Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier

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Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier
Ariadne-Kurzdossier

Durchstarten trotz
Unsicherheiten: Eckpunkte
einer anpassungsfähigen
Wasserstoffstrategie

Wie die Politik Wasserstoffpfade hin
zur Klimaneutralität 2045 finden kann
Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier
Das vorliegende Ariadne-Kurzdossier wurde von den unten genannten Autorinnen und
Autoren des Ariadne-Konsortiums ausgearbeitet. Sie spiegelt nicht zwangsläufig die
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Herausgeben von                                                                      Bildnachweis
Kopernikus-Projekt Ariadne                                                           Titel: Ashley Batz / unsplash
Potsdam-Institut für Klimafolgen-
forschung (PIK)
Telegrafenberg A 31
14473 Potsdam

November 2021

2
Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier
Autorinnen und Autoren

                  » Dr. Falko Ueckerdt                 » Dr. Benjamin Pfluger          » Adrian Odenweller
                     Potsdam-Institut für                 Fraunhofer-Einrichtung für     Potsdam-Institut für
                     Klimafolgenforschung                 Energieinfrastrukturen und     Klimafolgenforschung
                                                          Geothermie IEG

                                                                                       » Dr. Jörg Kemmerzell
                  » Claudia Günther                    » Prof. Dr. Michèle Knodt          Technische Universität
                     Potsdam-Institut für                 Technische Universität
                                                                                          Darmstadt
                     Klimafolgenforschung                 Darmstadt

                  » Dr. Matthias Rehfeldt               » Christian Bauer              » Dr. Philipp Verpoort
                     Fraunhofer-Institut für System-       Paul Scherrer Institut         Potsdam-Institut für
                     und Innovationsforschung ISI                                         Klimafolgenforschung

                  » Dr. Hans Christian Gils            » Prof. Dr. Gunnar Luderer
                     Deutsches Zentrum für Luft- und      Potsdam-Institut für
                     Raumfahrt                            Klimafolgenforschung
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INHALT

   Zusammenfassung                                                                  1
   Einleitung                                                                       4
   1.    Konkurrierende Leitbilder in der Wasserstoffdebatte                       5
         1.1. Konsens über die Bedeutung erneuerbaren Stroms und
             Notwendigkeit von grünem Wasserstoff                                  5
         1.2. Dissens in der Wasserstoffdebatte                                    6
         1.3. Konkurrierende Transformationsmuster verschiedener
             Wasserstoffleitbilder                                                 8
   2.    Szenario-Bandbreiten und techno-ökonomische Unsicherheiten                10
         2.1. Szenario-Bandbreiten für Wasserstoff und E-Fuels                     10
         2.2. Techno-ökonomische Unsicherheiten und gesicherte Erkenntnisse        12
         2.3. Markthochlauf von grünem Wasserstoff                                 14
         2.4. Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit von Wasserstoff                       17
   3.    Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie                    19
         3.1. Das Angebot – vor allem Importe – von grünem Wasserstoff-
             und E-Fuels mit Nachdruck entwickeln.                                 20
         3.2. Fokussierung auf „No-Regret-Anwendungen“ auf der Wasserstoff-
             Nachfrageseite                                                        22
         3.3. Schrittweise über eine Verbreiterung des Wasserstoff-Einsatzes
             entscheiden.                                                          23
         3.4. Die direkte Elektrifizierung und den heimischen EE-Ausbau deutlich
             beschleunigen.                                                        25
         3.5. Die Option einer „blauen Wasserstoffbrücke“                          25

   Literaturangaben                                                                29
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ZUSAMMENFASSUNG

    In der deutschen energie- und klimapoli-                                    grünem Wasserstoff zu überbrücken?
    tischen Debatte herrscht der noch recht                                     Hinter den unterschiedlichen Antworten
    junge Konsens, dass Strom aus erneuer-                                      auf diese Fragen stehen letzten Endes
    baren Quellen (EE-Strom) zum Rückgrat                                       auch konkurrierende Leitbilder über die
    der Sektorenkopplung und damit der zu-                                      langfristige Bedeutung strombasierter
    künftigen Energieversorgung werden                                          Energieträger und über das zukünftige
    muss. Grundsätzlich besteht zudem Ei-                                       Energiesystem – insbesondere ob EE-
    nigkeit darüber, dass es dabei beider                                       Strom schwerpunktmäßig heimisch3 pro-
    Elektrifizierungsformen bedarf: Die di-                                     duziert werden kann, was für die direkte
    rekte Elektrifizierung erreicht in einigen                                  Elektrifizierung unabdingbar ist, oder
    Anwendungen (z.B. E-Pkw, Wärmepum-                                          stattdessen indirekt in Form von Wasser-
    pen) bereits schnell steigende Marktan-                                     stoff und E-Fuels aus dem Ausland im-
    teile, nutzt im Vergleich zu Wasser-                                        portiert werden sollte.
    stoffanwendungen den knappen EE-
    Strom effizienter und ist dadurch meist                                     Tatsächlich gibt es langfristig große
    eine vergleichsweise kostengünstige Kli-                                    technologische Bandbreiten für die Was-
    maschutzoption. Die indirekte Elektrifi-                                    serstoff- und E-Fuel-Nutzung, die mit den
    zierung durch grünen Wasserstoff1 und                                       aktuellen Klimazielen in Deutschland
    E-Fuels2 steht zwar noch am Anfang ih-                                      und der EU vereinbar sind. Aktuelle Sze-
    rer Entwicklung, kann aber in Zukunft                                       nariostudien zur Erreichung von Klima-
    über verschiedene Grenzen der direkten                                      neutralität in Deutschland (Ariadne,
    Elektrifizierung hinausgehen, was sie an-                                   2021; BDI, 2021; BMWi, 2021; dena,
    gesichts der begrenzten Verfügbarkeit                                       2021; Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-
    nachhaltiger Biokraftstoffe für das Errei-                                  Institut, 2021) spannen in 22 Einzelsze-
    chen von Klimaneutralität unverzichtbar                                     narien einen Lösungsraum für Wasser-
    macht.                                                                      stoff- und E-Fuel-Nutzung von 10 % bis
                                                                                zu 35 % der Endenergienachfrage im
    In der aktuellen Debatte gibt es dennoch                                    Jahr 2045 auf.
    harte Konfliktlinien insbesondere zu zwei
    grundlegenden Fragen: Erstens, in wel-                                      Jedoch hängt die Erreichbarkeit der ver-
    chen Sektoren und Anwendungen soll-                                         schiedenen Szenarien entscheidend von
    ten Wasserstoff und E-Fuels eingesetzt                                      Innovationen und Technologiediffusion
    werden? Zweitens, sind fossile Zwischen-                                    sowohl von grünem Wasserstoff als auch
    lösungen wie blauer Wasserstoff aus Erd-                                    der direkten Elektrifizierung ab. Diese zu-
    gas mit CO2-Abscheidung und -Speiche-                                       künftigen Entwicklungen sind mit tech-
    rung (CCS) erforderlich und geeignet, um                                    no-ökonomischen Unsicherheiten behaf-
    die kurz- bis mittelfristige Knappheit von                                  tet, was sich in den unterschiedlichen

