22 Tödliche Posts - Karin A. Wenger
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Von der Nacht- Die Rolle der Frau ist in Pakistan surferin zur Kämpferin gegen Onlinegewalt: klar definiert: Ihre Aufgaben Nighat Dad sind Haushalt und Mutterschaft. Nun entdecken viele Frauen durch das Internet die Welt – und manche bezahlen diese neue Freiheit mit ihrem Leben. «Was tust du da?», fragte ihr ältester So erinnert sich Nighat Dad (39) an überhaupt Kinder gezeugt wurden. Im Bruder. Nighat Dad schreckte zusam- diese Nacht vor 19 Jahren. Bis heute er- 18. Jahrhundert, als Pakistan noch ein men, dachte: «Jetzt bin ich erledigt.» leben viele Frauen Ähnliches. Pakista- Teil Indiens war, gab es Frauen, die in Er stand hinter ihr, wer weiss, wie lang nerinnen bewegen sich immer zwi- ihrem gesamten Leben nur wenige schon, starrte auf den Bildschirm des schen Ehre und Sünde, das oberste Male das Haus verliessen. Später er- Computers und las mit, wie sie mit Gebot heisst «Log kya kahain gay?», möglichte ihnen die Burka etwas mehr einem unbekannten Mann chattete. auf Urdu bedeutet das: Was werden die Bewegungsfreiheit, da sie verhüllt auch Nichts Anrüchiges – wie heisst du, wo Leute sagen? Im Internet, da sind sich draussen quasi unsichtbar bleiben wohnst du, was arbeitest du – doch das breite Bevölkerungsschichten einig, sei konnten. spielte in diesem Moment keine Rolle. die Ehre der Frau besonders gefährdet. Purdah ist ein System, das das An- Ihr Herz raste. Es war mitten in der Nun, mit dem rasanten Ausbau der sehen der Frau und somit das ihrer Fa- Nacht, denn sie setzte sich immer erst Internetabdeckung und der steigenden milie schützen soll: Auf keinen Fall vor den Monitor, wenn ihre Familie, Anzahl von Smartphone-Besitzerin- darf sie Kontakt zu fremden Männern die in einem kleinen Dorf lebte, bereits nen, öffnet sich in Pakistan ein neues haben. Bis heute gibt es konservative im Bett lag. Kampffeld. Regionen, vor allem im ländlichen Ihr Bruder schrie, er habe gewusst, Millionen von Pakistanerinnen Nord- und Südwesten, wo Männer und dass das passiere, er habe ja immer ge- trauen sich nicht, ein Foto von sich on- Frauen komplett getrennt voneinander sagt, dass die Familie ihr verbieten line zu stellen. Aus gutem Grund: Sie leben. In Grossstädten vermischen sich sollte, an die Universität zu gehen, be- könnten dafür umgebracht werden. die Geschlechter mehr, doch Über- stimmt rede sie auch dort mit Män- Um das zu verstehen, hilft ein Blick in bleibsel von Purdah bleiben bestehen. nern. Vom Lärm geweckt trat ihre Mut- die Vergangenheit des Landes, das 1947 Egal wie liberal ein pakistanischer Va- ter ins Zimmer, was denn los sei, fragte als Staat für Muslime gegründet wurde. ter ist, er wird kaum erlauben, dass sich sie, und er antwortete: «Frag sie selbst, Traditionell war die Lebenswelt ge- die eigene Tochter allein mit Männern sie bringt Schande über unsere Fami- prägt von einem Prinzip namens Pur- ausserhalb der Verwandtschaft trifft. lie!» Er begann zu weinen. Ihre Mut- dah, wörtlich Vorhang, wonach Frauen Und nun bedrohen Smartphones und ter, die selbst nie zur Schule gegangen und Männer komplett getrennt vonei- das Internet das System Purdah – war, wusste nicht, was das Internet ist, nander lebten, sogar im eigenen Zu- klick, Kontrolle weg. 61 Millionen Pa- verstand nur, dass ihre Tochter etwas hause. Sie assen separat und schliefen kistanerinnen und Pakistaner nutzen Schlimmes getan haben musste, und separat, sodass man manchmal scherz- aktuell das Internet, das ist zwar nur annabelle No. 7/2021 schlug zu. haft die Frage hört, wie damals wohl gut ein Viertel der Bevölkerung, doch 24
