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9 Ausgabe 9 / 2021 2021 Für den erweiterten Blickwinkel: Fak te n , T h e m e n un d H in te r gr ün d e Weitwinkel ist digital f ür in s t i t u t i o n e ll e A n l e g e r www.weitwinkel.digital BRÜCHE Brüche Union Investment Institutional GmbH w w w.ins titutional.union - inves tment .de
Vorwort Impressum HER AUSGEBER RECHTLICHE HINWEISE Seite Seite Union Investment Institutional GmbH Dieses Dokument ist ausschließlich für professionelle Kunden 2 Weißfrauenstraße 7 60311 Frankfurt am Main Telefon: 069 2567-3182 vorgesehen und wurde von Union Investment Institutional GmbH sorgfältig entworfen und hergestellt, dennoch übernehmen wir keine Gewähr für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit. 59 Fax: 069 2567-1616 E-Mail: institutional@union-investment.de Kontakt: Union Investment Institutional GmbH, Internet: www.union-investment.de/ Weißfrauenstraße 7, 60311 Frankfurt am Main, institutional Telefon: 069 2567-7652, Fax: 069 2567-1616, institutional@union-investment.de, CHEFREDAK TION www.institutional.union-investment.de Thomas Raffel, Union Investment (V. i. S. d. P.) Stand aller Informationen, Darstellungen und Erläuterungen: E-Mail: weitwinkel@union-investment.de Mai 2021, soweit nicht anders angegeben. R E D A K T I O N / K R E AT I O N / Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des KO N Z E P T / U M S E T Z U N G Autors und nicht unbedingt die von Union Investment wieder. ganzheitlichere Betrachtungsweise. Damit Sie Profilwerkstatt GmbH, Darmstadt mehr sehen als andere und vorausschauend Die Metapher für einen breiteren Horizont, AUTOR EN BILDNACHWEISE das Ablegen von Scheuklappen und eine Johannes Büchl, Dr. Michael Büttner, Profilwerkstatt (S. 1, 4, 8, 11, 12, 60), mahdis mousavi/unsplash Christian Fälschle, Elias Halbig, Dieter (S. 1), James Warwick/Getty Images (S. 6 – 7), luchschen/Getty Konrad, Christian Mandery, Markus Manns, Images (S. 8), Annie Spratt/unsplash (S. 11), Dinesh kumar/ Felix Schütze, Florian Sommer, Sonja Stöhr, iStockphoto (S. 12), Aleksandar Savić (S. 4, 14 – 15), Julia Stina Suwelack, Marion Weißenberger-Eibl, Praschma (S. 18 – 19), Profilwerkstatt (S. 20 – 21), Melanie Brill (S. Jörg Zeuner 22 – 26), Matthias Haslauer (S. 30 – 35), naqiewei/iStockphoto (S. 4, 36 – 39), Brent Lewin (S. 4, 41 – 45), Urban Zintel (S. 4, 46 – 51), DRUCK Nadine Hippe/Profilwerkstatt (S. 42 – 56), Covermotive (S. 58): Kuthal Print GmbH & Co. KG, Mainaschaff Pei-San Ng, klikk/Getty Images, PROmax3D/turbosquid.com, SensorSpot/iStock, Tim Thiel, Andre Levy Silva, Profilwerkstatt, Das für diese Publikation verwendete Papier Jakub Chlouba/Unsplash (S. 60) hat ein Nachhaltigkeitszertifikat. [ Wei tw inke l ] Materialnummer: 006402 06.21 handeln können. ID-Nr. 21103161 Ausgabe 9 / 2021
Vorwort Brüche statt Zukunft Ursprünglich sollte das Titelthema dieser Ausgabe eigentlich „Zu kunft“ lauten. Warum wir uns anders entschieden haben? Die Pan demie, die die Welt seit über einem Jahr in Atem hält, hat uns allen sehr deutlich gemacht, dass es einen linearen Weg in die Zukunft nicht gibt. Vielmehr dürfte auch die Zeit nach Corona bestimmt sein vom Wandel und von weiteren unvorhergesehenen Ereignis sen. Solche Brüche machen es uns allen schwer, Prognosen zu er stellen und zu planen. Gleichzeitig bieten sie denjenigen Chancen, die die richtigen Schlüsse daraus ziehen und entsprechend darauf reagieren. Die Pandemie ist auf jeden Fall ein massiver Bruch und ein Stress test von kaum für möglich gehaltenem Ausmaß für die gesamte Weltwirtschaft. Mit dieser Ausgabe wollen wir erste Erkenntnisse Seite aus dieser Krise gewinnen, aber auch weit darüber hinausdenken. Welche Faktoren machen Unternehmen in wechselhaften Zeiten 3 krisenfester? Und wie können wir alle besser für die Herausfor derungen der Zukunft aufgestellt sein? Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre. Einige Geschichten dieser Ausgabe erzählen wir wieder in der digitalen Verlängerung des Weitwinkels weiter. Schauen Sie auf www.weitwinkel.digital herein. ALEXANDER SCHINDLER Mitglied des Vorstands von Union Investment
Im Weitwinkel 14 Zukunftsfähigkeit und Resilienz 8 Ein Essay von Univ.-Prof. Dr. Marion Weissenberger-Eibl Fit für das neue Normal Brüche als Chance für die Zukunft Seite 4 46 Aufsteigerin Natalya Nepomnyashcha 40 im Interview über Diversity als Erfolgsfaktor Neues aus der Neurofinance 36 Elise Payzan-LeNestour, University of New South Wales Innenstädte der Zukunft Ideen für lebendige Stadtzentren von Dr. Michael Bütter Ausgabe 9 / 2021
Inhalt 2/3 Vorwort 4/5 Inhalt IM WEIT WINKEL 6/7 Auf das Bild gebracht 8–13 Fit für das neue Normal Auftakt Brüche als Chance für die Zukunft 14–17 Zukunftsfähigkeit und Resilienz – vernetzt gestalten Essay Von Univ.-Prof. Dr. Marion Weissenberger-Eibl 18/19 Ein Umfeld für Chancensucher Blickpunkte Drei Experten berichten 20/21 Was zählt „made in Germany“ morgen noch? Infografik Wie steht es um den Standort Deutschland? 22–27 Schwierige Balance im Wettkampf der Blöcke Analyse Von Dr. Jörg Zeuner 28/29 Drei Lehren aus der Krise Fazit Seite 5 30–35 Der Hafentransformator Finanzstrategen Dr. Roland Lappin, CFO der HHLA 36–39 Innenstädte der Zukunft Investmentvordenker Von Dr. Michael Bütter 40–45 „Tief im Herzen sind wir alle Spieler“ Risikoforscher ie Neurofinance-Wissenschaftlerin D Elise Payzan-LeNestour 46–51 Aufsteigerin Auf ein Wort Natalya Nepomnyashcha im Interview 52–57 Mensch und Maschine Hand in Hand Investmentstandpunkt Von Dieter Konrad und Christian Mandery 58 Rückblick 59 Impressum
Auf das Bild gebracht Kein „schwarzer Schwan“, sondern eher ein „graues Nashorn“: Die verhee rende Coronapandemie kam nicht unerwartet, sie war eher eine höchst wahrscheinliche und dennoch vernachlässigte Bedrohung. Für diese Art von Risiken fand die Seite US-amerikanische Wirt schaftsautorin Michele Wucker mit dem „grauen 7 Nashorn“ einen neuen Begriff aus der Tierwelt.
