Kontakt aufgenommen: (auf den Bauch klopfen, über die Haare streicheln, ins Gespräch platzen). Da wird jede neue Person ausführlich beschnüffelt oder abgetastet. Oder es werden an sämtliche Personen bevorzugt immer dieselben Fragen gerichtet: („Wann hast du Geburtstag,„Wie heißt du?“), ohne dass Antworten erfahrbar zur Kenntnis genommen werden. Einige nehmen auch intensiv Blickkontakt auf, allerdings in zu dichtem Abstand vor dem Gesichtsfeld. Das ungewöhnliche Kontaktverhalten autistischer Kinder kann übrigens bei jedem Begabungsniveau, also bei hochintelligenten wie bei schwerstbehinderten Personen in Erscheinung treten. Aufsehenerregend war allerdings die Nachuntersuchung ein paar Jahre später, die von WING und ATTWOOD vorgenommen wurde: Etliche Kinder wechselten im Laufe der Zeit die Kategorie: Von den einst distanzierten zeigten einige ein passiv-sonderbares, andere jedoch ein deutlich kontaktfreudiges Verhalten. Dies zeigt - Menschen aus dem aut. Spektrum zeigen ganz verschiedene Formen von Kontakt- und Kommunikationsproblemen.
7 - Sie können erhebliche Lernfortschritte machen und ihr Verhalten im Verlauf der Entwicklung deutlicher an allgemeine Verhaltenserwartungen anpassen. - Im Erwachsenenalter sind sie bemüht, auf eine ihnen gemäße Art und Weise Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen. Es trifft nicht zu, dass sie an sozialem Kontakt überhaupt nicht interessiert oder gar völlig zufrieden wären, wenn sie sich mit sich selbst beschä ftigen können. Sie möchten „aus ihrem autistischen Käfig heraustreten“ ( B. Sellin)., sie möchten sich an der Kommunikation beteiligen. Sie sind traurig, wenn ihnen dies nicht gelingt und glücklich darüber, wenn sie mit Hilfe von Kommunikationshilfen mit uns in Verbindung treten können. 4. Autistische Menschen sind gefühllos. Sie zeigen kein Einfühlungsvermögen in andere Menschen, sind unsensibel für die Empfindungen anderer Menschen, sie trösten nicht und suchen keinen Trost. Da ist der junge Mann, der bei der Beerdigung seines Großvaters plötzlich in Gelächter ausbricht, Menschen mit ASD, die Weinen und Schmerzensäußerungen anderer Menschen scheinbar nicht zur Kenntnis nehmen. Oder Jugendliche, die Spott und Ärger auf sich ziehen, weil sie sozial naive, aber wahrheitsentsprechende - Kommentare gegenüber Schulkameraden äußern: „Du hast krumme Zähne “, „du stinkst nach Käse“ Ist doch etwas dran an dieser Gefühllosigkeit? Ausführliche transkulturelle Forschungen von EKMAN und FRIESEN haben erbracht, dass Kinder sich bereits im Alter von 6 Monaten in den verschiedensten Kulturen in der Lage zeigen, zentrale Gefühlsregungen in Mimik und Gestik zu erkennen und darauf angemessen reagieren (vgl. EKMAN 1988, 123 ff). Dies gelingt aber Menschen aus dem autistische Spektrum nicht ohne Weiteres. Es fällt ihnen schwer, Gefühlsregungen, wie Wut, Angst, Trauer, Zuneigung, Freude etc. in Mimik und Gestik richtig zu verstehen und darauf so zu reagieren, wie wir es erwarten (vgl. HOBSON 1986 a, b). D.h. dass sie zwar die Veränderungen des Gesichtsausdruckes wahrnehmen, jedoch das zu Grunde liegende Gefühl nicht richtig deuten können. Deshalb dürfen wir uns nicht darüber wundern, wenn sie darauf indifferent oder quasi ungerührt, - oder auch für uns unverständlich mit starken Emotionen reagieren. Da sie über die Gesichtsmimik, die sprachbegleitenden expressiven Gesten oder aus dem Blickkontakt keine bedeutsamen Informationen entnehmen können, wird der Blickkontakt,