27 Nighat Dad mit einer Mitarbeite- rin vor dem Gebäude ihrer Stiftung. Immer die Zahl wächst schnell: Es sind dieses sie beinahe etwas Alltägliches gewor- dabei: der Jahr schon elf Millionen mehr als im den sind. Leibwächter vergangenen, die Mehrheit geht via 2016, nachdem sie an pakistani- Smartphone online. schen Universitäten Vorträge über Ge- Von allen Weltregionen hat Süd- walt im Internet gehalten hatte, füllte asien die grösste Onlinekluft zwischen sich ihr Postfach mit E-Mails von den Geschlechtern, und in Pakistan ist Frauen, die online belästigt worden der Unterschied besonders ausgeprägt: waren. Dafür muss es eine Lösung ge- Für einen Mann ist die Wahrschein- ben, dachte sich Nighat Dad und stellte lichkeit, Zugang zu mobilem Internet in der Digital Rights Foundation ein zu haben, fast doppelt so hoch wie für Team zusammen, um eine telefonische eine Frau. «In vielen Dörfern dürfen Beratungsstelle zu lancieren. Frauen, besonders die jüngeren, kein «Niemand ausser Helpline-Personal Mobiltelefon besitzen. Die Männer sa- erlaubt» steht auf einem Post-It Zettel gen, das Internet sei schlecht für sie», an der Tür zu einem abgedunkelten sagt Nighat Dad, die vor fast zwei Jahr- Raum, wo zwei Beraterinnen vor je zehnten von ihrem Bruder am Compu- einem weissen, analogen Telefon sit- ter erwischt wurde. Sie selbst kaufte zen. An den Wänden kleben ausge- sich ihr erstes Handy heimlich und ver- druckte Bilder von Bollywood-Schau- steckte es, wie andere Frauen auch, in spielern, Hündchen und Karikaturen. ihrem BH, immer auf lautlos gestellt. «Unsere Arbeit ist sowieso schon be- Wir treffen die Anwältin Nighat drückend, also wollten wir uns mit Dad anfangs Februar im Büro ihrer Positivem umgeben», sagt Jannail Fa- 2012 gegründeten NGO Digital Rights Foundation in Lahore, der zweitgröss- ten Stadt des Landes. Die NGO ist eine zal (29). Die studierte Psychologin lei- tet die Helpline, deren Anrufer mehr- heitlich weiblich und unter dreissig "In vielen Anlaufstelle für Menschen, besonders für Frauen, die online Gewalt und Hass Jahre alt sind. Plötzlich läutet eines der Telefone, Dörfern erfahren, und sie engagiert sich für Bürgerrechte im Internet. An den Bü- rowänden hängen Zeitungsschnipsel wir müssen den Raum verlassen, denn die NGO verspricht allen Anruferin- nen, dass die Gespräche vertraulich dürfen mit Nighat Dads Porträt, Artikel über Kongresse auf der ganzen Welt, an und, falls gewünscht, anonym geführt werden. Vor der Tür erzählt Fazal, die Frauen denen sie teilgenommen hat, über die zahlreichen Auszeichnungen, die sie erhalten hat. eine Maske mit der Aufschrift «Hack the Patriarchy» trägt, was sie täglich hört: Junge Frauen rufen an, weil ein kein Mobil- Nighat Dad, dicke Brille, silbrig- glänzende Stiefel und eine Smartwatch Mann, zum Beispiel ein Kollege oder ein Ex-Freund, sie mit einem Foto er- telefon besitzen" am Handgelenk, gehört zu den profi- presst, manchmal sind es intime Bil- liertesten Aktivistinnen für Digital- der, oft aber ganz normale Porträts mit und Frauenrechte in Pakistan. Sie Kopftuch. Der Mann droht, die Fotos prägte mehrere Gesetzesartikel mit, an die Eltern zu schicken als Beweis, Nighat Dad, Anwältin unter anderem das Verbot von Säure- dass ihre Tochter mit einem fremden Angriffen, das die Gesichter von Mann in Kontakt stehe. Er verlangt Frauen, die Selfies posten oder Hei- von der Frau im Gegenzug für sein ratsanträge ablehnen, vor rachedursti- Schweigen, den Kontakt zu ihm auf- gen