Auftakt 4,5 Min. Disruptionen Zukunftsfähigkeit Resilienz TEXT F e l i x S c h ü t z e FOTOS P r o f i l w e r k s t a t t Fit für das neue Seite 9 Normal Nach der Krise ist vor der Krise: Wie können Unternehmen auf die drastischen Veränderungen unserer Zeit reagieren, um die Zukunft in ihrem Sinne zu gestalten?
Im Weitwinkel W ie wird das „New Normal“ einanderfolgender Zäsuren, die in aussehen, wenn wir das den vergangenen 20 Jahren immer Coronavirus überwunden wieder neue Verhältnisse geschaffen haben oder gelernt haben, mit ihm haben. Die Pandemie dürfte dabei zu leben? Es gibt Experten wie den das einschneidendste Ereignis sein, niederländischen Klimaforscher Prof. aber auch der Brexit, die Trump-Ära, Marten Scheffer, die bereits warnen, die Finanzkrise oder der 11. Septem- dass all die Covid-19-bedingten Ver- ber 2001 sorgten für schwere Brüche änderungen nichts sein werden im in der uns bekannten Welt. Für die Vergleich zu den Folgen eines unge- Zukunft ist nicht zu erwarten, dass bremsten Klimawandels. Anders als die Zahl der von Nassim Nicholas bei der Pandemie könne man bei Taleb beschriebenen „schwarzen einem Klimadrama allerdings nicht Schwäne“ a bnimmt. Je vernetzter auf eine Erleichterung in absehbarer die Welt geworden ist, desto angreif- Zeit hoffen. barer werden die einzelnen Systeme. Nachlese Die Energieinfrastruktur, das welt- Der Klimawandel ist keineswegs die weite Datennetz und auch die Liefer- einzige große Herausforderung des NASSIM NICHOLAS TALEB, ketten zählen dazu. Zusätzlich haben DER SCHWARZE SCHWAN 21. Jahrhunderts, die eine Transfor- Penguin 2015: der Welt sich gleich mehrere Trends als Reakti- mation von Politik, Wirtschaft und bestseller des großen on auf die Coronakrise deutlich ver- Zufallsforschers über die Seite unserem täglichen Leben erfordert. stärkt: die Digitalisierung und Auto- Macht höchst unwahr 10 Die zunehmende Verschmutzung der Weltmeere, das Artensterben scheinlicher Ereignisse. MARION A. matisierung, die Nachhaltigkeit, aber auch das Niedrigzinsumfeld. und die Verknappung der Ressourcen WEISSENBERGER-EIBL, sind nur einige Stichworte, die an ZUKUNFTSVISION Mit der Pandemie hat der Verände- vielen weiteren Stellen ein Umden- DEUTSCHLAND rungs- und Innovationsdruck deut- Springer 2019: ein Plädoyer ken v erlangen. Viele Industrieländer, für Innovationen als Motor lich zugenommen und das Tempo aber auch die Volksrepublik China für Fortschritt und Wohl ist atemberaubend: Etwa 100 Jahre stand in Deutschland. haben zusätzlich mit dem demogra brauchte es, bis jeder Haushalt in fischen Wandel zu kämpfen, der NIKOLAUS FÖRSTER, MEIN Deutschland über einen Telefonan- Überalterung der Gesellschaft und GRÖSSTER FEHLER schluss verfügte. Nur etwa 14 Jahre Impulse Medien 2017: einem wachsenden Fachkräfteman- 100 erfolgreiche Unter dauerte es dagegen, bis 89 Prozent gel. Es wird eine Herkulesaufgabe, nehmer erzählen von der Bevölkerung ein Smartphone ihren größten Fehlern. den Wohlstand und die Wettbe- nutzten. Für Aufsehen sorgte 2017 werbsfähigkeit in den kommenden eine Umfrage unter Führungskräften, Dekaden zu erhalten, wenn ein „Wei- der zufolge 40 Prozent der Fortune- ter so“ nicht mehr im Einklang mit Global-500-Unternehmen im Jahr den Menschen, den Sozialsystemen 2027 nicht mehr existieren werden. und dem Planeten steht. Ein ähnlicher Trend lässt sich auch am amerikanischen S&P-500-Index Die Gemengelage wird zusätzlich ablesen. So nimmt die Dauer der kompliziert durch eine Anzahl auf Zugehörigkeit zum Index immer Ausgabe 9 / 2021
Auftakt 40 % der Fortune- Global-500- Unternehmen werden im Jahr 2027 nicht mehr existieren. Quelle: ChristianSteven Software 2017. weiter ab und dürfte sich bis 2027 führte. Hinzu kommen weitere Fak halbiert haben. Der hauptsächlich toren, die über Erfolg und Miss Seite technologiegetriebene Wandel wird auch Folgen für den Arbeitsmarkt erfolg entscheiden, wie etwa der Weltmarkt, Preisentwicklungen, 11 haben. „65 Prozent unserer Kinder neue gesetzliche und fiskalische werden 2035 in Berufen arbeiten, Vorgaben oder die Verfügbarkeit die es heute in dieser Form noch gar von qualifizierten Arbeitskräften. nicht gibt“, sagt etwa Marcus K. Reif, Markttiming ist ein weiterer Faktor: HR-Experte bei der Unternehmens- Was ist zum Beispiel mit Pharma beratung Kienbaum. unternehmen, die derzeit mit hohen Investitionen Impfstoffe entwickeln Angesichts dieser Entwicklungen und zu spät mit ihren Produkten auf Trends wie Solarenergie, Wind- auf den Markt kommen? kraft, Elektromobilität, künstliche Intelligenz, Logistik oder Infrastruk- Sinnvoll ist auf jeden Fall mehr Risi- tur zu setzen bedarf allerdings komanagement. Ein Denken und immer der genauen Analyse. In der Kalkulieren mit Szenarien etwa, um Vergangenheit haben Branchen, die Risiken und Potenziale von Brü- die politisch besonders im Fokus chen und disruptiven Technologien standen und stark mit Subventionen zu erkennen. Das Problem: Mit jeder oder Krediten gefördert wurden, weiteren Disruption werden bisheri- mitunter ein zu schnelles Wachstum ge Annahmen zur Makulatur. Das hingelegt, was zu Enttäuschungen Risiko des Scheiterns ist hoch. Wie ›
