5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz - position // januar 2016

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5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz - position // januar 2016
position // januar 2016
5-Punkte-Programm für einen
nachhaltigen Pflanzenschutz
5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz - position // januar 2016
Impressum

Herausgeber:
Umweltbundesamt
Fachgebiet IV 1.3 Pflanzenschutzmittel
Postfach 14 06
06813 Dessau-Roßlau
Tel: +49 340-2103-0
info@umweltbundesamt.de
Internet: www.umweltbundesamt.de

   /umweltbundesamt.de
   /umweltbundesamt

Autoren:
Tobias Frische, Sina Egerer, Steffen Matezki,
Christina Pickl, Jörn Wogram

Publikationen als pdf:
www.umweltbundesamt.de/publikationen/5-punkte-
programm-fuer-einen-nachhaltigen

Bildquellen:
Sallenbuscher | fotolia.com

Stand: Januar 2016

ISSN 2363-829X
5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz - position // januar 2016
Inhalt

I.    Erweiterte Zusammenfassung                                                       4

II.   Beschreibung der Ausgangslage                                                    7
a)    Systembedingte Abhängigkeit vom chemischen Pflanzenschutz                        7
b)    Risiken und Nebenwirkungen – staatlich geprüft und geregelt                      8
c)    Rest-Risiko, Gesamtrisiko, Umwelteffekte                                        10
d)    Chemischer Pflanzenschutz und Nachhaltigkeit – ein politisch strittiges Thema   12

III. 5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz                          14
1.    Einsatz minimieren                                                              14
2.    Risiken identifizieren, quantifizieren und kommunizieren                        18
3.    Risikomanagement optimieren                                                     22
4.    Unvermeidbare Auswirkungen kompensieren                                         24
5.    Externe Kosten internalisieren                                                  27

IV. Verwendete Literatur                                                              30
I. Erweiterte Zusammenfassung
Unterstützt durch die europäische und nationale         schnittlicher jährlicher Einsatz von 8,8 kg Pflanzen-
Agrarförderung der letzten Jahrzehnte hat sich der      schutzmitteln bzw. 2,8 kg Pflanzenschutzmittel-Wirk-
konventionelle Anbau von Kulturpflanzen als Fun-        stoffen auf jeden Hektar Anbaufläche.
dament einer in Deutschland heute zunehmend
intensiven Landwirtschaft und Lebensmittelpro-          Diese Intensität des chemischen Pflanzenschutzes
duktion etabliert. Eine wesentliche Voraussetzung       hat erhebliche negative Auswirkungen auf Natur und
für die Leistungsfähigkeit dieser Produktionsweise      Umwelt. Die von Rachel Carson vor mehr als fünf-
ist bei vielen Anbaukulturen der intensive Einsatz      zig Jahren in ihrem Klassiker „Stummer Frühling“
chemischer Pflanzenschutzmittel, was faktisch eine      ausgesprochenen Mahnungen gelten insofern auch
systembedingte Abhängigkeit bedeutet. Diese findet      für die modernen und viel besser geprüften Pflan-
ihren Ausdruck in der Annahme, dass die derzeitigen     zenschutzmittel. Beispiele für die aktuelle Relevanz
Anwendungsmengen und Anwendungshäufigkeiten             der Umweltauswirkungen des chemischen Pflanzen-
chemischer Pflanzenschutzmitteln das „notwendige        schutzes sind:
Maß“ darstellen.
                                                        ▸▸ die Auswirkungen der weiträumigen Anwendung
Was Kulturpflanzen schützt und damit dem Land-             von Insektiziden aus der Gruppe der Neonikoti-
wirt nützt, stellt für Natur und Umwelt hingegen           noide auf Honigbienen und Wildbestäuber (z. B.
eine Belastung dar. Denn auch für die heute einge-         Hummeln)
setzten Insektizide, Herbizide und Fungizide gilt im    ▸▸ die fortschreitende Verarmung der Pflanzenwelt in
Allgemeinen: Keine (pflanzenschützende) Wirkung            der Agrarlandschaft infolge des flächendeckenden
ohne Nebenwirkung (auf Natur und Umwelt). Wegen            Einsatzes von Herbiziden (z. B. Glyphosat), womit
ihres hohen Umweltgefährdungspotenzials und weil           Wildtieren die Nahrungsgrundlage entzogen wird
sie in erheblichen Mengen großflächig in der Land-      ▸▸ die regelmäßigen Funde von Pflanzenschutzmit-
schaft ausgebracht werden, ist die Anwendung von           tel-Rückständen im Grundwasser (z. B. Bentazon,
Pflanzenschutzmitteln daher nur nach erfolgreichem         Isoproturon, Chloridazon).
Bestehen eines strengen Prüf- und Zulassungsver-
fahrens gestattet. Zuständig für die Bewertung der      Insbesondere auch, um den Umweltauswirkungen
Umweltrisiken ist dabei in Deutschland das Umwelt-      des chemischen Pflanzenschutzes zu begegnen, wur-
bundesamt (UBA).                                        de im Jahr 2009 eine Rahmenrichtlinie („sustainable
                                                        use directive“) verabschiedet, die „Nachhaltigkeit“
Doch auch wenn das UBA die zu erwartenden Um-           als politisches Ziel für den Pflanzenschutz in Europa
weltauswirkungen jedes einzelnen zugelassenen           installiert. Die Richtlinie verpflichtet die Mitglied-
Pflanzenschutzmittels als vertretbar eingestuft hat,    staaten zur Aufstellung nationaler Aktionspläne,
verbleiben nicht abschließend einschätzbare Restrisi-   „zur Verringerung der Risiken und Auswirkungen
ken des chemischen Pflanzenschutzes, z. B. hinsicht-    der Verwendung von Pestiziden auf die menschliche
lich langfristiger Auswirkungen. Zudem betrachtet       Gesundheit und die Umwelt (…) und die Entwicklung
die derzeitige Umweltprüfung jedes Pflanzenschutz-      und Einführung eines integrierten Pflanzenschutzes
mittel isoliert, obwohl die meisten Kulturpflanzen      sowie von alternativen Konzepten oder Techniken zur
pro Saison mehrmalig mit verschiedenen Pflanzen-        Verringerung der Abhängigkeit von der Verwendung
schutzmitteln behandelt werden – mit sogenannten        von Pestiziden (…).“ Einige der für den Natur- und
Behandlungsregimes bzw. Spritzserien­.                  Umweltschutz wichtigen Anforderungen dieser Richt-
                                                        linie werden mit dem im Jahr 2013 von der Bundes-
Für das Gesamtrisiko bzw. für die tatsächlichen         regierung beschlossenen „Nationalen Aktionsplan
Umweltauswirkungen ist daher die Summe der              zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutz-
Anwendungen bzw. Anwendungsmengen, d. h. die            mitteln“ umgesetzt. Entwickelt wurde der deutsche
Gesamtintensität des chemischen Pflanzenschutzes,       Aktionsplan in einem gesellschaftlichen Beteili-
entscheidend. Für die deutsche Landwirtschaft ergibt    gungs- und Diskussionsprozess, wobei von Seiten
sich nach Berechnungen des UBA derzeit ein durch-       der Umwelt- und Naturschutzverbände wiederholt

