77 Unfruchtbare Debatten? - Archiv der deutschen ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte Heft 77 | Mai 2021 Ariadne Mai 2021 | Unfruchtbare Debatten? 77 Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch
Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V. Der Verein fördert die wissenschaft- liche historische Frauen- und Geschlechterforschung und zielt darauf, diese in der Wissenschafts- und Kulturlandschaft der Bundes- republik, inner- wie außerhalb der Universitäten, dauerhaft zu ver- ankern und den wissenschaftlichen Austausch zwischen allen, die zur Frauen- und Geschlechtergeschichte arbeiten, zu intensivieren. Impressum: 2007 gegründet, setzt der Verein die Aktivitäten des 1990 von Gisela Bock, Karin ARIADNE – Forum für Hausen, Heide Wunder und weiteren Historikerinnen gegründeten „Arbeitskreis Frauen- und Geschlechtergeschichte AddF – Archiv der deutschen Frauenbewegung Historische Frauenforschung“ als deutsches Komitee der International Federation for Gottschalkstr. 57, D – 34127 Kassel Research in Women’s History (IFRWH) fort. Tel.: 0049-(0)561/ 989 3670 Der Verein hat fünft regionale Koordinationszentren, die sich aufteilen in: Nord, Mitte, Fax : 0049-(0)561/ 989 3672 Email: info@addf-kassel.de Ost, West und Süd. http://www.addf-kassel.de Mit einem jährlich vergebenen Dissertationspreis zeichnet der Verein hervorragende Herausgeberin: Arbeiten auf dem Gebiet der historischen Frauen- und Geschlechterforschung aus. AddF – Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel Der Newsletter bietet ein Informations- und Diskussionsforum zur historischen Frauen- Wenn Sie Interesse an der Abfassung eines Artikels oder einer Rezension haben, wenden Sie sich bitte an Kerstin Wolff, wolff@addf-kassel.de; Die Mitarbeit und Geschlechterforschung. erfolgt grundsätzlich ohne Honorar. Das Copyright liegt bei den Autor*in- nen, der Nachdruck ist nur mit besonderer Erlaubnis der Herausgeberin und unter Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann Wir freuen uns über neue Mitglieder. Weitere Infos unter: www.akghfg.de keine Haftung übernommen werden. Für den Inhalt der einzelnen Artikel zeichnen die Autor*innen verantwortlich. Trotz gewissenhafter Suche können nicht immer alle Rechteinhabende der verwendeten Abbildungen ermittelt werden; berechtigte Ansprüche mögen bitte dem AddF mitgeteilt werden. Auflage: 700 ISSN: 0178-1073 ISBN: 978-3-926068-30-9 Erscheinungsweise: einmal jährlich im Mai / Juni Preis: 23,00 Euro Abonnement 19,00 Euro jeweils zzgl. Versandkosten Bankverbindung: Kasseler Sparkasse IBAN: DE51 5205 0353 0002 1091 61 BIC: HELADEF1KAS Redaktion dieses Heftes: Dr. Marion Hulverscheid und Dr. Kerstin Wolff Layoutkonzept: Katja Mand und Silke Mehrwald Gestaltung: Mietzner GrafikDesign, Kassel Anzeigenbüro: mehrwald@addf-kassel.de Vorschau – Mai / Juni 2022: Politische Freund:innenschaften (Arbeitstitel) Titelblatt: Hintergrundbild: Demonstration gegen § 218 in Kassel, 1975; Addf, Kassel; Foto: Jutta Haferburg Bild (links): Universitätsmedizin Göttingen, Zentrum Anatomie, Archiv Blechschmidt, E3; Fotograf*in ist unbekannt. Bild (rechts): Unter den Klauen des 218, aus: Der Eulenspiegel: Zeitschrift für Scherz, Satire, Ironie u. tiefere Bedeutung, Berlin, 3. Jg., 1930, H. 10, Cover, Bestand Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz; © bpk.