können Unternehmer mit dieser weitere bestimmende Faktoren. Wo Unsicherheit umgehen? Innovationsdruck herrscht, wird eine Seite Menge davon gebraucht. 12 Aus Fehlern lernen Der Weg zum Erfolg verläuft selten Resilienz – ja, bitte! Nur wie? geradlinig. Manchmal sind eben zwei Wichtig ist aber immer, dass Unter oder drei Anläufe nötig, bis sich eine nehmen von ihrer Kultur und Organi- Geschäftsidee durchsetzt. Selbst re- sation her Rückschläge besser verar- nommierte Unternehmer gehören zu beiten können. Dafür gibt es einen den Gescheiterten. Manche haben Begriff, der seit einigen Jahren immer entsprechende Schlüsse gezogen und öfter fällt: Resilienz. Dr. Myriam Dunn sind dann erst richtig durchgestartet: Cavelty, Leiterin der Forschungsgrup- so etwa Bill Gates nach Traf-O-Data pe Neue Risiken am Center for Security mit Microsoft. Henry Ford war erst Studies der ETH Zürich, nennt den im dritten Versuch erfolgreich. Walt Grund: „Angesichts der Vielfalt, Kom- Disney war erst arbeitslos, dann bank- plexität und der Unberechenbarkeit rott, bis er Mickey Mouse erfand. aktueller Risiken ist es schier unmög- Oder Apple-Mitbegründer Steve Jobs, lich, absolute Sicherheit zu gewährleis- der 1985 entnervt seiner Firma den ten. Krisen und Katastrophen können Rücken kehrte und 1997 wieder als selbst mithilfe der bestmöglichen Risi- gefeierter Geschäftsführer fungierte. komanagementmaßnahmen nicht Die Fehlerkultur ist das eine, der not- verhindert werden.“ Das Augenmerk wendige finanzielle Spielraum und der Risikovorsorge gelte daher zuneh- der Zugang zu Wagniskapital sind mend einer möglichst hohen Krisen- Ausgabe 9 / 2021
Auftakt „Im Begriff der ‚Resilienz‘ kann, sondern viel eher eine Fähigkeit, verdichtet sich die Unternehmen an vielen Stellen kul- tivieren und weiterentwickeln können. die Hoffnung Die Coronapandemie erzeugte zahl reiche Beispiele von Unternehmen, die auf Beständig ihre Geschäftsmodelle den veränderten Gegebenheiten anpassten und sich manchmal sogar regelrecht neu erfan- keit gegenüber den. Tesla, Ford und General Motors stellten zeitweise die Produktion von der Macht der Motoren auf Atemschutzgeräte um. Andere Unternehmen holten während Disruption.“ der Pandemie kurzfristig die Produktion zurück in den Heimatmarkt oder diver- sifizierten ihre Lieferketten. Etlichen WOLFGANG KRISCHKE Eventveranstaltern gelang es durch Ko- operationen mit Streaminganbietern, während des Lockdowns Präsenzver festigkeit und nicht mehr nur dem anstaltungen erfolgreich ins Netz zu Aspekt, wie solche Ereignisse vermie- verlagern. Zahlreiche Restaurants mu- den werden können, so Cavelty. Was tierten über Apps wie die der Metro- Seite für die Politik und die staatliche Krisen- fähigkeit gilt, gilt spätestens seit der Tochter Hospitality Digital oder die der Start-ups Eatclever oder Keatz zu er- 13 Finanzkrise und erst recht seit Corona folgreichen Lieferdiensten mit Online- auch für Unternehmen. bestellung. „Es ist kein Zufall, dass auch der Das Gros der Gewinner der Coronakrise Gegenbegriff der ‚Resilienz‘ gerade war allerdings wohl weniger wegen Konjunktur hat – die ‚Disruption‘. ihrer Resilienz erfolgreich, sondern weil Im Begriff der ‚Resilienz‘ verdichtet ihre angebotenen Waren und Dienst- sich die Hoffnung auf Beständigkeit leistungen die krisenbedingte Nachfra- gegenüber der Macht der Disruption“, ge erfüllen konnten. Wie nachhaltig schreibt der Journalist und Sprach wird der Erfolg von Firmen wie Tesla, wissenschaftler Wolfgang Krischke. BioNTech, Delivery Hero oder Airbnb Resilienz zeigt sich in der schnellen in Zukunft sein? Im besten Fall werden Reaktionsfähigkeit und Flexibilität sie im New Normal zeigen können, von Unternehmen. Allerdings ist es wie resilient sie sind. schwer, diese Eigenschaft als Faktor oder Messgröße zu quantifizieren. Resilienz ist kein stabiles Merkmal, kein Lesen Sie mehr auf bestimmter Punkt, den man erreichen www.weitwinkel.digital
Im Weitwinkel Zukunftsfähigkeit und Resilienz – vernetzt gestalten Im Dezember 2020 war es so weit. Die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 erhielten die Marktzulassung. Ein Schritt, der uns die Aussicht auf ein Leben ohne soziale D istanz ermöglichen könnte. Im allerersten Schritt aber rettet der Impfstoff Leben. Seite 14 ESSAY U n i v . - P r o f . D r . M a r i o n W e i s s e n b e r g e r - E i b l ILLUSTR ATION A l e k s a n d a r S a v i ć K ünstliche Intelligenz (KI) höchstpräzise vorherzusagen, was kann uns in Zukunft helfen, Wissenschaftlern zuvor nicht gelun- schnell auf neue Pandemien gen war. Je mehr über die Protein zu reagieren, um wirksame Medika- struktur eines Erregers bekannt ist, mente oder Impfstoffe zu entwickeln. desto schneller können Medikamente Grundsätzlich ist eine solche Entwick- zur Abwehr entwickelt werden. Ge lung ein langwieriger Prozess. Kleins- rade im Hinblick auf Mutationen des te Zellen werden dabei analysiert, SARS-CoV-2-Virus ist eine schnelle um Strukturen zu erkennen und vor- Analyse der Proteinstruktur essenzi- herzusagen. Die KI „AlphaFold“ des ell. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, Unternehmens DeepMind schaffte wie KI uns in Zukunft helfen kann. es nun, innerhalb von Minuten drei dimensionale Proteinstrukturen, KI zählt neben der Digitalisierung und darunter auch von SARS-CoV-2, dem Internet of Things zu den wich- Ausgabe 9 / 2021
Essay 3,5 Min. tigsten Technologietrends der kom- Corona menden Jahre. Diese werden häufig Tre n d s im Hinblick auf die Konsequenzen für Tra n s fo r m a t i o n unser Leben und unsere Gesellschaft diskutiert. Klar ist, dass diese Trends unser Leben systematisch und struk- wenn wir Trends mitdenken und sie turell verändern werden. uns zunutze machen wollen, müssen wir die positiven Konsequenzen her- Bei KI stehen häufig die negativen vorheben und weiterdenken. Ja, es Konsequenzen im Fokus, etwa der werden Arbeitsplätze ersetzt werden. Verlust von Arbeitsplätzen. Doch Ebenso werden allerdings durch KI neue Stellen geschaffen. Es werden Kapazitäten frei, deren Potenzial noch spezifischer genutzt werden kann. Tätigkeiten, die menschliche › Seite U N I V. - P R O F. D R . M A R I O N A . 15 WEISSENBERGER-EIBL Jahrgang 1966, leitet das Fraunhofer- Institut für System- und Innovationsfor schung ISI in Karlsruhe und ist Inhabe rin des Lehrstuhls für Innovations- und Technologiemanagement am Institut für Entrepreneurship, Technologie-Manage ment und Innovation am Karlsruher Ins titut für Technologie (KIT). Sie untersucht die Bedingungen für die Entstehung von Innovationen und deren Auswirkungen. Wiederholt wurde sie als eine der 100 einflussreichsten Frauen der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet.