     1 Grüner Wasserstoff ist Elektrolyse-Wasserstoff der aus 100% erneuerbarem Strom hergestellt wird.
     2 E-Fuels sind strombasierte, synthetische Kraftstoffe, die aus Wasserstoff und Kohlenstoff, meist Kohlendioxid oder Kohlenmonoxid, syntheti-
    siert werden.
    3 Mit „heimisch“ ist in erster Linie in Deutschland gemeint, aber in geringem Maße auch der europäische Stromverbund, insbesondere Deutsch-
1
    lands direkte Stromnachbarn.
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Einschätzungen und Positionen in der           und der notwendige Netzausbau nur mit        Darüber hinaus müssen Innovationen zu
Debatte widerspiegelt. Auch wenn die           breiter gesellschaftlicher Akzeptanz         Wasserstoffanwendungen oder Elektrifi-
Politik Fortschritte mit guten Rahmen-         möglich. Die möglichen Grenzen der           zierung über Forschungs- und Pilotpro-
bedingungen beschleunigen kann, ver-           Elektrifizierung lassen sich heute noch      jekte auch in den Bereichen gefördert
bleiben fundamentale Unsicherheiten            schwer abschätzen, in den nächsten Jah-      werden, für die noch unsicher ist, ob der
hinsichtlich sowohl der kurzfristig reali-     ren werden dazu aber wichtige Erkennt-       jeweilige Energieträger dort eine Rolle
sierbaren Dynamik als auch des langfris-       nisse gewonnen werden.                       spielen kann oder sollte. Dabei sollten
tigen Potenzials von Technologien. Es                                                       noch keine Vorentscheidungen getroffen
würde somit die Erreichung der Klimazie-       Die großen Szenario-Bandbreiten sollten      werden, um Pfadabhängigkeiten zu ver-
le gefährden, sich schon heute auf einen       somit nicht als technologischer oder po-     meiden. Trotz der Unsicherheiten kön-
langfristigen Technologiepfad festlegen        litscher Spielraum interpretiert werden.     nen teure Lock-ins weitgehend vermie-
zu wollen.                                     Der Pfad mindestens bis zur Erreichung       den werden, wenn die bestehende
                                               der 2030-Klimaziele ist sehr schmal und      (In-)Flexibilität beim Wechsel von Ener-
Die künftige Rolle von Wasserstoff und E-      die notwendigen Schritte klar sichtbar.      gieträgern beachtet bzw. genutzt wird.
Fuels, die derzeit praktisch noch nicht        Nach 2030 gibt es mehr mögliche Pfade,       Die technologischen Fortschritte und
als Energieträger verwendet werden, ist        deren Tragfähigkeit aus heutiger Sicht       Grenzen sollten stetig überprüft, neue
in den nächsten Jahren vor allem durch         allerdings unsicher ist. So könnten sich     Erkenntnisse gesichert und die Gesamts-
deren Verfügbarkeit begrenzt. In 2030          die realisierbaren Bandbreiten – durch       trategie entsprechend angepasst wer-
können nur etwa 1 % der Energienach-           Engpässe beim Wasserstoff- und E-Fuel-       den.
frage der EU mit heimischem grünem             Angebot auf der einen Seite und Barrie-
Wasserstoff werden, falls das europäi-         ren bei der direkten Elektrifizierung auf    Fünf Eckpunkte einer anpassungsfähi-
sche 40-GW-Ausbauziel für Elektrolyse-         der anderen Seite – als begrenzt heraus-     gen Wasserstoffstrategie sollen der neu-
kapazität erreicht wird. Dafür muss der        stellen, sodass sich auch langfristig nur    en Bundesregierung helfen, durch den
Wasserstoff-Markthochlauf allerdings           ein schmaler, noch nicht definierbarer,      von Unsicherheiten geprägten Szenari-
doppelt so schnell wie bei Windkraft und       gangbarer Pfad zeigt.                        enraum zu navigieren.
ähnlich schnell wie bei Photovoltaik er-
folgen. Auch wenn ein noch schnelleres,        Eine erfolgreiche Wasserstoffstrategie       1. Das Angebot (vor allem Import) von
beispielloses Wachstum denkbar ist und         muss in eine Klimaschutzstrategie einge-        grünem Wasserstoff und E-Fuels
außereuropäische Importe berücksich-           bettet werden, die den Unsicherheiten           sollte dringend und mit Nachdruck
tigt werden, sind die Wasserstoffmengen        sowohl von Wasserstoff und E-Fuels als          entwickelt werden. Damit wird die
bis mindestens 2030 anteilig gering.           auch der direkten Elektrifizierung Rech-        Wahrscheinlichkeit erhöht, dass zu-
Auch für die Zeit danach verbleiben Unsi-      nung trägt. Eine solche integrierte Stra-       mindest die unbedingt notwendigen
cherheiten darüber, ab welchem Zeit-           tegie kann und muss sich nicht auf ein          Mengen strombasierter Energieträ-
punkt grüner Wasserstoff in großen Men-        präferiertes Wasserstoff-Leitbild oder ei-      ger langfristig verfügbar sind. Vor-
gen (>10 % der Endenergienachfrage)            nen langfristigen Pfad des gesamten             aussetzung für ein schnelles Wachs-
und zu welchen Preisen verfügbar sein          Energiesystems festlegen. Stattdessen           tum sind gezielte regulatorische
wird. Die realisierbaren Mengen und Prei-      ermöglicht sie der Politik, gemeinsame          Maßnahmen und technologiespezifi-
se von E-Fuels werden zusätzlich durch         Lernprozesse mit der Wirtschaft, Wissen-        sche Förderungen. Steigende CO2-
die Knappheit und die Kosten von nicht-        schaft und Gesellschaft anzustoßen und          Preise unterstützen die Diffusion,
fossilen CO2-Quellen, insbesondere aus         adaptiv auf Basis neuer Erkenntnisse zu         sind jedoch vor 2030 wahrscheinlich
Anlagen zur CO2-Luftabscheidung, be-           entscheiden.                                    nicht ausreichend hoch, um die Wett-
stimmt.                                                                                        bewerbsfähigkeit von grünem Was-
                                               Eine solche Strategie fußt dabei zu-            serstoff zu ermöglichen, sodass es
Darüber hinaus hängen die zukünftigen          nächst darauf, dass es bereits gesicherte       auf eine aktive, technologiespezifi-
Einsatzbereiche von Wasserstoff und E-         Erkenntnisse über Elemente gibt, die            sche politische Förderung ankommt.
Fuels davon ab, inwieweit der heimische        trotz der Unsicherheiten gemeinsamer            Die Politik sollte zudem die Entste-
EE-Ausbau und die direkte Elektrifizie-        Teil aller Szenarien sind und die somit         hung eines internationalen Wasser-
rung auf Engpässe und Grenzen stoßen.          als notwendig erachtet werden können.           stoffmarktes koordinierend unter-
Neben Engpässen in Bezug auf die Ge-           Solche „No-Regret-Elemente“ müssen              stützen.
schwindigkeit des heimischen EE-Aus-           aufgrund der Dringlichkeit der Klimaziele
baus und der Diffusion elektrifizierender      konsequent umgesetzt werden. Die dafür       2. Zunächst sollte Wasserstoff prioritär
Technologien, gibt es Unsicherheiten im        notwendigen Richtungsentscheidungen             für „No-Regret-Anwendungen“ ver-
Hinblick auf die langfristige Tiefe, mit der   führen bereits in den nächsten Jahren zu        wendet werden, solange nicht ab-
Anwendungen wettbewerbsfähig elektri-          neuen Erkenntnissen über zukünftige             sehbar ist, wann und zu welchen
fiziert werden können. Während die tech-       Technologiekosten, Diffusionsgeschwin-          Preisen strombasierte Energieträger
nischen EE-Potenziale auch für eine tief-      digkeiten oder Potenzialgrenzen.                verfügbar sein werden. Dies sind ins-
greifende Elektrifizierung ausreichen,                                                         besondere Anwendungen, in denen
sind ein stark beschleunigter EE-Ausbau                                                        eine direkte Elektrifizierung grund-

