22 Tödliche Posts - Karin A. Wenger

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22 Tödliche Posts - Karin A. Wenger
22   Reportagen       Text:
                     Karin
                  A. Wenger
                     Fotos:
                  Philipp Breu

Tödliche
Posts

                                 annabelle No. 7/2021
22 Tödliche Posts - Karin A. Wenger
Von der Nacht-

Die Rolle der Frau ist in Pakistan                                                                                                                         surferin zur
                                                                                                                                                           Kämpferin gegen
                                                                                                                                                           Onlinegewalt:

klar definiert: Ihre Aufgaben                                                                                                                              Nighat Dad

sind Haushalt und Mutterschaft.
Nun entdecken viele Frauen
durch das Internet die Welt – und
manche bezahlen diese neue
Freiheit mit ihrem Leben.

 «Was tust du da?», fragte ihr ältester      So erinnert sich Nighat Dad (39) an        überhaupt Kinder gezeugt wurden. Im
 Bruder. Nighat Dad schreckte zusam-         diese Nacht vor 19 Jahren. Bis heute er-   18. Jahrhundert, als Pakistan noch ein
 men, dachte: «Jetzt bin ich erledigt.»      leben viele Frauen Ähnliches. Pakista-     Teil Indiens war, gab es Frauen, die in
 Er stand hinter ihr, wer weiss, wie lang    nerinnen bewegen sich immer zwi-           ihrem gesamten Leben nur wenige
 schon, starrte auf den Bildschirm des       schen Ehre und Sünde, das oberste          Male das Haus verliessen. Später er-
 Computers und las mit, wie sie mit          Gebot heisst «Log kya kahain gay?»,        möglichte ihnen die Burka etwas mehr
 einem unbekannten Mann chattete.            auf Urdu bedeutet das: Was werden die      Bewegungsfreiheit, da sie verhüllt auch
 Nichts Anrüchiges – wie heisst du, wo       Leute sagen? Im Internet, da sind sich     draussen quasi unsichtbar bleiben
 wohnst du, was arbeitest du – doch das      breite Bevölkerungsschichten einig, sei    konnten.
 spielte in diesem Moment keine Rolle.       die Ehre der Frau besonders gefährdet.        Purdah ist ein System, das das An-
 Ihr Herz raste. Es war mitten in der        Nun, mit dem rasanten Ausbau der           sehen der Frau und somit das ihrer Fa-
 Nacht, denn sie setzte sich immer erst      Internetabdeckung und der steigenden       milie schützen soll: Auf keinen Fall
 vor den Monitor, wenn ihre Familie,         Anzahl von Smartphone-Besitzerin-          darf sie Kontakt zu fremden Männern
 die in einem kleinen Dorf lebte, bereits    nen, öffnet sich in Pakistan ein neues     haben. Bis heute gibt es konservative
 im Bett lag.                                Kampffeld.                                 Regionen, vor allem im ländlichen
    Ihr Bruder schrie, er habe gewusst,         Millionen von Pakistanerinnen           Nord- und Südwesten, wo Männer und
 dass das passiere, er habe ja immer ge-     trauen sich nicht, ein Foto von sich on-   Frauen komplett getrennt voneinander
 sagt, dass die Familie ihr verbieten        line zu stellen. Aus gutem Grund: Sie      leben. In Grossstädten vermischen sich
 sollte, an die Universität zu gehen, be-    könnten dafür umgebracht werden.           die Geschlechter mehr, doch Über-
 stimmt rede sie auch dort mit Män-          Um das zu verstehen, hilft ein Blick in    bleibsel von Purdah bleiben bestehen.
 nern. Vom Lärm geweckt trat ihre Mut-       die Vergangenheit des Landes, das 1947     Egal wie liberal ein pakistanischer Va-
 ter ins Zimmer, was denn los sei, fragte    als Staat für Muslime gegründet wurde.     ter ist, er wird kaum erlauben, dass sich
 sie, und er antwortete: «Frag sie selbst,   Traditionell war die Lebenswelt ge-        die eigene Tochter allein mit Männern
 sie bringt Schande über unsere Fami-        prägt von einem Prinzip namens Pur-        ausserhalb der Verwandtschaft trifft.
 lie!» Er begann zu weinen. Ihre Mut-        dah, wörtlich Vorhang, wonach Frauen       Und nun bedrohen Smartphones und
 ter, die selbst nie zur Schule gegangen     und Männer komplett getrennt vonei-        das Internet das System Purdah –
 war, wusste nicht, was das Internet ist,    nander lebten, sogar im eigenen Zu-        klick, Kontrolle weg. 61 Millionen Pa-
 verstand nur, dass ihre Tochter etwas       hause. Sie assen separat und schliefen     kistanerinnen und Pakistaner nutzen
 Schlimmes getan haben musste, und           separat, sodass man manchmal scherz-       aktuell das Internet, das ist zwar nur
                                                                                                                                    annabelle No. 7/2021