8 Mimik oder die Gebärden auch nicht in der Weise, wie wir es gewohnt sind, zur Kommunikation benutzt. Weil sie in der Regel nicht in der Lage sind, mimisch-gestisch oder lautsprachlich ihre Gefühlsregungen angemessen zum Ausdruck zu bringen, wirken sie oft wie kalt, desinteressiert, unbewegt, gefühlsmäßig unbeteiligt, U. FRITH hat in Oslo (Sept. 2007) ihre umfangreichen Forschungsarbeiten zu diesem Thema vorgestellt. Sie konnte eindrucksvoll auf der Basis von fMRI Studien nachweisen: • Mangel an Einfühlungsvermögen beruht nicht auf einer generellen Störung der emotionalen Empfindlichkeit. Es hat etwas zu tun mit der Andersartigkeit in der Verarbeitung der Hinweisreize mit emotionalem und sozialem Bedeutungsgehalt. • Aut. Menschen haben Gefühle, mitunter auch sehr starke. • Sie sind sich aber oft nicht darüber bewusst, welche Gefühle das sind. • Sie können Gefühlsäußerungen bei anderen Menschen nicht spontan erkennen. • Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie am anderen nicht interessiert sind: Menschen mit ASD suchen selbstverständlich nach Zuwendung und Aufmerksamkeit. Sie wollen andere Menschen verstehen und verstanden werden und entwickeln im Grunde eine viel engere Beziehung zu den Menschen in ihrer Umgebung, als wir anhand ihrer verhaltenen Reaktionen nur vermuten können. Personen mit Asperger Syndrom (SELLIN 1993,1995; GRANDLIN 1994) werden sich spätestens in der Pubertät ihrer Schwächen bewusst und leiden darunter. Sie befürchten, etwas Falsches zu sagen, etwas fehl zu interpretieren, etwas zu übersehen, ins Fettnäpfchen zu treten oder andere zu brüskieren. Dabei haben sie aber keineswegs die Absicht, andere zu verletzen. Seit dem Forschungen von Rigolazzi und Gallese wissen wir: Dieses Defizit lässt sich vermutlich auf eine Dysfunktion der sogenannten Spiegelneuronen zurückführen. Darunter versteht man eine Gruppe von Neuronen, die nur dann aktiv sind, wenn man relevante Bewegungen selbst durchführt oder diese bei anderen beobachtet. Sie stellen die Voraussetzung dar, spontan und intuitiv Gefühlsregungen oder Absichten zu erkennen, die hintern den gezeigten Bewegungen stehen oder dazu Anlass gaben. Die Entwicklung des so genannten sozialen Gehirns wird dadurch beeinträchtigt. ( Brothers 1990, Baron-Cohen 1999, Castelli et al 2000, Schultz 2002)
9 Dieses weit reichende Defizit wurde jüngst nachhaltig erforscht. Es stellt so etwas dar wie den Schlüssel zum Verständnis einer ganzen Reihe von Verhaltensbesonderheiten (vgl. DALFERTH 2007) Allerdings wissen wir bislang noch nicht, weshalb diese Neuronengruppe bei Menschen mit Autismus nicht richtig arbeitet. Aktuelle Untersuchungen geben jedoch auch Anlass zu Optimismus: Soziale Trainingsmaßnahmen können allen Bagatellisierungen zum Trotz dazu beitragen, dass es Menschen mit ASD besser gelingt, verschiedene Ausdrucksformen eines Gefühls bei anderen Menschen mit dem entsprechenden Bedeutungsgehalt zu verknüpfen und eigene Gefühlsäußerungen angemessen in soziale Situationen einzubetten. Nachweisbar ist ihre Gehirn in der Lage, auch über Umwege zum Ziel zu gelangen. 