2
Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier
sätzlich nicht möglich ist: die Nut-       sind. Der Wechsel zu E-Fuels wäre            port von blauem Wasserstoff im
    zung von Wasserstoff in der Industrie      auch nach 2035 für den verbleiben-           Übergang zu einer vollständig grü-
    (Ammoniak, Stahl) sowie von E-Fuels        den Bestand an Verbrennungstech-             nen Wasserstoffversorgung zu. Da
    in der Petrochemie und im Fernflug-        nologien kurzfristig möglich, falls die      die Treibhausgasemissionen (THG)
    und Schiffsverkehr. Diese Nachfragen       E-Fuel-Produktion zügig genug vor-           von blauem Wasserstoff je nach Her-
    liegen an relativ wenigen Standorten       anschreitet. Wenn hingegen im Vor-           kunftsland und der verwendeten
    und Regionen gebündelt vor und             hinein auf eine breite Verfügbarkeit         CCS-Technologie stark variieren
    könnten somit potenziell Keimzellen        von günstigem Wasserstoff und E-             kann, bedarf es der Zertifizierung,
    eines späteren Wasserstoffnetzes bil-      Fuels gesetzt wird und sich diese Er-        Regulierung und Bepreisung der Le-
    den. Die Summe dieser Nachfragen           wartungen nicht erfüllen, drohen ein         benszyklus-THG-Emissionen. Dies
    dürfte auf absehbare Zeit die verfüg-      fossiler Lock-in, hohe Kosten und            muss insbesondere den Methan-
    baren Mengen grünen Wasserstoffs           eine Verfehlung der Klimaziele. E-           schlupf bei der Förderung und Be-
    übertreffen, sodass die Fokussierung       Fuels sollten daher als eine erst lang-      reitstellung von Erdgas im Ausland
    auf wenige Anwendungen den ange-           fristig verfügbare, und potenziell kos-      einschließen. Grüner Wasserstoff soll-
    botsseitigen Wasserstoffhochlauf           tenintensive „Fallback-Option“ be-           te unabhängig von blauem Wasser-
    nicht begrenzt. Klimaschutzverträge        trachtet werden, für Bereiche, in            stoff gefördert und entwickelt wer-
    (CCfDs) für Wasserstoffanwendungen         denen sich für die Elektrifizierung          den, um die Innovationspotenziale
    in der Industrie und E-Kerosin-Quo-        und Wasserstoff Grenzen gezeigt ha-          und Kostenreduktionen zu realisie-
    ten im Flugverkehr schaffen gesi-          ben.                                         ren. Auch hier bedarf es der vollstän-
    cherte Nachfragen und somit auch                                                        digen Berücksichtigung der THG-
    Anreize für die Wasserstoffangebots-    4. Die direkte Elektrifizierung und der         Emissionen.
    seite. Da dies bis mindestens 2030         heimische EE-Ausbau müssen deut-
    wahrscheinlich nicht marktbasiert          lich beschleunigt werden. Ein robus-      Nach einer Dekade mit nahezu stagnie-
    von einem CO2-Preis koordiniert wer-       tes Ergebnis der Szenarien ist, dass      renden Emissionen in den Sektoren Ver-
    den kann, sollte der Regulierung und       eine zügige und weitgehende Elektri-      kehr, Industrie und Gebäude muss die
    Förderung von Wasserstoff eine um-         fizierung auf Basis eines beschleunig-    neue Bundesregierung nun eine sehr ak-
    fassende Hierarchisierung (oder „Me-       ten EE-Ausbaus ebenfalls unverzicht-      tive Rolle bei der Gestaltung der Trans-
    rit-Order”) der verschiedenen Was-         bar zur Erreichung der Klimaziele ist.    formation spielen. Technologiespezifi-
    serstoff-Anwendungen zugrunde              Bis 2030 bedarf es einer „Dekade der      sche Regulierung und Förderung insbe-
    liegen. Diese Ordnung kann zukünf-         Elektrifizierung“, in der sich die EE-    sondere zu „No-Regret-Elementen“ sind
    tig angepasst werden, wenn Mengen          Kapazität verdreifacht, batterieelek-     dabei unumgänglich. Dabei können klare
    und Preise von Wasserstoff und po-         trische Fahrzeuge die Pkw-Neuzulas-       Leitplanken auch verhindern, dass Was-
    tenzielle Grenzen der direkten Elek-       sungen dominieren und etwa 5 Mio.         serstoff zu früh in Bereichen eingeplant
    trifizierung besser abschätzbar sind.      neue Wärmepumpen installiert wer-         wird, für die bis 2030 keine ausreichen-
                                               den. In 2045 liegen die Anteile der di-   den Wasserstoffmengen oder Infrastruk-
3. Schrittweise sollte über eine Ver-          rekten Nutzung von Strom im Ende-         turen verfügbar sind. Gleichzeitig ist ein
   breiterung des Wasserstoff-Einsat-          nergiemix in allen Ariadne-Szenarien      starker Anstieg des CO2-Preises notwen-
   zes entschieden werden. In den              zwischen 50 % und 70 %. Ein konse-        dig, damit dieser zunehmend auch nach-
   nächsten Jahren wird sich in Projek-        quentes Voranschreiten und Austes-        frageseitige Transformationen in Indus-
   ten zunehmend herauskristallisieren,        ten der Grenzen der direkten Elektri-     trie, Verkehr und Gebäuden anstoßen
   welche Wasserstoffkosten und -men-          fizierung ist mit vergleichsweise         kann. Eine zentrale Rolle bei der Koordi-
   gen realisierbar sind und inwieweit         geringen Risiken verbunden, wenn          nation zwischen Elektrifizierung, Wasser-
   der Wasserstoffeinsatz nach einem           dies kontinuierlich mit dem Fort-         stoff und E-Fuels, kann der CO2-Preis
   ambitionierten und fokussierten             schritt des EE-Ausbaus abgeglichen        dann übernehmen, wenn die komplexen
   Start schrittweise verbreitert werden       wird. Elektrische Anwendungen im          Energie- und Kohlenstoffflüsse eines sek-
   kann. Gleichzeitig wird eine Beschleu-      Verkehrs- und Gebäudebereich sind         torgekoppelten Energiesystems in eine
   nigung des EE-Ausbaus und der di-           so effizient, dass die zusätzlichen       hohe und umfassende CO2-Bepreisung
   rekten Elektrifizierung deren Innova-       Strombedarfe bis 2030 bei erfolgrei-      eingebettet sind.
   tionspotenziale und Grenzen zeigen.         cher Diffusion etwa 100 TWh (im Vgl.
   Dann können Marktakteure und die            zu 2020) betragen würden (knapp 20
   Politik besser über Einsatzgebiete          % der heutigen Stromnachfrage).
   von Wasserstoff entscheiden. Insbe-
   sondere im schweren Lkw-Güterver-        5. Eine „blaue Wasserstoffbrücke“
   kehr und bei der Prozesswärme kann          könnte das Angebot klimafreundli-
   der Wettbewerb der Energieträger            chen Wasserstoffs erhöhen und eine
   zunehmend von steigenden CO2-Prei-          frühere Transformation hin zu Was-
   sen koordiniert werden, sofern auch         serstoff ermöglichen. Die nationale
   die Energiesteuern harmonisiert             Wasserstoffstrategie lässt den Im-

3
Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier
EINLEITUNG

    In der deutschen energie- und klimapoli-                                   siblen Wasserstoffpfade mit Hilfe fünf ak-
    tischen Debatte herrscht ein weitgehen-                                    tueller Szenariostudien der Energie-sys-
    der Konsens, dass Strom aus erneuerba-                                     temtransformation in Deutschland abzu-
    ren Quellen (EE-Strom) zum Rückgrat                                        stecken (Kapitel 2). Ziel ist es dann,
    der Sektorenkopplung und damit der zu-                                     Eckpunkte einer anpassungsfähigen Was-
    künftigen Energieversorgung werden                                         serstoffstrategie abzuleiten, die helfen
    muss. Die zukünftige Rolle von Wasser-                                     soll, durch den von Unsicherheiten ge-
    stoff wird hingegen noch diskutiert. Es                                    prägten Szenarioraum zu navigieren (Ka-
    gibt sehr unterschiedliche, teilweise kon-                                 pitel 3). Die Analyse beinhaltet eine Dis-
    kurrierende Leitbilder im Hinblick dar-                                    kussion sowohl des Notwendigen und
    auf, inwieweit EE-Strom direkt mittels                                     Wahrscheinlichen, als auch der Grenzen
    Elektrifizierung oder indirekt als grüner                                  des Möglichen zum Beispiel im Hinblick
    Wasserstoff4 oder in Form von E-Fuels5                                     auf den Wasserstoffhochlauf (Kapitel 2.3).
    eingesetzt werden soll. Damit verbunden                                    Dies ist gerade beim Thema grüner Was-
    sind die Fragen, wieviel Wasserstoff ins-                                  serstoff und E-Fuels erforderlich: Die da-
    gesamt eingesetzt werden sollte und ob                                     hinter stehenden noch sehr jungen Tech-
    EE-Strom schwerpunktmäßig heimisch6                                        nologien sind für den Klimaschutz unver-
    produziert kann (insbesondere für die di-                                  zichtbar, werden in der Diskussion je-
    rekte Elektrifizierung wichtig) oder in                                    doch teilweise zur Projektionsfläche und
    Form von Wasserstoff und E-Fuels aus                                       zum Heilmittel für viele Herausforderun-
    dem Ausland importiert werden sollte.                                      gen insbesondere der direkten Elektrifi-
    Ein weiterer ungeklärter Punkt ist die                                     zierung stilisiert.
    Frage, ob fossile Zwischenlösungen wie
    blauer Wasserstoff aus Erdgas mit CO2-
    Abscheidung und -Speicherung (CCS) er-
    forderlich und geeignet sind, um die
    Knappheit von grünem Wasserstoff ins-
    besondere in den nächsten Jahren zu
    überbrücken.

    In diesem Überblicksdossier skizzieren
    wir zunächst die konkurrierenden Leitbil-
    der und Präferenzen, die sich hinter den
    Konfliktlinien der Debatte verbergen (Ka-
    pitel 1), um dann die grundsätzlich plau-

     4 Grüner Wasserstoff ist Elektrolyse-Wasserstoff der aus 100% erneuerbarem Strom hergestellt wird
     5 E-Fuels sind strombasierte, synthetische Kraftstoffe, die aus Wasserstoff und Kohlenstoff synthetisiert werden
     6 Mit „heimisch“ ist in erster Linie in Deutschland gemeint, aber in geringem Maße auch der europäische Stromverbund, insbesondere Deutsch-
4   lands direkte Stromnachbarn.
Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier
1. KONKURRIERENDE
       LEITBILDER IN DER
       WASSERSTOFFDEBATTE