4
kritisch geäußert wurde, „man orientiere sich beim      ▸▸ Chemischen Pflanzenschutz in privaten Gärten
Aktionsplan zu sehr an den Interessen der Agrarin-         und öffentlichem Grün vermeiden.
dustrie“. Auch das UBA war an der Erarbeitung des       ▸▸ Ein klares Reduktionsziel für die jährliche Ein-
Aktionsplans beteiligt und hat sich für die Realisie-      satzmenge chemischer Pflanzenschutzmittel in
rung von möglichst konkreten, verbindlichen und            Deutschland definieren.
ambitionierten Zielen und Maßnahmen im Bereich
Umwelt- und Naturschutz eingesetzt. Dies ist nur
                                                        2.    Risiken identifizieren, quantifizieren
teilweise gelungen, weshalb aus UBA-Sicht deutlicher
                                                              und kommunizieren
Nachbesserungsbedarf für die in 2016/2017 anste-
hende Überarbeitung des Aktionsplans besteht.
                                                        Chemischer Pflanzenschutz ist und bleibt grund-
                                                        sätzlich „riskant“ für Natur und Umwelt. Aus diesem
So ist nach fachlicher Überzeugung des UBA die der-
                                                        Grund ist vor der Zulassung von Pflanzenschutz-
zeitige Intensität des chemischen Pflanzenschutzes
                                                        mitteln eine Umweltrisikobewertung gesetzlich
in Deutschland ökologisch nicht nachhaltig und ge-
                                                        vorgeschrieben. Allerdings weist die heutige Umwelt-
fährdet das Erreichen wesentlicher Ziele der Umwelt-
                                                        prüfung nach wie vor einige Bewertungslücken auf.
und Naturschutzpolitik. Ein Pflanzenschutz, der das
                                                        So werden zum Beispiel Auswirkungen auf Amphi-
Attribut „nachhaltig“ verdient, muss die Anforderung
                                                        bien, Reptilien oder Wildbestäuber nicht genügend
„dauerhaft umweltgerecht“ tatsächlich einlösen. Um
                                                        berücksichtigt. Deshalb ist die Weiterentwicklung
eine in diesem Wortsinn dringend notwendige „nach-
                                                        der Umweltprüfung von Pflanzenschutzmitteln zur
haltige Entwicklung“ im Pflanzenschutz voranzu-
                                                        Berücksichtigung des Standes von Wissenschaft und
bringen, empfiehlt das UBA eine über die relevanten
                                                        Technik ein kontinuierlicher Prozess. Dies ist erfor-
Politikfelder (Pflanzenschutz-, Umwelt-, Naturschutz-
                                                        derlich, bedeutet aber auch: Die Umweltprüfung wird
und Agrarpolitik) integrierende Ausrichtung an den
                                                        immer umfassender und aufwändiger.
folgenden fünf Grundprinzipien:

                                                        Es gibt jedoch einen zusätzlichen Treiber, der dafür
1.    Einsatz minimieren
                                                        verantwortlich ist, dass sowohl der Umfang als auch
                                                        die wissenschaftliche Komplexität der Umweltprü-
Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes ist eine
                                                        fung stetig zunehmen: Die Hersteller von Pflanzen-
konsequente Minimierung des Einsatzes chemi-
                                                        schutzmitteln bemühen sich mit der Vorlage von
scher Pflanzenschutzmittel geboten. Das Argument
                                                        immer aufwändigeren sogenannten „verfeinerten“
vom „notwendigen Maß“ des derzeitigen intensiven
                                                        (d. h. für bestimmte Prüfbereiche realitätsnäheren)
Einsatzes ist als unangemessene Legitimation für die
                                                        Risikobewertungen um die Zulassung von bzw. die
Abhängigkeit der konventionellen Landwirtschaft
                                                        Vermeidung von Umweltauflagen für ihre beantrag-
vom chemischen Pflanzenschutz zurückzuweisen.
                                                        ten Produkte.
Vielmehr ist die Politik gefordert, Rahmenbedingun-
gen für ein deutlich maßvolleres „notwendiges Maß“
                                                        Diese Entwicklung ist aus fachlicher (Protektivität der
bzw. für eine generelle Minimierung des Einsatzes
                                                        Bewertung), als auch rechtsstaatlicher (demokrati-
chemischer Pflanzenschutzmittel zu gestalten. Das
                                                        sche Legitimation und Unabhängigkeit von Experten-
UBA empfiehlt hierfür folgende Maßnahmen und
                                                        entscheidungen, Transparenz, Bewertungsaufwand)
Instrumente:
                                                        Sicht kritisch zu hinterfragen. Das UBA engagiert sich
                                                        in der Risikobewertung um die Umsetzung folgender
▸▸ Ein generelles Minimierungsgebot im Pflanzen-
                                                        Maßnahmen und Instrumente:
   schutzrecht wirksam verankern.
▸▸ Den Integrierten Pflanzenschutz (IPS) auf seinen
                                                        ▸▸ Bewertungslücken („blinde Flecken“) und Bewer-
   Grundgedanken – vorrangiger Einsatz nicht-che-
                                                           tungsunsicherheiten im gesetzlich vorgeschrie-
   mischer Pflanzenschutzverfahren – verpflichten
                                                           benen Prüfverfahren für Pflanzenschutzmittel
   und fördern.
                                                           beseitigen.
▸▸ Den Ausbau des Ökolandbaus konsequent unter-
                                                        ▸▸ Umweltrisiken beschreiben und managen statt sie
   stützen.
                                                           mit überkomplexen und unzureichend validierten
▸▸ Eine flächendeckende unabhängige Pflanzen-
                                                           Methoden „wegzurechnen“.
   schutzberatung gewährleisten.

                                                                                                               5
▸▸ Gefährliche Wirkstoffe gemäß Ausschlusskriterien      beabsichtigte Beseitigung von Ackerbegleitkräutern
   auf europäischer Ebene verbieten.                     und ackerlebenden Insekten durch Pflanzenschutz-
▸▸ Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Ent-          mittel führt zu einer so starken Reduzierung des Nah-
   scheidungsprozesse und Entscheidungen im              rungsangebotes für Wildtiere (wie z. B. das Rebhuhn),
   Zulassungsverfahren von Pflanzenschutzmitteln         dass diese sich nicht erfolgreich fortpflanzen können
   weiter verbessern.                                    und in der Folge in ihrem Bestand abnehmen.Diese
▸▸ Die Risiken und Auswirkungen auf die Umwelt,          indirekten Effekte auf die biologische Vielfalt werden
   die aus der Intensität des chemischen Pflanzen-       in der bisherigen Umweltprüfung von Pflanzen-
   schutzes in seiner Gesamtheit in Deutschland          schutzmitteln nicht angemessen berücksichtigt, und
   resultieren, besser beschreiben.                      dies, obwohl der Schutz der Biodiversität eine eindeu-
                                                         tige Anforderung im Pflanzenschutzrecht ist.
3. Risikomanagement optimieren
                                                         Die indirekten Effekte auf die biologische Vielfalt sind
Pflanzenschutzmittel werden direkt in die Umwelt         aus Sicht des UBA durch Bereitstellung ökologischer
ausgebracht. Ziel muss daher mindestens sein, den        Ausgleichsflächen zu kompensieren: Diese sollen die
Eintrag bzw. die Ausbreitung von Pflanzenschutz-         nicht vermeidbaren direkten Effekte der Pflanzen-
mitteln und ihren Rückständen in angrenzende             schutzmittel in den Behandlungsflächen so weit kom-
Nichtzielflächen, natürliche Schutzgüter (z. B. Grund-   pensieren, dass auch die indirekten Nahrungsnetz-
wasser) und Lebensräume so weit wie möglich zu           Effekte auf ein vertretbares Maß reduziert werden.
vermeiden. Dies erfordert die bestmögliche Ausschöp-     Die derzeitigen agrarpolitischen Anforderungen und
fung der technisch verfügbaren und wirtschaftlich        Instrumente für den Schutz der Biodiversität (5 Pro-
zumutbaren Optionen zum Risikomanagement. Das            zent ökologische Vorrangflächen gemäß Greening der
UBA empfiehlt zur Optimierung des Risikomanage-          Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und Agrarumwelt-
ments folgende Maßnahmen und Instrumente:                maßnahmen aus der „zweiten Säule“ der GAP) sind
                                                         nach Einschätzung des UBA nicht ausreichend.
▸▸ Den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in Natur-
   schutzgebieten grundsätzlich verbieten.                Um den pflanzenschutzrechtlich geforderten Schutz
▸▸ Den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in Trink-       der biologischen Vielfalt in stark agrarisch geprägten
   wasserschutzgebieten einschränken bzw. wo             Landschaften sicherzustellen, sieht das UBA daher
   immer möglich vermeiden.                              die Notwendigkeit, das Risikomanagement von Pflan-
▸▸ Die zügige Verbreitung der besten verfügbaren         zenschutzmitteln zu erweitern: Voraussetzung für die
   Ausbringungstechnik für Pflanzenschutzmittel          Anwendung von Pflanzenschutzmitteln mit einem
   unterstützen und ein Mindestmaß an Risikoma-          hohen Risiko für indirekte Effekte auf die biologische
   nagement (z. B. driftmindernde Technik) fest-         Vielfalt sollte das Vorhandensein von ökologischen
   schreiben.                                            Ausgleichsflächen ohne Pflanzenschutzmittel-Einsatz
▸▸ Die Einhaltung der Anwendungsauflagen von             (z. B. Brachflächen, Blühstreifen und unbehan-
   Pflanzenschutzmitteln mit einem wirksamen Kon-        delte Dünnsaaten) auf Betriebsebene sein. Mit der
   trollprogramm sicherstellen.                          Einführung entsprechender Anwendungsauflagen
▸▸ Flächendeckende Anlage dauerhaft natürlich            bleibt eine gesetzeskonforme Zulassung von Pflan-
   bewachsener Rand- und Pufferstreifen zur Redu-        zenschutzmitteln mit hohem Risiko für indirekte
   zierung des Eintrages von Pflanzenschutzmitteln       Effekte auf die biologische Vielfalt weiterhin möglich.
   in angrenzende Flächen oder Gewässer.                 Gleichzeitig dient die Maßnahme der Umsetzung der
                                                         Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt.

