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Abhandlungen zum Rahmenthema LV ‚Deutsch-japanische Komparatistik im weltkulturellen Kontext‘ Zweite Folge Leiter des Themas Stefan Keppler-Tasaki (Tokyo) Yūji Nawata (Tokyo) Akane Nishioka (Tokyo) Thomas Pekar (Tokyo)
Jahrbuch für Internationale Germanistik pen Jahrgang LII – Heft 2 | Peter Lang, Bern | S. 165–184 Japanische Kriegsdiskurse und die ideologische Totalisierung des Krieges im Deutschland der Zwischenkriegszeit Von Thomas Pekar, Tokyo 1. Einleitung Es ist bekannt, dass es in Deutschland nach der Kriegsniederlage 1918 ein- flussreiche Kreise in Militär, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gab, die an einer Strategie arbeiteten1, die aus dieser Niederlage Lehren ziehen sollte, um in einem zukünftigen Krieg siegreich sein zu können2 – ein amerikanischer Militärstratege hat das treffend „Preparing for the War of the Future in the Wake of Defeat“3 genannt, also den Krieg der Zukunft im Aufschwung der Nieder- lage vorbereiten.4 Dieser zukünftige Krieg wurde als ein ‚totaler‘ konzipiert5, 1 Der Begriff der Strategie umfasst sowohl die Vorbereitungen für einen Krieg als auch seine Durchführung, wie dies der amerikanische Militärstratege Edward Mead Earle auf die Formel gebracht hat: „Bei Strategie geht es um Krieg, Kriegsvorbereitung und Kriegsdurchführung.“ (Zit. nach Beatrice Heuser: Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike. Paderborn u. a. 2010, S. 46). 2 Vgl. dazu auch die Einschätzung des Historikers Wehler: „Unmittelbar nach der Nieder- lage setzten in Deutschland Überlegungen ein, die das Resümee aus den Erfahrungen des Weltkrieges ziehen wollten, und es wirkt auch heute noch erschreckend, wie auf breiter Front: von Militärs und Schriftstellern, von Wissenschaft und Publizistik häufig keine andere Lehre gezogen wurde, als einen neuen, noch gewaltigeren und erbarmungsloseren Konflikt so bald wie möglich in Friedenszeit zielstrebig und planmäßig vorzubereiten.“ (Hans-Ulrich Wehler: ‚Absoluter‘ und ‚totaler‘ Krieg. Von Clausewitz zu Ludendorff. In: Politische Vierteljahresschrift 10 [1969] 2/3, S. 220–248, hier S. 232f.). 3 Vgl. Mark Shannon: Preparing for the War of the Future in the Wake of Defeat: The Evolution of German Strategic Thought, 1919–1935. In: Journal of Military and Strategic Studies 15 (2014) 3, S. 170–194. 4 Ernst Jünger argumentierte stellenweise so, dass der „große Krieg“ (also der Erste Welt- krieg) angesichts des – von ihm als ungerecht empfundenen und „jeden Einzelnen auf eine unwürdige Lebenshaltung“ herunterdrückenden – Versailler Vertrags „sein Ende noch nicht gefunden“ habe: „Aber mit der Erkenntnis, daß der Krieg weitergeht, ist zu- gleich der logische Schluß verbunden, daß wir ihn auch noch nicht endgültig verloren haben können“ (Ernst Jünger: Politische Publizistik: 1919 bis 1933. Hrsg. von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001, S. 64f.), schreibt er 1925. 5 Dieser Begriff ist vom ‚absoluten Krieg‘ und vom ‚Vernichtungskrieg‘ abzugrenzen: Der Begriff des ‚absoluten Krieges‘ wurde von General Carl v. Clausewitz vor allem in Hinsicht auf Napoleons Kriege geprägt, den er darin ansatzweise verwirklicht sah. Für © 2020 Thomas Pekar - doi http://doi.org/10.3726/JA522_165 - Except where otherwise noted, content can be used under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 International license. For details go to http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
166 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse obwohl sich der Erste Weltkrieg in seiner Endphase schon „in Richtung des totalen Krieges entwickelt“6 hatte. Der Kreis der prominenten Personen, die an dieser Strategie arbeiteten, umfasst Namen wie Karl Haushofer, Erich Ludendorff und Ernst Jünger – auf diesen Personenkreis gehe ich hier ein – und andere, wie z. B. Arthur Moeller van den Bruck, Friedrich Georg Jünger, Ernst Niekisch, Carl Schmitt und Oswald Spengler, die hier nicht berücksichtigt werden konnten.7 Man hatte für diesen Kreis den Begriff der „Konservativen Revolution“8 geprägt, der aber aus verschiedenen Gründen falsch oder zumindest irreführend