    In diesem Kapitel strukturieren wir die                                   nicht nur Kohle und Erdgas zur Deckung
    Konfliktlinien der aktuellen Debatte um                                   der heutigen Stromnachfrage ersetzen,
    Wasserstoff, um dann die dahinter lie-                                    sondern auch fossile Brenn- und Grund-
    genden konkurrierenden Leitbilder her-                                    stoffe (u.a. Erdöl, Erdgas und Koks) im
    auszuarbeiten. Wir beginnen zunächst                                      Verkehrs-, Gebäude- und Industriesektor.
    mit dem Konsens.
                                                                              Grundsätzlich besteht zudem ein Kon-
    1.1. Konsens über die Bedeutung                                           sens darüber, dass es beider Elektrifizie-
         erneuerbaren Stroms und                                              rungsformen bedarf. Die direkte Elektrifi-
         Notwendigkeit von grünem                                             zierung hat dabei den Vorteil, dass sie
         Wasserstoff                                                          den in Deutschland und weltweit knap-
                                                                              pen EE-Strom effizient nutzt und dass di-
    Grüner Wasserstoff und E-Fuels sind in                                    rektelektrische Technologien bereits ver-
    das Zentrum der Debatte zu Energiewen-                                    fügbar und in vielen Bereichen ver-
    de und Klimaschutz gerückt. Zusammen                                      gleichsweise kostengünstig sind. Insbe-
    mit der direkten Elektrifizierung bilden                                  sondere batterieelektrische Pkws und
    sie den Kern der Sektorenkopplung, der                                    Wärmepumpen wachsen bereits mit gro-
    zentralen Säule für Klimaschutz in den                                    ßer Dynamik7 und haben weiteres Kost-
    Energie- und Industriesektoren. Das ist                                   endegressionspotenzial. Die Entwicklung
    zunächst einmal Ausdruck eines noch                                       der Technologien um grünen Wasserstoff
    recht jungen und bemerkenswerten Kon-                                     und E-Fuels steht zwar noch am Anfang,
    senses über die Bedeutung von EE-                                         hat aber ebenfalls großes Innovationspo-
    Strom als dem Rückgrat der Energie-                                       tenzial. Strombasierte Kraft- und Brenn-
    wende. Die direkte Elektrifizierung (z.B.                                 stoffe können in Zukunft über die Gren-
    batterieelektrische Pkw, Wärmepumpen,                                     zen der direkten Elektrifizierung hinaus-
    elektrische Kessel) und die indirekte                                     gehen und sind somit für das Erreichen
    Elektrifizierung (über grünen Wasserstoff                                 von Klimaneutralität unverzichtbar.8 Es
    und E-Fuels) ermöglichen die breite Nut-                                  besteht somit weitgehende Einigkeit dar-
    zung von EE-Strom auch in Anwendun-                                       über, dass das Erreichen der Klimaziele
    gen, die heute überwiegend auf der Ver-                                   ein dringendes Wachstum beider Elektri-
    brennung fossiler Brennstoffe beruhen.                                    fizierungsformen auf Basis von vorwie-
    Erneuerbare Energien, vor allem aus                                       gend erneuerbarem Strom erforderlich
    Windkraft- und Solar-Photovoltaik-Anla-                                   macht.
    gen (Solar-PV), können auf diesem Wege

    7 ~17 % der in September 2021 neu zugelassenen Pkw in Deutschland sind voll-batterieelektrische Fahrzeuge (Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt). Der
    Marktanteil von Wärmepumpen neu genehmigten Wohngebäuden erreichte 2020 erstmals 50 % (Quelle: Statistisches Bundesamt).
5   8 Insbesondere bei begrenztem Biotreibstoffpotenzial
Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie - Ariadne-Kurzdossier
1.2. Dissens in der Wasserstoffdebatte       märstahl, Ammoniak, Olefine) und im                                          verbänden (BDEW, 2021; DVGW, 2021;
                                             Fernverkehr (Flugverkehr, Schiffsver-                                        RWE, 2021; VDMA, 2021; VKU, 2021) so-
Die Wasserstoffdebatte findet auf allen      kehr), die sich langfristig nur mit großen                                   wie vom Nationalen Wasserstoffrat
Ebenen des politischen Diskurses statt -     Mengen an Wasserstoff oder E-Fuels de-                                       (NWR, 2021)10 und der Deutschen Ener-
von der Wissenschaft und Politikbera-        fossilisieren ließen.                                                        gieagentur (dena, 2021) vertreten.
tung über die organisierten Interessen
bis zu den Parteien. Im parteipolitischen    Eine solche Fokussierung wird von vielen                                     Einige Akteure nehmen eine „mittlere“
Raum zeigte sich die Debatte in den          Beratungsgremien, NGOs und Instituten                                        Position im Hinblick auf Wasserstoff-Ein-
Wahlprogrammen zur Bundestagswahl            vertreten (Agora, 2021; BMWi, 2021a;                                         satzgebiete ein (BDI, 2021a; BEE, 2021;
2021 ebenfalls erstmals in ihrer ganzen      DNR, BUND, DUH, E3G, Germanwatch,                                            VDI, 2020). Kennzeichnend für eine sol-
Breite (Kemmerzell et al., 2021).            NABU und WWF, 2021; ESYS, 2021; KAD,                                         che Position ist beispielsweise die Befür-
                                             2021; Öko-Institut, 2021; SRU, 2021;                                         wortung von Wasserstoff als Energieträ-
Die Konfliktlinien lassen sich an unter-     UBA, 2021). Unter den Unternehmen                                            ger bei Fahrzeugen, jedoch eine skep-
schiedlichen Einschätzungen entlang          vertreten insbesondere in der Stromwirt-                                     tische Einschätzung gegenüber dem Ein-
zweier Dimensionen darstellen (Abbil-        schaft sowie der Schwerindustrie tätige                                      satz in der Gebäudewärmeversorgung
dung 1):                                     Akteure eine Fokussierung, beispielswei-                                     (Vattenfall, 2021).
                                             se 50Hertz und Thyssenkrupp (50Hertz,
1. Die Einsatzgebiete von Wasserstoff        2021; Thyssenkrupp, 2021).                                                   Besonders intensiv wird der Einsatz von
   und E-Fuels auf der Nachfrageseite.                                                                                    Wasserstoff und E-Fuels für Pkws und
   Diese Frage ist stark verknüpft mit       Die Position eines breiten Einsatzes ist                                     Wärme in Gebäuden diskutiert. Im Pkw-
   der relativen Bedeutung der direkten      mit der Einschätzung verbunden, dass                                         Bereich kristallisieren sich zwar batterie-
   Elektrifizierung gegenüber der indi-      zukünftige Innovationen bei Wasserstoff-                                     elektrische Fahrzeuge immer deutlicher
   rekten Elektrifizierung (via Wasser-      technologien (z.B. Elektrolyse und Brenn-                                    als dominierende Klimaschutzoption her-
   stoff und E-Fuels) und somit auch         stoffzellen) die aktuell hohen Kosten zü-                                    aus, gleichzeitig werden Wasserstoff und
   mit dem Anteil von Wasserstoff im         gig reduzieren und rechtzeitig zu hohen                                      E-Fuels unter dem Stichwort „Technolo-
   Energiemix sowie dem Anteil von           verfügbaren Mengen von grünem Was-                                           gieoffenheit“ insbesondere als Gegenar-
   Energieimporten.                          serstoff und E-Fuels führen werden. In                                       gument zu einem potenziellen Verbot
                                             diesem Zusammenhang wird oft auf die                                         der Neuzulassung von Pkw-Verbren-
2. Die Rolle von nicht-grünem Wasser-        Innovationskraft und Geschäftsmöglich-                                       nungsmotoren ab 2030 oder 2035 ein-
   stoff auf der Angebotsseite. Dies be-     keiten der deutschen Wirtschaft verwie-                                      gebracht. Bei der Wärmeversorgung in
   trifft insbesondere die Frage, ob aus     sen. Vertreter:innen dieser Position                                         Gebäuden wird vor allem mit hohen Effi-
   Erdgas gewonnener blauer oder tür-        möchten die Vielseitigkeit von Wasser-                                       zienzen für eine Elektrifizierung mit Wär-
   kiser9 Wasserstoff eine Brückenfunk-      stoff und E-Fuels nutzen, um auf breiter                                     mepumpen argumentiert. Wasserstoffbe-
   tion einnehmen sollte und welche          Front fossile Brenn- und Kraftstoffe zu                                      fürworter:innen entgegnen, dass Wärme-
   Möglichkeiten und Risiken damit ein-      ersetzen. Während die Vorteile der di-                                       pumpen in Teilen des Gebäudebestands
   hergehen.                                 rektelektrischen Optionen zwar prinzipi-                                     erst nach teuren energetischen Sanie-
                                             ell anerkannt werden, wird auf die                                           rungen eingesetzt werden können. Was-
An einem Ende der Debatte um die Ein-        Hemmnisse und Beschränkungen dieses                                          serstoff hingegen könne die heutige Erd-
satzgebiete steht die Empfehlung, Was-       Pfads verwiesen. Betont wird dabei die                                       gasinfrastruktur nutzen und Gasheiz-
serstoff und E-Fuels sehr fokussiert für     Bedeutung von Wasserstoff- und E-Fuel-                                       ungen auf „H2 ready“ umgestellt wer-
solche Sektoren zu priorisieren, in denen    Importen, die den Druck auf die heimi-                                       den.
eine direkte Elektrifizierung nicht mög-     schen EE-Potenziale lindern und damit
lich ist. Der gezielte Einsatz wird in der   auch die Bedeutung des Effizienzvorteils                                     Die zweite Debattendimension betrifft
Regel damit begründet, dass grüner           direkter Elektrifizierung reduzieren wür-                                    die Rolle von blauem Wasserstoff. Hinter-
Wasserstoff zu knapp und teuer sein          den. Auch könne durch die Weiternut-                                         grund oder Treiber der Diskussion ist da-
werde, um ihn in Sektoren einzusetzen,       zung derzeit fossiler Infrastrukturen, ins-                                  bei, dass grüner Wasserstoff zumindest
in denen auch eine direkte Elektrifizie-     besondere des Gasnetzes, der Strom-                                          in dieser Dekade ein knappes Gut sein
rung möglich ist. Dabei werden die Kos-      netzausbaubedarf deutlich reduziert                                          wird, da Elektrolysekapazitäten aufge-
ten- und Effizienzvorteile sowie der Vor-    werden.                                                                      baut und Infrastrukturen geschaffen
teil der kurzfristigen Verfügbarkeit der                                                                                  werden müssen. Je nach Einschätzung
direkten Elektrifizierung betont. Für den    Die Position, Wasserstoff in vielen Sekto-                                   des Wasserstoffbedarfs und des erreich-
Einsatz von Wasserstoff und E-Fuels blie-    ren einzusetzen, oder zumindest keine                                        baren Hochlaufs des Grünwasserstoffan-
ben somit wenige sogenannte „No-Re-          Festlegungen zu treffen, wird von eini-                                      gebots, ergibt sich teilweise ein Defizit.
gret-Anwendungen“ in der Industrie (Pri-     gen Unternehmen und Unternehmens-                                            Blauer Wasserstoff und einige andere po-