4.    Unvermeidbare Auswirkungen
      kompensieren
                                                         5.    Externe Kosten internalisieren
Die unvermeidbaren indirekten Effekte des chemi-
schen Pflanzenschutzes sind einer der relevanten         Der kurzfristige Nutzen des Einsatzes chemischer
Faktoren für den Rückgang der biologischen Vielfalt      Pflanzenschutzmittel für die Produzenten (stabile,
in der deutschen Agrarlandschaft. Die weiträumige        hohe Erträge und Vermarktungsqualität) ist offen-

6
sichtlich und auch für die Konsumenten ergeben             als „extern“ bezeichnet, da sie sich nicht oder nicht
sich Vorteile (Versorgungssicherheit, niedrige Ver-        vollständig im Marktpreis der Pflanzenschutzmittel,
braucherpreise). Es ist aber fraglich, ob der derzeitige   Erntegüter und Lebensmittel widerspiegeln. Nach
intensive chemische Pflanzenschutz mit Blick auf die       Auffassung des UBA ist Aufklärungsarbeit und eine
gesellschaftliche Dimension tatsächlich nachhaltig         politische Diskussion über sowohl das Ausmaß als
ist. Die offenen Fragen lauten hier:                       auch die gesellschaftliche Verteilung der externen
                                                           Kosten des chemischen Pflanzenschutzes in Deutsch-
▸▸ Überwiegt der gesellschaftliche Nutzen die gesell-      land notwendig.
   schaftlichen Kosten?
▸▸ Sind Nutzen und Kosten fair zwischen den Akteu-         Zunächst gilt es, die für eine sachliche und faktenba-
   ren (PSM-Hersteller, Landwirte, Handel, Konsu-          sierte Diskussion erforderlichen sozio-ökonomischen
   menten) und Betroffenen (Bürger, Steuerzahler,          Analysen durchzuführen. In einem zweiten Schritt
   zukünftige Generationen) verteilt?                      sind die Möglichkeiten und Grenzen politischer In-
                                                           strumente zur Kompensation der Effekte von Markt-
Die von der gesamten Gesellschaft zu tragenden             verzerrungen bzw. zur Internalisierung der externen
„sozialisierten“ Kosten entstehen durch den erfor-         Kosten (z. B. Reform der europäischen und nationalen
derlichen Kontroll- und Überwachungsapparat,               Agrarförderung oder Einführung einer Abgabe auf
durch Vermeidungs- oder Reparaturaufwand (z. B.            Pflanzenschutzmittel) zu thematisieren.
zur Aufbereitung von Grundwasser zu Trinkwasser)
sowie infolge von Auswirkungen auf die menschliche
Gesundheit und die Umwelt. Diese Kosten werden

II. Beschreibung der Ausgangslage
a)    Systembedingte Abhängigkeit vom                      durch den Einsatz mineralischer Düngemittel und
      chemischen Pflanzenschutz                            chemischer Pflanzenschutzmittel (PSM) als wichtige
                                                           Betriebsmittel gekennzeichnet ist.
Chemischer Pflanzenschutz im konventionellen
Pflanzenbau                                                Der Mineraldünger dient der maximalen Nähr-
„Die Land-, Forst- und Agrarwirtschaft zählt (…) zu den    stoffversorgung der Kulturpflanzen und die PSM
Schlüsselbranchen der deutschen Volkswirtschaft…“          werden zur Bekämpfung von schädigenden Bakte-
(DBV, 2015). Diese Aussage gilt – trotz des geringen       rien und Pilzen, tierischen Schadorganismen und
Beitrags (0,9 Prozent) der Landwirtschaft zum deut-        unerwünschten Begleitkräutern eingesetzt. Erst die
schen Bruttoinlandsprodukt (European Commission,           Kombination aus Mineraldüngung, chemischem
2014). Denn: Es ist die Landwirtschaft, die durch den      Pflanzenschutz und modernen Hochleistungssorten
Anbau von Kulturpflanzen die wesentliche Lebens-           ermöglicht den derzeitigen Intensiv-Pflanzenbau
grundlage für uns Menschen bereitstellt. Getreide,         mit engen Fruchtfolgen und dichten Beständen auf
Gemüse und Obst zählen zu unseren wichtigsten Le-          großen Flächen (Monokulturen) – und somit die
bensmitteln, Futterpflanzen ernähren unsere Nutztie-       hohen Flächenerträge bei gleichbleibend hoher
re und seit einigen Jahren gewinnen wir vermehrt aus       Vermarktungsqualität der konventionell produzierten
„Energiepflanzen“ Biogas und Strom. Das geht nicht         Pflanzenerzeugnisse (Gutsche, 2012). Ausgehend von
ohne weiträumige Nutzung der natürlichen Ressour-          der „grünen Revolution“ in der Mitte des vergangenen
cen (Landschaftsfläche, Boden, Wasser).                    Jahrhunderts wurde das konventionelle Anbausys-
                                                           tem kontinuierlich optimiert und etabliert, so dass es
So wird etwa die Hälfte Deutschlands (16,7 Millionen       inzwischen das Fundament unserer in weiten Teilen
Hektar) landwirtschaftlich genutzt, die Pflanzen-          intensiven Landwirtschaft und Lebensmittelproduk-
produktion der rund 285.000 Betriebe (Statistisches        tion darstellt.
Bundesamt, 2014) ist prägend für unsere Kulturland-
schaften. Die meisten Betriebe (94Prozent) setzen auf      Der intensive Einsatz chemischer PSM im konventi-
konventionellen Pflanzenbau, welcher insbesondere          onellen Pflanzenbau spiegelt sich in den jährlichen