 schlug zu.                                  haft die Frage hört, wie damals wohl       gut ein Viertel der Bevölkerung, doch

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22 Tödliche Posts - Karin A. Wenger
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Nighat Dad mit
einer Mitarbeite-
rin vor dem
Gebäude ihrer
Stiftung. Immer                              die Zahl wächst schnell: Es sind dieses    sie beinahe etwas Alltägliches gewor-
dabei: der                                   Jahr schon elf Millionen mehr als im       den sind.
Leibwächter                                  vergangenen, die Mehrheit geht via            2016, nachdem sie an pakistani-
                                             Smartphone online.                         schen Universitäten Vorträge über Ge-
                                                Von allen Weltregionen hat Süd-         walt im Internet gehalten hatte, füllte
                                             asien die grösste Onlinekluft zwischen     sich ihr Postfach mit E-Mails von
                                             den Geschlechtern, und in Pakistan ist     Frauen, die online belästigt worden
                                             der Unterschied besonders ausgeprägt:      waren. Dafür muss es eine Lösung ge-
                                             Für einen Mann ist die Wahrschein-         ben, dachte sich Nighat Dad und stellte
                                             lichkeit, Zugang zu mobilem Internet       in der Digital Rights Foundation ein
                                             zu haben, fast doppelt so hoch wie für     Team zusammen, um eine telefonische
                                             eine Frau. «In vielen Dörfern dürfen       Beratungsstelle zu lancieren.
                                             Frauen, besonders die jüngeren, kein          «Niemand ausser Helpline-Personal
                                             Mobiltelefon besitzen. Die Männer sa-      erlaubt» steht auf einem Post-It Zettel
                                             gen, das Internet sei schlecht für sie»,   an der Tür zu einem abgedunkelten
                                             sagt Nighat Dad, die vor fast zwei Jahr-   Raum, wo zwei Beraterinnen vor je
                                             zehnten von ihrem Bruder am Compu-         einem weissen, analogen Telefon sit-
                                             ter erwischt wurde. Sie selbst kaufte      zen. An den Wänden kleben ausge-
                                             sich ihr erstes Handy heimlich und ver-    druckte Bilder von Bollywood-Schau-
                                             steckte es, wie andere Frauen auch, in     spielern, Hündchen und Karikaturen.
                                             ihrem BH, immer auf lautlos gestellt.      «Unsere Arbeit ist sowieso schon be-
                                                Wir treffen die Anwältin Nighat         drückend, also wollten wir uns mit
                                             Dad anfangs Februar im Büro ihrer          Positivem umgeben», sagt Jannail Fa-
                                             2012 gegründeten NGO Digital Rights
                                             Foundation in Lahore, der zweitgröss-
                                             ten Stadt des Landes. Die NGO ist eine
                                                                                        zal (29). Die studierte Psychologin lei-
                                                                                        tet die Helpline, deren Anrufer mehr-
                                                                                        heitlich weiblich und unter dreissig
                                                                                                                                   "In vielen
                                             Anlaufstelle für Menschen, besonders
                                             für Frauen, die online Gewalt und Hass
                                                                                        Jahre alt sind.
                                                                                           Plötzlich läutet eines der Telefone,
                                                                                                                                   Dörfern
                                             erfahren, und sie engagiert sich für
                                             Bürgerrechte im Internet. An den Bü-
                                             rowänden hängen Zeitungsschnipsel
                                                                                        wir müssen den Raum verlassen, denn
                                                                                        die NGO verspricht allen Anruferin-
                                                                                        nen, dass die Gespräche vertraulich
                                                                                                                                   dürfen
                                             mit Nighat Dads Porträt, Artikel über
                                             Kongresse auf der ganzen Welt, an
                                                                                        und, falls gewünscht, anonym geführt
                                                                                        werden. Vor der Tür erzählt Fazal, die     Frauen
                                             denen sie teilgenommen hat, über die
                                             zahlreichen Auszeichnungen, die sie
                                             erhalten hat.
                                                                                        eine Maske mit der Aufschrift «Hack
                                                                                        the Patriarchy» trägt, was sie täglich
                                                                                        hört: Junge Frauen rufen an, weil ein
                                                                                                                                   kein Mobil-
                                                Nighat Dad, dicke Brille, silbrig-
                                             glänzende Stiefel und eine Smartwatch
                                                                                        Mann, zum Beispiel ein Kollege oder
                                                                                        ein Ex-Freund, sie mit einem Foto er-      telefon
                                                                                                                                   besitzen"
                                             am Handgelenk, gehört zu den profi-        presst, manchmal sind es intime Bil-
                                             liertesten Aktivistinnen für Digital-      der, oft aber ganz normale Porträts mit
                                             und Frauenrechte in Pakistan. Sie          Kopftuch. Der Mann droht, die Fotos
                                             prägte mehrere Gesetzesartikel mit,        an die Eltern zu schicken als Beweis,      Nighat Dad, Anwältin
                                             unter anderem das Verbot von Säure-        dass ihre Tochter mit einem fremden
                                             Angriffen, das die Gesichter von           Mann in Kontakt stehe. Er verlangt
                                             Frauen, die Selfies posten oder Hei-       von der Frau im Gegenzug für sein
                                             ratsanträge ablehnen, vor rachedursti-     Schweigen, den Kontakt zu ihm auf-
                                             gen Männern schützen soll.                 rechtzuerhalten und manchmal auch
                                                Den ganzen Tag sitzt in der Ein-        sexuelle Gefälligkeiten.
                                             gangshalle des Büros ein grosser Mann         Die Beraterinnen begleiten, falls die
                                             mit breiten Schultern, der kaum ein        Opfer das möchten, den strafrechtli-
                      annabelle No. 7/2021