ist9, weshalb es m.E. angemessener ist, in dieser Hinsicht von einem völkisch-nationalen Kreis zu sprechen10 (mit dieser Bezeichnung orientiere ich mich an dem unlängst in der zweiten Auflage erschienenen Handbuch der völkischen Wissenschaften).11 Wehler ist dieser Begriff nicht in erster Linie deskriptiv aufzufassen, sondern sei vielmehr „eine Art extremer gedanklicher Fixpunkt“, ein „Idealtypus“ (Wehler, ‚Absoluter‘ und ‚totaler‘ Krieg [wie Anm. 2], S. 224) im Sinne Max Webers. Wirkliche Kriege sind bei Clausewitz vielmehr in die Politik eingebettet und dadurch begrenzt: „Die Politik soll nach Clausewitz‘ Vorstellung über den Krieg als Mittel verfügen und zugleich seiner potentiell schrankenlosen Gewaltsamkeit Fesseln anlegen.“ (Ebd., S. 226). Ludendorffs totaler Krieg verneint demgegenüber explizit dieses von Clausewitz geforderte Primat der Politik. In der kriegsgeschichtlichen Untersuchung von Heuser wird der totale Krieg auf die Konzeption Ludendorffs (vgl. dazu unten) bezogen (vgl. Heuser, Den Krieg denken [wie Anm. 1], S. 138f.). Elemente des Vernichtungskrieges gibt es allerdings auch schon bei Ludendorff, wenn er schreibt: „Gegenüber einem seelisch starken Volke liegt die Kriegsentscheidung allein in dem Siege auf dem Schlachtfelde und der Vernichtung der feindlichen, doch seelisch stark gebliebenen Wehrmacht und des seelisch geschlossenen Volkes.“ (Erich Ludendorff: Der totale Krieg. München 1935, S. 106; Hervorh. von T.P.). 6 Heuser, Den Krieg denken (wie Anm. 1), S. 213; wie es hier heißt, hatte man in dieser Phase allerdings „bei weitem nicht das Idealziel der totalen Mobilmachung [...] erreicht.“ 7 Abgesehen von den vielen unbekannteren Schriftstellern, Philosophen etc., die in Mohlers Handbuch verzeichnet sind (vgl. die Neuausgabe Armin Mohler und Karlheinz Weißmann: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. 6. Aufl. Graz 2005). 8 So 1950 von Arnim Mohler (vgl. Armin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriss ihrer Weltanschauung. Stuttgart 1950; vorausgehend war Herman Rauschning: Die konservative Revolution. Versuch und Bruch mit Hitler. New York 1941). 9 „Konservative Revolution“ ist die Konstruktion einer nicht-nationalsozialistischen deutschen Rechte bzw. die Konstruktion „eine[r] eigenständige[n], sowohl vom National- sozialismus wie von der konservativen Reaktion zu unterscheidende[n] Bewegung“ (Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993, S. 1), die es aber faktisch so nicht gab. 10 Die Bedeutung, die ‚Japan‘ in diesem Diskurs spielt, ist immer noch nicht zureichend erforscht. Dieser Aufsatz versteht sich als Beitrag zu dieser Erforschung. 11 Vgl. Michael Fahlbusch, Ingo Haar und Alexander Pinwinkler (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Teilbd. 1. 2. Aufl. Berlin 2017; in Verbindung mit Uwe Pusch- ner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871–1918. Berlin 1996. Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse | 167 Es soll hier danach gefragt werden, inwieweit dieses neue strategische Denken der Zwischenkriegszeit in Deutschland, welches also auf eine Radika- lisierung und Totalisierung des Kriegs abzielte, von ‚Japan‘ beeinflusst worden ist, wobei dieses ‚Japan‘ von mir primär als Diskurs verstanden wird, der sich vor allem in dieser Zeit und kurz davor gebildet hatte; genauer gesagt, der sich im Anschluss oder angehängt an die beiden Kriege Japans gebildet hatte12; damit meine ich den Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg (nisshin sensō) (1894/95)13 und besonders dann den Russisch-Japanischen Krieg (nichiro sensō) 1904/05, der Japans Eintritt in den Kreis der Großmächte bedeutete.14 Dieser an diese Kriege angesetzte Diskurs wurde einmal von westliche Autoren geführt, die über Japan schrieben, zum anderen von japanischen Au- toren, die im Westen allerdings nur dann wahrgenommen wurden, wenn sie in westlichen Sprachen publizierten. Ich werde am Beispiel von vier Texten, d. h. zwei Text- bzw. Autorpaaren, diesen Diskurs zeigen; diese Texte halte ich in Hinsicht auf diesen Kriegsdis- kurs für Schlüsseltexte; und zwar geht es um Nitobe Inazōs Buch Bushido (1900), auf den sich Ernst Jüngers in seinem Essay Über den Schmerz (1934) bezog, und um Erich Ludendorffs Buch Der totale Krieg (1935)15, für den Texte Karl Haushofers wichtig waren, vor allem dessen Buch Dai Nihon/ Groß-Japan (1913). 