Editorial Vor 150 Jahren wurde er in seiner damals ›reichsweiten‹ Gültigkeit ›ge- boren‹, der viel umstrittene und hart umkämpfte § 218 StGB, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellte.1 Dieser § ist sicher einer der bekanntesten, aber wissen wir auch genug über den schon seit über einem Dr. Marion Hulverscheidt Jahrhundert geführten Kampf gegen Ärztin und Medizinhistorikerin. Schwerpunkte Körperge- schichte, und Machtverhältnisse in der Geschichte der ihn? Was wissen wir über die Auswir- Medizin. Publ. u. a. mit Konstanze Plett: Geschlechterrecht. kungen dieser gesetzlichen Reglungen Aufsätze zu Recht und Geschlecht – vom Tabu der Inter- in den verschiedenen Phasen der Ge- sexualität zur Dritten Option, Bielefeld 2021; zusammen mit Hendrik Dorgathen: Raus Rein. Texte und Comics zur schichte? Was wissen wir über die Ak- Geschichte der ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen, tivist:innen und ihre Aktionen und was Berlin 2016. wissen wir über diejenigen, die den Pa- ragrafen verteidigten? Dr. Kerstin Wolff Historikerin, Leitung des Bereichs Forschung im Achiv der Schon relativ früh setzte sich die deutschen Frauenbewegung (AddF); Schwerpunkt Frauenbewegung mit diesem § auseinan- Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Publ. u. a.: der, fand aber nur schwer zu einer ein mit Hedwig Richter: Frauenwahlrecht! Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018; heitlichen Position. Vor allem die Not mit Julia Paulus: Landesgeschichte als Geschlechtergeschichte, des Proletariats, die mit jedem Kind in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 70, 2020, weiter anwuchs, beherrschte in der S. 79-94. Wei marer Republik die Debatte und führte dazu, dass der ›Klassencharakter‹ der Abtreibung ins Zentrum rückte. Die Forderung schien klar: Die Streichung des § 218 oder eine Fristen- bzw. Indikationsreglung, die Straffreiheit bei einem Abbruch in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten ermöglichte. Dies wurde trotz aller Bemühungen nicht erreicht. Es ist bezeichnend, dass zu den ersten Gesetzen, die von den Nationalsozialisten 1933 in Kraft gesetzt wurden, die § 219 und § 220 StGB gehörten, die das ›Werben‹ und Verkaufen von Mitteln zur Abtreibung verboten. Es wurde auch entscheidend, welche Frau schwanger werden konnte. Erblich belastete oder ›rassisch minder- wertige‹ Menschen sollten sich nicht fortpflanzen dürfen, was sich u. a. im ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ ausdrückte. Nach einer zeitbedingten Lockerung nach 1945, in denen (manche) Ärzt:innen versuchten, die Not ungewollt Schwangerer zu lindern, ver- zweigten sich die juristischen Regelungen in den beiden deutschen Staaten ab 1949. Während die BRD konsequent an der Verankerung des Schwan- gerschaftsabbruchs im Strafgesetzbuch festhielt, schuf die DDR eine frau- enfreundliche Praxis, die auf Wunschkinder und Familienförderung setzte. Als diese beiden Wege 1990 in der ›Vereinigung‹ zusammenstießen, zeigte sich, dass die Siegermentalität der Bundesrepublik dazu führte, Errungen- Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 77 | 2020
schaften der DDR zu negieren. Eine konservative Sicht auf das Abtrei- bungsrecht setzte sich durch, vorangetrieben von Juristen und dem Bun- desverfassungsgericht. Aktueller Anlass für eine erneute Hinwendung zu diesem originär frau- enbewegten Thema, waren die Anzeigen, Anklagen und Verurteilungen aufgrund des im § 219a immer noch geltenden sogenannten Werbeverbo- tes. Zwar wurde diese gesetzliche Formulierung im Frühjahr 2019 abge- ändert, doch sie bietet bis heute keine hinreichende Rechtssicherheit. Es zeigt sich, dass der ausgehandelte Kompromiss um den § 218 von 1992 – rechtswidrig aber straffrei – seine Akzeptanz und Gültigkeit verloren hat, sein Mindesthaltbarkeitsdatum ist abgelaufen. Es braucht – das finden nicht nur wir – dringend neue Regelungen, die auf die veränderte gesellschaft- liche Lage eingehen. Zu dieser Thematik finden Sie ein Interview mit der Kasseler Frauenärztin Nora Szász, die gemeinsam mit ihrer Praxiskollegin Natascha Nicklaus wegen Verstoß gegen den § 219a angezeigt worden war. Diese Ausgangslage und das 150ste Jubiläum des § 218 haben wir zum Anlass genommen, ein Heft zum Schwangerschaftsabbruch zu machen. Wir schauen sowohl in die Vergangenheit als auch in andere Länder. Der Artikel von Anja Tietze erlaubt einen vergleichenden Blick, denn sie schil- dert den Umgang mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch in verschie- denen Ländern in einer chronologischen Perspektive. Ganz aktuell ist ein Beitrag zu Polen von Michael Zok, der aufzeigen kann, dass dort eben noch nie ein tragfähiger Kompromiss gefunden worden war und die katho- lische Kirche die Thematik nutzt, um Polen in ihre Richtung zu lenken. Ab- treibungs-Reisen und deren sich