5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz - position // januar 2016
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Impressum Herausgeber: Umweltbundesamt Fachgebiet IV 1.3 Pflanzenschutzmittel Postfach 14 06 06813 Dessau-Roßlau Tel: +49 340-2103-0 info@umweltbundesamt.de Internet: www.umweltbundesamt.de /umweltbundesamt.de /umweltbundesamt Autoren: Tobias Frische, Sina Egerer, Steffen Matezki, Christina Pickl, Jörn Wogram Publikationen als pdf: www.umweltbundesamt.de/publikationen/5-punkte- programm-fuer-einen-nachhaltigen Bildquellen: Sallenbuscher | fotolia.com Stand: Januar 2016 ISSN 2363-829X
Inhalt I. Erweiterte Zusammenfassung 4 II. Beschreibung der Ausgangslage 7 a) Systembedingte Abhängigkeit vom chemischen Pflanzenschutz 7 b) Risiken und Nebenwirkungen – staatlich geprüft und geregelt 8 c) Rest-Risiko, Gesamtrisiko, Umwelteffekte 10 d) Chemischer Pflanzenschutz und Nachhaltigkeit – ein politisch strittiges Thema 12 III. 5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz 14 1. Einsatz minimieren 14 2. Risiken identifizieren, quantifizieren und kommunizieren 18 3. Risikomanagement optimieren 22 4. Unvermeidbare Auswirkungen kompensieren 24 5. Externe Kosten internalisieren 27 IV. Verwendete Literatur 30
I. Erweiterte Zusammenfassung Unterstützt durch die europäische und nationale schnittlicher jährlicher Einsatz von 8,8 kg Pflanzen- Agrarförderung der letzten Jahrzehnte hat sich der schutzmitteln bzw. 2,8 kg Pflanzenschutzmittel-Wirk- konventionelle Anbau von Kulturpflanzen als Fun- stoffen auf jeden Hektar Anbaufläche. dament einer in Deutschland heute zunehmend intensiven Landwirtschaft und Lebensmittelpro- Diese Intensität des chemischen Pflanzenschutzes duktion etabliert. Eine wesentliche Voraussetzung hat erhebliche negative Auswirkungen auf Natur und für die Leistungsfähigkeit dieser Produktionsweise Umwelt. Die von Rachel Carson vor mehr als fünf- ist bei vielen Anbaukulturen der intensive Einsatz zig Jahren in ihrem Klassiker „Stummer Frühling“ chemischer Pflanzenschutzmittel, was faktisch eine ausgesprochenen Mahnungen gelten insofern auch systembedingte Abhängigkeit bedeutet. Diese findet für die modernen und viel besser geprüften Pflan- ihren Ausdruck in der Annahme, dass die derzeitigen zenschutzmittel. Beispiele für die aktuelle Relevanz Anwendungsmengen und Anwendungshäufigkeiten der Umweltauswirkungen des chemischen Pflanzen- chemischer Pflanzenschutzmitteln das „notwendige schutzes sind: Maß“ darstellen. ▸▸ die Auswirkungen der weiträumigen Anwendung Was Kulturpflanzen schützt und damit dem Land- von Insektiziden aus der Gruppe der Neonikoti- wirt nützt, stellt für Natur und Umwelt hingegen noide auf Honigbienen und Wildbestäuber (z. B. eine Belastung dar. Denn auch für die heute einge- Hummeln) setzten Insektizide, Herbizide und Fungizide gilt im ▸▸ die fortschreitende Verarmung der Pflanzenwelt in Allgemeinen: Keine (pflanzenschützende) Wirkung der Agrarlandschaft infolge des flächendeckenden ohne Nebenwirkung (auf Natur und Umwelt). Wegen Einsatzes von Herbiziden (z. B. Glyphosat), womit ihres hohen Umweltgefährdungspotenzials und weil Wildtieren die Nahrungsgrundlage entzogen wird sie in erheblichen Mengen großflächig in der Land- ▸▸ die regelmäßigen Funde von Pflanzenschutzmit- schaft ausgebracht werden, ist die Anwendung von tel-Rückständen im Grundwasser (z. B. Bentazon, Pflanzenschutzmitteln daher nur nach erfolgreichem Isoproturon, Chloridazon). Bestehen eines strengen Prüf- und Zulassungsver- fahrens gestattet. Zuständig für die Bewertung der Insbesondere auch, um den Umweltauswirkungen Umweltrisiken ist dabei in Deutschland das Umwelt- des chemischen Pflanzenschutzes zu begegnen, wur- bundesamt (UBA). de im Jahr 2009 eine Rahmenrichtlinie („sustainable use directive“) verabschiedet, die „Nachhaltigkeit“ Doch auch wenn das UBA die zu erwartenden Um- als politisches Ziel für den Pflanzenschutz in Europa weltauswirkungen jedes einzelnen zugelassenen installiert. Die Richtlinie verpflichtet die Mitglied- Pflanzenschutzmittels als vertretbar eingestuft hat, staaten zur Aufstellung nationaler Aktionspläne, verbleiben nicht abschließend einschätzbare Restrisi- „zur Verringerung der Risiken und Auswirkungen ken des chemischen Pflanzenschutzes, z. B. hinsicht- der Verwendung von Pestiziden auf die menschliche lich langfristiger Auswirkungen. Zudem betrachtet Gesundheit und die Umwelt (…) und die Entwicklung die derzeitige Umweltprüfung jedes Pflanzenschutz- und Einführung eines integrierten Pflanzenschutzes mittel isoliert, obwohl die meisten Kulturpflanzen sowie von alternativen Konzepten oder Techniken zur pro Saison mehrmalig mit verschiedenen Pflanzen- Verringerung der Abhängigkeit von der Verwendung schutzmitteln behandelt werden – mit sogenannten von Pestiziden (…).“ Einige der für den Natur- und Behandlungsregimes bzw. Spritzserien. Umweltschutz wichtigen Anforderungen dieser Richt- linie werden mit dem im Jahr 2013 von der Bundes- Für das Gesamtrisiko bzw. für die tatsächlichen regierung beschlossenen „Nationalen Aktionsplan Umweltauswirkungen ist daher die Summe der zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutz- Anwendungen bzw. Anwendungsmengen, d. h. die mitteln“ umgesetzt. Entwickelt wurde der deutsche Gesamtintensität des chemischen Pflanzenschutzes, Aktionsplan in einem gesellschaftlichen Beteili- entscheidend. Für die deutsche Landwirtschaft ergibt gungs- und Diskussionsprozess, wobei von Seiten sich nach Berechnungen des UBA derzeit ein durch- der Umwelt- und Naturschutzverbände wiederholt 4