12 Sozusagen um diese Kriege herum ‚wucherte‘, um es foucaultianisch zu sagen. 13 Ihm folgte dann der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg (1937–1945), der, nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor am 7.12.1941 und dem Kriegseintritt der USA, Teil des Zweiten Weltkriegs wurde. 14 Dieser Krieg wurde in Europa und den USA stark beachtet wie zahlreiche zeitgenössische Veröffentlichungen belegen (vgl. unter anderem: Sydney Tyler: The Japan-Russia War. An Illustrated History of the War in the Far East. Philadelphia 1905; Eberhard von Tettau: Der Russisch-japanische Krieg. Amtliche Darstellung des russischen Generalstabes. 5 Bde. Berlin 1910–1912). Aus der reichhaltigen Forschungsliteratur zum Russisch-Japani- schen Krieg vgl. unter anderem: Klaus Mehnert: Der Einfluß des Russisch-Japanischen Krieges auf die große Politik. Berlin 1930; Rotem Kowner (Hrsg.): The Impact of the Russo-Japanese War. London, New York 2009; Josef Kreiner (Hrsg.): Der Russisch- Japanische Krieg. Göttingen 2005; John W. Steinberg u. a.: The Russo-Japanese War in Global Perspective. World War Zero. 2 Bde. Leiden, Boston 2005–2007; Maik Hendrik Sprotte, Wolfgang Seifert und Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit? Wiesbaden 2007; Sarah Paine: The Wars for Asia, 1911–1949. Cambridge 2012. 15 Zwischen Jünger, Ludendorff und Haushofer gab es z. T. sehr enge Beziehungen. In einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1924 bezieht sich Jünger beispielsweise direkt auf Ludendorff, den er dort als „neuen, entschlossenen Menschen, den das Geschick in tausend furchtbaren Stunden dazu erzog, sich ganz für seine Sache hinzugeben“ (Jünger, Politische Publizistik [wie Anm. 4], S. 45) emphatisch feiert. Er sieht den Frontsoldaten (zu dem er sich selbst rechnet) in einer engen Beziehung zu Ludendorff – „seinem General“ (ebd.) – stehen (zum Verhältnis Ludendorff – Haushofer vgl. unten, Anm. 61). Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020)
168 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse 2. Das Interesse westlicher Militärstrategen an Japan Was interessierte westliche Autoren und Militärstrategen hauptsächlich an Japan? Das betraf keineswegs etwa die Art und Weise der Heeresorganisation oder auch nicht so sehr die Strategie der Kriegsführung selbst (Japan hatte sich ja westliche Militärberater ins Land geholt16, um sich militärisch zu ent- wickeln; in dieser Hinsicht konnte man nichts von Japan lernen), sondern das betraf vielmehr einen spezifischen Punkt, den man in der inhumanen Sprache des Militärs das ‚Menschenmaterial‘ nannte. Dieser Begriff bezieht sich auf die Soldaten, aber auch auf das Volk, welches in der Konzeption des totalen Krieges selbstverständlich aktiv am Krieg, z. B. als Rüstungsarbeiter, beteiligt ist. Diese Beteiligung des Volkes am Kriegsgeschehen wird auf die Französische Revolution, auf die berühmte Levée en masse, die Massenaushebung oder das Volksaufgebot, zurückgeführt, worin die Militärhistorikerin Beatrice Heuser „bereits ein Element des totalen Krieges“17 erkennt.18 In der Spezifität sowohl des japanischen Volkes als auch des japanischen Soldaten glaubte man eine Differenz zum deutschen Volk und Soldaten zu erkennen – und hier sah man den Ansatzpunkt für eine ‚Verbesserung‘, im Sinne einer gesteigerten Einsatz- und Verwendungsfähigkeit dieses Volkes bzw. dieses Soldaten: Es ging also um die, wenn man es so nennen will, militäri- sche Anthropologie19 bzw. um die eben andere bzw. als anders angenommene militärische Anthropologie der Japaner und des japanischen Soldaten. Was man ihm vor allem zusprach war eine – gegenüber den deutschen Soldaten – größere Opferbereitschaft, die die Todesbereitschaft einschloss.20 Diese Sichtweise verbindet sich mit dem umfangreichen Komplex bushidō, den Weg des Kriegers, auf den ich kurz eingehen will: Benannte bushidō 16 Wie z. B. den preußischen Major Jacob Meckel, der von 1885 bis 1888 als Militärinstruk- teur in Japan arbeitete (vgl. Frank Jacob: Die deutsche Rolle bei der Modernisierung des japanischen Kaiserreiches: zur deutschen Kolonialerfahrung in Japan seit der Eulenburg- Expedition. In: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 48-1 [2016], S. 57–73). 