Männern schützen soll. rechtzuerhalten und manchmal auch Den ganzen Tag sitzt in der Ein- sexuelle Gefälligkeiten. gangshalle des Büros ein grosser Mann Die Beraterinnen begleiten, falls die mit breiten Schultern, der kaum ein Opfer das möchten, den strafrechtli- annabelle No. 7/2021 Wort sagt. Er ist Dads persönlicher Si- chen Prozess. Seit fünf Jahren gibt es cherheitsberater, der immer mit ihr in Pakistan ein Gesetz gegen Cyber- Sehen und gesehen unterwegs ist, sobald sie das Haus ver- kriminalität, das Hassrede und On- werden – aber lässt. Mord- und Vergewaltigungsdro- linebelästigung unter Strafe stellt. Das nur in der Familie: Ein Restaurant hungen erhält sie online so viele, dass Gesetz soll auch dazu dienen, gegen mit Sicht auf die Badshahi Moschee in Lahore
Nur unter sich so gelassen: Ein Bus voller christlicher Frauen auf dem Weg zur Messe annabelle No. 7/2021
30 Propaganda von Islamisten vorzuge- Oft geschehen solche Taten auf dem versität. Es war auch ihr Vater, der sie hen, ein weiteres grosses Problem im Land, doch auch in den Städten ster- zurück ins Familienhaus holte, als sie Land. Die Mitarbeiter der Strafverfol- ben Frauen. Ohne eine von vielen ihn anrief und stotterte, ihr Ehemann gung seien schlecht geschult, sagt Fa- Jahren des Terrorismus geprägte Ge- habe sie verprügelt und gedroht, den zal, oft würden sie den Opfern unter- sellschaft, in der die Hemmschwelle, gemeinsamen Sohn umzubringen. Es stellen, selbst schuld zu sein an den Gewalt einzusetzen, tief liegt, wäre war ihr Vater, der nicht auf den älteren Übergriffen. Ab und zu, sagt sie und das Ausmass der Onlinegewalt gegen Bruder und die Schwester hörte, die zögert kurz, seien Anruferinnen am Frauen kaum denkbar. Am Tag des insistierten, sie solle zurück zu ihrem Telefon, die darüber nachdenken, sich Besuchs bei der Anwältin Nighat Dad Mann, denn: Was werden bloss die etwas anzutun. Meist kann sie das titelte eine Tageszeitung: «Mutter Leute sagen? Helpline-Team beruhigen, in seltenen zweier kleiner Töchter in Lahore von In einem ruhigen Wohnquartier Fällen ist die Verzweif lung zu gross. Verwandten ermordet, weil sie keinen westlich der Digital Rights Foundation «Wir fühlen uns in solchen Momenten Jungen gebar.» Pakistan ist weltweit träumt die Künstlerin Shehzil Malik sehr hilflos», sagt Jannail Fazal. eines der gefährlichsten Länder für (33) nachts manchmal, dass sie mit 2020 läuteten die weissen Telefone Frauen. Human Rights Watch schätzt, Säure überschüttet wird. Diese Alb- so oft wie nie zuvor: 2551 Anrufe, plus dass etwa tausend Pakistanerinnen je- träume verfolgen sie, wenn sie viele 747 Anfragen per E-Mail – total sieb- des Jahr Opfer von sogenannten Eh- Hassnachrichten erhält. Malik kreiert zig Prozent mehr Fälle als im Vorjahr. renmorden werden. In den vergange- feministische Illustrationen, die sie Besonders während des Covid-19- nen Jahren führten mehrere Fälle von über Facebook und Instagram verbrei- Lockdowns erreichte das Team ein Vergewaltigungen, Zwangsheirat und tet. Eines ihrer ersten Bilder, die viral Schwall an Meldungen von Online Säureangriffen zu gesellschaftlichen gingen, zeigt eine verhüllte Frau, die gewalt und Belästigungen. Ein Drittel Debatten im Land, über solche The- von Männern auf der Strasse ange- der Anrufe drehte sich um Erpressung men wird jetzt zunehmend offener starrt wird, während hinter ihnen ein mit persönlichen Daten und Fotos, ein gesprochen. Das zeigt sich auch auf Model lasziv auf einem Werbeplakat Fünftel um Hacking, zum Beispiel von Gesetzesebene: Anfang Januar 2021 