kritisch geäußert wurde, „man orientiere sich beim ▸▸ Chemischen Pflanzenschutz in privaten Gärten Aktionsplan zu sehr an den Interessen der Agrarin- und öffentlichem Grün vermeiden. dustrie“. Auch das UBA war an der Erarbeitung des ▸▸ Ein klares Reduktionsziel für die jährliche Ein- Aktionsplans beteiligt und hat sich für die Realisie- satzmenge chemischer Pflanzenschutzmittel in rung von möglichst konkreten, verbindlichen und Deutschland definieren. ambitionierten Zielen und Maßnahmen im Bereich Umwelt- und Naturschutz eingesetzt. Dies ist nur 2. Risiken identifizieren, quantifizieren teilweise gelungen, weshalb aus UBA-Sicht deutlicher und kommunizieren Nachbesserungsbedarf für die in 2016/2017 anste- hende Überarbeitung des Aktionsplans besteht. Chemischer Pflanzenschutz ist und bleibt grund- sätzlich „riskant“ für Natur und Umwelt. Aus diesem So ist nach fachlicher Überzeugung des UBA die der- Grund ist vor der Zulassung von Pflanzenschutz- zeitige Intensität des chemischen Pflanzenschutzes mitteln eine Umweltrisikobewertung gesetzlich in Deutschland ökologisch nicht nachhaltig und ge- vorgeschrieben. Allerdings weist die heutige Umwelt- fährdet das Erreichen wesentlicher Ziele der Umwelt- prüfung nach wie vor einige Bewertungslücken auf. und Naturschutzpolitik. Ein Pflanzenschutz, der das So werden zum Beispiel Auswirkungen auf Amphi- Attribut „nachhaltig“ verdient, muss die Anforderung bien, Reptilien oder Wildbestäuber nicht genügend „dauerhaft umweltgerecht“ tatsächlich einlösen. Um berücksichtigt. Deshalb ist die Weiterentwicklung eine in diesem Wortsinn dringend notwendige „nach- der Umweltprüfung von Pflanzenschutzmitteln zur haltige Entwicklung“ im Pflanzenschutz voranzu- Berücksichtigung des Standes von Wissenschaft und bringen, empfiehlt das UBA eine über die relevanten Technik ein kontinuierlicher Prozess. Dies ist erfor- Politikfelder (Pflanzenschutz-, Umwelt-, Naturschutz- derlich, bedeutet aber auch: Die Umweltprüfung wird und Agrarpolitik) integrierende Ausrichtung an den immer umfassender und aufwändiger. folgenden fünf Grundprinzipien: Es gibt jedoch einen zusätzlichen Treiber, der dafür 1. Einsatz minimieren verantwortlich ist, dass sowohl der Umfang als auch die wissenschaftliche Komplexität der Umweltprü- Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes ist eine fung stetig zunehmen: Die Hersteller von Pflanzen- konsequente Minimierung des Einsatzes chemi- schutzmitteln bemühen sich mit der Vorlage von scher Pflanzenschutzmittel geboten. Das Argument immer aufwändigeren sogenannten „verfeinerten“ vom „notwendigen Maß“ des derzeitigen intensiven (d. h. für bestimmte Prüfbereiche realitätsnäheren) Einsatzes ist als unangemessene Legitimation für die Risikobewertungen um die Zulassung von bzw. die Abhängigkeit der konventionellen Landwirtschaft Vermeidung von Umweltauflagen für ihre beantrag- vom chemischen Pflanzenschutz zurückzuweisen. ten Produkte. Vielmehr ist die Politik gefordert, Rahmenbedingun- gen für ein deutlich maßvolleres „notwendiges Maß“ Diese Entwicklung ist aus fachlicher (Protektivität der bzw. für eine generelle Minimierung des Einsatzes Bewertung), als auch rechtsstaatlicher (demokrati- chemischer Pflanzenschutzmittel zu gestalten. Das sche Legitimation und Unabhängigkeit von Experten- UBA empfiehlt hierfür folgende Maßnahmen und entscheidungen, Transparenz, Bewertungsaufwand) Instrumente: Sicht kritisch zu hinterfragen. Das UBA engagiert sich in der Risikobewertung um die Umsetzung folgender ▸▸ Ein generelles Minimierungsgebot im Pflanzen- Maßnahmen und Instrumente: schutzrecht wirksam verankern. ▸▸ Den Integrierten Pflanzenschutz (IPS) auf seinen ▸▸ Bewertungslücken („blinde Flecken“) und Bewer- Grundgedanken – vorrangiger Einsatz nicht-che- tungsunsicherheiten im gesetzlich vorgeschrie- mischer Pflanzenschutzverfahren – verpflichten benen Prüfverfahren für Pflanzenschutzmittel und fördern. beseitigen. ▸▸ Den Ausbau des Ökolandbaus konsequent unter- ▸▸ Umweltrisiken beschreiben und managen statt sie stützen. mit überkomplexen und unzureichend validierten ▸▸ Eine flächendeckende unabhängige Pflanzen- Methoden „wegzurechnen“. schutzberatung gewährleisten. 5
▸▸ Gefährliche Wirkstoffe gemäß Ausschlusskriterien beabsichtigte Beseitigung von Ackerbegleitkräutern auf europäischer Ebene verbieten. und ackerlebenden Insekten durch Pflanzenschutz- ▸▸ Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Ent- mittel führt zu einer so starken Reduzierung des Nah- scheidungsprozesse und Entscheidungen im rungsangebotes für Wildtiere (wie z. B. das Rebhuhn), Zulassungsverfahren von Pflanzenschutzmitteln dass diese sich nicht erfolgreich fortpflanzen können weiter verbessern. und in der Folge in ihrem Bestand abnehmen.Diese ▸▸ Die Risiken und Auswirkungen auf die Umwelt, indirekten Effekte auf die biologische Vielfalt werden die aus der Intensität des chemischen Pflanzen- in der bisherigen Umweltprüfung von Pflanzen- schutzes in seiner Gesamtheit in Deutschland schutzmitteln nicht angemessen berücksichtigt, und resultieren, besser beschreiben. dies, obwohl der Schutz der Biodiversität eine eindeu- tige Anforderung im Pflanzenschutzrecht ist. 3. Risikomanagement optimieren Die indirekten Effekte auf die biologische Vielfalt sind Pflanzenschutzmittel werden direkt in die Umwelt aus Sicht des UBA durch Bereitstellung ökologischer ausgebracht. Ziel muss daher mindestens sein, den Ausgleichsflächen zu kompensieren: Diese sollen die Eintrag bzw. die Ausbreitung von Pflanzenschutz- nicht vermeidbaren direkten Effekte der Pflanzen- mitteln und ihren Rückständen in angrenzende schutzmittel in den Behandlungsflächen so weit kom- Nichtzielflächen, natürliche Schutzgüter (z. B. Grund- pensieren, dass auch die indirekten Nahrungsnetz- wasser) und Lebensräume so weit wie möglich zu Effekte auf ein vertretbares Maß reduziert werden. vermeiden. Dies erfordert die bestmögliche Ausschöp- Die derzeitigen agrarpolitischen Anforderungen und fung der technisch verfügbaren und wirtschaftlich Instrumente für den Schutz der Biodiversität (5 Pro- zumutbaren Optionen zum Risikomanagement. Das zent ökologische Vorrangflächen gemäß Greening der UBA empfiehlt zur Optimierung des Risikomanage- Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und Agrarumwelt- ments folgende Maßnahmen und Instrumente: maßnahmen aus der „zweiten Säule“ der GAP) sind nach Einschätzung des UBA nicht ausreichend. ▸▸ Den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in Natur- schutzgebieten grundsätzlich verbieten. Um den pflanzenschutzrechtlich geforderten Schutz ▸▸ Den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in Trink- der biologischen Vielfalt in stark agrarisch geprägten wasserschutzgebieten einschränken bzw. wo Landschaften sicherzustellen, sieht das UBA daher immer möglich vermeiden. die Notwendigkeit, das Risikomanagement von Pflan- ▸▸ Die zügige Verbreitung der besten verfügbaren zenschutzmitteln zu erweitern: Voraussetzung für die Ausbringungstechnik für Pflanzenschutzmittel Anwendung von Pflanzenschutzmitteln mit einem unterstützen und ein Mindestmaß an Risikoma- hohen Risiko für indirekte Effekte auf die biologische nagement (z. B. driftmindernde Technik) fest- Vielfalt sollte das Vorhandensein von ökologischen schreiben. Ausgleichsflächen ohne Pflanzenschutzmittel-Einsatz ▸▸ Die Einhaltung der Anwendungsauflagen von (z. B. Brachflächen, Blühstreifen und unbehan- Pflanzenschutzmitteln mit einem wirksamen Kon- delte Dünnsaaten) auf Betriebsebene sein. Mit der trollprogramm sicherstellen. Einführung entsprechender Anwendungsauflagen ▸▸ Flächendeckende Anlage dauerhaft natürlich bleibt eine gesetzeskonforme Zulassung von Pflan- bewachsener Rand- und Pufferstreifen zur Redu- zenschutzmitteln mit hohem Risiko für indirekte zierung des Eintrages von Pflanzenschutzmitteln Effekte auf die biologische Vielfalt weiterhin möglich. in angrenzende Flächen oder Gewässer. Gleichzeitig dient die Maßnahme der Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. 