17 Heuser, Den Krieg denken (wie Anm. 1), S. 142. 18 Clausewitz sah mit der revolutionären Levée en masse den Krieg zu einer „Sache des ganzen Volkes“ (zit. nach Wehler, ‚Absoluter‘ und ‚totaler‘ Krieg [wie Anm. 2], S. 228) werden, resultierend aus der Französischen Revolution. 19 Vgl. zu einer frühen, ev. frühesten Verwendung dieses Begriffs das Buch Beyträge zur Philosophie der Kriegskunst, Berlin 1804, von Julius von Voss, der in Hinsicht auf die „militairische [sic] Anthropologie“ von der „Gründung einer neuen Wissenschaft“ (Julius von Voss: Beyträge zur Philosophie der Kriegskunst. Berlin 1804, S. 146) spricht, worunter er primär Krankheitsverhütung bei den Soldaten verstand. 20 So wurde z. B. in Griechenland das Wort ‚Japaner‘ „zu einem Modewort für Menschen, die wie die Japaner im Krieg mit Rußland kühn und rücksichtslos angriffen“ (Edda Binder- Iijima: Der Russisch-Japanische Krieg und die Orientalische Frage. In: Sprotte, Seifert u. Löwe, Der Russisch-Japanische Krieg [wie Anm. 14], S. 1–22, hier S. 7). Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse | 169 ursprünglich, d. h. etwa ab dem 13. Jahrhundert, eine Verhaltenspraxis für den Krieger, den Samurai, so wurde diese Praxis um 1900 von Japanern vor allem in Hinsicht auf den Westen kodifiziert. Der berühmte Japanologe Basil Chamberlain sprach 1912 in Hinsicht auf dieses kodifizierte Bushido treffend, wie ich denke, von „The invention of a new religion“.21 Man machte also aus einer Verhaltenspraxis quasi religiöse bzw. philosophisch-ethische Texte, die einerseits zeigen sollten, dass Japan dem Westen insofern kulturell ebenbürtig war als es auch eine Ethik besaß; andererseits sollten dann aber auch durch bushidō gewisse japanische Eigentümlichkeiten betont werden. Als Schlüssel- text dafür ist das 1900 erschienene Buch Bushido. The Soul of Japan von Nitobe Inazō anzusehen, welches er auf Englisch – und im Übrigen in Kalifornien schrieb (er selbst hatte sich von seiner amerikanischen Frau zum Quäckertum bekehren lassen) –, was ein bezeichnendes Licht auf die ‚Originalität‘ bzw. ‚Japanizität‘22 dieses Buches wirft.23 Das moderne Bushido kann zwar als eine Erfindung, als eine „invented tradition“24, angesehen werden, hatte jedoch einen ganz realen historischen bzw. militärhistorischen Hintergrund, nämlich den Sieg Japans im Ersten Japanisch- Chinesischen Krieg, auf den Nitobe auch deutlich hinweist: It has been said that Japan won her late war with China [= Erster Japanisch- Chinesischer Krieg 1894-1895; Anm. T.P.] by means of Remington guns and Krupp cannon; it has been said the victory was the work of a modern school system; but these are less than half truths. The most improved guns and cannon do not shoot of their own accord; the most modern educational system does not make a coward a hero. No! What won the battles on the Yalu, in Corea and Manchuria, was the ghost of our fathers, guiding our hands and beating in our hearts. They are not dead, those ghosts, the spirits of our warlike ancestors. [...] Scratch a Japanese of the most advanced ideas, and he will show a samurai.25 21 Vgl. Basil Hall Chamberlain: The Invention of a New Religion. London 1912, wofür er von Traditionalisten, wie Haushofer, heftig kritisiert wurde. 22 Vgl. dazu unter anderem Takemitsu Morikawa: Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik. Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japani- schen ‚Selbstbildes‘ in der Weltgesellschaft um 1900. Bielefeld 2013. 23 Neben Nitobe war Nukariya Kaiten mit seinem in englischer Sprache geschriebenen Buch Religion of the Samurai (1913) ein anderer Promotor von Bushido im Westen (vgl. dazu auch Brian [Daizen] Victoria: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz. Berlin 1999, S. 93ff.). 24 Vgl. Eric Hobsbawm und Terence Ranger: The Invention of Tradition. Cambridge 1983. 25 Inazo Nitobe: Bushido. The Soul of Japan. An Exposition of Japanese Thought. Philadelphia 1900, S. 124f.; wie sehr dieser Krieg im japanischen Bewusstsein verankert war und heroi- siert wurde, zeigt beispielsweise die Sammlung zeitgenössischer japanischer Triptychen über diesen Krieg von Basil Hall Chamberlain, vgl. Nathan Chaïkin: The Sino-Japanese War (1894–1895). The noted Basil Hall Chamberlan Collection and a private collection. Geneva 1983. Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020)