Im Weitwinkel ausgehen, dass es neue Pandemien geben wird. Deswegen sollten wir uns den Herausforderungen stellen F ähigkeiten wie Empathie und strate- und uns stets mit unserer Zukunft gisches Denken erfordern, kann der auseinandersetzen. Unternehmen Mensch verstärkt wahrnehmen. Robo- müssen sich heute nicht nur auf ter werden Menschen zunehmend bei Schocks oder Rezessionen einstellen. schweren, gefährlichen und standar- Sie müssen sich auch mit den Zu- disierten Tätigkeiten entlasten. kunftstrends und Nachhaltigkeitsthe- men beschäftigen und sich dabei den Technische Segnungen sich ändernden politischen und ge- Die Chancen, die hier entstehen, sind sellschaftlichen Rahmenbedingungen um ein Vielfaches höher zu bewer- stellen, wie verschärften Klimazielen, ten. Corona hat uns gezeigt, wie die- regulierten Finanzmärkten oder ver- se Trends unser Leben verbessern ändertem Konsumverhalten. Der und schützen können. So konnten Innovationsdruck in einer komplexen viele Berufstätige ihre Arbeit zu Hau- und dynamischen Welt hat sich eben- se fortsetzen, über Videochatpro- falls erhöht. Man denke hier beispiels- gramme konnten wir auch in Zeiten weise an den Wettlauf im Hinblick von physischer Distanz Kontakt zu auf die Entwicklung eines Impfstoffs Seite unseren Familien, Freunden und in der Coronapandemie. 16 Arbeitskolleg:innen halten. Die Pandemie verdeutlicht uns aber ebenfalls, dass wir von Veränderun- gen oder Krisen – welcher Art auch immer – überrollt werden, wenn wir „In Zukunft wird nicht vorbereitet sind. So fehlt es vielen Unternehmen und Einrichtun- es nicht mehr gen der öffentlichen Verwaltung noch an technischen Möglichkeiten, nur darum um ihren Mitarbeiter:innen das Ar- beiten im Homeoffice anzubieten. gehen, immer Für einen Großteil deutscher Schü- ler:innen fiel der Unterricht aus, wäh- rend in Schweden oder Estland die schneller zu sein Schulen schon längst auf digitalen Unterricht eingestellt waren. und ein ,Mehr‘ Kein Einzelfall zu schaffen.“ Corona wird uns auch in Zukunft be- gleiten. Obendrein müssen wir davon Ausgabe 9 / 2021
Essay weiligen individuellen Fähigkeiten sehr gut ergänzen. Durch diese Netz- werke können zukunftsfähige Inno vationen entstehen, die die heutigen Möglichkeiten und Technologien nutzen und unser Leben verbessern. In Zukunft wird es nicht mehr nur dar- Entwicklungsschritte, wie die von um gehen, immer schneller zu sein AlphaFold, basieren beispielsweise und ein „Mehr“ zu schaffen. Es geht auf den technischen Möglichkeiten darum, flexibel auf externe Schocks vollautomatischer Server zur Model- und Einflüsse zu reagieren, agil und lierung von Proteinstrukturen. Ein adaptiv zu sein. Adaptionsfähigkeit solcher Server wurde vom Swiss Insti- und Resilienz gewinnen an Bedeu- tute of Bioinformatics entwickelt und tung. Eine resiliente Gesellschaft ist zur weltweiten Nutzung zur Verfü- in der Lage, sich an ständig ändernde gung gestellt. Wir können insbeson- Einflüsse und externe Schocks an dere dann gestalten, wenn wir uns zupassen. Es geht um ein Set an vernetzen und zusammenarbeiten. Fähigkeiten, die den verschiedenen Akteuren ermöglichen, Veränderun- Jedoch müssen auch die Rahmen gen frühzeitig zu erkennen, darauf bedingungen stimmen. Die Politik vorausschauend zu reagieren und kann zu einer resilienten Gesellschaft Seite Transformationsprozesse risikomini- mierend zu gestalten. Dies ist ein beitragen, indem sie ein gutes In novationsklima und Anreize für 17 ständiger Prozess, der gelebt und Unternehmen schafft, sich ständig verinnerlicht werden muss. weiterzubilden, um die digitale Transformation zu erreichen und sich Kooperationen werden wichtiger auf veränderte Anforderungen und Der Komplexität unserer Welt stellen Funktionen in verschiedenen Berufs- wir uns dabei am besten, wenn wir in feldern einzustellen. Aber natürlich allen Disziplinen zusammenarbeiten. ist es auch notwendig, ethische Nur so gelingt es, alle Faktoren, die Fragen immer im Blick zu behalten. auf unsere Gesellschaft wirken, zu be- Nur wenn ethische Anforderungen rücksichtigen. Durch gute Netzwerke erfüllt werden, können wir auch können wir von dem Fachwissen, den die Akzeptanz neuer Technologien Erfahrungen und Kompetenzen der und den Fortschritt zum Wohle der Akteure aus verschiedenen Gebieten gesamten Gesellschaft erreichen. wie Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft profitieren. Die unter- schiedlichen Generationen müssen verstärkt zusammenarbeiten. Junge, agile Start-ups und etablierte Unter- Lesen Sie mehr auf nehmen können sich durch ihre je- www.weitwinkel.digital
Im Weitwinkel Ein Umfeld für Chancensucher Die Pandemie hat in vielen Branchen ein neues Umfeld g eschaffen. Wer die neuen Vorzeichen deuten kann, kann p otenzielle Gewinner im Postcoronaumfeld identifizieren. ILLUSTR ATION J u l i a P r a s c h m a Pharma: moderne Weltenretter Die Coronapandemie hat dem Pharmasektor zu einem radikalen Imagewandel ver holfen. Standen die Großkonzerne zuvor oft wegen hoher Preise Seite in der Kritik, gelten sie heute als Weltenretter. In Rekordzeit ha- 18 ben Pharmariesen und kleine Biotechnologiefirmen Coronaimpf- stoffe und -therapien entwickelt. Viele Unternehmen haben im Angesicht der Krise eng zusammengearbeitet und sogar Daten miteinander geteilt. Diese Flexibilität und Geschwindigkeit hat zu einem erheblichen Repu tationsgewinn für die Branche geführt. Das könnte sich positiv auf die Vergabe von Fördermitteln oder auf Steuererleichterungen auswirken und eventuell sogar zu einer neuen Preissetzungsmacht bei Generika und weniger Preisdruck bei patentgeschützten Medi kamenten führen. Der Pharmasektor wird zudem von einem Quantensprung in der Technologie geprägt. Ein Nutznießer ist die Krebsbekämpfung. So werden die neu- en mRNA-Technologien auch zur Entwicklung von Krebs- medikamenten eingesetzt. Ein weiterer Ansatz sind ADCs (Antibody-Drug Conjugates). Hier transportieren Antikörper toxische Substanzen direkt zu den Krebszellen, um diese zu zerstören. Die Unternehmen, die zu den technologischen Vorreitern der Branche zählen, werden sich innerhalb des Megatrends Gesundheit gegen die Konkurrenz durchsetzen. DR. MARKUS MANNS Portfoliomanager bei Union Investment, verantwortlich für die Bereiche Biotechnologie, Pharmazie und Gesundheit Ausgabe 9 / 2021