                                                                                                                 7
Erhebungen des Julius-Kühn-Instituts (JKI) wieder:                                immer günstigeren Preisen ist heute für den Verbrau-
Ausgedrückt als sogenannter Behandlungsindex                                      cher vertraute und erwartete Realität. Insofern sind
(d. h. Anzahl angewandter PSM bezogen auf die                                     auch die gestiegenen Verbrauchererwartungen („ma-
maximal zulässige Aufwandmenge und die Anbau-                                     kellos und billig“) mit dafür verantwortlich, dass der
fläche) wurde im Jahr 2013 z. B. Weizen durchschnitt-                             konventionelle Pflanzenbau im heutigen Ausmaß
lich 4-mal, Kartoffeln 11-mal, Weinreben 17-mal und                               vom chemischen Pflanzenschutz abhängig ist.
Apfelbäume 32-mal mit PSM behandelt (Abb. 1).
                                                                                  Als Legitimation für diese systembedingte Abhän-
Abb. 1                                                                            gigkeit ist der Begriff „notwendiges Maß“ verbreitet,
Mittlere Intensität des chemischen Pflan-                                         womit „die Intensität der Anwendung von PSM, die
zenschutzes in wichtigen Anbaukulturen                                            notwendig ist, um den Anbau der Kulturpflanzen,
Deutschland im Jahr 2013                                                          besonders auch vor dem Hintergrund der Wirtschaft-
                                                                                  lichkeit, zu sichern“ gemeint ist (Bundesregierung,
    Anbaukultur         Behandlungs-              Behandlungsindex                2013). Mit diesem durchaus ideologisch zu verste-
                         häufigkeit                                               henden Begriff werden marktwirtschaftliche Zwänge
Kartoffeln                      8,7                         11,2                  suggeriert, die dem einzelnen Landwirt offensichtlich
Winterweizen                    4,2                          5,2                  keinerlei Alternative zum „notwendigen“ PSM-Ein-
Zuckerrüben                     4,8                          3,8                  satz erlauben.
Hopfen                          6,2                          8,0
Tafelapfel                     21,3                         31,9                  Diese Argumentation ist aber angesichts der nach
Wein                           10,4                         17,2                  wie vor starken politischen Einflussnahme auf das
         Quelle: eigene Darstellung, Daten übernommen von PAPA-Website des JKI:
          http://papa.jki.bund.de/index.php?menuid=1, für weitere Ausführungen
                                                                                  Marktgeschehen – besonders durch die Agrarförde-
                                                           siehe Roßberg, 2013
                                                                                  rung – nur bedingt richtig. Denn eine andere Ag-
                                                                                  rarpolitik könnte sehr wohl zu einem maßvolleren
Das „notwendige Maß“ ist kein Naturgesetz                                         „notwendigen Maß“ als heute üblich führen. Hierzu
Die Dominanz des konventionellen Anbausystems                                     bedarf es allerdings politischen Gestaltungswillens
hat sich jedoch nicht aufgrund alleinigen Wirkens der                             (siehe auch d), wobei die Realität der globalen Märkte
„freien Marktkräfte“ eingestellt. Flankiert wurde die-                            für landwirtschaftliche Erzeugnisse natürlich nicht
se Entwicklung von der deutschen und europäischen                                 ausgeblendet werden kann.
Agrarpolitik der vergangenen Jahrzehnte, die vor-
dringlich auf Effizienz- und Ertragssteigerung abzielte                            (Hinweis: Der Fokus liegt im Folgenden ausschließ-
(Meier, 2012). Entscheidend war dabei insbesondere                                lich auf PSM, für entsprechende Analysen und Emp-
die aus Steuermitteln finanzierte europäische und                                 fehlungen zur Mineraldüngung (hier: Stickstoff) wird
nationale Förderung der Landwirtschaft.                                           auf weitere Publikationen des Umweltbundesamtes
                                                                                  (u. a. Umweltbundesamt, 2015) verwiesen).
Wenn auch mit seit einigen Jahren sinkender Ten-
denz, machen die Agrarsubventionen aktuell nach                                   b)    Risiken und Nebenwirkungen –
wie vor 42 Prozent des gesamten EU-Haushalts aus                                        staatlich geprüft und geregelt
(European Commission, 2014). In Deutschland erhielt
die Landwirtschaft im Jahr 2012 insgesamt 6,8 Mil-                                Pflanzenschutzmittel: Keine Wirkung ohne
liarden Euro Unterstützung, der durchschnittliche                                 Nebenwirkung
Anteil der Transferzahlungen am Einkommen unserer                                 Der Nutzen chemischer PSM basiert auf ihrer hohen
Landwirte betrug etwa 48 Prozent (European Com-                                   biologischen Wirksamkeit. Eine Zuordnung ent-
mission, 2014).                                                                   sprechend der Schadorganismen verdeutlicht die
                                                                                  wichtigsten Wirkbereiche: Bakterizide und Fungi-
Die europäisch und national unterstützte Etablierung                              zide richten sich gegen durch Bakterien und Pilze
des konventionellen Anbausystems brachte nicht nur                                hervorgerufene Pflanzenkrankheiten, Insektizide
für die landwirtschaftlichen Betriebe Vorteile, son-                              sollen pflanzenschädigende Insekten wie Blattläuse
dern auch für die Verbraucher. Die ganzjährig sichere                             oder fressende Raupen abtöten und Herbizide sollen
Versorgung mit qualitativ hochwertigen Pflanzener-                                „Unkräuter“ beseitigen. Um diesen Zweck zu erfüllen,
zeugnissen und daraus gefertigten Lebensmitteln zu                                enthalten die PSM – welche aus Stoffgemischen von

8
bis zu 20 verschiedenen Chemikalien bestehen – ei-       Verfahren setzt das deutsche Pflanzenschutzgesetz
nen oder mehrere überwiegend chemisch-synthetisch        (PflSchG, 2012) in Verbindung mit der europäischen
hergestellte Wirkstoffe. Deren Wirkung ist jedoch in     Zulassungsverordnung (EG) 1107/2009. Diese for-
aller Regel nicht sehr spezifisch, d. h. nicht auf die   dert, dass jede vorgesehene Anwendungen eines
vorab genannten, für die Kulturpflanzen schädlichen      PSM (Fachterminologie: jede einzelne Indikation,
„Zielorganismen“ beschränkt. Die Beschreibung des        d. h. die Anwendung zur Bekämpfung eines defi-
Nebenwirkungspotenzials ist daher ein wichtiges Ele-     nierten Schadorganismus in einer definierten An-
ment des Prüf- und Zulassungsverfahrens für PSM.         baukultur) auf die Vertretbarkeit der resultierenden
Grundlage zur Beschreibung der direkten Effekte          Umweltauswirkungen zu prüfen ist. Der Wortlaut
von PSM sind überwiegend im Labor durchgeführte          der gesetzlichen Anforderung ist an dieser Stelle
Experimente, wobei „Stellvertreter“-Organismen wie       bedeutsam, denn: Es wird kein absoluter Schutz
Algen, Wasserflöhe, Fische, Regenwürmer, Bienen,         oder ein „Null-Risiko“ angestrebt, sondern „nur“ die
Vögel und Ratten den Wirkstoffen oder PSM gezielt        Vermeidung von unvertretbaren Auswirkungen auf
ausgesetzt werden. Mit diesen Studien wird die akute     die Umwelt. Die Güterabwägung zwischen Schutz
und/oder chronische Giftigkeit der PSM für die soge-     der Kulturpflanze und Schutz der Umwelt erfolgt in
nannten „Nichtziel-Organismen“ ermittelt.                der Risikobewertung jedoch nicht explizit, sondern
                                                         auf der Grundlage von Entscheidungskriterien, die
Letztlich ist bei allen PSM mit mehr oder weniger gra-   in der Zulassungsverordnung sowie in untergesetzli-
vierenden Nebenwirkungen zu rechnen – sofern die         chen, wissenschaftlichen Bewertungsleitlinien (sog.
Nichtziel-Organismen relevanten Mengen ausgesetzt        Guidance Documents) definiert sind.
sind. Insofern gilt für PSM dasselbe, was uns von den
Beipackzetteln der Arzneimittel bekannt ist: Keine       Zuständig für die Prüfung und Bewertung der Umwel-
(pflanzenschützende) Wirkung ohne Nebenwirkung           trisiken von PSM – einschließlich der Auswirkungen
(auf Organismen in der Umwelt). Das Nebenwirkungs-       auf das Grundwasser – ist in Deutschland das Um-
profil der PSM entspricht dabei zumeist dem jeweili-     weltbundesamt (UBA). Das UBA erfüllt diese Aufgabe
gen Wirkbereich: Für die den „Unkräutern“ stammes-       mit hohem personellem Aufwand, unabhängiger
geschichtlich und biochemisch nahestehenden Algen        fachlicher Expertise und gemäß aktuellem Stand von
und Nichtziel-Pflanzen sind Herbizide besonders          Wissenschaft und Technik.
giftig.
                                                         Um die Vertretbarkeit der Umweltauswirkungen si-
Insektizide sind aus gleichem Grund oft für viele        cherzustellen, werden von der deutschen Zulassungs-
andere Arten von Insekten (Honig- und Wildbienen,        behörde (BVL, Bundesamt für Verbraucherschutz und
Schmetterlinge, etc.) und andere Gliederfüßer (Spin-     Lebensmittelsicherheit) aus der Risikobewertung des
nen, Asseln, etc.) ähnlich giftig wie für die Schadin-   UBA abgeleitete Auflagen zum Risikomanagement
sekten. Bei den Bakteriziden und Fungiziden ist das      erteilt, die auf den PSM-Verpackungen ausgewiesen
Nebenwirkungsprofil hingegen meist weniger eindeu-       sind und vom Landwirt eingehalten werden müssen.
tig. Betrachtet man die Ebene der natürlichen Lebens-    Hierbei handelt es sich zum Beispiel bei Spritzverfah-
gemeinschaften bzw. Ökosysteme, so ist bekannt,          ren um Vorschriften für technische Anwendungsbe-
dass aus direkten PSM-Effekten auf einzelne Orga-        dingungen (z. B. Einsatz driftreduzierender Technik)
nismen wiederum indirekte PSM-Effekte auf andere,        oder Auflagen zur Einhaltung von Abständen zu
nicht direkt durch toxische Einwirkung betroffene        angrenzenden Gewässern.
Organismen resultieren können (siehe auch c).
                                                         Die aktuell in Deutschland zugelassenen PSM
Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie das UBA         einschließlich der gesetzlichen Anwendungsbestim-
Wegen ihres hohen Nebenwirkungspotenzials und            mungen sind in einer Online-Datenbank der Zulas-
weil sie in erheblichen Mengen (siehe dazu c) großflä-   sungsbehörde BVL recherchierbar (https://apps2.
chig direkt in die Umwelt ausgebracht werden, ist die    bvl.bund.de/psm/jsp/index.jsp). Die Einhaltung der
Anwendung von PSM nur nach erfolgreichem Beste-          Anwendungsauflagen zu kontrollieren, liegt hinge-
hen eines strengen, seit 2012 in der Europäischen        gen nicht in der Verantwortung der für die Zulassung
Union harmonisierten Prüf- und Zulassungsverfah-         zuständigen Bundesbehörden, sondern der einzelnen
rens gestattet. Den rechtlichen Rahmen für dieses        Bundesländer.