                                             9 Türkiser Wasserstoff: Erdgas wird mittels Methanpyrolyse in Wasserstoff und festen Kohlenstoff aufspaltet. Das Verfahren befindet sich noch in
                                             der Entwicklung (Technology Readiness Level ~3-5).
                                             10 Die Klima-Allianz Deutschland und der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) haben im NWR ein Sondervotum abgegeben,
6                                            das eine „strikte Priorisierung“ von No-Regret-Sektoren und eine Ablehnung von blauem oder türkisem Wasserstoff beinhaltet.
Abbildung 1: Der aktuelle Debattenraum zu Wasserstoff und E-Fuels lässt sich entlang der Nachfrage (fokussierter vs. breiter Einsatz) sowie des Angebots (Ergänzung
    des grünen Wasserstoffs um u.a. blauen oder türkisen Wasserstoff) strukturieren (oben).

            Zwei Dimensionen der Wasserstoffdebatte

                                                                              Angebotsseite:
                                                                              Wasserstoffherkunft
                                                                  Ausschließlich
                                                              grüner Wasserstoff

            Nachfrageseite:
            Einsatzbereich
                         Fokussierter Einsatz                    Schmale Brücke          Mittelbereich                                           Breiter Einsatz
                         von Wasserstoff und E-Fuels             von v.a. blauem,        Einsatz auch im                                         von Wasserstoff und E-Fuels
                         in der Industrie (Primärstahl,               Wasserstoff        Schwerlastverkehr,                                      (auch in Pkw und Gebäuden)
                         Ammoniak, Olefine) und                                          und für Prozesswärme in
                         Fernverkehr (Flugverkehr,                                       Industrieanwendungen
                         Schiffsverkehr)
                                                              Breite und potentiell
                                                          längerfristige Ergänzung
                                                             mit blauem, türkisen
                                                                        Wasserstoff

tenzielle Brückenlösungen könnten diese                     liche und langfristig überflüssige Erdgas-                            nigen Ausnahmen fallen die Positionie-
Engpässe oder Knappheiten bei der Er-                       und CO2-Infrastruktur (DNR, 2020; DUH,                                rungen für eine Fokussierung auf be-
zeugung oder Nutzung von grünem Was-                        2021; Germanwatch, 2021; SRU, 2021).                                  stimmte Anwendungen und ausschließ-
serstoff und E-Fuels überbrücken. Neben                     Dabei rücken besonders die Leckagen                                   lich grünen Wasserstoff ebenso zusam-
blauem Wasserstoff gehört dazu unter                        bei der Förderung von Erdgas in den Fo-                               men wie eine Befürwortung eines breiten
anderem die Verwendung von                                  kus, da der Hauptbestandteil Methan ein                               Anwendungsspektrums und blauen Was-
Graustrom für die Elektrolyse und die                       besonders hohes Treibhauspotenzial auf-                               serstoffs. Eine Kombination aus grünem
Verwendung von CO2 aus fossilen Quel-                       weist. Insbesondere der SRU, die DUH                                  Wasserstoff und einem breiten Anwen-
len für die Synthese von E-Fuels.                           und die Klima-Allianz lehnen nicht-grü-                               dungsbereich bzw. einem Verzicht auf
                                                            nem Wasserstoff grundlegend ab (DUH,                                  klare Fokussierung findet sich bei weni-
Die Befürworter:innen einer „blauen                         2021; KAD, 2021; SRU, 2021). Auch der                                 gen Akteuren (BEE, 2021; VDI, 2020).
Wasserstoffbrücke“ argumentieren, dass                      VDI hat eine Präferenz für grünen Was-
diese erforderlich ist, solange grüner                      serstoff (VDI, 2020). Eine ähnliche Positi-                           Eine Kombination aus Befürwortung ei-
Wasserstoff knapp ist, um sobald wie                        on nehmen auch viele Akteure in der                                   nes begrenzten Nutzungsspektrums und
möglich eine Wasserstoffinfrastruktur                       Stromwirtschaft ein: Neben den Netzbe-                                blauen Wasserstoffs findet sich in der
aufbauen und befüllen zu können sowie                       treibern Amprion und 50Hertz, plädieren                               Studie „Die Wasserstoffstrategie 2.0 für
um die Umstellung von Nachfragean-                          der BWE, RWE und Vattenfall für die Kon-                              Deutschland” des Öko-Instituts sowie in
wendungen auf Wasserstoff zu beginnen.                      zentration auf grünen Wasserstoff                                     der Studie „Klimaneutrales Deutschland
Dazu gehören sowohl Unternehmensver-                        (50Hertz, 2021; Amprion, 2021; BWE,                                   2045“, die für eine „blaue Brücke“ und
bände und Gewerkschaften (IGBCE,                            2019; RWE, 2021; Vattenfall, 2021).                                   eine klare Fokussierung plädiert (Öko-In-
2020; VKU, 2021), der Nationale Wasser-                                                                                           stitut, 2021; Prognos, Öko-Institut, Wup-
stoffrat11 sowie die Studie „Klimaneutra-                   Insbesondere der breite Einsatz von Was-                              pertal-Institut et al., 2021).
les Deutschland 2045“, die von der Ago-                     serstoff und E-Fuels erhöht den Bedarf
ra und der Stiftung Klimaneutralität                        und verschärft somit potenzielle Engpäs-                              In der Positionierung von Akteuren zu
beauftragt wurden ((NWR, 2021; Öko-In-                      se auf der Angebotsseite, sodass der Ruf                              den beiden Hauptstreifragen – Breite des
stitut, 2021; Prognos, Öko-Institut, Wup-                   nach einem breiten Einsatz oft mit dem                                Einsatzes und Bedeutung von Brücken-
pertal-Institut et al., 2021).                              Ruf nach Pragmatismus im Hinblick auf                                 technologien – spiegeln sich teilweise de-
                                                            fossile Zwischenlösungen verknüpft ist                                ren wirtschaftliche Interessen. Beispiels-
Die Kritiker:innen von blauem Wasser-                       (Grimm and Kuhlmann, 2021). Somit                                     weise setzen sich der Gasverband DVGW
stoff fürchten erhöhte Emissionen im                        sind die Positionen entlang der ersten                                oder die Thüga-Holding für ein breites
Vergleich zu einer Beschränkung auf                         und zweiten Dimension in Abbildung 1 in                               Anwendungsspektrum und den Einsatz
grünen Wasserstoff und teilweise zusätz-                    der Debatte teilweise verknüpft. Mit we-                              blauen Wasserstoffs ein. Auf der anderen

                                                            11 Die Klima-Allianz Deutschland und der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) haben im NWR ein Sondervotum abgegeben,
7                                                           das eine „strikte Priorisierung“ von No-Regret-Sektoren und eine Ablehnung von blauem oder türkisem Wasserstoff beinhaltet.
Abbildung 2 (schematisch): Die direkte Elektrifizierung und indirekte Elektrifizierung (via Wasserstoff und E-Fuels) zeigen sehr unterschiedliche „Transformations-
    muster“ entlang der Prozesskette von Erzeugung bis Nutzung. Innerhalb der Flow-Chart-Pfeile sind die jeweiligen Herausforderungen genannt. Gleichzeitig gibt es
    entlang der gesamten Prozesskette und im Hinblick auf alle Technologien „No-Regret-Elemente“, die in allen Klimaschutzszenarien für Deutschland umgesetzt wer-
    den müssen (untere Zeile).