Blickpunkte Handel: Digitalisierung birgt viele Chancen Die Coronakrise hat dem Lesen Sie mehr zum Onlineshopping in Europa Thema Pharma auf einen Schub gegeben, für den www.weitwinkel.digital der Markt sonst fünf Jahre ge- braucht hätte. Plötzlich waren im Netz ganz andere Produkte gefragt, zum Beispiel Lebensmittel und Medika- mente. Auch die Ziel- und Altersgrup- pen haben sich erweitert. Ältere Ernährung: Umstellung im Speiseplan Shopper kaufen mehr mit Bedacht In der Ernährungsbranche findet ein tiefgrei als auf Verdacht (zum Beispiel was Klei- fender Wandel statt – und er kommt keinen der- und Schuhgrößen anbelangt) und schicken weni- Moment zu früh. Die Produktion von Nahrung ger zurück. Das freut Unternehmen wie Zalando, die verbraucht extrem viele Ressourcen. Sie ist ver- wegen geringerer Retouren profitabler werden. Zu antwortlich für etwa 26 Prozent der weltweiten glauben, dass nach Corona alles wieder beim Alten CO2-Emissionen; rund die Hälfte des bewohn sein werde, wäre daher naiv. Doch wer die Gewinner baren Landes wird für Landwirtschaft genutzt. sein werden, ist längst nicht so offensichtlich, wie es Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung und scheint. Auch kleine, spezialisierte Anbieter oder alt- damit die Nachfrage weiter. Ändert sich nichts eingesessene Offlinehändler, denen es gelingt, ihre an unseren Essgewohnheiten, werden Umwelt Kunden ins Netz zu begleiten, haben eine Chance. und Klima immer mehr belastet. Doch findet Selbst der stationäre Handel kann überleben, wenn er ein Umdenken statt: Immer mehr Menschen er- sich anpasst und mit Service und hochwertigem Sorti- nähren sich fleischlos. Fleisch ist das Nahrungs- Seite ment überzeugt. Essenziell wird hierbei sein, die physi- sche Nähe zu nutzen, um das Einkaufserlebnis um eine mittel, dessen Produktion mit Abstand die meis- ten Treibhausgasemissionen verursacht, vom 19 digitale Präsenz zu erweitern. Wer die Vorlieben der Ressourcenverbrauch (etwa Wasser) gar nicht Kunden bedienen und ihr Verhalten richtig antizipie- zu reden. Neue Technologien ermöglichen nun ren kann, dürfte als Gewinner aus diesem Wandel her- aber die kommerzielle Produktion von vegeta vorgehen. rischen oder veganen Fleischalternativen, die auch noch gut schmecken. Bislang gibt es nur ELIAS HALBIG wenige kleine Anbieter wie Beyond Meat, die Junior-Portfoliomanager bei Union Investment sich auf die Produktion von „Alternative Meat“ spezialisiert haben. Noch sind die wenigsten davon börsennotiert. Doch auch große Lebens- mittelkonzerne beginnen umzudenken und in tegrieren entsprechende Produkte und Marken in ihre Sortimente. Diese Bewegung steht erst am Anfang – und bietet der Nahrungsmittel- branche neue Chancen. Gewinner ist nicht nur das Klima, sondern sind alle Unternehmen, die den Wandel zu einem nachhaltigen Speiseplan voranbringen. FLORIAN SOMMER Leiter der Gruppe „ESG-Strategie“ im Portfoliomanagement von Union Investment
Im Weitwinkel Was zählt MADE IN G E R M A N Y morgen noch? Seit Ende des 19. Jahrhunderts gilt „made in Germany“ als Qualitätssiegel. Doch mittlerweile hinken deutsche Firmen bei vielen Zukunftsbranchen hinterher. Wie steht es um den Standort Deutschland? TEXT S o n j a S t ö h r , J o h a n n e s B ü c h l INFOGR AFIK P r o f i l w e r k s t a t t Seite 20 „Made in Germany“ in 23 Ländern am besten bewertet + 45 + 38 + 34 –2 –9 – 29 n: H, Quelle IPly tic s Gmb v, s- YouGo schäftigung -B e O EC D 9 , ck 201 , ausbli f Work ture o T h e Fu ts . g h C B Insi DE IT GB MX HK CHN Kommt ein Produkt aus Deutschland, haben 50 Prozent der Befragten einen positiven, nur 6 Prozent einen negativen Eindruck. Daraus ergibt sich eine Punktzahl von 45. Die Grafik zeigt die drei am besten und am schlechtesten bewerteten Länder. Ausgabe 9 / 2021
Infografik Einzelpatentanmeldungen für künstliche Intelligenz 18.365 Wie innovativ ein Land ist, zeigt sich an den Patenten seiner Unternehmen. 15.046 Gerade bei Zukunftstechnologien wie KI hinkt Deutschland hinterher. Siemens ist der einzige heimische Konzern unter den Top Ten. 11.243 7.023 6.192 Microsoft IBM Samsung Philips Siemens Innovativ und kreativ: Seite das Einhorn in der Wirtschaft 21 Sind Start-ups so erfolgreich, dass sie vor einem Börsengang bereits eine Wie hoch ist der Anteil an Arbeitsplätzen, Milliarde US-Dollar oder mehr wert sind, werden sie als Einhörner bezeichnet. die durch Automatisierung stark gefährdet sind? Nur wenige davon kommen aus Deutschland. Slowakei: 33,6 % UK: 28 China: 138 Deutschland: 18,4 % USA: 326 OECD-Schnitt: 14 % Norwegen: 5,7 % Gründe: In Deutschland sind vor allem Jobs im verarbeitenden Gewerbe, die einen Großteil der Arbeitsplätze ausmachen, von der Automatisierung bedroht. Deutschland: 16 Frankreich: 9
Im Weitwinkel TEXT D r . J ö r g Z e u n e r ILLUSTR ATION M e l a n i e B r i l l Schwierige Balance im Wettkampf Seite 22 der Blöcke Die Coronakrise hat die Fronten zwischen den USA und China verhärtet. China will zur industriellen und digitalen Supermacht werden und fordert damit die USA heraus. Dies hat weitreichende Folgen für Europa und für Deutschland als Exportn ation. Ausgabe 9 / 2021
Analyse 4 Min. Digitalisierung Wettbewerb Geopolitik A ngesichts des ungebrochenen, durch die Coronakrise noch ver- stärkten Digitalisierungstrends hat der Technologiekonflikt an Brisanz gewonnen. Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden will die Vereinigten Staaten als führenden Technologiestandort stärken und kompromissloser gegen China oder andere Länder vorgehen, wenn US-Interessen im Technologiebereich berührt werden. Angestrebt wird eine globale Allianz, um gemeinsam gegen die Wirtschaftspraktiken Chinas vorzugehen und um den Aufstieg der Volksrepublik im Hochtech- nologiebereich, wie beim Ausbau der globalen Mobilfunknetzinfra struktur (5G) und darauf aufbauenden Technologien, auszubremsen. Auf der anderen Seite versucht China, die Beziehungen zu Europa zu intensivieren. Die Europäische Union (EU) ihrerseits sieht ihre Felle da Seite vonschwimmen und will erreichen, was sie nicht im Alleingang gewähr- leisten kann: Autonomie im Digitalbereich, inklusive der Hoheit über 23 Datenschutz, Privatsphäre und Sicherheit. In Summe haben die unter- schiedlichen Interessen und Ansprüche der USA, Chinas und der EU das Potenzial, zu deutlich mehr Spannungen und zu einer Neuordnung der Kräfteverhältnisse zu führen. Gerade für Europa birgt dies Chancen und Risiken zugleich. Die Erfahrung der Trump-Jahre bestärkte den alten Kontinent zuletzt im Versuch, Ab- stand zu den USA zu gewinnen. Ausgezeichnete Wachstumsperspektiven in Asien und die Annäherung an China haben zugleich für europäische – und insbesondere deutsche – Unternehmen neue Absatzchancen geschaf- fen. Doch dieser Weg provoziert absehbar Gegenreaktionen der USA. Der Anspruch Europas So gesehen sitzt Europa heute im Wettkampf der beiden Großmächte zwischen den Stühlen. Wohlklingende, aber halbgare Konzepte wie „strategische Autonomie“ sollen nun Abhängigkeiten und damit auch eine potenzielle Erpressbarkeit verringern. Da sich der Technologie konflikt zwischen den USA und China nicht so schnell lösen lässt, wird er zum Katalysator für Umbrüche – auch in Europa. ›