4. Unvermeidbare Auswirkungen kompensieren 5. Externe Kosten internalisieren Die unvermeidbaren indirekten Effekte des chemi- schen Pflanzenschutzes sind einer der relevanten Der kurzfristige Nutzen des Einsatzes chemischer Faktoren für den Rückgang der biologischen Vielfalt Pflanzenschutzmittel für die Produzenten (stabile, in der deutschen Agrarlandschaft. Die weiträumige hohe Erträge und Vermarktungsqualität) ist offen- 6
sichtlich und auch für die Konsumenten ergeben als „extern“ bezeichnet, da sie sich nicht oder nicht sich Vorteile (Versorgungssicherheit, niedrige Ver- vollständig im Marktpreis der Pflanzenschutzmittel, braucherpreise). Es ist aber fraglich, ob der derzeitige Erntegüter und Lebensmittel widerspiegeln. Nach intensive chemische Pflanzenschutz mit Blick auf die Auffassung des UBA ist Aufklärungsarbeit und eine gesellschaftliche Dimension tatsächlich nachhaltig politische Diskussion über sowohl das Ausmaß als ist. Die offenen Fragen lauten hier: auch die gesellschaftliche Verteilung der externen Kosten des chemischen Pflanzenschutzes in Deutsch- ▸▸ Überwiegt der gesellschaftliche Nutzen die gesell- land notwendig. schaftlichen Kosten? ▸▸ Sind Nutzen und Kosten fair zwischen den Akteu- Zunächst gilt es, die für eine sachliche und faktenba- ren (PSM-Hersteller, Landwirte, Handel, Konsu- sierte Diskussion erforderlichen sozio-ökonomischen menten) und Betroffenen (Bürger, Steuerzahler, Analysen durchzuführen. In einem zweiten Schritt zukünftige Generationen) verteilt? sind die Möglichkeiten und Grenzen politischer In- strumente zur Kompensation der Effekte von Markt- Die von der gesamten Gesellschaft zu tragenden verzerrungen bzw. zur Internalisierung der externen „sozialisierten“ Kosten entstehen durch den erfor- Kosten (z. B. Reform der europäischen und nationalen derlichen Kontroll- und Überwachungsapparat, Agrarförderung oder Einführung einer Abgabe auf durch Vermeidungs- oder Reparaturaufwand (z. B. Pflanzenschutzmittel) zu thematisieren. zur Aufbereitung von Grundwasser zu Trinkwasser) sowie infolge von Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Diese Kosten werden II. Beschreibung der Ausgangslage a) Systembedingte Abhängigkeit vom durch den Einsatz mineralischer Düngemittel und chemischen Pflanzenschutz chemischer Pflanzenschutzmittel (PSM) als wichtige Betriebsmittel gekennzeichnet ist. Chemischer Pflanzenschutz im konventionellen Pflanzenbau Der Mineraldünger dient der maximalen Nähr- „Die Land-, Forst- und Agrarwirtschaft zählt (…) zu den stoffversorgung der Kulturpflanzen und die PSM Schlüsselbranchen der deutschen Volkswirtschaft…“ werden zur Bekämpfung von schädigenden Bakte- (DBV, 2015). Diese Aussage gilt – trotz des geringen rien und Pilzen, tierischen Schadorganismen und Beitrags (0,9 Prozent) der Landwirtschaft zum deut- unerwünschten Begleitkräutern eingesetzt. Erst die schen Bruttoinlandsprodukt (European Commission, Kombination aus Mineraldüngung, chemischem 2014). Denn: Es ist die Landwirtschaft, die durch den Pflanzenschutz und modernen Hochleistungssorten Anbau von Kulturpflanzen die wesentliche Lebens- ermöglicht den derzeitigen Intensiv-Pflanzenbau grundlage für uns Menschen bereitstellt. Getreide, mit engen Fruchtfolgen und dichten Beständen auf Gemüse und Obst zählen zu unseren wichtigsten Le- großen Flächen (Monokulturen) – und somit die bensmitteln, Futterpflanzen ernähren unsere Nutztie- hohen Flächenerträge bei gleichbleibend hoher re und seit einigen Jahren gewinnen wir vermehrt aus Vermarktungsqualität der konventionell produzierten „Energiepflanzen“ Biogas und Strom. Das geht nicht Pflanzenerzeugnisse (Gutsche, 2012). Ausgehend von ohne weiträumige Nutzung der natürlichen Ressour- der „grünen Revolution“ in der Mitte des vergangenen cen (Landschaftsfläche, Boden, Wasser). Jahrhunderts wurde das konventionelle Anbausys- tem kontinuierlich optimiert und etabliert, so dass es So wird etwa die Hälfte Deutschlands (16,7 Millionen inzwischen das Fundament unserer in weiten Teilen Hektar) landwirtschaftlich genutzt, die Pflanzen- intensiven Landwirtschaft und Lebensmittelproduk- produktion der rund 285.000 Betriebe (Statistisches tion darstellt. Bundesamt, 2014) ist prägend für unsere Kulturland- schaften. Die meisten Betriebe (94Prozent) setzen auf Der intensive Einsatz chemischer PSM im konventi- konventionellen Pflanzenbau, welcher insbesondere onellen Pflanzenbau spiegelt sich in den jährlichen 7
Erhebungen des Julius-Kühn-Instituts (JKI) wieder: immer günstigeren Preisen ist heute für den Verbrau- Ausgedrückt als sogenannter Behandlungsindex cher vertraute und erwartete Realität. Insofern sind (d. h. Anzahl angewandter PSM bezogen auf die auch die gestiegenen Verbrauchererwartungen („ma- maximal zulässige Aufwandmenge und die Anbau- kellos und billig“) mit dafür verantwortlich, dass der fläche) wurde im Jahr 2013 z. B. Weizen durchschnitt- konventionelle Pflanzenbau im heutigen Ausmaß lich 4-mal, Kartoffeln 11-mal, Weinreben 17-mal und vom chemischen Pflanzenschutz abhängig ist. Apfelbäume 32-mal mit PSM behandelt (Abb. 1). Als Legitimation für diese systembedingte Abhän- Abb. 1 gigkeit ist der Begriff „notwendiges Maß“ verbreitet, Mittlere Intensität des chemischen Pflan- womit „die Intensität der Anwendung von PSM, die zenschutzes in wichtigen Anbaukulturen notwendig ist, um den Anbau der Kulturpflanzen, Deutschland im Jahr 2013 besonders auch vor dem Hintergrund der Wirtschaft- lichkeit, zu sichern“ gemeint ist (Bundesregierung, Anbaukultur Behandlungs- Behandlungsindex 2013). Mit diesem durchaus ideologisch zu verste- häufigkeit henden Begriff werden marktwirtschaftliche Zwänge Kartoffeln 8,7 11,2 suggeriert, die dem einzelnen Landwirt offensichtlich Winterweizen 4,2 5,2 keinerlei Alternative zum „notwendigen“ PSM-Ein- Zuckerrüben 4,8 3,8 satz erlauben. Hopfen 6,2 8,0 Tafelapfel 21,3 31,9 Diese Argumentation ist aber angesichts der nach Wein 10,4 17,2 wie vor