                                                                                                                9
Abb. 2
c)    Rest-Risiko, Gesamtrisiko,
      Umwelteffekte                                       Entwicklung des Inlandsabsatz von PSM
                                                          (ohne inerte Gase) in Deutschland
Schwierige Prognosen und Restrisiken
Auch wenn die Umweltauswirkungen jedes einzelnen
in Deutschland zugelassenen PSM vom UBA nach
Stand des Wissens als vertretbar eingestuft wurden,
verbleiben nicht abschließend einschätzbare Rest­
risiken. Dies trifft zum Einen auf langfristige Risiken
zu, die angesichts der Komplexität der Organismen
und Ökosysteme mit den derzeitigen Prüf- und
Bewertungsverfahren nur begrenzt und mit großen
Unsicherheiten abschätzbar sind. Selbst bei weiteren
Fortschritten in der Wissenschaft und deren Be-
                                                                               Quelle: Daten entnommen aus: BVL, 2014; BVL 2015
rücksichtigung in der behördlichen Prüfung werden
immer Wissenslücken verbleiben. Diese komplexi-
tätsbedingte, grundsätzliche Nicht-Wissbarkeit und        Wenn aus „theoretischen“ Risiken reale Umweltwir-
Nicht-Vorhersagbarkeit bedingt die Restrisiken des        kungen werden
chemischen Pflanzenschutzes, die heute oft überse-        Beides, die verbleibenden Bewertungsunsicherheiten
hen werden (Scheringer et al., 1998).                     und die Behandlungsintensität in der Summe, bergen
                                                          nicht nur „theoretische“ Risiken, sondern hatten in
Die Gesamtdosis ist entscheidend                          der Vergangenheit und haben nach wie vor erhebli-
Problematisch ist zudem die im derzeitigen Zulas-         che negative Auswirkungen auf Natur und Umwelt.
sungsverfahren isolierte Betrachtung der einzelnen        Rückschauend muss daher die Entwicklung im
PSM-Anwendung, denn somit unterbleibt „der Blick          chemischen Pflanzenschutz als ein Paradebeispiel für
auf das Ganze“. Wie mit dem Behandlungsindex be-          „pathologisches Lernen“ gelten (Troge, 2009).
reits gezeigt, werden die meisten Anbaukulturen im
Verlauf einer Saison mehrmalig mit demselben und/         Die im Klassiker „Stummer Frühling“ von Rachel Car-
oder verschiedenen PSM behandelt (sog. Behand-            son (1963) erstmals vor fünfzig Jahren ins öffentliche
lungsregimes bzw. Spritzserien).                          Bewusstsein gerufenen Umweltschäden durch die
                                                          erste PSM-Generation liegen lange zurück, die alten
Die Summe der Anwendungen bzw. der Anwendungs-            Wirkstoffe (DDT, Organophosphate, etc.) wurden
mengen in einer Anbaukultur ist also eigentlich           weitgehend durch modernere und viel besser geprüf-
entscheidend für das Gesamtrisiko bzw. die Umwelt-        te Wirkstoffe ersetzt. Und dennoch lässt sich anhand
auswirkungen in der Agrarlandschaft, und nicht            von drei unterschiedlich gelagerten Beispielen die
das einzelne PSM. Eine überschlägige Rechnung             aktuelle Relevanz der PSM-Umweltauswirkungen
soll hier die allgemeine Intensität des PSM-Einsatzes     aufzeigen:
in Deutschland veranschaulichen: 106.155 Tonnen
PSM bzw. 34.515 Tonnen PSM-Wirkstoffe (ohne inerte        ▸▸ Neonikotinoide: Eine Gruppe hochwirksamer
Gase) wurden insgesamt im Jahr 2014 hierzulande              Insektizide, die in den letzten 20 Jahren verbreitet
verkauft (BVL, 2015) – dieser Inlandsabsatz ist in den       zur Behandlung von Saatgut (sogenannte Bei-
letzten 10 Jahren weitgehend konstant bzw. sogar             zung) eingesetzt wurden. Diese „systemischen“
leicht ansteigend (vgl. Abb. 2).                             Wirkstoffe werden von der wachsenden Jung-
                                                             pflanze aufgenommen, die dadurch vorbeugend
Lässt man die Unterschiede in der Behandlungsin-             gegen saugende und beißende Insekten geschützt
tensität zwischen den Kulturen außer Acht, errech-           wird. Im Jahr 2008 gab es infolge der Verteilung
net sich ein durchschnittlicher Einsatz von 8,8 kg           von Abriebstäuben gebeizten Saatgutes durch mit
PSM bzw. 2,8 kg PSM-Wirkstoffen auf jedem Hektar             Luftdruck arbeitende Sämaschinen im Oberrhein-
Anbaufläche (bei ca. 12,1 Millionen Hektar Ackerland         graben eine massive Vergiftung von Bienenvöl-
und Dauerkulturen).                                          kern (BVL, 2015). Die Bedeutung der Verteilung