Im Weitwinkel Wie groß die technologische Abhängigkeit vom Ausland geworden ist, zeigt sich zum Beispiel, wenn fehlende Halbleiter-Lieferungen für die Autoindustrie eine Schlüsselbranche ausbremsen. Anfang 2021 bot der Chip-Produzent Taiwan sogar die Lieferung von Halbleitern gegen Coronaimpfstoff an. Das Beispiel legt einen strukturellen Trend offen: Ohne zuverlässige Versorgung mit Halbleiter- und Elektronik- produkten sind wachstumsträchtige Wirtschaftsfelder wie das Inter- net der Dinge, Cloud-Computing, autonomes Fahren oder künstliche Intelligenz nicht umsetzbar. Wie und zu welchen Konditionen Europa Hochtechnologie einsetzen kann, ist damit eine Wettbewerbs- und Wohlstandsfrage. Bis Europa das strategische Ziel größerer technologischer Autonomie erreichen kann, stehen raue Jahre an. Denn Europa kann gar nicht so schnell wie dafür erforderlich in der Hochtechnologie, vor allem im Halbleitersektor, strategische Autonomie aufbauen. Zu groß ist der Rückstand etwa bei Patenten in Schlüsselindustrien. Auch beim euro- päischen Cloud-Projekt GAIA-X werden US-Technologiekonzerne hinzugezogen – es geht nicht ohne deren Expertise. Seite China macht Tempo 24 Ebenso besteht in der Digitalisierung des Dienstleistungssektors enormes Nachholpotenzial. Die EU liegt zwar in der Abwicklung des Internetdatenverkehrs vorn: In Frankfurt am Main wird einer der weltgrößten Internetknoten betrieben. Aber während dort Rekorde purzeln, zählt kein europäischer Konzern zu den Top Ten weltweit im Technologiesektor. Von der Datenwelle, die durch die europäischen Glasfaserkabel braust, bleibt ökonomisch gesehen nur wenig zwi- schen Mittelmeer und Nordsee hängen. Immerhin: In einigen Berei- chen hat Europa in der Digitalisierung noch eine gute Position. Das Konzept der Industrie 4.0 in Deutschland galt nicht ohne Grund beim chinesischen Industriemodernisierungsplan „Made in China 2025“ als Vorbild. Und die Volksrepublik setzt den Plan konsequent um. Dank massiver finanzieller Förderung holt das Land rasch auf. Trotzdem setzt sich Deutschland konsequent für stärkere Verbindungen zu China ein – und gerät damit in Konflikt mit den europäischen Nachbarn. Dass Ende 2020 nach sieben Verhandlungsjahren ein umfassendes Investi- tionsabkommen (CAI) zwischen der EU und China beschlossen wur- de, ging stark auf deutsche Initiativen zurück. Die Ambitionen sind hoch: Das CAI soll eine wertebasierte Investitionsbeziehung ermög Ausgabe 9 / 2021
Analyse DR . JÖRG ZEUNER Jahrgang 1972, ist seit dem 1. Juli 2019 bei Union Investment Mana ging Director des neuen Bereichs „Research & Investment Strategy“. Der promovierte Ökonom ist au ßerdem Chefvolkswirt des Hauses. Zuvor arbeitete Dr. Zeuner unter an derem bei der KfW und beim IWF. Seite lichen, die sich auf Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung stützt 25 und auch Arbeits- und Sozialstandards umfasst. Aus europäischer Sicht würden neue Absatzchancen winken, aber auch die Qualität der Beziehungen würde verbessert und europäische Normen ließen sich weiterverbreiten. In der Realität ist das Bild weniger rosig: Aus einigen EU-Staaten kommt Kritik, weil europäische Firmen damit kaum ihre Vorstellun- gen von Investitionsschutz durchsetzen können. Umgekehrt dürfen chinesische Konzerne mit Staatshilfe im Rücken in Europa investieren. Angesicht neuer Sanktionen Chinas gegen die EU ist eine Ratifizie- rung nicht sicher. Deutschland muss sich fragen, ob das Abkommen langfristige Nachteile für den Industriestandort aufweist. Denn das CAI zielt auch darauf, Investitionen nach China zu locken und vom Technologietransfer zu profitieren. Dies kann den Wettbewerbsdruck durch chinesische Unternehmen in Zukunftsfeldern der deutschen Wirtschaft wie E-Mobilität oder Robotik weiter erhöhen. Mittelfristig dürften deutsche Firmen auch gezwungen sein, verstärkt vor Ort in China zu investieren. Für Exportunternehmen wäre dies kein Prob- lem, wohl aber für den Arbeitsmarkt in Deutschland. ›
Im Weitwinkel Alleingang ist keine Antwort Hinzu kommt: Die stärkere Ausrichtung nach China tritt in Konflikt mit der bislang unangefochtenen Technologieführerschaft der USA in Schlüsselbereichen wie der Halbleiterchipindustrie. Am Ende des Tages wird sich die EU im Hightechbereich für eine „Einflusssphäre“ entscheiden müssen. Das Pendel schlägt hier zugunsten der USA aus. Ein Datennetzwerk, basierend auf Technologien aus chinesischer Hand, die einem autoritären Regime Zugriff auf die europäische Seite 26 Ausgabe 9 / 2021
Analyse Datenbasis geben könnten, erscheint kaum vorstellbar. Ein koordinier- tes Vorgehen mit den USA andererseits könnte China dazu bewegen, sich an westliche Spielregeln zu halten. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die USA nicht in eine außenpolitisch unkooperative Form des „Trumpismus“ zurückfallen. „Der Technologiekonflikt braucht als Antwort das volle Verhandlungs gewicht der EU.“ Was bedeutet das für das immer noch erfolgreiche deutsche Export- Seite modell? Die wachsende ökonomische Abhängigkeit von China, verbun- den mit der starken ökonomischen und technologischen Abhängigkeit 27 von den USA, zwingt uns zum Handeln. Deutschland kann im Allein- gang im Kampf der Blöcke keine tragfähigen Lösungen erzielen – auch dann nicht, wenn sie nur begrenzt ökonomische Fragen angehen. Der Technologiekonflikt braucht als Antwort das volle Verhandlungs- gewicht der EU. Europa kann dabei aber nur mehr Schlagkraft aufbau- en, wenn es das eigene Haus modernisiert. Dafür bietet die aktuelle Krise die Chance, dass nun endlich Fortschritte in der digitalen Trans- formation der Wirtschaft, in der digitalen Bildung und bei Investitionen in Forschung und Entwicklung erzielt werden. Es gibt vielversprechen- de Grundlagen etwa in der europäischen Automobil- und Pharma industrie. Auch der European Green Deal weist in die richtige Richtung. Deutschland kommt dabei nun die wichtige Aufgabe zu, sich gemein- sam mit den europäischen Partnern für mehr Harmonisierung und eine Stärkung des europäischen Binnenmarkts einzusetzen, um so die Wettbewerbskräfte der Union zu stärken. Diese Anstrengung dürfte sich auszahlen, denn der Wettbewerb in den USA und China ‹ schläft nicht.