5. Menschen mit Autistische Kinder sind fehlerzogen. Sie können durch das Fehlverhalten der Eltern in den Autismus getrieben werden. Allen Erkenntnissen zum Trotz wird diese düstere Fehlannahme immer mal wieder aus der Schublade gezogen. Sie kam vor einigen Jahren noch in dem Gewande „Hättest du mich festgehalten“ daher. Diese ungerechtfertigte Stigmatisierung der Angehörigen , gewissermaßen selbst die Schuld am auffälligen Verhalten eines Kindes zu tragen, hat zu berechtigter Empörung geführt und viel Schaden angerichtet. Warum wird jedoch Eltern der Autismus ihrer Kinder zum Vorwurf gemacht? Da man den Kindern ihre Behinderung in der Regel nicht ansehen kann. Führt dies dazu, dass oft Passanten den Eltern unterstellen, das unangepasste Verhalten der Kinder sei schlicht ungezogen – unerzogen! Indes: Es gibt nach wie vor keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber, dass das Erziehungsverhalten, die Erziehungseinstellungen einen Autismus provozieren können. Auch ungünstige Milieubedingungen oder äußere Faktoren spielen für sich genommen keine zentrale Rolle.(vgl. P.SCHATTOCK 2003) Bei Autismus handelt es sich um eine Störungen der kindlichen Entwicklung, die bereits vor dem 3 Lebensjahr in Erscheinung tritt und nicht durch erzieherisches Fehlverhalten provoziert werden kann. Jeglicher Schuldvorwurf, jegliche Bezichtigung der Angehörigen ist daher zurückzuweisen.
10 6. Die Ursachen dieser mysteriösen Behinderung sind noch völlig unbekannt. Allen Erkenntnissen der letzten Jahre zum Trotz halten sich hier Fehlannahmen und Vorurteile besonders hartnäckig. Dies hängt damit zusammen, dass diese Behinderung immer wieder Anlass zur Mystifizierung gibt: Vielleicht steht das damit im Zusammenhang, dass diese Menschen so außergewöhnliche Inselbegabungen aufweisen, der sozialen Welt gegenüber so unzugänglich erscheinen und sich über einen längeren Zeitraum hinweg kaum organische Ursachen für das Verhalten finden ließen. Jedenfalls verfügen wir heute über eine Fülle von Erkenntnissen über die Hintergründe der Symptomatik. Beeinträchtigungen der Funktionsweise des ZNS, neurobiolo gische Besonderheiten und auffällige biochemische Prozesse wurden in beeindruckender Vielfalt zusammen getragen: - je nach Untersuchung zeigen zw. 10 – 80 % der Menschen aus dem autistischen Spektrum EEG Auffälligkeiten - mit einem Auftreten von Epilepsie im Jugendalter ist bei 20 – 35 % des Personenkreises zu rechnen. - Die Anzahl der Purkinjezellen im Kleinhirn ist häufig um bis zu 50 % verringert. - Über Hirngewebeschäden, vergrößerten Kopfumfang und sprunghafte Zunahme des Umfangs im ersten Lebensjahr, verkleinerten Facialiskern im Stammhirn, verringerten Umfang des Corpus Callosum, funktionale Auffälligkeiten im Frontal- und im Temporallappen, in der sensorischen Reizverarbeitung, Auffälligkeiten im limbokortikalen System,(vergrößerte Amygdala und vergrößerten Hippocampus) wird häufig berichtet. Ergänzt werden diese Befunde durch biochemische Besonderheiten: - erhöhter Serotoninspiegel im Blut (bei ca. 25 % d. P.)) - erhöhter Dopaminspiegel, - Abweichungen im Bereich der Endorphinproduktion - der Melatoninproduktion - des Purinstoffwechsels und vieles mehr (vgl. WALLIS 2006; POUSTKA, F.,2004, 31 ff; YABKO 2003, 80 ff; REMSCHMID 2000; BARON-COHEN /BOLTON 1996, 26 ff; RODIER 2000) BV Hilfe für das autistische Kind, 2001, 13; SCHMIDT 1998). - Last not least wissen wir, dass die sogenannten Spiegelneurone bei Menschen mit Autismus nicht richtig arbeiten und deshalb von klein an ihre Fähigkeiten zur Imitation, Intuition und Kommunikation beeinträchtigt sind. Allerdings lassen sich diese Besonderheiten nicht bei allen Menschen mit ASD feststellen. Sie kommen auch nicht bei allen gleichzeitig vor, sie lassen sich z. T. auch bei Menschen mit anderen Behinderungen beobachten und überdies bleibt offen, ob diese Besonderheiten Autismus verursachen oder lediglich eine Auswirkung von zugrunde liegenden Störungen sind.