10
des abgeriebenen Beizstaubes über den Luftweg          lohnt sich schlicht für den Landwirt. Der massive
   wurde in der EU-Genehmigung der Wirkstoffe             Einsatz von Glyphosat und anderen Herbiziden
   und in der Zulassungsprüfung für PSM seinerzeit        führt jedoch zu einer fortschreitenden Verarmung
   unterschätzt. In der Folge wurde von der Europäi-      der Pflanzenwelt in der Agrarlandschaft, woraus
   schen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)        indirekte Effekte auf schützenswerte Wildtiere
   das Risiko der wichtigsten Neonikotinoide für          resultieren. Besonders für Feldvogelarten (z. B.
   Honigbienen und Wildbestäuber (z. B. Hummeln)          das Rebhuhn) sind solche Nahrungsnetz-Effekte
   im Lichte der neuesten wissenschaftlichen Er-          wissenschaftlich zweifelsfrei erwiesen (Jahn et
   kenntnisse überprüft. Hierbei wurden gravierende       al., 2014): Die Beseitigung der Ackerbegleitkräuter
   Datenlücken – insbesondere zur langfristigen           durch Herbizide (und von ackerlebenden Insek-
   Giftigkeit – aufgezeigt. Für viele Anwendungen         ten durch Insektizide) führt zu einer so starken
   identifizierte EFSA folglich ein unvertretbares        Verringerung des Nahrungsangebotes, dass sich
   oder nicht abschließend einschätzbares Risiko.         die Vögel in Intensiv-Agrarlandschaften nicht er-
   Als Konsequenz hat die EU-Kommission diese kri-        folgreich fortpflanzen können und in der Folge in
   tischen Anwendungen im Jahr 2013 verboten und          ihrem Bestand abnehmen (Abb. 3). Der chemische
   von den Herstellern die Vorlage der fehlenden Da-      Pflanzenschutz ist insofern einer der relevanten
   ten eingefordert (Europäische Kommission, 2013).       Faktoren für den besorgniserregenden, fortschrei-
   Es bleibt abzuwarten, zu welcher Entscheidung          tenden Rückgang der biologischen Vielfalt in der
   EFSA, EU-Kommission und die nationalen europä-         deutschen Agrarlandschaft, den die aktuell vor-
   ischen Behörden auf Grundlage der nachgeliefer-        herrschende landwirtschaftliche Produktionswei-
   ten Daten kommen werden – auch in Anbetracht           se hauptursächlich zu verantworten hat (Sudfeldt
   der massiven Kritik an dieser Substanzgruppe aus       et al., 2013).
   der Wissenschaft (van der Sluijs, 2014) und von
   Umwelt- und Naturschutzverbänden (z. B. BUND,       Abb. 3
   2015).                                              Bestandsentwicklung von Indikatorbrut-
                                                       vogelarten der Agrarlandschaft
▸▸ Glyphosat: Im Gegensatz zu den Neonikotinoiden
   hat dieses in Deutschland sowie weltweit wich-
   tigste Unkrautvernichtungsmittel – nach derzeiti-
   gem Erkenntnisstand (aktuell erfolgt gerade eine
   Neubewertung in der EU) – ein für Nichtziel-Orga-
   nismen in der Umwelt vergleichsweise harmloses
   Nebenwirkungsprofil. Die Umweltprobleme erge-
   ben sich hier jedoch aus dem massiven, flächen-
   deckenden Einsatz dieses Breitband-Herbizids
   (d. h. wirksam gegen alle Pflanzenarten). Die in
   Deutschland verkaufte und eingesetzte Menge ist
   in den letzten 15 Jahren stark angestiegen, rund
   5000 Tonnen kommen pro Jahr in der deutschen
   Landwirtschaft zum Einsatz (Deutscher Bundes-
   tag, 2011). Dies hat verschiedene Gründe, insbe-
   sondere auch den Trend zum pfluglosen Ackerbau.
                                                                         Quelle: Abbildung entnommen aus: Sudfeldt et al., 2013
   Für den Verzicht auf das Pflügen gibt es viele
   Umweltschutzargumente (z. B. Erosionsschutz in
   Gelände mit Hangneigung, Schutz vor Abschwem-       ▸▸ Tolyfluanid: Die Zulassungen von PSM mit die-
   mung von schweren Böden, Vermeidung von Bo-            sem fungiziden Wirkstoff wurden im Jahr 2007
   denverdichtung, besserer Bodenwasserhaushalt),         widerrufen. Grund hierfür war die „verspätete“
   betriebswirtschaftliche Abwägungen stehen aber         Erkenntnis, dass ein als toxikologisch harmlos
   zumeist im Vordergrund. Der Zeit- und Kostenauf-       eingestuftes Abbauprodukt (N,N-Dimethylsulfa-
   wand der chemischen Unkrautbekämpfung mit              mid), das in das Grundwasser gelangen kann, im
   den relativ kostengünstigen Glyphosat-Mitteln          Prozess der Trinkwasser-Aufbereitung (Ozonung)

                                                                                                                           11
in eine erbgutschädigende und krebserzeugende            Allerdings sehen weder thematische Strategie noch
     Substanz (N-Nitrosodimethylamin) umgewandelt             Rahmenrichtlinie ein konkretes quantitatives Reduk-
     wird. Aus Gründen des vorsorgenden Trinkwas-             tionsziel für den PSM-Einsatz in Europa vor. Dennoch
     serschutzes erfolgte daher ein Verbot des Wirk-          erwartet die EU-Kommission ein Sinken des PSM-Ver-
     stoffs (European Commission, 2007). Rückstände           brauchs um 11 – 66 Prozent durch die Maßnahmen
     anderer auch seit langem in Deutschland verbo-           der thematischen Strategie (European Commission,
     tener Wirkstoffe wie Atrazin werden allerdings           2006).
     nach wie vor im Grundwasser gefunden und auch
     einige aktuell zugelassene Wirkstoffe (z. B. Benta-      Einige der Anforderungen der Rahmenrichtlinie
     zon, Isoproturon, Chloridazon) bzw. deren Abbau-         werden in Deutschland durch das „harte“ Pflan-
     produkte (Metaboliten) treten gehäuft mit Über-          zenschutzgesetz umgesetzt (z. B. Regelungen zum
     schreitungen der Grenzwerte im Grundwasser auf           Sachkundenachweis für Verkäufer und professio-
     (Umweltbundesamt, 2013). Über die Belastung              nelle Anwender oder die Anwendung von PSM mit
     des Grundwassers sowie über die Sorgen und Kos-          Luftfahrzeugen). Hart bedeutet hier, dass Zuwider-
     ten der kommunalen Wasserversorger, die hohe             handlungen und Verstöße gegen wesentliche Be-
     Qualität des deutschen Trinkwassers zu sichern,          stimmungen des Gesetzes ordnungsrechtlich verfolgt
     wird in jüngster Zeit intensiv debattiert. Die Positi-   und mit Bußgeldern geahndet werden können. Die
     on der Wasserversorger ist, „dass Pflanzenschutz-        Mehrzahl der aus Sicht des Natur- und Umweltschut-
     mittelwirkstoffe und deren Metaboliten möglichst         zes wichtigen Anforderungen der Rahmenrichtlinie
     frühzeitig und vorsorglich dem Wasserkreislauf           werden aber nicht im Pflanzenschutzgesetz, sondern
     fernzuhalten sind“ (Steinbach, 2014).                    mit dem am 10. April 2013 von der Bundesregierung
                                                              beschlossenen „Nationalen Aktionsplan zur nachhal-
                                                              tigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ (NAP)
d)      Chemischer Pflanzenschutz und Nach-                   umgesetzt (Bundesregierung, 2013).
        haltigkeit – ein politisch strittiges
        Thema                                                 Der Aktionsplan stellt im Vergleich zum Gesetz
                                                              ein „weiches“ regulatorisches Instrument dar, was
„Sustainable use directive“ und nationaler                    bedeutet, dass die im NAP vorgesehenen Ziele und
Aktionsplan                                                   Maßnahmen überwiegend nicht rechtlich bindend
Dass neben dem Zulassungsverfahren die Ver-                   sind. Der NAP hat insofern eher den Charakter einer
wendungsphase entscheidend für die Risiken und                Absichtserklärung –der Umsetzungserfolg hängt folg-
Auswirkungen von PSM sind, wurde von der EU-Kom-              lich von der Motivationslage der beteiligten Akteure
mission mit Erlass der „Thematischen Strategie über           (insbesondere Bundesregierung, Bundesländer und
den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden“ bereits im           Anbauverbände) sowie der für die Umsetzung verfüg-
Jahr 2006 festgestellt (European Commission, 2006).           baren Finanzmittel ab.
In der Konsequenz wurde in 2009 eine Rahmenricht-
linie („sustainable use directive“) verabschiedet, die        Nachhaltigkeit im Pflanzenschutz – Streit über Hand-
„Nachhaltigkeit“ als politische Zielsetzung installiert       lungsbedarf und Programmatik
(Europäische Union, 2009).                                    Entwickelt wurde der NAP in einem mehrjährigen
                                                              gesellschaftlichen Beteiligungs- und Diskussionspro-
Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur           zess, der vom für die deutsche Pflanzenschutz-Politik
Aufstellung nationaler Aktionspläne, „mit denen               federführenden Bundesministerium für Ernährung,
quantitative Vorgaben, Ziele, Maßnahmen, Zeitpläne            Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV;
und Indikatoren zur Verringerung der Risiken und              mittlerweile: Bundesministerium für Ernährung und
Auswirkungen der Verwendung von Pestiziden auf die            Landwirtschaft, BMEL) organisiert wurde. Von Seiten
menschliche Gesundheit und die Umwelt festgelegt              der Verbände des Umwelt- und Naturschutzes, der
werden und die Entwicklung und Einführung eines               Berufsimker sowie der Wasserwirtschaft wurde ste-
integrierten Pflanzenschutzes sowie von alternati-            tige Kritik an den vom BMELV vorgelegten NAP-Ent-
ven Konzepten oder Techniken zur Verringerung der             würfen geäußert. Ein besonders deutliches Zeichen
Abhängigkeit von der Verwendung von Pestiziden                setzten die Verbände, als sie ihre weitere Mitarbeit
gefördert wird.“ (Europäische Union, 2009).                   aufkündigten; die Begründung in der Pressemittei-