                                             Wort sagt. Er ist Dads persönlicher Si-    chen Prozess. Seit fünf Jahren gibt es
                                             cherheitsberater, der immer mit ihr        in Pakistan ein Gesetz gegen Cyber-
Sehen und gesehen                            unterwegs ist, sobald sie das Haus ver-    kriminalität, das Hassrede und On-
werden – aber                                lässt. Mord- und Vergewaltigungsdro-       linebelästigung unter Strafe stellt. Das
nur in der Familie:
Ein Restaurant
                                             hungen erhält sie online so viele, dass    Gesetz soll auch dazu dienen, gegen
mit Sicht auf
die Badshahi­
Moschee in Lahore
22 Tödliche Posts - Karin A. Wenger
Nur unter sich so
gelassen: Ein Bus
voller christlicher
Frauen auf dem
Weg zur Messe

                      annabelle No. 7/2021
22 Tödliche Posts - Karin A. Wenger
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Propaganda von Islamisten vorzuge-         Oft geschehen solche Taten auf dem         versität. Es war auch ihr Vater, der sie
hen, ein weiteres grosses Problem im       Land, doch auch in den Städten ster-       zurück ins Familienhaus holte, als sie
Land. Die Mitarbeiter der Strafverfol-     ben Frauen. Ohne eine von vielen           ihn anrief und stotterte, ihr Ehemann
gung seien schlecht geschult, sagt Fa-     Jahren des Terrorismus geprägte Ge-        habe sie verprügelt und gedroht, den
zal, oft würden sie den Opfern unter-      sellschaft, in der die Hemmschwelle,       gemeinsamen Sohn umzubringen. Es
stellen, selbst schuld zu sein an den      Gewalt einzusetzen, tief liegt, wäre       war ihr Vater, der nicht auf den älteren
Übergriffen. Ab und zu, sagt sie und       das Ausmass der Onlinegewalt gegen         Bruder und die Schwester hörte, die
zögert kurz, seien Anruferinnen am         Frauen kaum denkbar. Am Tag des            insistierten, sie solle zurück zu ihrem
Telefon, die darüber nachdenken, sich      Besuchs bei der Anwältin Nighat Dad        Mann, denn: Was werden bloss die
etwas anzutun. Meist kann sie das          titelte eine Tageszeitung: «Mutter         Leute sagen?
Help­line-Team beruhigen, in seltenen      zweier kleiner Töchter in Lahore von          In einem ruhigen Wohnquartier
Fällen ist die Verzweif lung zu gross.     Verwandten ermordet, weil sie keinen       westlich der Digital Rights Foundation
«Wir fühlen uns in solchen Momenten        Jungen gebar.» Pakistan ist weltweit       träumt die Künstlerin Shehzil Malik
sehr hilflos», sagt Jannail Fazal.         eines der gefährlichsten Länder für        (33) nachts manchmal, dass sie mit
   2020 läuteten die weissen Telefone      Frauen. Human Rights Watch schätzt,        Säure überschüttet wird. Diese Alb-
so oft wie nie zuvor: 2551 Anrufe, plus    dass etwa tausend Pakistanerinnen je-      träume verfolgen sie, wenn sie viele
747 Anfragen per E-Mail – total sieb-      des Jahr Opfer von sogenannten Eh-         Hassnachrichten erhält. Malik kreiert
zig Prozent mehr Fälle als im Vorjahr.     renmorden werden. In den vergange-         feministische Illustrationen, die sie
Besonders während des Covid-19-            nen Jahren führten mehrere Fälle von       über Facebook und Instagram verbrei-