11 Nun liegt es in der Natur der Dinge, dass man zunächst nach dem Autismusfaktor sucht, der in der Lage wäre, diese Vielzahl von Auffälligkeiten plausibel zu erklären und eine kausale , also auf die Ursache bezogene – Therapie zu ermöglicht. Es gibt jedoch bis heute keinen Hinweis darauf, dass sich Autismus lediglich auf eine bestimmte Ursache zurückführen ließe. Dagegen spricht sowohl die Variationsbreite der Symptomatik als auch die – gleichfalls häufig ignorierte Tatsache – dass Autismus selten allein, häufig jedoch im Ensemble mit den verschiedensten anderen Behinderungen in Erscheinung tritt, in denen gleichfalls die Entwicklung des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen wurde (Epilepsie, Tuberöse Sklerose, Neurofibromatose, Phenylketonurie, Rett-Syndrom, Fragile- x-Syndrom, Duchenne Muskel Dystrophie, Down Syndrom , Hydrocephalus, Gilles de la Tourette –Syndrom , Down Syndrom u.v.m. (vgl. GILLBERG 1989b; GILLBERG u. COLEMAN 1992) Dies alles spricht eher für eine heterogene Ätiologie, d.h. Autismus entsteht auf der Basis einer Mischung unspezifischer Ätiologien. Neuere bildgebende Verfahren (fMRI, PET, TMS) haben dazu beigetragen, dass sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit von morphologischen zu funktionellen Besonderheiten des Gehirnaufbaus verlagert hat. Die Erforschung der Funktionsweise und der Interaktion von Nervenzellen in den verschiedenen Hirnarealen wurde dadurch wesentlich erleichtert. Der aktuelle Erkenntnisgewinn besteht darin, dass „ eine eindeutige und geordnete Vernetzung verschiedener Hirnteile...,beim Autismus augenscheinlich fehlerhaft „ verläuft (POUSTKA, 2006, 47). D.h., so Poustka, dass Nervenzellen sich an Orten befinden, an denen sie üblicherweise nicht vorzufinden sind, dass sie kleine r, dichter verpackt sind und ein Überschuss an synaptischen Verbindungen nicht ‚zurecht gestutzt‘ wird, wenn diese nicht mehr benötigt werden. Die untypische und/oder fehlerhafte neuronale Vernetzung hat offensichtlich eine neurobiologische Grundlage. Dies konnte anhand von Zwillingsuntersuchungen in den nordeuropäischen Ländern, Großbritannien und den USA /Utah (vgl. DALFERTH 1990) nachgewiesen werden. Die Konkordanzrate beträgt zwischen 82 und 96 % bei eineiigen Zwillingen und bei zweieiigen 23,5 %. .