          Transformationsbedarfe und Herausforderungen entlang der Prozesskette

                               1) EE-Stromerzeugung                   2) Umwandlung              3) Infrastruktur für     4) Endnutzung
                                  Ausland            Inland                                      Transport und Verteilung
          Einzelne
          Technologien
                                                    Ausbautempo,                                                                    Umstellung auf elektrische
            Direkte                                                                                 Stärkung Stromnetze
                                                                                                                                    Anwendungen, Tempo der
                                                    soziale
            Elektrifizierung                                                                        (Verteilung&Übertragung),
                                                    Akzeptanz,                                                                      Umstellung, Kosten und
                                                                                                    Systemstabilität
                                                    EE-Potentiale                                                                   langfristige Grenzen

            Indirekte
            Elektrifizierung
                                  EE-Ausbau-                        Ausbautempo                    Aufbau Wasserstoff-              Unsichere Verfügbarkeit und
              via                 tempo,                            Elektrolyse,                   infrastruktur für Transport      Preise von Wasserstoff,
              Wasserstoff         Zusätzlichkeit,                   mangelnde                      und Speicherung (via Schiff      Teilweise hohe Kosten im Vgl.
                                  Import-                           Wirtschaft-                    und Pipeline)                    zur Elektrifizierung,Tempo der
                                  abhängigkeit                      lichkeit                                                        Umstellung

                                  EE-Ausbau-                        Ausbautempo    Nachhaltige
              via                 tempo,                            Elektrolyse,   CO2-Quellen
              E-Fuels             Zusätzlichkeit,                   mangelnde      (v.a. CO2-
                                  Import-                           Wirtschaft-    Luftab-
                                  abhängigkeit                      lichkeit       scheidung)

          Gemeinsame
          „No-regret-Elemente“
          aller Szenarien für Dts.
                                                                                                   Stärkung Stromnetze.             Umstellung auf elektrische
                                                                                   CO2-Luftab-
                                                                                                   Start-Infrastruktur für          Anwendungen vor allem im
                                                    Massiver EE-    Ausbau der     scheidung
                                   EE-Ausbau                                                                                        Gebäude und Pkw-Bereich,
                                                    Ausbau          Elektrolyse    (Ausbau         Wasserstoff, die große
                                                                                                   Industrienachfrager einbindet.   und auf Wasserstoff und E-
                                                                                   DAC)
                                                                                                                                    Fuels in der Industrie.

Seite steht beispielsweise der Bundesver-                      Diese Leitbilder konkurrieren, da die je-                         • zu potenziellen Beimischungsquoten
band Windenergie (BWE), dessen Interes-                        weils zentralen Technologien und Pro-                               von Wasserstoff in Gasnetzen, sowie
se eine Konzentration auf grünstrom-ba-                        zessketten durch unterschiedliche                                 • zur Förderung oder Verboten einzel-
sierte Elektrolyse bei der Wasserstoff-                        „Transformationsmuster“ gekennzeich-                                ner Technologien (z.B. Kaufprämien
herstellung ist.                                               net sind: Die direkte Elektrifizierung und                          von Elektroautos, Förderung von
                                                               die indirekte Elektrifizierung über Was-                            Wärmepumpen, Umlagebefreiung
1.3. Konkurrierende Transformations-                           serstoff oder E-Fuels bedürfen bereits in                           von Elektrolyseuren, Verbot der Neu-
     muster verschiedener Wasser-                              den nächsten Jahren Investitionen und                               zulassung für Pkw mit Verbren-
     stoffleitbilder                                           Veränderungen an jeweils unterschiedli-                             nungsmotor).
                                                               chen Punkten im Energiesystem. Abbil-
Hinter den Konfliktlinien der Debatte zur                      dung 2 stellt die Transformationsbedarfe                          Die Debatte spitzt sich in den letzten
relativen Bedeutung von Wasserstoff, E-                        und jeweiligen Herausforderungen ent-                             Jahren zunehmend zu, sodass eine Ver-
Fuels und direkter Elektrifizierung ver-                       lang der Prozessketten dar.                                       zögerung notwendiger politischer Ent-
bergen sich konkurrierende Leitbilder im                                                                                         scheidungen droht. Die teilweise sehr un-
Hinblick auf das gesamte Energiesystem.                        Die Leitbilder führen daher auch zu un-                           terschiedlichen Einschätzungen, zum
Dazu gehört die Frage, ob Importe von E-                       terschiedlichen Ansichten bezüglich der                           Beispiel zur zukünftigen Mengen- und
Fuels und Wasserstoff den Bedarf des                           Erfordernisse der Energiewende und den                            Kostenentwicklung von Wasserstoff, und
heimischen EE-Ausbaus reduzieren kön-                          zugehörigen politischen Rahmenbedin-                              die regulative Unsicherheit erschweren
nen und sollten. Ein weiterer Aspekt ist                       gungen, zum Beispiel                                              die Erwartungsbildung und Entschei-
die Frage, inwieweit Wasserstoff und E-                         • zum Ausmaß der Beschleunigung                                  dungsfindung von Unternehmen und
Fuels die heute fossil genutzten Verbren-                          des EE-Ausbaus in Deutschland,                                Konsument:innen. Insbesondere wenn di-
nungstechnologien und Infrastrukturen                           • zur Förderung internationaler Was-                             rekte und indirekte Elektrifizierung ge-
zu einem Teil der Klimalösung machen                               serstoffprojekte,                                             geneinander ausgespielt werden, kann
können, oder ob es stattdessen einer tie-                       • zur notwendigen Infrastruktur und                              dies dringend notwendige Entwicklun-
fen Transformation der Nachfrageseite                              potenzieller öffentlicher Ko-Finanzie-                        gen bis hin zum Stillstand hemmen.
hin zu elektrischen Anwendungen be-                                rung (z.B. Lade- oder Wasserstoffin-
darf.                                                              frastruktur),

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Die unterschiedlichen Leitbilder lassen      eine Transformation der Endnutzung           hängt die notwendige Infrastruktur zum
sich auch in den unterschiedlichen Ener-     weg von Verbrennungstechnologien und         Teil von der Entscheidung ab, in welchen
giesystemszenarien wiederfinden, die in      hin zu elektrischen Technologien.            Endnutzungssektoren und an welchen
Kapitel 2.1 kurz vorgestellt werden. Um                                                   konkreten Einsatzorten Wasserstoff ver-
die Klimaziele zu erreichen, werden zwar     E-Fuels zeigen ein dazu komplementäres       wendet werden soll. Auch bei der direk-
nie nur eine der in Abbildung 2 gezeigten    Transformationsmuster: Nahezu die ge-        ten Nutzung von Wasserstoff können be-
Technologiepfade und Prozessketten ge-       samte technische Transformationslast         stehende Gasinfrastrukturen (Transport-
nutzt, aber insbesondere langfristig kön-    liegt in der Energieerzeugung und mehr-      und -verteilnetze, Speicher) teilweise
nen in den Szenarien unterschiedliche        teiligen Umwandlung vor allem im ex-         durch Umwidmung weiter genutzt wer-
technologische Schwerpunkte entstehen.       portierenden Ausland. Die energieinten-      den. Zudem könnte eine neue Generati-
Kurz- und mittelfristig zeigen die Szena-    sive Produktion der Energieträger            on von Verbrennungstechnologien (z.B.
rien jedoch eine Vielzahl von robusten       erfordert hierbei gegenüber der Elektrifi-   Brennwertkessel) unter dem Stichwort
Gemeinsamkeiten, also Transformati-          zierung zusätzliche Anlagen zur Erzeu-       „H2 ready“ die Umstellung von Erdgas
onsschritte, die unabhängig von Leitbil-     gung von EE-Strom, Elektrolyseanlagen,       auf Wasserstoff vorbereiten.
dern und Präferenzen als notwendig er-       Anlagen zur Gewinnung von nicht-fossi-
achtet werden können. Diese „No-             lem Kohlenstoff (atmosphärisch oder
Regret-Elemente“ sind in Abbildung 2         biogen) und Syntheseanlagen. Ein Eng-
(untere Zeile) bereits dargestellt und       pass mit besonders großen Unsicherhei-
werden in Kapitel 3 näher erläutert und      ten ist hierbei die Entwicklung von Anla-
in Kapitel 2.2 anhand von Szenarienda-       gen zur Abscheidung von atmosphä-
ten illustriert.                             rischem CO2 aus der Luft (Direct Air Cap-
                                             ture, DAC), einer Technologie, die sich
Abbildung 2 illustriert die Transformati-    noch in einem frühen Entwicklungs- und
onsbedarfe der drei verschiedenen Elek-      Demonstrationsstadium befindet. Ge-
trifizierungspfade entlang von vier Ele-     lingt es, diese aufwendige Produktions-
menten von Primärenergie bis                 kette zügig aufzubauen, können E-Fuels
Endnutzung und nennt zentrale                fossile Energieträger (Erdgas, Flüssig-
                                             kraftstoffe) ohne nachfrageseitige An-
Herausforderungen innerhalb der Ver-         passungen ersetzen, sodass Verbren-
sorgungsflüsse (in den Flow-Chart-Pfei-      nungstechnologien und bestehende
len). Erstens geht es darum, wo die zu-      fossile Infrastrukturen (z.B. Gasnetze)
künftige Energieerzeugung stattfindet,       zum Teil eines klimaneutralen Energie-
d.h. wo zukünftige EE-Anlagen schwer-        systems werden könnten.
punktmäßig stehen und in welchen Men-
gen Energieträger heimisch produziert        Die direkte Nutzung von grünem Wasser-
oder importiert werden sollen. Dabei         stoff als neuem Energieträger erfordert
geht es auch um Fragen der Importab-         eine Transformation entlang der gesam-
hängigkeit (Piria et al., 2021), wobei die   ten Prozesskette:
Notwendigkeit substanzieller Import-          • Anlagen zur Erzeugung von zusätzli-
mengen nahezu unumstritten ist (siehe            chem EE-Strom,
letzte Zeile in der Abbildung). Zweitens      • Elektrolysekapazität für die Um-
geht es um die Energieform, in der EE-           wandlung zu grünem Wasserstoff,
Strom schwerpunktmäßig genutzt wer-           • Infrastruktur (Transport, Speiche-
den soll. Drittens ergeben sich daraus           rung und Verteilung), sowie
unterschiedliche Infrastrukturbedarfe für     • einer Transformation der Endnut-
Transport und Verteilung der Energieträ-         zung hin zu Wasserstoff (u.a. Direk-
ger. Viertens geht es um die Endnut-             treduktion beim Stahl, Brennstoffzel-
zung, wo sich durch die unterschiedli-           len, Wasserstoffbrenner).
chen Endenergieformen verschiedene
Anforderungen an die anwendungsseiti-        Im Unterschied zur direkten Elektrifizie-
ge Transformation ergeben.                   rung und zu E-Fuels ergibt sich hierbei
                                             ein besonderer Bedarf für zeitliche und
Die direkte Elektrifizierung erfordert ei-   räumliche Koordination des erforderli-
nen beschleunigten Ausbau erneuerba-         chen Infrastrukturaufbaus. Für die meis-
rer Stromerzeugung in Deutschland,           ten Anwendungen kann die Nutzung von
eine entsprechend ausgebaute Strom-          Wasserstoffoptionen erst dann beginnen,
netzinfrastruktur, inklusive der Ladein-     wenn eine zuverlässige Wasserstoffver-
frastruktur im Transportsektor, sowie        sorgung gewährleistet ist. Gleichzeitig