Lockdowns erreichte das Team ein           Vergewaltigungen, Zwangsheirat und         tet. Eines ihrer ersten Bilder, die viral
Schwall an Meldungen von Online­           Säureangriffen zu gesellschaftlichen       gingen, zeigt eine verhüllte Frau, die
gewalt und Belästigungen. Ein Drittel      Debatten im Land, über solche The-         von Männern auf der Strasse ange-
der Anrufe drehte sich um Erpressung       men wird jetzt zunehmend offener           starrt wird, während hinter ihnen ein
mit persönlichen Daten und Fotos, ein      gesprochen. Das zeigt sich auch auf        Model lasziv auf einem Werbeplakat
Fünftel um Hacking, zum Beispiel von       Gesetzesebene: Anfang Januar 2021          posiert mit schwarz übermaltem Ge-
Profilen auf Social Media.                 verbot das Hohe Gericht in Lahore          sicht. Solche versprayten Frauenbilder
   Mehr als 200 Anrufe pro Monat           Jungfräulichkeitstests, zwei Monate        sieht man in Pakistan oft. «Das ist
sind für das kleine Team zwar viel, für    zuvor waren die Strafen für Vergewal-      scheinheilig und klassische Ent-
ein Land mit 220 Millionen Einwoh-         tiger per Gesetz massiv verschärft wor-    menschlichung, Männer verunstalten
nern aber wenig. Tausende Opfer            den. Feministinnen und NGOs kriti-         das Gesicht, aber den Körper wollen
schaffen es nicht, sich bei der Helpline   sieren jedoch, dass das Justizsystem       sie trotzdem sehen», sagt Malik.
Hilfe zu holen. Zum Beispiel die vier      nicht funktioniere. Täter werden nur          Sie hat diese Illustration gemalt, als
Schwestern, die vor einigen Jahren         selten angezeigt, und noch viel seltener   sie von ihrem Masterabschluss in der
klatschend auf einem verwackelten          tatsächlich verhaftet oder bestraft.       amerikanischen Stadt Rochester nach-
Handyvideo zu sehen waren, vermut-            Auch die Anwältin Nighat Dad            hause kam. Malik wollte spazieren ge-
lich an einer Hochzeit, bevor die Ka-      hätte von Ehrenmord bedroht sein           hen, wie sie das in den USA gern getan
mera auf einen tanzenden Mann              können, wenn sich ihr Vater nicht für      hatte. Ihre Mutter sagte ihr, sie solle
schwenkte. Das Video wurde ganz im         sie eingesetzt hätte. Er war derjenige,    sich doch von ihrem Chauffeur beglei-
Norden Pakistans aufgenommen, in           der ihren Bruder überzeugte, sie stu-      ten lassen. «Ich bin eine ruhige Person,
der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, wo         dieren zu lassen, ihr einen Computer       ich rede nicht laut darüber, wie dumm
die Berge und Flüsse aussehen wie Bil-     zu kaufen. Nachdem ihr Bruder sie          oder frustrierend ich etwas finde. Ich
der aus einem Schweizer Reisekatalog.      beim Chatten erwischt hatte, ver-          drücke mich lieber beim Malen aus»,
Dort im Norden, wo das Gesetz der          bannte er das Gerät aus der Wohnung,       sagt Malik. Ihre Kunst stösst auf grosse
Stammesführer gilt, wo Schande mit         wollte ihr verbieten, weiter zu studie-    Resonanz. Massenweise Frauen teilen
                                                                                                                                  annabelle No. 7/2021