12 Mit einer Wahrscheinlichkeit von 91 –93 % kann man heute , so POUSTKA, von einer genetischen Disposition/Bereitschaft ausgehen. Autismus kann mit Ch. GILLBERG zutreffend als: „biologisch determinierte Verhaltensstörung “ (1989) definiert werden. Was hingege n vererbt wird, welcher genetische Mechanismus hier im Einzelnen zu Grunde liegt, ist noch ungeklärt. Allerdings konnte bereits eine Beteiligung von 3 – 10 Genen (POUSTKA 2007) nachgewiesen werden. Hinzu kommen allerdings unspezifische Einflüsse im Verlauf von Schwangerschaft und Geburt, die das, was als autistische Symptomatik bezeichnet wird, schließlich zum Ausdruck bringen. Damit: Auf der Basis einer genetischen Disposition, an Autismus zu erkranken und in Verbindung mit unspezifischen prä- bzw. perinatalen Risikofaktoren entwickelt sich ein autistisches Syndrom vor Beginn des 3 Lebensjahres. 7. Fehlannahme: Autismus ist heilbar 8. Autismus ist unheilbar Immer wieder werden Berichte von spektakulären Heilungen publiziert, die sich insbesondere auf Außenseitermethoden (medikamentöse Therapien, ABA, Festhaltetherapie(Forced Holding) usw. stützen. Diese Berichte nehmen in der Regel ihren Ausgang von erstaunlichen Entwicklungen bei einzelnen Menschen. Selbstverständlich sind sie geeignet, gerade bei Angehörigen übertriebene Hoffungen zu speisen. Indes: Sie können die hochgesteckten Erwartungen leider nicht erfüllen. Dass Angehörige keine Mittel und Wege scheuen und große Hoffungen an wenig abgesicherte therapeutische Verfahren knüpfen, ist zwar verständlich, erbringt jedoch aller Erfahrung nach nicht den erwünschten Effekt. Da der Mechanismus des Zusammenwirkens neurologischer, biologischer und biochemischer Faktoren sehr komplex ist und wir von unterschiedlichen Schweregraden, Verlaufsformen und Behinderungskombinationen ausgehen müssen, werden wir uns von der Idee einer passenden Kausaltherapie verabschieden müssen:
13 D.h. einer Kausaltherapie, die geeignet erschiene, alle Symptome, die ein Autismussyndrom kennzeichnen, auf einmal zu beseitigen und eine vö llig unauffällige Entwicklung einzuleiten. Gegenüber allen Therapien, die gegenwärtig Heilung versprechen, ist daher äußerste Skepsis geboten. Ist Autismus damit unheilbar? Gibt es keine Hoffung? Um einem verbreiteten Fehlverständnis abzuhelfen: Die Tatsache einer genetischen Disposition - das bedeutet keineswegs einen biologischen Determinismus: Menschen mit Autismus können lernen und sich mit therapeutischer Hilfe im Leben wesentlich besser zurechtfinden, als wir das vor Jahren noch für möglich hielten. Ein beredtes Beispiel lieferten jüngst Testuntersuchungen bei Spiegelneuronen: Jacoboni und Dapretto (2006) konnten feststellen, dass eine Gruppe von Menschen mit Autismus in der Tat erhebliche Probleme damit hatten, Gefühlsausdrücke in Gesichter zu erkennen, weil eben ihre Spiegelneurone nicht richtig arbeiten. Nun wurden sie aufgefordert, lediglich den Gesichtsausdruck nachzuahmen: Überraschenderweise gelang dies den autistischen Menschen genauso gut wie der Vergleichsgruppe – und das ohne die Beteiligung von Spiegelneuronen! Und denen wird ja für die Imitation eine fundamentale Bedeutung zugesprochen Die Forscher konnten damit nachweisen: Von Autismus Betroffene entwickeln offensichtlich alternative Strategien, um diese mimischen Ausdrücke nachzuahmen. Einigen gelingt es also, neuronale Umwege einzuschlagen und diese Defizite mit Hilfe ihrer kognitiven Kompetenzen zu kompensieren. Schon seit Ende der 90er Jahre weiß man ja, dass beim Betrachten von Gesichtern und beim Wieder- Erkennen von Menschen bei autistischen Menschen Hirnbereiche aktiv werden – die wir lediglich beim Erkennen von Gegenständen benötigen: . Eine Fülle von therapeutischen Verfahren konnte in der Vergangenheit den Nachweis erbringen: Eine erhebliche symptomatische Verbesserung ist möglich, es besteht kein Grund zu Defätismus: Autistische Symptome bleiben zwar lebenslang erhalten, aber therapeutische Hilfen können wesentlich zu einer Normalisierung des Verhaltens und zu einem besseren Zurechtfinden in der Gesellschaft beitragen.