Im Weitwinkel Seite Drei Lehren 28 aus der Krise Ausgabe 9 / 2021
Fazit Die Pandemie hat wie ein Trendverstärker gewirkt. Corona hat den in vielen Branchen längst überfälligen Strukturwandel an vielen Stellen vorangetrieben. Für die deutsche Wirtschaft ist die Pandemie somit auch ein Weckruf, die eigene Wettbewerbsfähigkeit bei Zukunftsthe- men auf den Prüfstand zu stellen. Insofern könnte die Krise im besten Fall auch zum Katalysator einer im Hinblick auf den Klimawandel not- wendigen grünen Transformation werden. Einschneidende Risikoereignisse schärfen das Bewusstsein. Wer hätte Anfang 2020 damit gerechnet? Wir haben in den darauffolgenden Monaten erlebt, wie fragil unsere Welt und das Leben ist. Wir haben aber auch gesehen, dass sich globale Krisen nur durch internationale Seite Kooperationen und Solidarität überwinden lassen. Dieses Bewusstsein kann auch helfen, besser auf die Risikoereignisse der Zukunft vorbe 29 reitet zu sein. Mehr Risikovorsorge sollte also Teil der Vorbereitung sein. Dazu zählt auch, dass Unternehmen nach Wegen suchen sollten, sich gegen Krisen so weit wie möglich zu immunisieren. Hierbei kommt zunehmend die Resilienz ins Spiel. Eine Fähigkeit, die Unternehmen hilft, Krisen nicht nur besser zu überstehen, sondern unter Umständen sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Die gute Nachricht ist, dass Resilienz sich durch- aus erlernen und in Unternehmen fördern lässt; gut gewappnet dürfen sich diejenigen Player fühlen, die frühzeitig damit anfangen. ‹
Finanzstrategen Der Hafen transformator Die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) will durch ein Effizienzprogramm im hart u mkämpften Containerumschlagmarkt unter Seite den Nordseehäfen wieder Marktanteile ge- 30 winnen. Für die Umsetzung des Programms maßgeblich verantwortlich ist HHLA-Finanz- chef Dr. Roland Lappin. TEXT C h r i s t i a n F ä l s c h l e FOTOS M a t t h i a s H a s l a u e r D er Superstau im Suezkanal Anfang April 1,3 Milliarden Euro, das Betriebsergebnis verrin- war ein weiterer Rückschlag eines für gerte sich nach Rückstellungen um 44 Prozent die internationalen Handelshäfen und auf 123 Millionen Euro. die Containerschifffahrt herausfordernden Jahres. So ging der weltweite Containerum- Wie die großen Nordseekonkurrenten Rotter- schlag pandemiebedingt im Jahr 2020 um gut dam und Antwerpen hat auch Hamburg Fe- zwei Prozent zurück. Diese Entwicklung macht dern lassen müssen. Während in Rotterdam die sich auch in der Bilanz der HHLA bemerkbar. Der Zahl der umgeschlagenen Container im Jahr Umsatz sank um rund sechs Prozent auf knapp 2020 um 3,2 Prozent auf 14,3 Millionen sank, Ausgabe 9 / 2021
Finanzstrategen 4 Min. Welthandel Containerschifffahrt Hafenmodernisierung Dividende Ungeachtet des ewinnrückgangs G in einem durch die Coronapandemie herausfordernden Geschäftsumfeld hält die HHLA an ihrer stra tegischen Ausschüt tungsquote von 50 bis 70 Prozent des Ergeb Seite 31 nisses des Teilkonzerns Hafenlogistik fest. Die Zustimmung der Hauptversammlung am 10. Juni vorausge setzt, sollen die Aktio näre eine Dividende von 45 Cent je Aktie erhalten. Im Vorjahr waren es 70 Cent. ging sie in Hamburg um 7,9 Prozent auf 8,5 stsee- und Mittelmeerraum verstärkt in den O Millionen Container zurück. Damit rangiert Markt drängen. Die großen Reedereien haben Hamburg auf Platz drei unter den Häfen durch Zusammenschlüsse in den vergangenen Europas. Jahren enorm an Verhandlungsmacht bei der Preisgestaltung gewonnen und machen den Bereits vor der Coronapandemie gab es Überka- Hafenbetreibern das Leben schwer. Die nauti- pazitäten im Containerumschlag bei den Termi- schen Restriktionen aus den sich über mehrere nalbetreibern in der Nordrange. Die Situation Jahre hinziehenden Streitigkeiten um die Fahr verschärft sich, weil Wettbewerber aus dem rinnenanpassung der Elbe haben es den ›
Finanzstrategen Das Unternehmen Die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) ist eine Nachfolgerin der 1885 gegründeten Hamburger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft. Seit ihrem Börsengang im November 2007 bündelt die HHLA als europäi sches Logistikunternehmen die Be reiche Container, Intermodal, Logis tik sowie Immobilien unter einem Dach. Neben dem Hafenbetrieb in Hamburg hält der Konzern Termi nalbeteiligungen in Odessa, Tallin und Triest. Die Aktien der HHLA sind im SDAX notiert und haben ins gesamt eine Marktkapitalisierung von 1,44 Milliarden Euro. amburgern nicht leichter gemacht. Zumindest H die Elbvertiefung wird zum Herbst 2021 voll- ständig abgeschlossen sein. Flucht nach vorn Das Unternehmen reagiert gezielt. So hat der HHLA-Vorstand ein umfangreiches Effizienz- und Restrukturierungsprogramm auf den Weg gebracht, um das Containergeschäft an den drei Hamburger Terminals wieder wettbewerbs- fähig zu machen. Dafür wurde in der Bilanz für 2020 eine Rückstellung in Höhe von 43 Millionen Euro gebildet, wie Dr. Roland Lappin den Analysten Ende März bei der Vorstellung des Geschäftsberichts erläuterte. Der Finanz vorstand bestätigte dabei auch das Ziel, das Betriebsergebnis bis zum Jahr 2025 auf 300 Millionen Euro zu heben. Daran will sich der Vorstand messen lassen. Ausgabe 9 / 2021
Finanzstrategen Seite 33 Baustelle Burchardkai zur Be- und Entladung aller Containerschiffs- Lappin, der seit 2003 dem Vorstand der HHLA größen bereit. Das langfristig angelegte Zu- angehört, ist präsent, detailkundig und tech kunftsprogramm soll nicht nur eine bedarfs nikaffin. Er ist einer, der sagt, was er denkt, gerechte Effizienzsteigerung garantieren, und das tut, was er sagt. Die Restrukturierungs sondern auch den Schwenk zum automa pläne betreffen vorrangig die drei Container tisierten Hightechumschlag am Beispiel des terminals im Hamburger Hafen, aber auch von HHLA-Containerterminals Altenwerder voran- der Holding erwartet der Finanzvorstand einen treiben. Beitrag zur Kostensenkung. Vor allem auf dem Burchardkai, dem größten Terminal der HHLA, Transformation nicht auf Kosten besteht großer Veränderungsbedarf. Die Anla- von Personal und Löhnen ge, einst das Kraftzentrum des Unternehmens, Die Transformation soll für die weltweit rund arbeitet seit einigen Jahren nicht mehr profita- 6.300 HHLA-Beschäftigten ohne betriebsbe- bel. Während die Umschlagmenge stagniert, dingte Kündigungen ablaufen. Denn gut aus sind die Kosten insbesondere für Personal deut- gebildete Fachkräfte werden weiterhin ein lich gestiegen. Erfolgsfaktor sein. „Wir haben den Anspruch, in den Punkten Effizienz, Schnelligkeit, Trans Auf der mehr als 1.400 Meter langen Kaianla- parenz und Flexibilität an der Spitze des Wett ge stehen insgesamt 30 Containerbrücken bewerbs zu stehen“, so Lappin. ›