starken politischen Einflussnahme auf das Quelle: eigene Darstellung, Daten übernommen von PAPA-Website des JKI: http://papa.jki.bund.de/index.php?menuid=1, für weitere Ausführungen Marktgeschehen – besonders durch die Agrarförde- siehe Roßberg, 2013 rung – nur bedingt richtig. Denn eine andere Ag- rarpolitik könnte sehr wohl zu einem maßvolleren Das „notwendige Maß“ ist kein Naturgesetz „notwendigen Maß“ als heute üblich führen. Hierzu Die Dominanz des konventionellen Anbausystems bedarf es allerdings politischen Gestaltungswillens hat sich jedoch nicht aufgrund alleinigen Wirkens der (siehe auch d), wobei die Realität der globalen Märkte „freien Marktkräfte“ eingestellt. Flankiert wurde die- für landwirtschaftliche Erzeugnisse natürlich nicht se Entwicklung von der deutschen und europäischen ausgeblendet werden kann. Agrarpolitik der vergangenen Jahrzehnte, die vor- dringlich auf Effizienz- und Ertragssteigerung abzielte (Hinweis: Der Fokus liegt im Folgenden ausschließ- (Meier, 2012). Entscheidend war dabei insbesondere lich auf PSM, für entsprechende Analysen und Emp- die aus Steuermitteln finanzierte europäische und fehlungen zur Mineraldüngung (hier: Stickstoff) wird nationale Förderung der Landwirtschaft. auf weitere Publikationen des Umweltbundesamtes (u. a. Umweltbundesamt, 2015) verwiesen). Wenn auch mit seit einigen Jahren sinkender Ten- denz, machen die Agrarsubventionen aktuell nach b) Risiken und Nebenwirkungen – wie vor 42 Prozent des gesamten EU-Haushalts aus staatlich geprüft und geregelt (European Commission, 2014). In Deutschland erhielt die Landwirtschaft im Jahr 2012 insgesamt 6,8 Mil- Pflanzenschutzmittel: Keine Wirkung ohne liarden Euro Unterstützung, der durchschnittliche Nebenwirkung Anteil der Transferzahlungen am Einkommen unserer Der Nutzen chemischer PSM basiert auf ihrer hohen Landwirte betrug etwa 48 Prozent (European Com- biologischen Wirksamkeit. Eine Zuordnung ent- mission, 2014). sprechend der Schadorganismen verdeutlicht die wichtigsten Wirkbereiche: Bakterizide und Fungi- Die europäisch und national unterstützte Etablierung zide richten sich gegen durch Bakterien und Pilze des konventionellen Anbausystems brachte nicht nur hervorgerufene Pflanzenkrankheiten, Insektizide für die landwirtschaftlichen Betriebe Vorteile, son- sollen pflanzenschädigende Insekten wie Blattläuse dern auch für die Verbraucher. Die ganzjährig sichere oder fressende Raupen abtöten und Herbizide sollen Versorgung mit qualitativ hochwertigen Pflanzener- „Unkräuter“ beseitigen. Um diesen Zweck zu erfüllen, zeugnissen und daraus gefertigten Lebensmitteln zu enthalten die PSM – welche aus Stoffgemischen von 8
bis zu 20 verschiedenen Chemikalien bestehen – ei- Verfahren setzt das deutsche Pflanzenschutzgesetz nen oder mehrere überwiegend chemisch-synthetisch (PflSchG, 2012) in Verbindung mit der europäischen hergestellte Wirkstoffe. Deren Wirkung ist jedoch in Zulassungsverordnung (EG) 1107/2009. Diese for- aller Regel nicht sehr spezifisch, d. h. nicht auf die dert, dass jede vorgesehene Anwendungen eines vorab genannten, für die Kulturpflanzen schädlichen PSM (Fachterminologie: jede einzelne Indikation, „Zielorganismen“ beschränkt. Die Beschreibung des d. h. die Anwendung zur Bekämpfung eines defi- Nebenwirkungspotenzials ist daher ein wichtiges Ele- nierten Schadorganismus in einer definierten An- ment des Prüf- und Zulassungsverfahrens für PSM. baukultur) auf die Vertretbarkeit der resultierenden Grundlage zur Beschreibung der direkten Effekte Umweltauswirkungen zu prüfen ist. Der Wortlaut von PSM sind überwiegend im Labor durchgeführte der gesetzlichen Anforderung ist an dieser Stelle Experimente, wobei „Stellvertreter“-Organismen wie bedeutsam, denn: Es wird kein absoluter Schutz Algen, Wasserflöhe, Fische, Regenwürmer, Bienen, oder ein „Null-Risiko“ angestrebt, sondern „nur“ die Vögel und Ratten den Wirkstoffen oder PSM gezielt Vermeidung von unvertretbaren Auswirkungen auf ausgesetzt werden. Mit diesen Studien wird die akute die Umwelt. Die Güterabwägung zwischen Schutz und/oder chronische Giftigkeit der PSM für die soge- der Kulturpflanze und Schutz der Umwelt erfolgt in nannten „Nichtziel-Organismen“ ermittelt. der Risikobewertung jedoch nicht explizit, sondern auf der Grundlage von Entscheidungskriterien, die Letztlich ist bei allen PSM mit mehr oder weniger gra- in der Zulassungsverordnung sowie in untergesetzli- vierenden Nebenwirkungen zu rechnen – sofern die chen, wissenschaftlichen Bewertungsleitlinien (sog. Nichtziel-Organismen relevanten Mengen ausgesetzt Guidance Documents) definiert sind. sind. Insofern gilt für PSM dasselbe, was uns von den Beipackzetteln der Arzneimittel bekannt ist: Keine Zuständig für die Prüfung und Bewertung der Umwel- (pflanzenschützende) Wirkung ohne Nebenwirkung trisiken von PSM – einschließlich der Auswirkungen (auf Organismen in der Umwelt). Das Nebenwirkungs- auf das Grundwasser – ist in Deutschland das Um- profil der PSM entspricht dabei zumeist dem jeweili- weltbundesamt (UBA). Das UBA erfüllt diese Aufgabe gen Wirkbereich: Für die den „Unkräutern“ stammes- mit hohem personellem Aufwand, unabhängiger geschichtlich und biochemisch nahestehenden Algen fachlicher Expertise und gemäß aktuellem Stand von und Nichtziel-Pflanzen sind Herbizide besonders Wissenschaft und Technik. giftig. Um die Vertretbarkeit der Umweltauswirkungen si- Insektizide sind aus gleichem Grund oft für viele cherzustellen, werden von der deutschen Zulassungs- andere Arten von Insekten (Honig- und Wildbienen, behörde (BVL, Bundesamt für Verbraucherschutz und Schmetterlinge, etc.) und andere Gliederfüßer (Spin- Lebensmittelsicherheit) aus der Risikobewertung des nen, Asseln, etc.) ähnlich giftig wie für die Schadin- UBA abgeleitete Auflagen zum Risikomanagement sekten. Bei den Bakteriziden und Fungiziden ist das erteilt, die auf den PSM-Verpackungen ausgewiesen Nebenwirkungsprofil hingegen meist weniger eindeu- sind und vom Landwirt eingehalten werden müssen. tig. Betrachtet man die Ebene der natürlichen Lebens- Hierbei handelt es sich zum Beispiel bei Spritzverfah- gemeinschaften bzw. Ökosysteme, so ist bekannt, ren um Vorschriften für technische Anwendungsbe- dass aus direkten PSM-Effekten auf einzelne Orga- dingungen (z. B. Einsatz driftreduzierender Technik) nismen wiederum indirekte PSM-Effekte auf andere, oder Auflagen zur Einhaltung von Abständen zu nicht direkt durch toxische Einwirkung betroffene angrenzenden Gewässern. Organismen resultieren können (siehe auch c). Die aktuell in Deutschland zugelassenen PSM Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie das UBA einschließlich der gesetzlichen Anwendungsbestim- Wegen ihres hohen Nebenwirkungspotenzials und mungen sind in einer Online-Datenbank der Zulas- weil sie in erheblichen Mengen (siehe dazu c) großflä- sungsbehörde BVL recherchierbar (https://apps2. chig direkt in die Umwelt ausgebracht werden, ist die bvl.bund.de/psm/jsp/index.jsp). Die Einhaltung der Anwendung von PSM nur nach erfolgreichem Beste- Anwendungsauflagen zu kontrollieren, liegt hinge- hen eines strengen, seit 2012 in der Europäischen gen nicht in der Verantwortung der für die Zulassung Union harmonisierten Prüf- und Zulassungsverfah- zuständigen Bundesbehörden, sondern der einzelnen rens gestattet. Den rechtlichen Rahmen für dieses Bundesländer. 9