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2. SZENARIO-BANDBREITEN
        UND TECHNO-ÖKONO-
        MISCHE UNSICHERHEITEN
     Wir zeigen hier zunächst, dass sich die                                   wältigung der Engpässe der eigenen
     verschiedenen Wasserstoff-Leitbilder der                                  technologischen Präferenz und argu-
     Debatte vor allem in der langfristigen                                    mentieren mit den Unsicherheiten und
     Sicht in den großen Bandbreiten für                                       Grenzen des jeweils anderen Leitbildes.
     Wasserstoff- und E-Fuel-Nutzung der ak-                                   Es gilt jedoch die Existenz der teilweise
     tuellen Klimaschutzszenarien für                                          großen techno-ökonomischen Unsicher-
     Deutschland widerspiegeln. Kurzfristig                                    heiten sowohl der direkten als auch indi-
     hingegen ist der Pfad zur Erreichung der                                  rekten Elektrifizierung zu akzeptieren
     2030-Klimaziele schmal, eine Reihe not-                                   und die Konsequenzen für eine robuste
     wendiger Schritte klar sichtbar und die                                   Klimaschutzstrategie zu ziehen. Dafür
     Rolle strombasierter Kraftstoffe ver-                                     schlagen wir im nächsten Kapitel 3 Eck-
     gleichsweise klein.                                                       punkte einer anpassungsfähigen Wasser-
                                                                               stoffstrategie vor.
     Wir argumentieren dann, dass die Szena-
     rio-Bandbreiten nicht als technologische                                  2.1. Szenario-Bandbreiten für
     oder politische Spielräume interpretiert                                       Wasserstoff und E-Fuels
     werden sollten. Zwar sind nach 2030
     eine Vielzahl von Pfaden unterschiedli-                                   Im laufenden Jahr wurden fünf detaillier-
     cher Richtung denkbar und grundsätz-                                      te Szenarioanalysen für die Transforma-
     lich plausibel, jedoch ist deren wirkliche                                tion des Energiesystems hin zu einem
     Tragfähigkeit aus heutiger Sicht unsi-                                    klimaneutralen Deutschland vorgestellt
     cher. So können die realisierbaren Band-                                  (Ariadne, 2021; BDI, 2021b; BMWi,
     breiten durch Engpässe beim Wasser-                                       2021a; dena, 2021; Prognos, Öko-Insti-
     stoff- und E-Fuel-Angebot auf der einen                                   tut, Wuppertal-Institut et al., 2021). Die
     Seite und Barrieren bei der direkten                                      Bandbreiten für Wasserstoff und E-Fuels
     Elektrifizierung auf der anderen Seite be-                                aus den insgesamt 22 Einzelszenarien12
     grenzt werden, sodass sich auch langfris-                                 sind in Abbildung 3 gezeigt. Sowohl die
     tig nur eine schmale Bandbreite, noch                                     BMWi-Langfristszenarien (BMWi, 2021a)
     nicht definierbarer, Pfade als gangbar                                    (Klimaneutralität 2050) als auch die Sze-
     herausstellen kann.                                                       narioanalyse im Ariadne-Projekt (Ariad-
                                                                               ne, 2021) (Klimaneutralität 2045) neh-
     In diesem Zusammenhang sind die Be-                                       men dabei die unterschiedlichen Leit-
     fürworter:innen der jeweiligen Leitbilder,                                bilder in der (Wasserstoff-)Debatte expli-
     also zum Beispiel eines breiten oder eher                                 zit auf und übersetzen diese in Szenarien
     fokussierten Einsatzes von Wasserstoff,                                   mit unterschiedlichen technologischen
     zumeist optimistisch in Bezug auf die Be-                                 Schwerpunkten. Die dena-Szenarien

10   12 Davon Agora 1 Szenario, Ariadne 12 Szenarien, BDI 1 Szenario, BMWi 3 Szenarien und dena 5 Szenarien.
(dena, 2021) spannen zwar mit „More                      Markthochlauf von Elektrolyse-Projekten,                                   Für 2045 illustrieren wir in Abbildung 4,
Molecules“ und „Efficient Electrons“-Pfa-                der in den Kapiteln 2.3 und 2.4 diskutiert                                 dass sich die verschiedenen Leitbilder
den ebenfalls einen Szenariokorridor auf,                wird. In 2030 werden in allen Szenarien                                    auch in der unterschiedlichen Bedeutung
jedoch liegt dieser in der Gesamtband-                   maximal 80 TWh grüner Wasserstoff ge-                                      von E-Fuel-Importen in den Szenarien
breite der Ariadne und BMWi-Szenarien                    nutzt, und der Anteil am Endenergie-                                       zeigen. Die Szenarien zeigen einen
an dem Ende mit mehr indirekter Elektri-                 und Grundstoffbedarf in 2030 liegt in                                      grundsätzlichen „Trade-off“: Heimische
fizierung und großen E-Fuel-Importen.                    den Szenarien zwischen nahe 0 % und                                        EE-Bedarfe sind rund 20 % geringer,
Das einzelne Szenario, das Agora Ener-                   maximal 3,5 %. Diese Größenordnung                                         wenn der technologische Schwerpunkt in
giewende präsentiert hat (Prognos, Öko-                  deckt sich mit den Zielen der Nationalen                                   den Szenarien von direkter zu indirekter
Institut, Wuppertal-Institut et al., 2021),              Wasserstoffstrategie für 2030 (BMWi,                                       Elektrifizierung verschoben wird und
liegt relativ zentral mit einem leichten                 2020)13 und den Elektrolyse-Kapazitäts-                                    mehr strombasierte Brenn- und Kraft-
Schwerpunkt auf direkter Elektrifizie-                   zielen der Europäischen Kommission (EC,                                    stoffe importiert werden. Gleichzeitig
rung. Das einzelne BDI-Szenario (BDI,                    2020), siehe auch Kapitel 2.3. Während in                                  zeigt sich, dass in allen Szenarien, auch
2021b) liegt zwischen dem dena-Korridor                  den Ariadne- und BMWi-Szenarien E-                                         jenen mit hohen E-Fuel-Importen, ein
und dem Agora-Szenario und zeichnet                      Fuels in dieser Dekade fast keine Rolle                                    massiver heimischer EE-Ausbau hin zu
sich dadurch aus, dass der Schwerpunkt                   spielen, nehmen die dena-Szenarien und                                     mindestens 800 TWh jährlicher Erzeu-
innerhalb der strombasierten Kraftstoffe                 das BDI-Szenario einen kleinen Import-                                     gung notwendig ist. Eine Vervierfachung
mehr auf E-Fuels und etwas weniger auf                   beitrag bereits für 2030 an, der dann bis                                  der EE-Stromerzeugung in Deutschland
der direkten Nutzung von Wasserstoff                     2045 signifikant wächst.                                                   kann somit als „No-Regret-Element“ ge-
liegt. Das für Anfang November 2021                                                                                                 sehen werden. Die REMIND- und REMod-
vom Forschungszentrum Jülich angekün-                    Nach 2030 weitet sich die Szenario-                                        Szenarien des Ariadne-Berichtes zeigen
digte Szenario konnte hier noch nicht be-                Bandbreite im Hinblick auf die Bedeu-                                      die für die Erreichung der Klimaschutz-
rücksichtigt werden.                                     tung direkter und indirekter Elektrifizie-                                 ziele für 2030 die Notwendigkeit einer
                                                         rung. Die 2045-Bandbreiten für grünen                                      Verdreifachung gegenüber 2020 auf
Für die Rolle von Wasserstoff bis 2030                   Wasserstoff und E-Fuels liegen zwischen                                    550-615 TWh (Ariadne, 2021). Die Unei-
sind sich die Modellierer:innen der ver-                 250 und 800 TWh. Der Anteil der indirek-                                   nigkeit über Leitbilder und die Bedeu-
schiedenen Institute und Organisationen                  ten Elektrifizierung am Endenergie- und                                    tung langfristiger Importe darf somit
dahingehend einig, dass die denkbare                     Grundstoffbedarf liegt bei einem sehr fo-                                  kein Grund sein, den heimischen EE-Aus-
Bandbreite schmal ist (Abbildung 3). Ein                 kussierten Wasserstoff- und E-Fuel-Ein-                                    bau nicht mit größtem Nachdruck zu
Schlüsselfaktor ist dabei die Knappheit                  satz in Industrie und internationalem                                      verfolgen.
von grünem Wasserstoff aufgrund der                      Verkehr bei etwa 10 % und bei einem
Herausforderungen und Grenzen beim                       breiten Einsatz bei maximal 35 %.