14 9. Autistische Mensche sind nicht in der Lage, einer beruflichen Tätigkeit nachgehen zu können Die Konzentration auf autistische Kinder über Jahrzehnte hinweg war in der Tat irreführend und ist äußerst problematisch. Sie hat dazu geführt, dass die Lebenssituation erwachsener Menschen mit ASD demgegenüber lange Zeit ignoriert wurde. Autismus ist jedoch keine ‚Kinderkrankheit’. Aus autistischen Kindern werden Erwachsene, die ein Recht auf Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen haben. Die Kategorisierung Autismus = geistige Behinderung führte dazu, die geistigen Potentiale dieser Menschen zu unterschätzen. An eine Berufsausbildung war nicht zu denken. Betroffene und Angehörige wurde vorschnell auf Förderstätten oder Werkstätten verwiesen. Das noch in den 70er und 80er Jahren transportierte Bild einer autistischen Behinderung: - Menschen die sich stereotyp mit Gegenständen befassen, auf ihre soziale Umwelt nicht reagieren, sich gegen Veränderungen zu Wehr setzen und der Sprache nicht mächtig sind – erweckte den Anschein, als wären berufliche Bildungsmaßnahmen bei diesem Personenkreis weitgehend sinnlos. Im Verlauf der letzten 15 Jahre konnte sich nach und nach diese Auffassung verändern: Mehrere Aspekte waren dabei maßgeblich: - Die Erkenntnis, dass ein aut. Spektrum existiert, führte zu der Überlegung, dass Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Schweregraden der Behinderung eine individuelle berufliche Förderung benötigen - Die Entwicklung von augmentativen oder alternativen Kommunikationsformen trug zur Verbesserung der Interaktion bei - Aufgrund früher therapeutischer Interventionen und angepasster Hilfestellung in Schulen gelang es immer mehr Kindern, Regelschulabschlüsse zu erzielen und sich an den Realitätsanforderungen besser orientieren zu können. - Die erfolgreichen TEACCH Programme konnten unter Beweis stellen: Auch Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen können in die Lage versetzt werden, eine produktive Tätigkeit auf dem allg. Arbeitsmarkt auszuüben. - Die Erfolge mit Supported Employment-Maßnahmen in den angloamerikanischen Ländern in den 90er Jahren ließen aufhorchen. Offensichtlich war es doch möglich, eine ganze Reihe dieser Menschen durch Job Coaching direkt vor Ort so zu fördern, dass sie beruflich integriert werden konnten. Damit: Für viele ist die WfbM das richtige Arbeitsfeld, für etliche kommt eine Integrationsfirma in Frage, einige können befähigt werden, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine kompetitive Tätigkeit auszuüben.