170 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse Nitobes Buch hatte in Bezug auf Japan sicherlich die konkrete Wirkungsabsicht, in zukünftigen japanischen Kriegen diesen Bushido-Geist aufrechtzuerhal- ten und zu beschwören. Als Kern von Bushido sieht Nitobe den Selbstmord als Institution an26, also seppuku bzw., wie es im Westen heißt, ‚Harakiri‘.27 Bushido beinhalte, so Nitobe, die Bereitwilligkeit, sich selbst zu töten bzw. sich zu opfern, wenn dies aus übergeordneten Gründen notwendig erscheint. Von diesem Bushido-Geist, der ursprünglich der kleinen Samurai-Krieger-Elite vorbehalten war, seien, mit Anbruch der Moderne, alle soziale Klassen, eben das ganze Volk, sei ganz Japan beseelt worden, also auch der aus diesem Volk stammende gemeine japanische Soldat.28 Dies drückt Nitobe sehr klar aus: „In manifold ways has Bushido filtered down from the social class where it originated, and acted as leaven among the masses, furnishing a moral standard for the whole people.“29 Den zum ‚Volksgeist‘ (diesen hegelianischen Begriff verwendet Nitobe im deutschen Original)30 ausgegossene Bushido-Geist heißt bei Nitobe dann auch Yamato Damashii31 (als ‚Seele‘ oder ‚Geist Japans‘ zu übersetzen), womit er einmal historisch weit zurückgreift, nämlich in die Heian-Zeit (794–1185), wo, wie man sagt, im Genji Monogatari32 dieser Geist erstmals aufgetaucht sein soll – und zwar in Absetzung vom Chinesischen, und zum anderen greift 26 Vgl. Nitobe, Bushido (wie Anm. 25), S. 72ff. 27 „Death involving a question of honor, was accepted in Bushido as a key to the solution of many complex problems, so that to an ambitious samurai a natural departure from life seemed a rather tame affair and a consummation not devoutly to be wished for.“ (Ebd., S. 74). Bezeichnenderweise bezieht sich Nitobe bei seiner Beschreibung des seppuku aus- gerechnet auf eine westliche Quelle, nämlich den Augenzeugenbericht, den der britische Diplomat Mitford in seinem Buch Tales of Old Japan davon gibt (vgl. Algernon Bertram Mitford: Tales of Old Japan in Two Volumes. London 1871. Bd. 2, S. 193–243 und Nitobe, Bushido [wie Anm. 25], S. 76–80). Grundsätzlich zum seppuku vgl. Ulrich Pauly: Seppuku. Ritueller Selbstmord in Japan. Tokyo 1995. 28 Nitobe findet ein poetisches Bild für diese Ausbreitung des Bushido-Geistes: „As the sun in its rising first tips the highest peaks with russet hue, and then gradually casts its rays on the valley below, so the ethical system [= Bushido; Anm. T.P.] which first enlightened the military order drew in course of time followers from amongst the masses.“ (Nitobe, Bushido [wie Anm. 25], S. 105). Und schließlich: „What Japan was she owed to the samurai.“ (Ebd., S. 106). 29 Ebd., S. 108f. Ähnlich schreibt Nukariya: „Bushidō, or the code of chivalry, should be observed not only by the soldier in the battle-field, but by every citizen [...].“ (Kaiten Nukariya: The Religion of the Samurai. A Study of Zen Philosophy and Disciplin in China and Japan. London 1913, S. 50). 30 Nitobe hatte gute Deutschkenntnisse und sogar 1890 auf Deutsch in Halle mit einer Arbeit über den japanischen Grundbesitz promoviert. 31 „Yamato Damashii (the soul of Japan) ultimately came to express the Volksgeist of the Island Realm.“ (Nitobe, Bushido [wie Anm. 25], S. 109). 32 Die Geschichte vom Prinzen Genji (frühes 11. Jhd.), Roman der Hofdame Murasaki Shikibu. Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse | 171 er, zwar nicht willentlich, aber faktisch, auch voraus, denn Yamoto Damashii wurde dann im Zweiten Weltkrieg von japanischen Nationalisten und Milita- risten aufgegriffen und als Parole für die japanische Kriegsideologie benutzt.33 Diese Besonderheit des japanischen Volks-Soldaten hoben, im Anschluss an Nitobe, dann auch viele westliche Autoren hervor, allen voran Lafcadio Hearn34, der die militärische Selbstötung als eine „self-inflicted penalty exacted by the traditions of samurai discipline“35 nennt und das Beispiel eines, wie er sagt, harakiri aus dem japanischen-russischen Krieg zitiert, welches sich an Bord des japanischen Schiffes Kinshu Maru 1904 zugetragen hat.36 Man zog dort vor sich zu töten als sich zu ergeben. Dieser Vorfall wurde auch von ver- schiedenen westlichen Zeitungen berichtet.37 Eine für den deutschsprachigen Bereich sehr wirkungsvolle Einschätzung des japanischen Soldaten gibt der deutsche Arzt und langjährige Japanresident Erwin Baelz (der einer der akademischen Lehrer von Mori Ōgai war, als dieser in Tokyo Medizin studierte). Baelz publizierte 1904 einen Aufsatz mit dem Titel Über den kriegerischen Geist und die Todesverachtung der Japaner, in dem es heißt: „Das Wesentliche am japanischen Soldaten ist seine wunderbare Todesverachtung. [...] Es handelt sich hier um eine Geringschätzung, um 33 Vgl. Roy Andrew Miller: Japan’s Modern Myth. Weatherhill 1982, S. 13; diese kriegeri- schen Übersetzungen von Yamato Damashii heißen z. B. „death before dishonor“ oder „fighting with a will to die“. 34 Er schreibt ebenfalls über den japanischen Geist: „For this national type of moral character was invented the name Yamato-damashi (or Yamato-gokoro), – the appellation of the old province of Yamato, seat of the early emperors, being figuratively used for the entire coun- try. We might correctly, though less literally, interpret the expression Yamato-damashi as ‚The Soul of Old Japan.‘“ (Lafcadio Hearn: Japan. An Attempt at Interpretation. New York 1904, S. 177). 35 Ebd., S. 314. 36 „The case of the Japanese officers and men on the transport Kinshu Maru, sunk by the Russion warships on the 26th of last April [1904], should have given the enemy matter for reflection. Although allowed an hour’s time for consideration, the soldiers refused to surrender, and opened fire with their rifles on the battleships. Then, before the Kinshu Maru was blown in two by a torpedo, a number of the Japanese officers and men perfor- med harakiri. . . . This striking display of the fierce old feudal spirit suggests how dearly a Russian success would be bought.“ (Hearn, Japan [wie Anm. 34], S. 508). Dieses Schiff war das erste Transportschiff, welches in diesem Krieg von den Russen gekapert und versenkt wurde. 37 Die australische Zeitung Wellington Times berichtete am 5. Mai 1904: „It is officially announced that the Japanese officers on board of the Kinchu Maru suicided in their cabins. The private soldiers, who refused to surrender, privately bayoneted each other. The prisoners taken only includes the sailors and coolies.“ https://trove.nla.gov.au/newspaper/ article/137889194/15711457 [letzter Zugriff 14.9.2019]. In einer in Tokyo erschienenen illustrierten Geschichte des russisch-japanischen Kriegs gibt es eine Illustration dieser sich selbst tötenden japanischen Soldaten (vgl. The Russo-Japanese War Fully Illustrated. Tokyo 1904, S. 250f.). Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020)
172 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse eine Nichtachtung des eigenen Lebens, die aus einer Anderswertung des Ichs entspringt [...].“38 Diese ‚Todesverachtung‘, Baelz spricht auch von einer „fanatische[n] Todeslust“39, bezieht er direkt auf die Samurai- und Bushidō-Tradition.40 Ähnliches schreibt der Geopolitiker Karl Haushofer, der von 1909 bis 1910 als Militärbeobachter in Japan war und der später sehr enge Beziehungen zu führenden Nationalsozialisten hatte41, ja als ihr Berater gilt42, in seinem 1913 erschienenen Buch Dai Nihon. Betrachtungen über Groß-Japans Wehrkraft, Weltstellung und Zukunft: Das Opfer des Einzellebens für das Ganze, für imponderable Werte43 liegt im Osten breiteren Schichten näher als im Westen, wo das Individuum zu hoch angeschlagen wird. Das Harakiri oder Seppuku [...] sowie die Anschauungen des ganzen Volkes über den Selbstmord spielen zweifellos eine Rolle dabei.44 Und er stützt seine Behauptung im Übrigen mit dem Hinweis auf „den Mas- senselbstmord auf dem Transportschiff Kinshu Maru“.45 Diese Sichtweisen Haushofers hatten in Deutschland starke Wirkungen, insbesondere in Hinsicht auf die Konzeption des totalen Krieges. 