Finanzstrategen DR . ROLAND LAPPIN Jahrgang 1961, beendete sein Studium in Hamburg als Wirtschaftsingenieur. Danach promovierte er an der Uni versität Erlangen-Nürnberg und arbeitete als Assistent der Geschäftsführung bei der Société Générale in Hamburg und Genf, danach in der Schi ckedanz-Holding in Fürth. 1996 wechselte er zur HHLA, wo er 1999 den Bereich Finanzen und Beteiligungen übernahm. Seit 2003 gehört Dr. Roland Lappin dem Vorstand der HHLA an. Seite Brüche bedeuten für mich … 34 … immer den Beginn für neue Chancen. Die notwendige Finanzierung für die konse- Die HHLA-Aktie quente Transformation soll auch nicht durch Bislang gehörten die im SDAX gelisteten Kostensenkungsprogramme zulasten der Mitar- HHLA-Aktien nicht unbedingt zu den Bör- beiter e rkauft werden. „Wir werden massiv in senstars. Nach dem pandemiebedingten Maschinen und Beschäftigte investieren“, betont Absturz im März vergangenen Jahres konnte der HHLA-Finanzchef. Bei diesem Umbau müs- die Aktie in der zweiten Jahreshälfte 2020 sen sich die Hamburger vor allem auf ihr Wissen zwar wieder Boden gutmachen. Auf Jahres- und ihre Erfahrung verlassen. „Wir können zwar sicht blieb sie jedoch deutlich hinter der Ent- alle elektronischen Komponenten und Anlagen wicklung des Vergleichsindex SDAX zurück. für unseren Umbau einzeln zukaufen, doch ei- nen großen Systemanbieter für den Aufbau von Hinzu kommt, dass das Handelsvolumen mit Hafenanlagen gibt es nicht“, so Lappin. den HHLA-Aktien nicht allzu hoch liegt. Denn Ausgabe 9 / 2021
Finanzstrategen von den rund 72 Millionen ausstehenden A- uns immer darauf verlassen, dass die Kompe- Aktien befinden sich über 49 Millionen im Be tenz der Hamburger Wirtschaftssenatoren sitz der Freien und Hansestadt Hamburg. Zu außerordentlich hoch war und bei ihnen die frieden mit der Kursentwicklung ist auch Roland wirtschaftliche Stärke des Hamburger Hafens Lappin nicht. Seiner Meinung nach spiegelt der an erster Stelle stand“, unterstreicht Lappin. Kursverlauf nicht den tatsächlichen Wert des Die Hamburger Kaufleute wissen, welche Rolle Unternehmens wider. der Hamburger Hafen wirtschaftlich, aber auch bei den vielen Besuchern der Stadt spielt. Der Politischer Rückenwind derzeitige Amtstinhaber Michael Westhage- Dass 69 Prozent der Anteile bei der Freien und mann ist da keine Ausnahme. Der parteilose Hansestadt Hamburg liegen, muss in einer glo- Wirtschaftsexperte blickt auf eine erfolgreiche balisierten Welt und für die Modernisierung der Karriere als Siemens-Manager zurück und ist HHLA kein Nachteil sein. „Die Bedeutung des stärker am Erfolg des Hafens interessiert als an Hafens ist in der Verfassung der Stadt ausdrück- parteipolitischen Ränkespielen lich verankert“, so Lappin. „Bislang konnten wir im Hamburger Senat. ‹ Seite „Wir haben den 35 Anspruch, in den Punkten Effizienz, Schnelligkeit, Transparenz und Flexibilität an der Spitze des Wettbewerbs zu stehen.“
Investmentvordenker Innenstädte der Zukunft Unsere Innenstädte stehen vor massiven Umbrüchen. Die Corona-Pandemie hat den Wandel im Handel b eschleunigt. Was ist zu tun, um neue lebendige Stadtzentren zu kreieren? Seite TEXT D r . M i c h a e l B ü t t e r 36 Ausgabe 9 / 2021
Investmentvordenker 2,5 Min. Postcorona Stadtplanung Nutzungsmix M ehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits in Städten. Bis zum Jahr 2050 sollte dieser Anteil auf 70 Prozent ansteigen. Wie können Städte angesichts dieses enormen Wachstums die Versorgung und die Le- bensqualität für ihre Bewohner aufrechterhal- ten? Diese Frage ist nur interdisziplinär, mit viel Kreativität und Marktkenntnis zu beantworten. Die Corona-Pandemie hat auch im Hinblick auf die Zukunft der Innenstädte die Trends ver- stärkt: Neben den Dauertrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit ist die Auflösung klassischer Nutzungsarten das bestimmende Thema. Ein weiterer Trend hat sich schon seit einigen Jahren in der Stadtplanung abgezeichnet – das Ende der großflächigen Nutzungstrennung. Die In- nenstadt ist eben nicht nur ein Einkaufsort, son- dern vielmehr ein Ort zum Wohnen, Arbeiten, Seite für Freizeit und Kultur. Vielerorts findet bereits eine Transformation zu Mixed-Use-Objekten 37 und -Quartieren statt. In solchen gemischt ge- nutzten Räumen kann sich ein gut funktionie- rendes Zusammenspiel von verschiedenen Im- mobilienarten entwickeln. Der begonnene Transformationsprozess bietet Mischnutzungen eine große Chance, um zu- kunftsfähig, effizient und nachhaltig zu werden. Für die einzelnen Nutzungsarten ergeben sich aus der Neubelebung der Innenstädte neue Synergien und Wachstumspotenziale. Neue Konzepte machen die unterschiedlichen Nut- zungsarten krisenfester und zukunftsfähiger. Je flexibler, desto besser – denn die Nachfrage- trends werden sich auch weiterhin verändern. Die Verwandlung von Kaufhäusern Geschäftshäuser, Fachmarktzentren und Shop- pingcenter bleiben Teil im innerstädtischen Nut- zungsmix. Während der Handel sich inzwischen vielfach ins Internet verlagert hat, gewinnen Fachmarkt- und Nahversorgungszentren mit hohem Lebensmittelanteil an Bedeutung. In zwischen werden neue Konzepte entwickelt, ›
Investmentvordenker um den Einzelhandel resilienter zu machen. Dazu gehört die Kombination aus Einkaufen, Liefern und Abholen, aber auch die Transforma- tion oder Umnutzung zu Multi-Use-Objekten. Eine solche Nach- oder Neunutzung von Einzel- handelsimmobilien hilft auch, die zunehmende Flächenkonkurrenz in den urbanen Bereichen zu entspannen. Konversionsbeispiele von Shop- pingcentern aus den USA zeigen als häufigste Nutzungsarten Beherbergung, Büro, Multi family Appartements oder auch Logistik- und Verteilerzentren. Die Möglichkeiten sind vielfäl- tig und jeweils abhängig von der Lage, der phy- sischen Fläche und finanziellen Betrachtungen. Neue hybride Arbeitsplatz-Ökosysteme Obwohl sich das Arbeiten im Homeoffice als fester Baustein einer neuen Arbeitskultur eta- bliert hat, ist ein Einbruch der Nachfrage nach attraktiven Büroflächen nicht zu erwarten. Mögliche Flächenrückgaben werden durch be- stehende Mietverträge über Jahre gestreut und dürften durch die grundsätzlich steigende Zahl der Bürobeschäftigten kompensiert werden. Unternehmen, die Stellen abbauen, weisen laut Seite Institut der deutschen Wirtschaft zudem keine 38 signifikant höhere Wahrscheinlichkeit auf, Flächen zu reduzieren. Entsprechend dürfte sich der Büromarkt selbst bei einer anhaltenden Covid-19-Pamdemie als robust erweisen. Langfristig gesicherte Büroflächen werden für Unternehmen in Zukunft wesentlicher Bestandteil eines hybriden Arbeitsplatz-Öko systems sein: als Ankerfläche für die Mar kenidentität, als Talentmagnet und wenn die Präsenz am Arbeitsplatz unabdingbar ist. Diese Ankerflächen werden ergänzt um flexible, mobile und zunehmend digital basierte Arbeitsplatzmodelle. Top-Objekte in repräsentativen Core-Lagen werden darum auch weiterhin gefragt sein. Verdrängungs effekte dürfte es nur in Randlagen geben. Gewohnt wird immer Auch die Schaffung von Wohnraum sorgt da- für, dass die Innenstädte zu lebendigeren Or- ten werden. Zumal die Lücke zwischen Ange- bot und Nachfrage nach Wohnraum künftig eher wachsen als schrumpfen wird. Denn Eigentum, insbesondere in den Metropolen und Städten, wird aufgrund steigender Boden Ausgabe 9 / 2021
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