posiert mit schwarz übermaltem Ge- Profilen auf Social Media. verbot das Hohe Gericht in Lahore sicht. Solche versprayten Frauenbilder Mehr als 200 Anrufe pro Monat Jungfräulichkeitstests, zwei Monate sieht man in Pakistan oft. «Das ist sind für das kleine Team zwar viel, für zuvor waren die Strafen für Vergewal- scheinheilig und klassische Ent- ein Land mit 220 Millionen Einwoh- tiger per Gesetz massiv verschärft wor- menschlichung, Männer verunstalten nern aber wenig. Tausende Opfer den. Feministinnen und NGOs kriti- das Gesicht, aber den Körper wollen schaffen es nicht, sich bei der Helpline sieren jedoch, dass das Justizsystem sie trotzdem sehen», sagt Malik. Hilfe zu holen. Zum Beispiel die vier nicht funktioniere. Täter werden nur Sie hat diese Illustration gemalt, als Schwestern, die vor einigen Jahren selten angezeigt, und noch viel seltener sie von ihrem Masterabschluss in der klatschend auf einem verwackelten tatsächlich verhaftet oder bestraft. amerikanischen Stadt Rochester nach- Handyvideo zu sehen waren, vermut- Auch die Anwältin Nighat Dad hause kam. Malik wollte spazieren ge- lich an einer Hochzeit, bevor die Ka- hätte von Ehrenmord bedroht sein hen, wie sie das in den USA gern getan mera auf einen tanzenden Mann können, wenn sich ihr Vater nicht für hatte. Ihre Mutter sagte ihr, sie solle schwenkte. Das Video wurde ganz im sie eingesetzt hätte. Er war derjenige, sich doch von ihrem Chauffeur beglei- Norden Pakistans aufgenommen, in der ihren Bruder überzeugte, sie stu- ten lassen. «Ich bin eine ruhige Person, der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, wo dieren zu lassen, ihr einen Computer ich rede nicht laut darüber, wie dumm die Berge und Flüsse aussehen wie Bil- zu kaufen. Nachdem ihr Bruder sie oder frustrierend ich etwas finde. Ich der aus einem Schweizer Reisekatalog. beim Chatten erwischt hatte, ver- drücke mich lieber beim Malen aus», Dort im Norden, wo das Gesetz der bannte er das Gerät aus der Wohnung, sagt Malik. Ihre Kunst stösst auf grosse Stammesführer gilt, wo Schande mit wollte ihr verbieten, weiter zu studie- Resonanz. Massenweise Frauen teilen annabelle No. 7/2021 Blut vergolten wird, wurde das Video ren. Sie blieb einige Zeit zuhause und ihre Illustrationen auf Social Media, im Dorf herumgeschickt – es war das führte viele Überzeugungsgespräche, und viele schreiben ihr: Mir gehts ge- letzte Mal, dass die Schwestern gese- danach durfte sie mit der Auflage strik- nauso, aber ich darf das nicht sagen. hen wurden. ter Sperrstunden wieder an die Uni- Shehzil Malik bezeichnet sich selbst als Die feministische Künstlerin Shehzil Malik im Garten ihres Hauses in Lahore
Das Gebet vor dem Auftritt: Tänzerinnen und Tänzer im The Colony in Lahore privilegiert, weil sie ihre Kunst unter Malik sein, auch sie stammt aus der ihrem richtigen Namen veröffentlichen Oberschicht, doch Fatima muss ihre kann und weil ihre Eltern sie unterstüt- Kunst vor den Eltern verstecken. An zen. Der Vater arbeitete zwanzig Jahre diesem Samstag Anfang Februar 2021 lang als Rektor einer Universität, die ist ihr grosser Auftritt, sie tanzt die Familie gehört zur Oberschicht, und Hauptrolle in einer tragischen Liebes- dennoch empfindet es Malik als sehr geschichte. Und nun steht sie da, um- anstrengend, ein eigenständiges Leben klammert mit beiden Armen ihren zu führen. Die 33-Jährige, die als Schü- Körper, der sonst gerade, grazile Rü- lerin nur Bestnoten schrieb, fühlt sich cken ist nach vorn gekrümmt. Ihre in Pakistan häufig bevormundet: «So- Mutter hat eben angerufen, sie habe er- lang