12
lung vom 24.11.2011 lautete: „Das Landwirtschafts-             Dies ist nur teilweise gelungen, weshalb aus Sicht
ministerium orientiere sich beim Aktionsplan an den            des UBA deutlicher Nachbesserungsbedarf für die
Interessen der Agrarindustrie und zeige sich immun             in 2016/2017 anstehende Revision des Aktionsplans
gegen Vorschläge, die Pestizidbelastungen ernsthaft            in den Bereichen Umwelt- und Naturschutz besteht.
zu senken. Eine Unterstützung von Seiten der Verbände          Diese Sichtweise wird von Seiten der konventionel-
werde es dafür nicht erhalten.“ (PAN, 2011).                   len Landwirtschaft nicht geteilt, wo die Auffassung
                                                               vorherrscht, dass die in Deutschland gängige Pflan-
Das UBA ist laut Pflanzenschutzgesetz entsprechend             zenschutz-Praxis bereits nachhaltig ist.
seiner Zuständigkeit für den Bereich Naturhaushalt
an der Erstellung und Umsetzung des NAP zu betei-              Gemäß einer Analyse der EU-Kommission ist dieser
ligen. Dieser Aufgabe ist das UBA durch fachliche              Standpunkt in den europäischen Mitgliedstaaten
Beratung des Bundesministeriums für Umwelt, Natur-             weit verbreitet: „The majority of NAPs appear to adopt
schutz und Reaktorsicherheit (BMU; mittlerweile:               the default position that the current PPP use pattern
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau                 in their MS is sustainable.” (European Commission,
und Reaktorsicherheit, BMUB) nachgekommen. Ge-                 2014). Dies ist irritierend, da die Mitgliedstaaten mit
meinsames Ziel von BMU und UBA war es, einen NAP               ihrer Zustimmung zur Rahmenrichtlinie den politi-
zu verwirklichen, welcher für den Bereich Umwelt-              schen Handlungsbedarf zwar grundsätzlich bestätigt
und Naturschutz möglichst konkrete, verbindliche               haben, ihren Worten aber bisher überwiegend offen-
und ambitionierte Ziele und Maßnahmen vorsieht.                sichtlich wenig Taten folgen lassen (wollen).

Beschreibung der Ausgangslage (kurzgefasst)

  Mit Unterstützung durch die europäische und nationale Agrarförderung der letzten Jahrzehnte hat sich der konventio-
  nelle Anbau von Kulturpflanzen als Fundament einer in Deutschland heute zunehmend intensiven Landwirtschaft und
  Lebensmittelproduktion etabliert. Eine wesentliche Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit dieser Produktionsweise
  ist bei vielen Anbaukulturen der intensive Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel, was faktisch eine systembedingte
  Abhängigkeit vom chemischen Pflanzenschutz bedeutet. Diese findet ihren Ausdruck in der Annahme, dass die der-
  zeitigen Anwendungsmengen und Anwendungshäufigkeiten chemischer Pflanzenschutzmitteln das aus betriebswirt-
  schaftlicher Sicht „notwendige Maß“ darstellen.

  Was Kulturpflanzen schützt und damit dem Landwirt nützt, stellt für Natur und Umwelt hingegen eine Belastung dar.
  Denn auch für die heute eingesetzten hochwirksamen Insektizide, Herbizide und Fungizide gilt im Allgemeinen: Keine
  (pflanzenschützende) Wirkung ohne Nebenwirkung (auf die Umwelt). Wegen ihres hohen Umweltgefährdungspotenzi-
  als und weil sie in erheblichen Mengen großflächig direkt in die Umwelt ausgebracht werden, ist die Anwendung daher
  nur nach erfolgreichem Bestehen eines strengen Prüf- und Zulassungsverfahrens gestattet. Zuständig für die Bewer-
  tung der Umweltrisiken von Pflanzenschutzmitteln ist in Deutschland das Umweltbundesamt (UBA).

  Doch auch wenn das UBA die zu erwartenden Umweltauswirkungen jedes einzelnen zugelassenen Pflanzenschutz-
  mittels als vertretbar eingestuft hat, verbleiben nicht abschließend einschätzbare Restrisiken, z. B. hinsichtlich der
  langfristigen Auswirkungen. Zudem betrachtet die derzeitige Umweltprüfung jedes Pflanzenschutzmittel isoliert,
  obwohl die meisten Kulturpflanzen pro Saison mehrmalig mit verschiedenen Pflanzenschutzmitteln behandelt werden
  (sog. Behandlungsregimes bzw. Spritzserien). Für das Gesamtrisiko bzw. für die tatsächlichen Umweltauswirkungen
  ist daher die Summe der Anwendungen bzw. der Anwendungsmengen im Jahresverlauf entscheidend. Für Deutschland
  ergibt sich nach Berechnungen des UBA derzeit ein durchschnittlicher jährlicher Einsatz von 8,8 kg Pflanzenschutzmit-
  teln bzw. 2,8 kg Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen auf jeden Hektar Anbaufläche.

  Diese Intensität des chemischen Pflanzenschutzes hat erhebliche negative Auswirkungen auf Natur und Umwelt. Die
  von Rachel Carson vor mehr als fünfzig Jahren in ihrem Klassiker „Stummer Frühling“ ausgesprochenen Mahnungen
  gelten insofern auch für die modernen und viel besser geprüften Pflanzenschutzmittel. Beispiele für die aktuelle Rele-
  vanz der Umweltauswirkungen des chemischen Pflanzenschutzes sind:

  ▸▸ die Auswirkungen der weiträumigen Anwendung von Insektiziden aus der Gruppe der Neonikotinoide auf Honig-
     bienen und Wildbestäuber (z.B. Hummeln)
  ▸▸ die fortschreitende Verarmung der Pflanzenwelt in der Agrarlandschaft infolge des flächendeckenden Einsatzes
     von Herbiziden (z.B. Glyphosat), womit Wildtieren die Nahrungsgrundlage entzogen wird

                                                                                                                           13
▸▸ die regelmäßigen Funde von Pflanzenschutzmittel-Rückständen im Grundwasser (z.B. Bentazon, Isoproturon,
        Chloridazon).

     Insbesondere auch, um den Umweltauswirkungen des chemischen Pflanzenschutzes zu begegnen, wurde im Jahr
     2009 eine Rahmenrichtlinie („sustainable use directive“) verabschiedet, die „Nachhaltigkeit“ als politisches Ziel für
     den Pflanzenschutz in Europa formuliert. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Aufstellung nationaler
     Aktionspläne, „zur Verringerung der Risiken und Auswirkungen der Verwendung von Pestiziden auf die menschliche
     Gesundheit und die Umwelt (…) und die Entwicklung und Einführung eines integrierten Pflanzenschutzes sowie von
     alternativen Konzepten oder Techniken zur Verringerung der Abhängigkeit von der Verwendung von Pestiziden (…).“

     Einige der für den Natur- und Umweltschutz wichtigen Anforderungen der Richtlinie werden mit dem im Jahr 2013 von
     der Bundesregierung beschlossenen „Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmit-
     teln“ umgesetzt. Entwickelt wurde der deutsche Aktionsplan in einem gesellschaftlichen Beteiligungs- und Diskus-
     sionsprozess, wobei von Seiten der Umwelt- und Naturschutzverbände wiederholt kritisch geäußert wurde, „man
     orientiere sich beim Aktionsplan zu sehr an den Interessen der Agrarindustrie“. Auch das UBA war an der Erarbeitung
     des Aktionsplans beteiligt und hat sich für die Realisierung von möglichst konkreten, verbindlichen und ambitionier-
     ten Zielen und Maßnahmen im Bereich Umwelt- und Naturschutz eingesetzt. Dies ist nur teilweise gelungen, weshalb
     aus UBA-Sicht deutlicher Nachbesserungsbedarf für die in 2016/2017 anstehende Überarbeitung des Aktionsplans
     besteht.