Abb. 2 c) Rest-Risiko, Gesamtrisiko, Umwelteffekte Entwicklung des Inlandsabsatz von PSM (ohne inerte Gase) in Deutschland Schwierige Prognosen und Restrisiken Auch wenn die Umweltauswirkungen jedes einzelnen in Deutschland zugelassenen PSM vom UBA nach Stand des Wissens als vertretbar eingestuft wurden, verbleiben nicht abschließend einschätzbare Rest risiken. Dies trifft zum Einen auf langfristige Risiken zu, die angesichts der Komplexität der Organismen und Ökosysteme mit den derzeitigen Prüf- und Bewertungsverfahren nur begrenzt und mit großen Unsicherheiten abschätzbar sind. Selbst bei weiteren Fortschritten in der Wissenschaft und deren Be- Quelle: Daten entnommen aus: BVL, 2014; BVL 2015 rücksichtigung in der behördlichen Prüfung werden immer Wissenslücken verbleiben. Diese komplexi- tätsbedingte, grundsätzliche Nicht-Wissbarkeit und Wenn aus „theoretischen“ Risiken reale Umweltwir- Nicht-Vorhersagbarkeit bedingt die Restrisiken des kungen werden chemischen Pflanzenschutzes, die heute oft überse- Beides, die verbleibenden Bewertungsunsicherheiten hen werden (Scheringer et al., 1998). und die Behandlungsintensität in der Summe, bergen nicht nur „theoretische“ Risiken, sondern hatten in Die Gesamtdosis ist entscheidend der Vergangenheit und haben nach wie vor erhebli- Problematisch ist zudem die im derzeitigen Zulas- che negative Auswirkungen auf Natur und Umwelt. sungsverfahren isolierte Betrachtung der einzelnen Rückschauend muss daher die Entwicklung im PSM-Anwendung, denn somit unterbleibt „der Blick chemischen Pflanzenschutz als ein Paradebeispiel für auf das Ganze“. Wie mit dem Behandlungsindex be- „pathologisches Lernen“ gelten (Troge, 2009). reits gezeigt, werden die meisten Anbaukulturen im Verlauf einer Saison mehrmalig mit demselben und/ Die im Klassiker „Stummer Frühling“ von Rachel Car- oder verschiedenen PSM behandelt (sog. Behand- son (1963) erstmals vor fünfzig Jahren ins öffentliche lungsregimes bzw. Spritzserien). Bewusstsein gerufenen Umweltschäden durch die erste PSM-Generation liegen lange zurück, die alten Die Summe der Anwendungen bzw. der Anwendungs- Wirkstoffe (DDT, Organophosphate, etc.) wurden mengen in einer Anbaukultur ist also eigentlich weitgehend durch modernere und viel besser geprüf- entscheidend für das Gesamtrisiko bzw. die Umwelt- te Wirkstoffe ersetzt. Und dennoch lässt sich anhand auswirkungen in der Agrarlandschaft, und nicht von drei unterschiedlich gelagerten Beispielen die das einzelne PSM. Eine überschlägige Rechnung aktuelle Relevanz der PSM-Umweltauswirkungen soll hier die allgemeine Intensität des PSM-Einsatzes aufzeigen: in Deutschland veranschaulichen: 106.155 Tonnen PSM bzw. 34.515 Tonnen PSM-Wirkstoffe (ohne inerte ▸▸ Neonikotinoide: Eine Gruppe hochwirksamer Gase) wurden insgesamt im Jahr 2014 hierzulande Insektizide, die in den letzten 20 Jahren verbreitet verkauft (BVL, 2015) – dieser Inlandsabsatz ist in den zur Behandlung von Saatgut (sogenannte Bei- letzten 10 Jahren weitgehend konstant bzw. sogar zung) eingesetzt wurden. Diese „systemischen“ leicht ansteigend (vgl. Abb. 2). Wirkstoffe werden von der wachsenden Jung- pflanze aufgenommen, die dadurch vorbeugend Lässt man die Unterschiede in der Behandlungsin- gegen saugende und beißende Insekten geschützt tensität zwischen den Kulturen außer Acht, errech- wird. Im Jahr 2008 gab es infolge der Verteilung net sich ein durchschnittlicher Einsatz von 8,8 kg von Abriebstäuben gebeizten Saatgutes durch mit PSM bzw. 2,8 kg PSM-Wirkstoffen auf jedem Hektar Luftdruck arbeitende Sämaschinen im Oberrhein- Anbaufläche (bei ca. 12,1 Millionen Hektar Ackerland graben eine massive Vergiftung von Bienenvöl- und Dauerkulturen). kern (BVL, 2015). Die Bedeutung der Verteilung 10
des abgeriebenen Beizstaubes über den Luftweg lohnt sich schlicht für den Landwirt. Der massive wurde in der EU-Genehmigung der Wirkstoffe Einsatz von Glyphosat und anderen Herbiziden und in der Zulassungsprüfung für PSM seinerzeit führt jedoch zu einer fortschreitenden Verarmung unterschätzt. In der Folge wurde von der Europäi- der Pflanzenwelt in der Agrarlandschaft, woraus schen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) indirekte Effekte auf schützenswerte Wildtiere das Risiko der wichtigsten Neonikotinoide für resultieren. Besonders für Feldvogelarten (z. B. Honigbienen und Wildbestäuber (z. B. Hummeln) das Rebhuhn) sind solche Nahrungsnetz-Effekte im Lichte der neuesten wissenschaftlichen Er- wissenschaftlich zweifelsfrei erwiesen (Jahn et kenntnisse überprüft. Hierbei wurden gravierende al., 2014): Die Beseitigung der Ackerbegleitkräuter Datenlücken – insbesondere zur langfristigen durch Herbizide (und von ackerlebenden Insek- Giftigkeit – aufgezeigt. Für viele Anwendungen ten durch Insektizide) führt zu einer so starken identifizierte EFSA folglich ein unvertretbares Verringerung des Nahrungsangebotes, dass sich oder nicht abschließend einschätzbares Risiko. die Vögel in Intensiv-Agrarlandschaften nicht er- Als Konsequenz hat die EU-Kommission diese kri- folgreich fortpflanzen können und in der Folge in tischen Anwendungen im Jahr 2013 verboten und ihrem Bestand abnehmen (Abb. 3). Der chemische von den Herstellern die Vorlage der fehlenden Da- Pflanzenschutz ist insofern einer der relevanten ten eingefordert (Europäische Kommission, 2013). Faktoren für den besorgniserregenden, fortschrei- Es bleibt abzuwarten, zu welcher Entscheidung tenden Rückgang der biologischen Vielfalt in der EFSA, EU-Kommission und die nationalen europä- deutschen Agrarlandschaft, den die aktuell vor- ischen Behörden auf Grundlage der nachgeliefer- herrschende landwirtschaftliche Produktionswei- ten