38 Vgl. Erwin Baelz: Über den kriegerischen Geist und die Todesverachtung der Japaner. Yokohama 1904, S. 14; dieser Aufsatz wurde von seinem Sohn, Erwin Toku Bälz, in der Nazi-Zeit gleich in drei Auflagen, nämlich 1936 und zweimal 1942, wiederaufgelegt und zwar unter dem Titel Über die Todesverachtung der Japaner (vgl. Erwin Baelz: Über die Todesverachtung der Japaner. Hrsg. von Erwin Toku Baelz. Stuttgart 1936). Zur national- sozialistischen Baelz-Rezeption vgl. Till Philip Koltermann: Der Untergang des Dritten Reiches im Spiegel der deutsch-japanischen Kulturbegegnung 1933–1945. Wiesbaden 2009, S. 63ff. 39 Baelz, Über die Todesverachtung (wie Anm. 38), S. 32. 40 „Die ganze Erziehung, das ganze Leben des Samurai war eigentlich nur eine Vorbereitung für einen schönen Tod.“ (Ebd., S. 26). Die Verbindung des Erziehungswerts ‚Lebensver- achtung‘ mit dem ‚Loyalitätsprinzip‘ sieht er als „etwas spezifisch Japanisches“ an (ebd., S. 24). 41 Die allerdings oft überschätzt werden; zur Korrekur dieser Überschätzung, insbesondere der Rolle, die sein Institut für Geopolitik an der Universität München gespielt haben soll vgl. David Thomas Murphy: Hitler’s Geostrategist? The Myth of Karl Haushofer and the ‚Institut für Geopolitik‘. In: The Historian 76 (2014) H. 1, S. 1–25. 42 Vgl. zu diesen Verstrickungen z. B. Koltermann, Der Untergang (wie Anm. 38), S. 64ff. 43 „Imponderable Werte“ – Imponderabilien, das sind Lieblingswörter Haushofers, um damit die Gefühls- und Wertewelt der Japaner bzw. des japanischen Soldaten zu erklären, also den, wie man heute sagen würde, human factor. 44 Karl Haushofer: Dai Nihon. Betrachtungen über Groß-Japans Wehrkraft, Weltstellung und Zukunft. Berlin 1913, S. 58. 45 Ebd., S. 59; demgegenüber würden die russischen Gefangenen „behaglich in japanischen Strandlagern“ dahinleben. Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse | 173 3. Ludendorff und Haushofer Der wichtigste und einflussreichste Vordenker des totalen Kriegs war General Erich Ludendorff, vor allem mit seinem 1935 erschienenen Buch mit eben diesem Titel Der totale Krieg.46 Ludendorff galt als Kriegsheld des Ersten Weltkriegs, der ab 1916 zum mächtigsten Heerführer in Deutschland aufgestie- gen war und dann faktisch eine Militärdiktatur ausübte. Der Sieger im Krieg gegen Russland (vor allem durch die siegreiche Schlacht von Tannenberg 1914)47 scheiterte aber mit seiner Frühjahrsoffensive im Westen 1918, die direkt zur deutschen Kriegsniederlage führte. Ludendorff drängte dann zivile, besonders sozialdemokratische Politiker in die Verantwortung bei der Beendigung des Krieges und legte so den Keim für die sogenannte ‚Dolchstoßlegende‘, also die vor allem von ihm dann auch selbst verbreitete Idee, „daß das Heer „im Felde unbesiegt“ geblieben sei und der Krieg wegen der fehlenden Unterstützung der Heimatfront verlorengegangen sei.“48 Diese Vorstellung funktionierte unter der grundsätzlichen Voraussetzung, dass die deutsche Kriegsniederlage im Ersten Weltkrieg unnötig, vermeidbar gewesen sei, was den Gedanken nahelegt, nochmals einen Krieg zu führen, allerdings einen besser vorbereiteten, um ihn dann zu gewinnen.49 Die Dolchstoßlegende in der politischen Propaganda hatte anti- demokratische und anti-semitische Absichten, weil diese beiden Gruppen, also demokratische (besonders sozialdemokratische) Politiker und Juden, als Ausführende des Dolchstoßes hingestellt wurden.50 46 Vgl. Ludendorff, Der totale Krieg (wie Anm. 5); zu Ludendorffs Biografie vgl. Manfred Nebelin: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg. Berlin 2011; Wehler schätzt Luden- dorffs Buch so ein: „Ludendorffs Vorstellungen vom ‚totalen‘ Krieg bildeten fraglos ein Konglomerat von Gedanken, die im Deutschland der Zwischenkriegszeit vielfach aufge- taucht sind. Er lieh ihnen aber etwas von dem Nimbus, der seinen Namen als militärische Koryphäe vielerorts noch immer umgab. Insofern gehört sein Totaler Krieg unmittelbar in die von ihm so nachhaltig geforderte Vorbereitung auf den kommenden Krieg, und Goebbels konnte sich bald dieser weithin bekannten Formulierung bedienen.