     Vor diesem Hintergrund und aus der fachlichen Überzeugung heraus, dass die derzeitige Intensität des chemischen
     Pflanzenschutzes in Deutschland ökologisch nicht nachhaltig ist, hat das UBA das im Folgenden präsentierte „5-Punk-
     te-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz“ entwickelt.

III. 5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen
     Pflanzenschutz
Nach fachlicher Überzeugung des UBA ist die der-                  geboten. Da die derzeitigen Rahmenbedingungen
zeitige Intensität des chemischen Pflanzenschutzes                (Konkurrenz- und Rationalisierungsdruck in der
in Deutschland ökologisch nicht nachhaltig und                    Landwirtschaft, günstige Preise für PSM, Kosten
gefährdet wesentliche Ziele der Umwelt- und Natur-                unerwünschter Auswirkungen trägt die Allgemein-
schutzpolitik. Ein Pflanzenschutz, der das Attribut               heit) aber offensichtlich keine wirksamen Anreize für
„nachhaltig“ verdient, muss die Anforderung „dauer-               Minimierungsbemühungen seitens der Landwirte set-
haft umweltgerecht“ sehr viel ambitionierter, konkre-             zen, ist ein gesetzlich verankertes Minimierungsgebot
ter und nachvollziehbarer einlösen, als dies mit dem              der richtige Weg. Ein generelles Minimierungsgebot
aktuellen NAP erfolgt. Auch im Bereich der Zulassung              würde die fachlich als auch politisch dringend erfor-
von Pflanzenschutzmitteln sind Reformen nötig.                    derliche Diskussion über das aus gesellschaftlicher
Um eine tatsächliche „nachhaltige Entwicklung“ im                 Sicht tatsächlich „notwendige Maß“ beim Einsatz
Pflanzenschutz voranzubringen, empfiehlt das UBA                  von PSM anstoßen. Die rechtliche Verankerung kann
eine über die relevanten Politiken (Pflanzenschutz-,              dabei in den „Grundsätzen für die Durchführung der
Umwelt-, Naturschutz- und Agrarpolitik) integrieren-              guten fachlichen Praxis im Pflanzenschutz“ (BMELV,
de Ausrichtung an den folgenden fünf Grundprinzi-                 2010) erfolgen, welche gemäß Pflanzenschutzge-
pien:                                                             setz beim Einsatz von PSM zu befolgen sind. Damit
                                                                  ein solches Gebot seine volle Wirksamkeit entfalten
1.       Einsatz minimieren                                       kann, müssten allerdings drei Vorbedingungen
                                                                  erfüllt sein:
Minimierungsgebot im Pflanzenschutzrecht wirksam
verankern                                                         i. PSM-sparsamer Pflanzenbau erfordert ein um-
Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes ist eine                     fassenderes Fachwissen beim Landwirt bzw. eine
konsequente Minimierung – bezogen auf die Häufig-                    intensivere Unterstützung des Landwirtes in der
keit und die Menge – des Einsatzes chemischer PSM                    Kulturführung. Es bedarf also einer intensiveren

14
Schulung sowie einer schlagkräftigeren unabhän-       Nutzung vorbeugender (Sortenwahl, Fruchtfolge, Kul-
   gigen Beratung zum praktischen Pflanzenschutz.        turführung) und biologischer Maßnahmen sowie die
   Beide Aufgaben liegen heute bei den Pflanzen-         konsequente Orientierung am ökonomischen Schad-
   schutzdiensten der Bundesländer, allerdings ist       schwellenprinzip, bevor ein chemisches PSM zum
   deren Personalausstattung oftmals ungenügend          Einsatz kommen sollte (Europäische Union, 2009;
   (BLE, 2014). In der Konsequenz dominieren in der      Furlan, 2014).
   Pflanzenschutzberatung derzeit die im Auftrag
   der PSM-Hersteller tätigen Berater – und deren        Abb. 4
   vorrangiges Beratungsziel ist sicherlich kein PSM-    Grundprinzipien des Integrierten Pflanzen-
   sparsamer Pflanzenbau. Eine flächendeckende           schutzes
   unabhängige Beratung mit der klaren Zielsetzung
   „Minimierung des PSM-Einsatzes“ ist dem entge-
   genzusetzen.

ii. Zum Zweiten bedarf es eines wirksamen und
    unabhängigen Kontrollsystems. Ob ein PSM-
    Anwender sich tatsächlich am Minimierungsgebot
    orientiert, muss im Einzelfall nachvollziehbar
    sein und mit einer hinreichend wirksamen Quote
    kontrolliert werden. Mit der gesetzlich vorge-
    schriebenen Verpflichtung der Landwirte, ihre
    PSM-Anwendungen zu dokumentieren (soge-                         Quelle: Abbildung entnommen aus: Vortrag „Nutzen und Risiken von
    nannte Spritztagebücher), ist die Voraussetzung                         Pestiziden“ von Dr. Eva Reinhard, BLW, Bern vom 10.11.2014
                                                                                                am Oekotoxzentrum Dübendorf, Schweiz
    für eine Nachvollziehbarkeit gegeben. Wie die
    Kontrolle der Einhaltung der Anwendungsauf-          Diese „reine Lehre“ ist aber offensichtlich in den
    lagen beim PSM-Einsatz, wäre die Überprüfung         Hintergrund gerückt, was aus dem heute verbreitet
    auf Einhaltung des Minimierungsgebotes bei den       üblichen vorbeugenden PSM-Einsatz (z. B. in Form
    Pflanzenschutzdiensten der Länder fachlich und       von Saatgut-Beizung) sowie aus Verwendungen ohne
    organisatorisch richtig angesiedelt. Deren Aufga-    primären Pflanzenschutzzweck (z. B. Herbizide zur
    be wäre es, unter Berücksichtigung der regionalen    Abreifebeschleunigung und zur Krautabtötung vor
    Bedingungen sowie des „Schädlingsdruckes“            der Ernte) ersichtlich wird.
    Beurteilungskriterien für eine dem Minimierungs-
    gebot folgende gute fachliche Praxis im Pflanzen-    Für die Realisierung eines „echten“ IPS ist daher die
    schutz zu definieren und deren Einhaltung durch      Festschreibung und Konkretisierung des Minimie-
    die Betriebe zu überprüfen. Dazu bedürfte es         rungsgebotes in den „Grundsätzen für die Durchfüh-
    regelmäßiger – zufälliger oder anlassbezogener –     rung der guten fachlichen Praxis im Pflanzenschutz“
    Kontrollen der betrieblichen Spritztagebücher.       und ein zugehöriges Beratungs- und Kontrollsys-
                                                         tem essenziell (Lefebvre, 2014). Entscheidend ist
iii. Drittens müssten offensichtliche Verstöße gegen     hier, dass bei einem für alle Landwirte geltenden
     das Minimierungsgebot mit spürbaren Sanktio-        Minimierungsgebot ein nicht dem IPS-Gedanken
     nen belegt sein. Geeignet wäre eine Kürzung oder    entsprechender PSM-Einsatz nicht mehr mit betriebs-
     Streichung der europäischen Förderung (Direkt-      wirtschaftlichen Zwängen angesichts des hohen Kon-
     zahlungen) für den betroffenen Betrieb.             kurrenzdruckes im Markt begründet werden kann (im
                                                         Sinne von: „Wer zuerst weniger spritzt, der verliert.“).
Integrierter Pflanzenschutz – zurück zu den Wurzeln
Für den konventionellen Anbau bedeutet „Einsatz          Als flankierende Maßnahme zu einer Ertüchtigung
minimieren“ eine Rückbesinnung auf den Grund-            des Minimierungsgebotes im IPS ist die Einrichtung
gedanken des Integrierten Pflanzenschutzes (IPS).        eines landwirtschaftlichen Ausfallfonds – ggfs. mit
Denn dort ist das Minimierungsgebot bereits angelegt     staatlicher Start-Unterstützung – denkbar. Idee ist da-
mit dem Prinzip: „Chemie als allerletztes Mittel!“       bei, das potenziell höhere Ausfall- bzw. Ertragsrisiko
(s. Abb. 4). Das heißt, der IPS fordert die vorrangige   für den einzelnen Landwirt bei einer auf konsequente

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