Daten kommen werden – auch in Anbetracht se hauptursächlich zu verantworten hat (Sudfeldt der massiven Kritik an dieser Substanzgruppe aus et al., 2013). der Wissenschaft (van der Sluijs, 2014) und von Umwelt- und Naturschutzverbänden (z. B. BUND, Abb. 3 2015). Bestandsentwicklung von Indikatorbrut- vogelarten der Agrarlandschaft ▸▸ Glyphosat: Im Gegensatz zu den Neonikotinoiden hat dieses in Deutschland sowie weltweit wich- tigste Unkrautvernichtungsmittel – nach derzeiti- gem Erkenntnisstand (aktuell erfolgt gerade eine Neubewertung in der EU) – ein für Nichtziel-Orga- nismen in der Umwelt vergleichsweise harmloses Nebenwirkungsprofil. Die Umweltprobleme erge- ben sich hier jedoch aus dem massiven, flächen- deckenden Einsatz dieses Breitband-Herbizids (d. h. wirksam gegen alle Pflanzenarten). Die in Deutschland verkaufte und eingesetzte Menge ist in den letzten 15 Jahren stark angestiegen, rund 5000 Tonnen kommen pro Jahr in der deutschen Landwirtschaft zum Einsatz (Deutscher Bundes- tag, 2011). Dies hat verschiedene Gründe, insbe- sondere auch den Trend zum pfluglosen Ackerbau. Quelle: Abbildung entnommen aus: Sudfeldt et al., 2013 Für den Verzicht auf das Pflügen gibt es viele Umweltschutzargumente (z. B. Erosionsschutz in Gelände mit Hangneigung, Schutz vor Abschwem- ▸▸ Tolyfluanid: Die Zulassungen von PSM mit die- mung von schweren Böden, Vermeidung von Bo- sem fungiziden Wirkstoff wurden im Jahr 2007 denverdichtung, besserer Bodenwasserhaushalt), widerrufen. Grund hierfür war die „verspätete“ betriebswirtschaftliche Abwägungen stehen aber Erkenntnis, dass ein als toxikologisch harmlos zumeist im Vordergrund. Der Zeit- und Kostenauf- eingestuftes Abbauprodukt (N,N-Dimethylsulfa- wand der chemischen Unkrautbekämpfung mit mid), das in das Grundwasser gelangen kann, im den relativ kostengünstigen Glyphosat-Mitteln Prozess der Trinkwasser-Aufbereitung (Ozonung) 11
in eine erbgutschädigende und krebserzeugende Allerdings sehen weder thematische Strategie noch Substanz (N-Nitrosodimethylamin) umgewandelt Rahmenrichtlinie ein konkretes quantitatives Reduk- wird. Aus Gründen des vorsorgenden Trinkwas- tionsziel für den PSM-Einsatz in Europa vor. Dennoch serschutzes erfolgte daher ein Verbot des Wirk- erwartet die EU-Kommission ein Sinken des PSM-Ver- stoffs (European Commission, 2007). Rückstände brauchs um 11 – 66 Prozent durch die Maßnahmen anderer auch seit langem in Deutschland verbo- der thematischen Strategie (European Commission, tener Wirkstoffe wie Atrazin werden allerdings 2006). nach wie vor im Grundwasser gefunden und auch einige aktuell zugelassene Wirkstoffe (z. B. Benta- Einige der Anforderungen der Rahmenrichtlinie zon, Isoproturon, Chloridazon) bzw. deren Abbau- werden in Deutschland durch das „harte“ Pflan- produkte (Metaboliten) treten gehäuft mit Über- zenschutzgesetz umgesetzt (z. B. Regelungen zum schreitungen der Grenzwerte im Grundwasser auf Sachkundenachweis für Verkäufer und professio- (Umweltbundesamt, 2013). Über die Belastung nelle Anwender oder die Anwendung von PSM mit des Grundwassers sowie über die Sorgen und Kos- Luftfahrzeugen). Hart bedeutet hier, dass Zuwider- ten der kommunalen Wasserversorger, die hohe handlungen und Verstöße gegen wesentliche Be- Qualität des deutschen Trinkwassers zu sichern, stimmungen des Gesetzes ordnungsrechtlich verfolgt wird in jüngster Zeit intensiv debattiert. Die Positi- und mit Bußgeldern geahndet werden können. Die on der Wasserversorger ist, „dass Pflanzenschutz- Mehrzahl der aus Sicht des Natur- und Umweltschut- mittelwirkstoffe und deren Metaboliten möglichst zes wichtigen Anforderungen der Rahmenrichtlinie frühzeitig und vorsorglich dem Wasserkreislauf werden aber nicht im Pflanzenschutzgesetz, sondern fernzuhalten sind“ (Steinbach, 2014). mit dem am 10. April 2013 von der Bundesregierung beschlossenen „Nationalen Aktionsplan zur nachhal- tigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ (NAP) d) Chemischer Pflanzenschutz und Nach- umgesetzt (Bundesregierung, 2013). haltigkeit – ein politisch strittiges Thema Der Aktionsplan stellt im Vergleich zum Gesetz ein „weiches“ regulatorisches Instrument dar, was „Sustainable use directive“ und nationaler bedeutet, dass die im NAP vorgesehenen Ziele und Aktionsplan Maßnahmen überwiegend nicht rechtlich bindend Dass neben dem Zulassungsverfahren die Ver- sind. Der NAP hat insofern eher den Charakter einer wendungsphase entscheidend für die Risiken und Absichtserklärung –der Umsetzungserfolg hängt folg- Auswirkungen von PSM sind, wurde von der EU-Kom- lich von der Motivationslage der beteiligten Akteure mission mit Erlass der „Thematischen Strategie über (insbesondere Bundesregierung, Bundesländer und den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden“ bereits im Anbauverbände) sowie der für die Umsetzung verfüg- Jahr 2006 festgestellt (European Commission, 2006). baren Finanzmittel ab. In der Konsequenz wurde in 2009 eine Rahmenricht- linie („sustainable use directive“) verabschiedet, die Nachhaltigkeit im Pflanzenschutz – Streit über Hand- „Nachhaltigkeit“ als politische Zielsetzung installiert lungsbedarf und Programmatik (Europäische Union, 2009). Entwickelt wurde der NAP in einem mehrjährigen gesellschaftlichen Beteiligungs- und Diskussionspro- Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur zess, der vom für die deutsche Pflanzenschutz-Politik Aufstellung nationaler Aktionspläne, „mit denen federführenden Bundesministerium für Ernährung, quantitative Vorgaben, Ziele, Maßnahmen, Zeitpläne Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV; und Indikatoren zur Verringerung der Risiken und mittlerweile: Bundesministerium für Ernährung und Auswirkungen der Verwendung von Pestiziden auf die Landwirtschaft, BMEL) organisiert wurde. Von Seiten menschliche Gesundheit und die Umwelt festgelegt der Verbände des Umwelt- und Naturschutzes, der werden und die Entwicklung und Einführung eines Berufsimker sowie der Wasserwirtschaft wurde ste- integrierten Pflanzenschutzes sowie von alternati- tige Kritik an den vom BMELV vorgelegten NAP-Ent- ven Konzepten oder Techniken zur Verringerung der würfen geäußert. Ein besonders deutliches Zeichen Abhängigkeit von der Verwendung von Pestiziden setzten die Verbände, als sie ihre weitere Mitarbeit gefördert wird.“ (Europäische Union, 2009). aufkündigten; die Begründung in der Pressemittei- 12