15 1989 habe ich die erste Untersuchung zur Arbeits- und Ausbildungssituation durchgeführt. Hier kam zum Vorschein, dass von 179 Erwachsenen lediglich 6 einen Nischenarbeitsplatz (als Hausmeister, landwirt. Hilfskraft, Lagerarbeiter, Näher etc.) gefunden hatten. Und in den BBW gelang es nur wenigen, eine überbetriebliche Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Im Verlauf der 90er Jahre konnte sich jedoch die Situation noch nicht wesentlich verbessern. Diese Exklusion vom Arbeitsleben war jedoch nicht den mangelhaften Kompetenzen aut. Menschen geschuldet, vielmehr Folge der problematischen wirtschaftlichen Lage Heute befinden sich etwa 5 % auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die meisten sind in Werkstätten tätig, doch eine ganze Reihe ist nach wie vor ohne Arbeit, Beschäftigung und Perspektive. Etliche Projekte zur beruflichen Förderung wurden ins Leben gerufen U. a. Ein Projekt des BUMI für Arbeit und Soziales, etabliert seit 2003 am BBW Abensberg hat nun zum Ziel, Möglichkeiten der beruflichen Förderung und Inklusion zu erforschen und geeignete Integrationswege aufzuzeigen. Der gegenwärtige Stand der Dinge zeigt: - Die Anzahl von Interessenten und Auszubildenden nimmt ständig zu (180 Personen wurden schon in den zurückliegenden 4 Jahren gefördert) - Wir rechnen bei den gegenwärtig ca. 100 Auszubildenden mit zunehmend erfolgreichen Ausbildungsabschlüssen und einer erfolgreichen Platzierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Weitaus mehr Menschen aus dem autistischen Formenkreis sind arbeits- und ausbildungsfähig. Nicht nur 5, sondern 15 – 20 % könnten auch außerhalb der WfbM arbeiten, wenn es uns gelingt, für sie in einer globalisierten Wirtschaft angepasste Arbeitsplätze zu konzipieren und ihnen die erforderliche Unterstützung angedeihen zu lassen. Auch für die schwer- und mehrfachbehinderten Menschen haben sich Verbesserungen ergeben: Dieser Personenkreis wurde noch vor 20 Jahren aufgrund massiver Verhaltensprobleme aus den WfbM entlassen. Heute verfügen etliche Werkstätten über kundiges Personal und pädagogisches Know How, um Menschen mit Autismus darin zu unterstützen, ihre Leistungspotentiale in der WfbM entfalten zu können. Menschen mit Autismus sind nicht nur lern –sondern auch arbeitsfähig.
16 Sie haben das Recht, auch in unserer Arbeitsgesellschaft ihren Platz zu finden. Es geht jedoch nicht nur darum, dass sich Menschen mit ASD an unsere Arbeitswelt anpassen. Auch unsere Gesellschaft ist gefordert, (teilgeschützte) Rahmenarbeitsbedingungen zu schaffen oder zu erhalten, die Rücksicht nehmen auf die Besonderheiten einer autistischen Problematik. 10 Menschen mit ASD können nie selbstständig leben und sind lebenslang auf Hilfe angewiesen. Folgen wir den vorliegenden internationalen Untersuchungen, dann sind die Prognosen düster: Denn nur 2 – 4 % von der gesamten Population können im Erwachsenenalter selbstständig und unabhängig leben. Der allergrößte Teil von Ihnen - so wird vermutet - bleibt auf eine vollstationäre Rundumversorgung (REMSCHMID 2000, HOWLIN 2000) angewiesen, wenn er das schützende Elternhaus verlassen hat. Dieser fatalistischen Ansicht wäre entgegenzuhalten: Die verschiedensten Modelle gemeinwesenintegrierten Wohnens bei uns, in den USA oder in den Nordeuropäischen Ländern zeichnen ein andere Bild: Auch Menschen mit mittelgradigen und schweren Behinderung leben in gemeinwesenintegrierten und ambulant betreuten Wohnformen (vgl. DALFERTH 1997; THEUNISSEN/ SCHIBORT 2006) . Es gibt keinen triftigen Grund für die Annahme, 4 von 5 Menschen mit Autismus könnten lediglich nur in vollstationären Wohnformen leben! Wir haben eine bundesweite Umfrage gestartet und mussten zur Kenntnis nehmen: 51 % (von n = 425 )der Menschen (Kanner und Aspergersyndrom) leben im Erwachsenenalter (18 – 45 J.) noch zu Hause! Bei Personen mit Kannersyndrom befinden sich die übrigen in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe. Diese Notwendigkeit besteht bei Menschen mit Aspergersyndrom jedoch keineswegs! Hier zeigt sich allerdings, dass viele gerne in betreute Wohnformen wechseln würden, jedoch weiter zu Hause leben, weil es zu wenig geeignete dezentralisierte betreute Wohnformen gibt! Hier besteht ein erheblicher Nachholbedarf, der zudem eine Entlastung der Angehörigen mittelfristig garantieren kann. Menschen mit Autismus können in ihrer Selbstständigkeit so gefördert werden, dass ein großer Teil von Ihnen mit flankierender Hilfe in gemeinwesenintegrierten und ambulant
17 betreuten Wohnformen leben kann. Das Ausmaß der erforderlichen Hilfe variiert von Fall zu Fall – und natürlich auch in Abhängigkeit vom Lebensalter! Es kommt aber vordringlich darauf an, erst einmal geeignete Wohn- und Betreuungsplätze zu schaffen, die Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der Menschen mit ASD und ihnen eine weitgehende Teilhabe am Leben der Gesellschaft gewähren. !