 Abbildung 3: Bandbreiten der Nutzung von Wasserstoff (a), Wasserstoff und E-Fuels (b) und des Endenergieanteils von Wasserstoff und E-Fuels in 2045 (c) aus den
 fünf aktuellen Szenarien-Analysen zur Erreichung von Klimaneutralität in Deutschland. (a) und (b) enthalten auch die Nachfragen strombasierter Kraftstoffe, die
 selbst wieder rückverstromt werden. Diese sind in der Endnutzung in (c) per Definition nicht explizit enthalten. Die REMod*-Szenarioergebnisse basieren auf dem
 REMod-Modell, wurden aber für nicht-energetische Nutzung von Wasserstoff und E-Fuels im Industriesektor mit Ergebnissen des FORECAST-Modells ergänzt.

                                                         13 Die Nationale Wasserstoffstrategie definiert in 2030 erforderliche Menge an grünem Wasserstoff nur indirekt und mit großem Spielraum. Ne-
                                                         ben den anvisierten 14 TWh Wasserstoff aus heimischer Elektrolyse wird der geplante Wasserstoffeinsatz mit 90-110 TWh angegeben, was aller-
11                                                       dings die ca. 55 TWh in bestehenden Anwendungen einschließt, die derzeit grauen Wasserstoff nutzen.
Abbildung 4: Strombedarfe bei Klimaneutralität 2045 unterschieden nach im Inland produziert (einge-     gelt. Zwar kann und muss die Politik
 rahmt) und aus dem Ausland importiert (in Form von Wasserstoff, E-Fuels oder Strom-Interkonnektoren).
                                                                                                         technologische Fortschritte sowohl mit
 Annahmen: 60 % Gesamteffizienz bei der elektrolytischen Wasserstoffproduktion bzw. 40 % Gesamteffizi-
 enz bei der Synthese von E-Fuels.                                                                       technologiespezifischer Förderung und
                                                                                                         Regulierung als auch mit einem steigen-
                                                                                                         den CO2-Preis beschleunigen, dennoch
                                                                                                         verbleiben fundamentale Unsicherheiten
                                                                                                         über kurzfristig realisierbare Dynamik
                                                                                                         sowie über das langfristige Potenzial von
                                                                                                         Technologien.

                                                                                                         Die künftige Rolle von Wasserstoff und E-
                                                                                                         Fuels, die derzeit praktisch noch nicht
                                                                                                         als Energieträger verwendet werden, ist
                                                                                                         in den nächsten Jahren vor allem durch
                                                                                                         deren Verfügbarkeit begrenzt. Auch mit-
                                                                                                         tel- bis langfristig verbleiben Unsicher-
                                                                                                         heiten darüber, ab welchem Zeitpunkt
                                                                                                         grüner Wasserstoff in großen Mengen
                                                                                                         (>10 % der Endenergienachfrage) und zu
                                                                                                         welchen Preisen verfügbar sein wird. Das
                                                                                                         nächste Kapitel 2.3 beschäftigt sich mit
                                                                                                         den Herausforderungen und Unsicher-
                                                                                                         heiten beim Wasserstoffmarkthochlauf.

Gleichzeitig sollte unumstritten sein,                 gelöst werden bevor Wasserstoff in gro-           Auf Seiten der direkten Elektrifizierung
dass substanzielle Wasserstoff- und E-                 ßen Mengen zur Verfügung steht. Die Kli-          gibt es Unsicherheiten in Bezug auf die
Fuel-Importe für Klimaneutralität not-                 maziele bis 2030 müssen fast aus-                 erreichbaren Geschwindigkeiten des EE-
wendig sind. Der dafür nötige EE-Ausbau                schließlich durch Energieeffizienz,               Ausbaus und der Diffusion von neuen
im Ausland entspricht, aufgrund der                    heimischen EE-Ausbau und direkte Elek-            elektrischen Anwendungen. Langfristig
niedrigen Effizienz indirekter Elektrifizie-           trifizierung erreicht werden. Diese „Deka-        gibt es Unsicherheiten im Hinblick auf
rung, bereits in einem Szenario mit                    de der direkten Elektrifizierung“ verklei-        die Tiefe, mit der verschiedene Bereiche
Schwerpunkt auf direkter Elektrifizie-                 nert den verbleibenden Spielraum für die          elektrifiziert werden können: Im Trans-
rung mit knapp 500 TWh etwa der heuti-                 indirekte Elektrifizierung, da eine einmal        portsektor entscheidet u.a. die weitere
gen Stromnachfrage Deutschlands. Um                    elektrifizierte Anwendung später nur in           Entwicklung hin zu höheren Energiedich-
zudem die oben genannten 20 % heimi-                   Ausnahmefällen noch auf Wasserstoff               ten von Batterien über das Potential der
schen EE-Ausbau zu sparen, kommen in                   wechseln wird. Das schränkt die langfris-         Elektrifizierung im Schwerlast-, Schiffs-
einem E-Fuel-betonten Szenario Importe                 tige Rolle ein, die Wasserstoff in dem            und Flugverkehr (Schäfer et al., 2019).
strombasierter Kraftstoffe hinzu, die                  Leitbild eines breiten Einsatzes spielen          Im Industriesektor ist das theoretische
mindestens nochmal der heutigen                        kann.                                             Elektrifizierungspotenzial sehr hoch;
Stromnachfrage entsprechen. Dennoch                                                                      aber es gibt für einige Hochtemperatur-
bleibt der Importanteil in den klimaneu-               2.2. Techno-ökonomische Unsicher-                 Anwendungen Unsicherheiten darüber,
tralen Szenarien unter dem heutigen Ni-                     heiten und gesicherte Erkenntnisse           ob diese auch in großskaligen Industrie-
veau, sodass Importabhängigkeiten ins-                                                                   anlagen genutzt werden können (Maded-
gesamt abnehmen und sich zudem                         Die Szenario-Bandbreiten sollten in der           du et al., 2020). Im Wärmesektor hängt
grundsätzlich verändern (Piria et al.,                 öffentlichen und politischen Debatte              die langfristige Tiefe der Elektrifizierung
2021).                                                 nicht als technologische oder politische          vor allem von der Dynamik ab, mit der
                                                       Spielräume interpretiert werden, aus de-          neben Neubauten auch der Gebäudebe-
Die Szenario-Bandbreiten können helfen,                nen nur der beste Pfad ausgewählt und             stand (teil-)saniert und elektrifiziert wer-
die öffentliche Debatte auf solche Pfade               verfolgt werden muss. Die Erreichbarkeit          den kann. Ein wichtiger Engpass ist hier-
zu fokussieren, die grundsätzlich plausi-              aller Szenarien hängt entscheidend von            bei auch die Verfügbarkeit von Energie-
bel sind. So können Wasserstoff und E-                 Innovationen, Technologiediffusion, Ak-           berater:innen und Handwerker:innen, die
Fuels kaum mehr als 35 % der Endener-                  zeptanz und vielen weiteren Parametern            sich mit der vergleichsweise neuen Tech-
gie- und Grundstoffnachfrage in 2045                   sowohl bei grünem Wasserstoff als auch            nologie der Wärmepumpe ausreichend
decken und sind damit weit davon ent-                  der direkten Elektrifizierung ab. Diese zu-       auskennen. Zudem ist unklar, was die
fernt, die bisherige Nutzung fossiler                  künftigen Entwicklungen sind mit Unsi-            langfristigen Grenzen an nutzbarem EE-
Brennstoffe universell zu ersetzen. Für                cherheiten behaftet, was sich auch in             Potenzial in Deutschland und Europa
die Erreichung der Klimaschutzziele                    den unterschied-lichen Einschätzungen             sind. Während die technischen Potenziale
müssen viele Herausforderungen bereits                 und Positionen in der Debatte widerspie-          Deutschlands eigentlich keinen Engpass

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