Blut vergolten wird, wurde das Video       ren. Sie blieb einige Zeit zuhause und     ihre Illustrationen auf Social Media,
im Dorf herumgeschickt – es war das        führte viele Überzeugungsgespräche,        und viele schreiben ihr: Mir gehts ge-
letzte Mal, dass die Schwestern gese-      danach durfte sie mit der Auflage strik-   nauso, aber ich darf das nicht sagen.
hen wurden.                                ter Sperrstunden wieder an die Uni-        Shehzil Malik bezeichnet sich selbst als
                                                                                                                                                         Die feministische
                                                                                                                                                         Künstlerin Shehzil
                                                                                                                                                         Malik im Garten
                                                                                                                                                         ihres Hauses in
                                                                                                                                                         Lahore
Das Gebet vor
dem Auftritt:
Tänzerinnen und
Tänzer im The
Colony in Lahore
                                           privilegiert, weil sie ihre Kunst unter     Malik sein, auch sie stammt aus der
                                           ihrem richtigen Namen veröffentlichen       Oberschicht, doch Fatima muss ihre
                                           kann und weil ihre Eltern sie unterstüt-    Kunst vor den Eltern verstecken. An
                                           zen. Der Vater arbeitete zwanzig Jahre      diesem Samstag Anfang Februar 2021
                                           lang als Rektor einer Universität, die      ist ihr grosser Auftritt, sie tanzt die
                                           Familie gehört zur Oberschicht, und         Hauptrolle in einer tragischen Liebes-
                                           dennoch empfindet es Malik als sehr         geschichte. Und nun steht sie da, um-
                                           anstrengend, ein eigenständiges Leben       klammert mit beiden Armen ihren
                                           zu führen. Die 33-Jährige, die als Schü-    Körper, der sonst gerade, grazile Rü-
                                           lerin nur Bestnoten schrieb, fühlt sich     cken ist nach vorn gekrümmt. Ihre
                                           in Pakistan häufig bevormundet: «So-        Mutter hat eben angerufen, sie habe er-
                                           lang du unverheiratet bist, behandeln
                                           dich alle wie ein Kind.» In ihren Krei-
                                           sen gehöre es sich für Frauen zum Bei-
                                                                                       fahren, dass sie tanze, jemand im Pu-
                                                                                       blikum werde ihr ein Video schicken.
                                                                                          Fatima ist eine von dreissig jungen
                                                                                                                                  "Ich habe
                                           spiel nicht, allein unterwegs zu sein.
                                           «Ich habe oft das Gefühl, dass wir wie
                                                                                       Pakistanerinnen und Pakistanern, die
                                                                                       an diesem Abend im Kunstzentrum
                                                                                                                                  oft das
                                           Hauskatzen sind.»
                                              Der Zugang zum Internet fühlte sich
                                           für Malik und ihre beiden Schwestern
                                                                                       The Colony in Lahore auf der Bühne
                                                                                       stehen, viele verheimlichen ihren El-
                                                                                       tern den Auftritt. Das Zentrum bietet