du unverheiratet bist, behandeln dich alle wie ein Kind.» In ihren Krei- sen gehöre es sich für Frauen zum Bei- fahren, dass sie tanze, jemand im Pu- blikum werde ihr ein Video schicken. Fatima ist eine von dreissig jungen "Ich habe spiel nicht, allein unterwegs zu sein. «Ich habe oft das Gefühl, dass wir wie Pakistanerinnen und Pakistanern, die an diesem Abend im Kunstzentrum oft das Hauskatzen sind.» Der Zugang zum Internet fühlte sich für Malik und ihre beiden Schwestern The Colony in Lahore auf der Bühne stehen, viele verheimlichen ihren El- tern den Auftritt. Das Zentrum bietet Gefühl, deshalb wie ein Tor zur Freiheit an. Die Künstlerin sagt, ihr Profil auf Social Kreativen seit 2019 einen Raum, der bislang nicht existierte. dass wir Media sei für sie eine Nische, in der sie sich frei äussern könne und Menschen erreiche, die sie niemals im echten Le- Um 20 Uhr, kurz vor Showbeginn, sitzen junge Menschen dicht gedrängt auf Kissen im Saal, alle tragen eine wie Haus- ben treffen würde. «Meine Arbeit hat mich gerettet und mir eine ganz neue Maske. Während der Aufführung gilt: Handys ausschalten, denn nicht nur katzen sind" Welt eröffnet.» Sie konnte in den ver- Fatima, auch die meisten anderen Tän- gangenen Jahren an viele Kunstausstel- zerinnen und Tänzer haben Angst vor lungen im Ausland reisen, trotzdem Fotos oder Videos, die auf Social Me- veränderte sich ihre Lebenssituation dia landen. Ein Restrisiko bleibt, das Shehzil Malik, Künstlerin in Pakistan kaum. Sie setzt sich weiter- weiss die Tanzgruppe, doch sie vertraut hin auf die Schaukel in ihrem Garten, darauf, dass alle im Raum an diesem wenn sie über neue Bildideen nach- Abend Komplizinnen und Komplizen denkt, und zeichnet auf ihrem iPad auf sind, die diese Oase der Freiheit schät- dem Sofa. Nun, seit dem Ausbruch der zen und schützen. Corona-Pandemie, verlässt sie das Das ist keineswegs selbstverständ- Haus noch seltener. lich in einem Land, in dem Menschen Obschon für Shehzil Malik die posi- bei jeder Gelegenheit die Kamera für tiven Seiten des Internets klar über- Selfies hochhalten: Beim Familienaus- wiegen, beeinf lussen die Hassnach- flug in Parks, in Moscheen, in der neu richten von konservativen Usern ihr eröffneten Metro Lahores; oder – wer Verhalten. Sie versucht zwar, negative genug Geld hat – in einem der schicken Kommentare zu ignorieren und zu blo- Cafés, die sich kaum von jenen in Zü- ckieren, doch aktuell publiziert sie viel rich unterscheiden. weniger feministische oder politische Fatima tritt ins schummrige Licht Motive, die Kontroversen auslösen auf der Bühne. Sie trägt einen langen könnten. «Ich habe zurzeit nicht die Jupe, darunter schwarze Leggins, das mentale Stärke dafür», sagt sie. Oberteil liegt eng an ihrem zierlichen Eine Viertelstunde Autofahrt ent- Körper. Ausser dem Ausschnitt, wel- annabelle No. 7/2021 fernt von Maliks Garten rennt die cher knapp unter dem Schlüsselbein 25-jährige Tänzerin Fatima mit blas- endet, ist keine nackte Haut zu sehen. 33 «Die Männer ver- sem Gesicht aus dem Probesaal. Sie Trotzdem wirkt Fatima sehr sinnlich, unstalten das könnte eine jüngere Schwester von ihre dunklen Locken fallen über die Gesicht der Frau, aber den Körper wollen sie trotz- dem sehen», sagt Shehzil Malik