verändernden Zielort untersucht Claudia Roesch, die die unterschiedlichen Reiserouten ebenso beschreibt wie den Informationsfluss und die Infrastrukturen, die sich herausbildeten. Die Verknotung der Diskurse um Abtreibung finden sich auf Seiten der Abtreibungsgegner:innen nicht nur im christlichen Glauben und dem Be- wahren der göttlichen Schöpfung, sondern auch in Bezug auf die Embryo- logie – wie der Beitrag von Anna Domdey zur Sammlung des Göttinger Anatomen Blechschmidt zeigt oder auch in den Koppelungen und verwir- renden Verstrickungen von Behindertenrechten und Frauenrechten, wie sie Raphael Rössel untersucht. Wie Frauen, die durch Vergewaltigung in den letzten Kriegstagen oder auf der Flucht schwanger wurden, zu einer legalen Abtreibung gelangten, zeigt Jelena Wagner mit einer Mikrostudie zu Bielefeld. Mehrere Beiträ- ge betrachten die politischen Verhandlungen um die Neugestaltung des Abtreibungsrechts näher. Leonie Kemper wendet sich der Zeit kurz vor Seite 2 | 3
dem Ende des Ersten Weltkriegs zu und untersucht die politische Dis- kussion anlässlich neuer geplanter Gesetze zur ›Bevölkerungspolitik‹. Daphne Hahn und Ulrike Busch geben in ihrem Beitrag einen Überblick über die gesellschaftspolitische Diskussion um den § 218 im Vergleich von DDR und BRD und Ulrike Lembke analysiert die juristischen Diskurse um die rechtlichen Regelungen im Zuge der deutschen ›Vereinigung‹ unter geschlechterrelevanten Aspekten. Isabel Heinemann rückt mit ihrem Beitrag ein lange fest betoniertes Bild zurecht, indem sie der Vorkämpferin Alice Schwarzer und ihren jour- nalistischen Aktionen und Aktivitäten die Forschungsarbeiten der Gieße- ner Soziologin Helge Pross entgegenstellt. Dass das Thema auch eine per- sönliche Seite hatte und hat, zeigen Ildiko Szász und Gisela Hermes, die sich an ihre Aktionen an der Universität Marburg in den 1980er Jahren erinnern. Wir verstehen unser Heft als Aufruf an alle, das Thema Schwanger- schaftsabbruch nicht aus den Augen zu verlieren. Das Ringen um weibliche Selbstbestimmung geht in eine neue Runde, auf geht’s! Anmerkungen 1 Siehe dazu genauer: Dirk von Behren: Die Geschichte des § 218 StGB, Gießen 2020; Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908-1931), Berlin 2003, S. 13 ff. Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 77 | 2021
Inhalt Impressum Editorial 1 Inhalt 4 Thema: Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch Wider den » schwächlichen F ortpflanzungswillen« 6 Legislative Ansätze zur Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Ersten Weltkrieg Leonie Kemper Psychiatrische Begutachtungen 26 Die Verfahren bei einem Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung 1945 bis 1947 Jelena Wagner Das reaktionäre Weltbild eines m edizinischen Pioniers 46 Die Blechschmidt-Sammlung als B eispiel von Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und ›Lebensschutz‹ Anna Domdey Liberalisierung im N amen der F remdbestimmung? 64 Kopplungen von Behinderten- und Frauenrechten in w estdeutschen Debatten um den § 218 von den 1960er bis in die 1990er Jahre Raphael Rössel Schwangerschaftsabbruch in BRD und DDR 80 Ein Vergleich der Entwicklungen und die Neuregelung der 1990er Jahre Ulrike Busch und Daphne Hahn Die doppelte Wahrnehmungsstörung 102 Abtreibende Frauen, die neue Frauenbewegung und der patriarchale Gründungskonsens der Bundesrepublik Isabel Heinemann Nach Belgrad, London oder D en Haag 122 Abtreibungsreisen westdeutscher Frauen in den 1970er und 1980er Jahren Claudia Roesch Zwischen S elbsterfahrung und Bundespolitik 138 Ein persönlicher Erfahrungsbericht zur Arbeit einer autonomen § 218-Gruppe Gisela Hermes und Ildikó Szász Seite 4 | 5
Recht und Rechtswirklichkeit 144 Schwangerschaftsabbruch in Europa Anja Titze ( K)Ein ›Kompromiss‹? 164 Der Konflikt um die Neuregulierung des Schwangerschaftsabbruchs in Polen in den 1980er/1990er Jahren Michael Zok Verpasste M odernisierung 182 Die Konsolidierung patriarchaler Staatlichkeit in juristischen Diskursen über die gesamtdeutsche Regulierung des S chwangerschaftsabbruchs 1990 bis 1993 Ulrike Lembke ...das wir uns das nicht gefallen lassen würden! 204 Interview mit Nora Szász Dokumentation Gewaltsame Bevölkerungspolitik 210 Dr. Gertrud Bäumer Gegen den Gebärzwang 213 Alma Fritsch Erfurcht vor dem Leben. Betrachtungen … 215 Elisabeth Adolff Erfurcht vor dem Leben. Der Paragraph 218 … 218 Professor Dr. Gaupp Abtreibung. Motive und Bedenken 224 Helke Pross Geburten Planung? Eine amerikanische Lösung 222 Dr. Gabriele Strecker Aus den Beständen und andere Archive Die Gosteli-Stiftung 230 Das Archiv der schweizerischen Frauenbewegung Silvia Bühler und Ladina Fessler Rezensionen 244 Freundinnen 270 Stiftung AddF – Archiv der deutschen Frauenbewegung 271 Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 77 | 2021
Sie können auch lesen