                                                                                                                                  Gefühl,
                                           deshalb wie ein Tor zur Freiheit an. Die
                                           Künstlerin sagt, ihr Profil auf Social
                                                                                       Kreativen seit 2019 einen Raum, der
                                                                                       bislang nicht existierte.                  dass wir
                                           Media sei für sie eine Nische, in der sie
                                           sich frei äussern könne und Menschen
                                           erreiche, die sie niemals im echten Le-
                                                                                          Um 20 Uhr, kurz vor Showbeginn,
                                                                                       sitzen junge Menschen dicht gedrängt
                                                                                       auf Kissen im Saal, alle tragen eine
                                                                                                                                  wie Haus-
                                           ben treffen würde. «Meine Arbeit hat
                                           mich gerettet und mir eine ganz neue
                                                                                       Maske. Während der Aufführung gilt:
                                                                                       Handys ausschalten, denn nicht nur         katzen
                                                                                                                                  sind"
                                           Welt eröffnet.» Sie konnte in den ver-      Fatima, auch die meisten anderen Tän-
                                           gangenen Jahren an viele Kunstausstel-      zerinnen und Tänzer haben Angst vor
                                           lungen im Ausland reisen, trotzdem          Fotos oder Videos, die auf Social Me-
                                           veränderte sich ihre Lebenssituation        dia landen. Ein Restrisiko bleibt, das     Shehzil Malik, Künstlerin
                                           in Pakistan kaum. Sie setzt sich weiter-    weiss die Tanzgruppe, doch sie vertraut
                                           hin auf die Schaukel in ihrem Garten,       darauf, dass alle im Raum an diesem
                                           wenn sie über neue Bildideen nach-          Abend Komplizinnen und Komplizen
                                           denkt, und zeichnet auf ihrem iPad auf      sind, die diese Oase der Freiheit schät-
                                           dem Sofa. Nun, seit dem Ausbruch der        zen und schützen.
                                           Corona-Pandemie, verlässt sie das              Das ist keineswegs selbstverständ-
                                           Haus noch seltener.                         lich in einem Land, in dem Menschen
                                              Obschon für Shehzil Malik die posi-      bei jeder Gelegenheit die Kamera für
                                           tiven Seiten des Internets klar über-       Selfies hochhalten: Beim Familienaus-
                                           wiegen, beeinf lussen die Hassnach-         flug in Parks, in Moscheen, in der neu
                                           richten von konservativen Usern ihr         eröffneten Metro Lahores; oder – wer
                                           Verhalten. Sie versucht zwar, negative      genug Geld hat – in einem der schicken
                                           Kommentare zu ignorieren und zu blo-        Cafés, die sich kaum von jenen in Zü-
                                           ckieren, doch aktuell publiziert sie viel   rich unterscheiden.
                                           weniger feministische oder politische          Fatima tritt ins schummrige Licht
                                           Motive, die Kontroversen auslösen           auf der Bühne. Sie trägt einen langen
                                           könnten. «Ich habe zurzeit nicht die        Jupe, darunter schwarze Leggins, das
                                           mentale Stärke dafür», sagt sie.            Oberteil liegt eng an ihrem zierlichen
                                              Eine Viertelstunde Autofahrt ent-        Körper. Ausser dem Ausschnitt, wel-
                    annabelle No. 7/2021