"Wenn alle Künstler und Intellektuellen gehen, wer bleibt dann, um das Land zu retten?" Fatima, Tänzerin Schultern, schwarzer Lidstrich, die Doch sie alle sind Teil einer Bewegung, «Dieses Land kann hart sein, manch- Fingernägel rot lackiert. Etwas später die in den Grossstädten des Landes mal denke ich, ich kann nicht mehr. liegt sie dem männlichen Haupttänzer heranwächst, die bestehende Lebens- Aber dann sage ich mir: Mach weiter.» in den Armen, und ihre roten Lippen modelle infrage stellt, die Auf bruch Auch Fatima hat schon darüber nach- sind den seinen so nah, dass das Pub- will statt Konservatismus. gedacht auszuwandern, doch «wenn likum den Unterschied zum Kuss Ihre Gegner, aus deren Kreisen auch alle Künstler und Intellektuellen ge- kaum sehen kann. der Onlinehass gegen die Künstlerin hen, wer bleibt dann, um das Land zu Fatima hat sich trotz der Warnung Shehzil Malik und die Anwältin Nig- retten?». ihrer Mutter entschieden, aufzutreten, hat Dad stammt, sind konservativ- Diejenigen, die bleiben, finden sich weil sie weiss: Ihre Eltern würden sie religiöse Gruppen, die eine starke so- mitten in einem Kulturkampf wieder. nicht umbringen, wie das andere, noch ziale Kraft im Land sind und mit Mas- Einem Kampf zwischen Islamisten und konservativere und vielleicht weniger senprotesten ganze Stadtteile lahmle- Progressiven, zwischen Vater und gebildete Eltern täten, wenn sie ein gen können. An ihren Demonstrationen Tochter, Vater und Sohn, zwischen Fa- Tanzvideo ihrer Tochter sähen. Aber recken ältere und viele junge Männer milien und Verwandten. Jannail Fazal, auch für sie würde die Strafe hart, sagt die Fäuste in die Luft, manchmal neh- die Leiterin der Helpline bei Nighat Fatima. Sie dürfte wahrscheinlich das men in einem separaten Protestzug Dads NGO sagt, viele Menschen in Pa- Haus für lange Zeit nicht mehr verlas- auch verschleierte Frauen teil. In Pa- kistan glaubten, die Lebensweise von sen, Handy weg, kein Kontakt mehr kistan ist die Religiosität im Vergleich jemandem zu akzeptieren sei das Glei- zur Aussenwelt. Nach der Show sagt zu anderen islamischen Ländern zwar che, wie dieser selbst zu folgen. «Wir sie hinter der Bühne: «Ich glaube, hoch, doch gibt es unzählige Meinun- alle müssen lernen, nebeneinander zu meine Mutter wollte mir nur Angst ma- gen darüber, welche Art des Islams die existieren.» chen, ich werde einfach alles abstrei- richtige sei, oft herrscht darüber sogar Bis es so weit ist, werden der Anwäl- ten.» Später am Abend schreibt sie innerhalb einer Familie Uneinigkeit. tin Nighat Dad weiterhin Männer on- via Whatsapp: Alles okay, sie haben Auch Shehzil Malik, Nighat Dad und line mit Vergewaltigung drohen. Im- nichts rausgefunden. die Tänzerin Fatima bezeichnen sich mer mehr Junge und mehr Frauen in Die Auftritte im Kunstzentrum sind als Musliminnen. In ihrer Version des Pakistan werden auf ihren Smart- nicht für die Augen der breiten Öffent- Islams gibt es keinen Widerspruch zum phones scrollen und vielleicht zum ers- lichkeit gedacht. Viele Menschen in Pa- Feminismus. ten Mal einer fremden Person schrei- kistan würden das Stück von Fatima Viele junge Pakistanerinnen und Pa- ben – wie heisst du, wo wohnst du, was und ihrer Gruppe höflich als «unmo- kistaner fühlen sich eingeengt, wollen arbeitest du. ralisch» bezeichnen – und dabei still das Land verlassen. Die Künstlerin An den Händen von manchem Va- annabelle No. 7/2021 für sich denken: «Lauter Huren». Fa- Shehzil Malik erzählt, zahlreiche ter oder Bruder wird Blut kleben, und tima weiss das ebenso wie ihre Tanz- Freunde von ihr würden ins Ausland Pakistan wird ein gefährliches Land kolleginnen und -kollegen sowie die ziehen, nach Australien, in die USA, für Frauen bleiben, egal ob online oder 150 jungen Menschen im Publikum. einige nach London oder Deutschland. offline.
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