lung vom 24.11.2011 lautete: „Das Landwirtschafts- Dies ist nur teilweise gelungen, weshalb aus Sicht ministerium orientiere sich beim Aktionsplan an den des UBA deutlicher Nachbesserungsbedarf für die Interessen der Agrarindustrie und zeige sich immun in 2016/2017 anstehende Revision des Aktionsplans gegen Vorschläge, die Pestizidbelastungen ernsthaft in den Bereichen Umwelt- und Naturschutz besteht. zu senken. Eine Unterstützung von Seiten der Verbände Diese Sichtweise wird von Seiten der konventionel- werde es dafür nicht erhalten.“ (PAN, 2011). len Landwirtschaft nicht geteilt, wo die Auffassung vorherrscht, dass die in Deutschland gängige Pflan- Das UBA ist laut Pflanzenschutzgesetz entsprechend zenschutz-Praxis bereits nachhaltig ist. seiner Zuständigkeit für den Bereich Naturhaushalt an der Erstellung und Umsetzung des NAP zu betei- Gemäß einer Analyse der EU-Kommission ist dieser ligen. Dieser Aufgabe ist das UBA durch fachliche Standpunkt in den europäischen Mitgliedstaaten Beratung des Bundesministeriums für Umwelt, Natur- weit verbreitet: „The majority of NAPs appear to adopt schutz und Reaktorsicherheit (BMU; mittlerweile: the default position that the current PPP use pattern Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau in their MS is sustainable.” (European Commission, und Reaktorsicherheit, BMUB) nachgekommen. Ge- 2014). Dies ist irritierend, da die Mitgliedstaaten mit meinsames Ziel von BMU und UBA war es, einen NAP ihrer Zustimmung zur Rahmenrichtlinie den politi- zu verwirklichen, welcher für den Bereich Umwelt- schen Handlungsbedarf zwar grundsätzlich bestätigt und Naturschutz möglichst konkrete, verbindliche haben, ihren Worten aber bisher überwiegend offen- und ambitionierte Ziele und Maßnahmen vorsieht. sichtlich wenig Taten folgen lassen (wollen). Beschreibung der Ausgangslage (kurzgefasst) Mit Unterstützung durch die europäische und nationale Agrarförderung der letzten Jahrzehnte hat sich der konventio- nelle Anbau von Kulturpflanzen als Fundament einer in Deutschland heute zunehmend intensiven Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion etabliert. Eine wesentliche Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit dieser Produktionsweise ist bei vielen Anbaukulturen der intensive Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel, was faktisch eine systembedingte Abhängigkeit vom chemischen Pflanzenschutz bedeutet. Diese findet ihren Ausdruck in der Annahme, dass die der- zeitigen Anwendungsmengen und Anwendungshäufigkeiten chemischer Pflanzenschutzmitteln das aus betriebswirt- schaftlicher Sicht „notwendige Maß“ darstellen. Was Kulturpflanzen schützt und damit dem Landwirt nützt, stellt für Natur und Umwelt hingegen eine Belastung dar. Denn auch für die heute eingesetzten hochwirksamen Insektizide, Herbizide und Fungizide gilt im Allgemeinen: Keine (pflanzenschützende) Wirkung ohne Nebenwirkung (auf die Umwelt). Wegen ihres hohen Umweltgefährdungspotenzi- als und weil sie in erheblichen Mengen großflächig direkt in die Umwelt ausgebracht werden, ist die Anwendung daher nur nach erfolgreichem Bestehen eines strengen Prüf- und Zulassungsverfahrens gestattet. Zuständig für die Bewer- tung der Umweltrisiken von Pflanzenschutzmitteln ist in Deutschland das Umweltbundesamt (UBA). Doch auch wenn das UBA die zu erwartenden Umweltauswirkungen jedes einzelnen zugelassenen Pflanzenschutz- mittels als vertretbar eingestuft hat, verbleiben nicht abschließend einschätzbare Restrisiken, z. B. hinsichtlich der langfristigen Auswirkungen. Zudem betrachtet die derzeitige Umweltprüfung jedes Pflanzenschutzmittel isoliert, obwohl die meisten Kulturpflanzen pro Saison mehrmalig mit verschiedenen Pflanzenschutzmitteln behandelt werden (sog. Behandlungsregimes bzw. Spritzserien). Für das Gesamtrisiko bzw. für die tatsächlichen Umweltauswirkungen ist daher die Summe der Anwendungen bzw. der Anwendungsmengen im Jahresverlauf entscheidend. Für Deutschland ergibt sich nach Berechnungen des UBA derzeit ein durchschnittlicher jährlicher Einsatz von 8,8 kg Pflanzenschutzmit- teln bzw. 2,8 kg Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen auf jeden Hektar Anbaufläche. Diese Intensität des chemischen Pflanzenschutzes hat erhebliche negative Auswirkungen auf Natur und Umwelt. Die von Rachel Carson vor mehr als fünfzig Jahren in ihrem Klassiker „Stummer Frühling“ ausgesprochenen Mahnungen gelten insofern auch für die modernen und viel besser geprüften Pflanzenschutzmittel. Beispiele für die aktuelle Rele- vanz der Umweltauswirkungen des chemischen Pflanzenschutzes sind: ▸▸ die Auswirkungen der weiträumigen Anwendung von Insektiziden aus der Gruppe der Neonikotinoide auf Honig- bienen und Wildbestäuber (z.B. Hummeln) ▸▸ die fortschreitende Verarmung der Pflanzenwelt in der Agrarlandschaft infolge des flächendeckenden Einsatzes von Herbiziden (z.B. Glyphosat), womit Wildtieren die Nahrungsgrundlage entzogen wird 13
▸▸ die regelmäßigen Funde von Pflanzenschutzmittel-Rückständen im Grundwasser (z.B. Bentazon, Isoproturon, Chloridazon). Insbesondere auch, um den Umweltauswirkungen des chemischen Pflanzenschutzes zu begegnen, wurde im Jahr 2009 eine Rahmenrichtlinie („sustainable use directive“) verabschiedet, die „Nachhaltigkeit“ als politisches Ziel für den Pflanzenschutz in Europa formuliert. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Aufstellung nationaler Aktionspläne, „zur Verringerung der Risiken und Auswirkungen der Verwendung von Pestiziden auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt (…) und die Entwicklung und Einführung eines integrierten Pflanzenschutzes sowie von alternativen Konzepten oder Techniken zur Verringerung der Abhängigkeit von der Verwendung von Pestiziden (…).