18 10 Vermutungen – 10 Entgegnungen 1. Bei Menschen mit ASD handelt es sich keineswegs um eine kleine, zu vernachlässigende Gruppe, sondern um einen Personenkreis, der die Anzahl der blinden und gehörlosen Menschen weit übersteigt! 2. Wahrscheinlich nur 20, höchstens jedoch 50 % der Menschen mit ASD können als geistig behindert bezeichnet werden. 3. Menschen aus dem aut. Spektrum zeigen zwar verschiedene Formen von Kontakt- und Kommunikationsprobleme. Sie können jedoch erhebliche Lernfortschritte machen und ihr Verhalten im Verlauf der Entwicklung deutlicher an allgemeine Verhaltenserwartungen anpassen. Es trifft nicht zu, dass sie an sozialem Kontakt überhaupt nicht interessiert oder gar völlig zufrieden wäre, wenn sie sich mit sich selbst beschäftigen können. 4. Empathische Defizite sind nicht gleichbedeutend damit, dass sie am anderen nicht interessiert oder gar zu gefühlsmäßigen Regungen nicht befähigt sind! Ihr Problem ist, dass sie gefühlsmäßige Reaktionen bei anderen Menschen nicht ohne weiteres erkennen und deuten können. 5. Nach wie vor gibt es keine wissenschaftlich begründbaren Anhaltspunkte dafür, dass Eltern durch ihr Erziehungsverhalten Autismus provozieren können. Jegliche Schuldvorwürfe sind daher zurück zu weisen. 6. Auf der Basis einer genetischen Disposition, an Autismus zu erkranken und in Verbindung mit unspezifischen prä- bzw. perinatalen Risikofaktoren entwickelt sich ein autistisches Syndrom vor Beginn des 3. Lebensjahres. 7. 7. Heilung ist bislang nicht möglich. Einige autistische Symptome bleiben lebenslang erhalten. Therapeutische Hilfen können jedoch wesentlich zu einer Normalisierung des Verhaltens und zu einem besseren Zurechtfinden in der Gesellschaft beitragen. 8. Weitaus mehr Menschen aus dem autistischen Formenkreis sind arbeits- und ausbildungsfähig. Die meisten können in einer geschützten Atmosphäre ihre Leistungsfähigkeit entwickeln, doch nicht nur 5, sondern 15 – 20 % wären in der Lage, auf dem allg. Arbeitsmarkt (auch in einer Integrationsfirma) zu arbeiten.
19 9. Menschen mit Autismus können in ihrer Selbstständigkeit so weit gefördert werden, dass der größte Teil von Ihnen mit flankierenden Hilfe in kleinen , überschaubaren gemeinwesenintegrierten Wohnformen leben kann. (Literatur beim Autor)
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