                                           fernt von Maliks Garten rennt die           cher knapp unter dem Schlüsselbein
                                           25-jährige Tänzerin Fatima mit blas-        endet, ist keine nackte Haut zu sehen.

                                                                                                                                                      33
«Die Männer ver-                           sem Gesicht aus dem Probesaal. Sie          Trotzdem wirkt Fatima sehr sinnlich,
unstalten das                              könnte eine jüngere Schwester von           ihre dunklen Locken fallen über die
Gesicht der Frau,
aber den Körper
wollen sie trotz-
dem sehen», sagt
Shehzil Malik
"Wenn alle Künstler und
Intellektuellen gehen, wer bleibt
dann, um das Land zu retten?"
                              Fatima, Tänzerin

 Schultern, schwarzer Lidstrich, die        Doch sie alle sind Teil einer Bewegung,     «Dieses Land kann hart sein, manch-
 Fingernägel rot lackiert. Etwas später     die in den Grossstädten des Landes          mal denke ich, ich kann nicht mehr.
 liegt sie dem männlichen Haupttänzer       ­heranwächst, die bestehende Lebens-        Aber dann sage ich mir: Mach weiter.»
 in den Armen, und ihre roten Lippen         modelle infrage stellt, die Auf bruch      Auch Fatima hat schon darüber nach-
 sind den seinen so nah, dass das Pub-       will statt Konservatismus.                 gedacht auszuwandern, doch «wenn
 likum den Unterschied zum Kuss                 Ihre Gegner, aus deren Kreisen auch     alle Künstler und Intellektuellen ge-
 kaum sehen kann.                            der Onlinehass gegen die Künstlerin        hen, wer bleibt dann, um das Land zu
    Fatima hat sich trotz der Warnung        Shehzil Malik und die Anwältin Nig-        retten?».
 ihrer Mutter entschieden, aufzutreten,      hat Dad stammt, sind konservativ-             Diejenigen, die bleiben, finden sich
 weil sie weiss: Ihre Eltern würden sie      religiöse Gruppen, die eine starke so-     mitten in einem Kulturkampf wieder.
 nicht umbringen, wie das andere, noch       ziale Kraft im Land sind und mit Mas-      Einem Kampf zwischen Islamisten und
 konservativere und vielleicht weniger       senprotesten ganze Stadtteile lahmle-      Progressiven, zwischen Vater und
 gebildete Eltern täten, wenn sie ein        gen können. An ihren Demonstrationen       Tochter, Vater und Sohn, zwischen Fa-
 Tanzvideo ihrer Tochter sähen. Aber         recken ältere und viele junge Männer       milien und Verwandten. Jannail Fazal,
 auch für sie würde die Strafe hart, sagt    die Fäuste in die Luft, manchmal neh-      die Leiterin der Helpline bei Nighat
 Fatima. Sie dürfte wahrscheinlich das       men in einem separaten Protestzug          Dads NGO sagt, viele Menschen in Pa-
 Haus für lange Zeit nicht mehr verlas-      auch verschleierte Frauen teil. In Pa-     kistan glaubten, die Lebensweise von
 sen, Handy weg, kein Kontakt mehr           kistan ist die Religiosität im Vergleich   jemandem zu akzeptieren sei das Glei-
 zur Aussenwelt. Nach der Show sagt          zu anderen islamischen Ländern zwar        che, wie dieser selbst zu folgen. «Wir
 sie hinter der Bühne: «Ich glaube,          hoch, doch gibt es unzählige Meinun-       alle müssen lernen, nebeneinander zu
 meine Mutter wollte mir nur Angst ma-       gen darüber, welche Art des Islams die     existieren.»
 chen, ich werde einfach alles abstrei-      richtige sei, oft herrscht darüber sogar      Bis es so weit ist, werden der Anwäl-
 ten.» Später am Abend schreibt sie          innerhalb einer Familie Uneinigkeit.       tin Nighat Dad weiterhin Männer on-
 via Whatsapp: Alles okay, sie haben         Auch Shehzil Malik, Nighat Dad und         line mit Vergewaltigung drohen. Im-
 nichts rausgefunden.                        die Tänzerin Fatima bezeichnen sich        mer mehr Junge und mehr Frauen in
    Die Auftritte im Kunstzentrum sind       als Musliminnen. In ihrer Version des      Pakistan werden auf ihren Smart-
 nicht für die Augen der breiten Öffent-     Islams gibt es keinen Widerspruch zum      phones scrollen und vielleicht zum ers-
 lichkeit gedacht. Viele Menschen in Pa-     Feminismus.                                ten Mal einer fremden Person schrei-
 kistan würden das Stück von Fatima             Viele junge Pakistanerinnen und Pa-     ben – wie heisst du, wo wohnst du, was
 und ihrer Gruppe höflich als «unmo-         kistaner fühlen sich eingeengt, wollen     arbeitest du.
 ralisch» bezeichnen – und dabei still       das Land verlassen. Die Künstlerin            An den Händen von manchem Va-
                                                                                                                                   annabelle No. 7/2021

 für sich denken: «Lauter Huren». Fa-        Shehzil Malik erzählt, zahlreiche          ter oder Bruder wird Blut kleben, und
 tima weiss das ebenso wie ihre Tanz-        Freunde von ihr würden ins Ausland         Pakistan wird ein gefährliches Land
 kolleginnen und -kollegen sowie die         ziehen, nach Australien, in die USA,       für Frauen bleiben, egal ob online oder
 150 jungen Menschen im Publikum.            einige nach London oder Deutschland.       offline.
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