“ Einige der für den Natur- und Umweltschutz wichtigen Anforderungen der Richtlinie werden mit dem im Jahr 2013 von der Bundesregierung beschlossenen „Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmit- teln“ umgesetzt. Entwickelt wurde der deutsche Aktionsplan in einem gesellschaftlichen Beteiligungs- und Diskus- sionsprozess, wobei von Seiten der Umwelt- und Naturschutzverbände wiederholt kritisch geäußert wurde, „man orientiere sich beim Aktionsplan zu sehr an den Interessen der Agrarindustrie“. Auch das UBA war an der Erarbeitung des Aktionsplans beteiligt und hat sich für die Realisierung von möglichst konkreten, verbindlichen und ambitionier- ten Zielen und Maßnahmen im Bereich Umwelt- und Naturschutz eingesetzt. Dies ist nur teilweise gelungen, weshalb aus UBA-Sicht deutlicher Nachbesserungsbedarf für die in 2016/2017 anstehende Überarbeitung des Aktionsplans besteht. Vor diesem Hintergrund und aus der fachlichen Überzeugung heraus, dass die derzeitige Intensität des chemischen Pflanzenschutzes in Deutschland ökologisch nicht nachhaltig ist, hat das UBA das im Folgenden präsentierte „5-Punk- te-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz“ entwickelt. III. 5-Punkte-Programm für einen nachhaltigen Pflanzenschutz Nach fachlicher Überzeugung des UBA ist die der- geboten. Da die derzeitigen Rahmenbedingungen zeitige Intensität des chemischen Pflanzenschutzes (Konkurrenz- und Rationalisierungsdruck in der in Deutschland ökologisch nicht nachhaltig und Landwirtschaft, günstige Preise für PSM, Kosten gefährdet wesentliche Ziele der Umwelt- und Natur- unerwünschter Auswirkungen trägt die Allgemein- schutzpolitik. Ein Pflanzenschutz, der das Attribut heit) aber offensichtlich keine wirksamen Anreize für „nachhaltig“ verdient, muss die Anforderung „dauer- Minimierungsbemühungen seitens der Landwirte set- haft umweltgerecht“ sehr viel ambitionierter, konkre- zen, ist ein gesetzlich verankertes Minimierungsgebot ter und nachvollziehbarer einlösen, als dies mit dem der richtige Weg. Ein generelles Minimierungsgebot aktuellen NAP erfolgt. Auch im Bereich der Zulassung würde die fachlich als auch politisch dringend erfor- von Pflanzenschutzmitteln sind Reformen nötig. derliche Diskussion über das aus gesellschaftlicher Um eine tatsächliche „nachhaltige Entwicklung“ im Sicht tatsächlich „notwendige Maß“ beim Einsatz Pflanzenschutz voranzubringen, empfiehlt das UBA von PSM anstoßen. Die rechtliche Verankerung kann eine über die relevanten Politiken (Pflanzenschutz-, dabei in den „Grundsätzen für die Durchführung der Umwelt-, Naturschutz- und Agrarpolitik) integrieren- guten fachlichen Praxis im Pflanzenschutz“ (BMELV, de Ausrichtung an den folgenden fünf Grundprinzi- 2010) erfolgen, welche gemäß Pflanzenschutzge- pien: setz beim Einsatz von PSM zu befolgen sind. Damit ein solches Gebot seine volle Wirksamkeit entfalten 1. Einsatz minimieren kann, müssten allerdings drei Vorbedingungen erfüllt sein: Minimierungsgebot im Pflanzenschutzrecht wirksam verankern i. PSM-sparsamer Pflanzenbau erfordert ein um- Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes ist eine fassenderes Fachwissen beim Landwirt bzw. eine konsequente Minimierung – bezogen auf die Häufig- intensivere Unterstützung des Landwirtes in der keit und die Menge – des Einsatzes chemischer PSM Kulturführung. Es bedarf also einer intensiveren 14
Schulung sowie einer schlagkräftigeren unabhän- Nutzung vorbeugender (Sortenwahl, Fruchtfolge, Kul- gigen Beratung zum praktischen Pflanzenschutz. turführung) und biologischer Maßnahmen sowie die Beide Aufgaben liegen heute bei den Pflanzen- konsequente Orientierung am ökonomischen Schad- schutzdiensten der Bundesländer, allerdings ist schwellenprinzip, bevor ein chemisches PSM zum deren Personalausstattung oftmals ungenügend Einsatz kommen sollte (Europäische Union, 2009; (BLE, 2014). In der Konsequenz dominieren in der Furlan, 2014). Pflanzenschutzberatung derzeit die im Auftrag der PSM-Hersteller tätigen Berater – und deren Abb. 4 vorrangiges Beratungsziel ist sicherlich kein PSM- Grundprinzipien des Integrierten Pflanzen- sparsamer Pflanzenbau. Eine flächendeckende schutzes unabhängige Beratung mit der klaren Zielsetzung „Minimierung des PSM-Einsatzes“ ist dem entge- genzusetzen. ii. Zum Zweiten bedarf es eines wirksamen und unabhängigen Kontrollsystems. Ob ein PSM- Anwender sich tatsächlich am Minimierungsgebot orientiert, muss im Einzelfall nachvollziehbar sein und mit einer hinreichend wirksamen Quote kontrolliert werden. Mit der gesetzlich vorge- schriebenen Verpflichtung der Landwirte, ihre PSM-Anwendungen zu dokumentieren (soge- Quelle: Abbildung entnommen aus: Vortrag „Nutzen und Risiken von nannte Spritztagebücher), ist die Voraussetzung Pestiziden“ von Dr. Eva Reinhard, BLW, Bern vom 10.11.2014 am Oekotoxzentrum Dübendorf, Schweiz für eine Nachvollziehbarkeit gegeben. Wie die Kontrolle der Einhaltung der Anwendungsauf- Diese „reine Lehre“ ist aber offensichtlich in den lagen beim PSM-Einsatz, wäre die Überprüfung Hintergrund gerückt, was aus dem heute verbreitet auf Einhaltung des Minimierungsgebotes bei den üblichen vorbeugenden PSM-Einsatz (z. B. in Form Pflanzenschutzdiensten der Länder fachlich und von Saatgut-Beizung) sowie aus Verwendungen ohne organisatorisch richtig angesiedelt. Deren Aufga- primären Pflanzenschutzzweck (z. B. Herbizide zur be wäre es, unter Berücksichtigung der regionalen Abreifebeschleunigung und zur Krautabtötung vor Bedingungen sowie des „Schädlingsdruckes“ der Ernte) ersichtlich wird. Beurteilungskriterien für eine dem Minimierungs- gebot folgende gute fachliche Praxis im Pflanzen- Für die Realisierung eines „echten“ IPS ist daher die schutz zu definieren und deren Einhaltung durch Festschreibung und Konkretisierung des Minimie- die Betriebe zu überprüfen. Dazu bedürfte es rungsgebotes in den „Grundsätzen für die Durchfüh- regelmäßiger – zufälliger oder anlassbezogener – rung der guten fachlichen Praxis im Pflanzenschutz“ Kontrollen der betrieblichen Spritztagebücher. und ein zugehöriges Beratungs- und Kontrollsys- tem essenziell (Lefebvre, 2014). Entscheidend ist iii. Drittens müssten offensichtliche Verstöße gegen hier, dass bei einem für alle Landwirte geltenden das Minimierungsgebot mit spürbaren Sanktio- Minimierungsgebot ein nicht dem IPS-Gedanken nen belegt sein. Geeignet wäre eine Kürzung oder entsprechender PSM-Einsatz nicht mehr mit betriebs- Streichung der europäischen Förderung (Direkt- wirtschaftlichen Zwängen angesichts des hohen Kon- zahlungen) für den betroffenen Betrieb. kurrenzdruckes im Markt begründet werden kann (im Sinne von: „Wer zuerst weniger spritzt, der verliert.“). Integrierter Pflanzenschutz – zurück zu den Wurzeln Für den konventionellen Anbau bedeutet „Einsatz Als flankierende Maßnahme zu einer Ertüchtigung minimieren“ eine Rückbesinnung auf den Grund- des Minimierungsgebotes im IPS ist die Einrichtung gedanken des Integrierten Pflanzenschutzes (IPS). eines landwirtschaftlichen Ausfallfonds – ggfs. mit Denn dort ist das Minimierungsgebot bereits angelegt staatlicher Start-Unterstützung – denkbar. Idee ist da- mit dem Prinzip: „Chemie als allerletztes Mittel!“ bei, das potenziell höhere Ausfall- bzw. Ertragsrisiko (s. Abb. 4). Das heißt, der IPS fordert die vorrangige für den einzelnen Landwirt bei einer auf konsequente 15
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