“ (Wehler, ‚Absoluter‘ und ‚totaler‘ Krieg [wie Anm. 2], S. 243f.). 47 Spang weist in diesem Zusammenhang auf einen Oberstleutnant namens Max Hoffmann im Stabe Ludendorffs hin, der vorher Beobachter des Russisch-Japanischen Krieges gewesen sei und der wichtige Informationen übermittelt haben soll. Spang spricht sogar von der Möglichkeit eines außergewöhnlichen Beispiels der „Übernahme japanischer Militär-Ideen in Deutschland“ (Christian W. Spang: Karl Haushofer und Japan. Die Rezeption seiner geopolitischen Theorien in der deutschen und japanischen Politik. München 2013, S. 84f., Anm. 26). 48 Ebd., S. 301. 49 Ludendorff spricht von einem „kommenden totalen Krieg“ (Ludendorff, Der totale Krieg [wie Anm. 5], S. 104). 50 Was auf perfiden Propagandaplakaten, auf denen entweder sozialdemokratische oder jüdische Gestalten einem deutschen Frontsoldaten ein Messer in den Rücken stechen, zu sehen war; vgl. z. B. das Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) von 1924; https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/pli16837 [letzter Zugriff 15.9.2019]. Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020)
174 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse Auf einer nicht demagogisch-propagandistischen Basis aber ging es Ludendorff um die Verbesserung der Kämpfenden, wobei er hier interessan- terweise (aber der Dolchstoßlegende konsequent folgend) nicht primär den Soldaten (wie etwa Ernst Jünger, wie ich gleich zeigen werde) im Auge hatte (der war ja ‚im Felde unbesiegt‘ geblieben), sondern das Volk, die Heimatfront, also das deutsche Volk, das es in Hinsicht auf Kriegsführung zu optimieren galt. Ludendorff schreibt: „Das Wesen des totalen Krieges bedingt es, daß er nur dann geführt werden kann, wenn wirklich das ganze Volk in seiner Lebens- erhaltung bedroht und entschlossen ist, ihn auf sich zu nehmen.“51 Grundvoraussetzung des totalen Krieges sei, so Ludendorff, die „seelische Geschlossenheit eines Volkes“52, die er im Weltkrieg durch die genannten Kräfte gestört sah, durch die Sozialdemokratie und die Juden, aber auch durch die römisch-katholische Kirche: „Juda und Rom“53; diese überstaatlichen Mächte vor allem kristallisierten sich für ihn in fast paranoider Weise immer mehr als die Hauptschuldigen für eine „seelische Zerklüftung“54 des Volkes und damit als Verursacher der Kriegsniederlage heraus.55 Es ist nun für meine Argumentation zentral, dass Ludendorff in seinem Buch diesem zerklüfteten und deshalb geschlagenen deutschen Volk ein Ideal vor Augen setzt, nämlich die Japaner, deren Geschlossenheit ganz anders als die der Deutschen sei: „[D]ie Geschlossenheit des japanischen Volkes [...] ist eine seelische und beruht im wesentlichen auf dem Shintoglauben, der den Japaner zwangsläufig in den Dienst des Kaisers stellt, um so den Weg zu dem Leben mit seinen Ahnen zu erhalten.“56 Die Japaner seien, so Ludendorff, in der glücklichen Lage, einen „arteigenen Glauben zu haben“ (Shinto also)57, der ihrem „Rasseerbgut“58, wie 51 Ludendorff, Der totale Krieg (wie Anm. 5), S. 6. 52 „Die seelische Geschlossenheit eines Volkes [...] ist und bleibt nun einmal die Grundlage für die Führung eines totalen Krieges [...].“ (Ebd., S. 20f.). Ähnlich hatte Jünger bereits 1926 geschrieben: „Je einheitlicher und sicherer das Leben innerhalb seiner Grenzen ist, desto absoluter ist sein Wert.“ (Jünger, Politische Publizistik [wie Anm. 4], S. 189). 53 Ludendorff, Der totale Krieg (wie Anm. 5), S. 13. 54 Ebd. 55 Auch könne die Geschlossenheit nicht durch äußeren Druck erzeugt werden, sondern müsse aus der „Seele des Volkes“ kommen, welches seine Gemeinsamkeit durch „bewußte[s] Rasse- und Gotteserleben[]“ (ebd., S. 17) bilden müsse. 56 Ebd., S. 17. 57 Shinto, d. h. der Staats-Shintoismus, wurde im 19. Jahrhundert gezielt von der japanischen Regierung als ‚Staatsreligion‘ gefördert: „Während der religiöse Zweig, die eigentliche Shinto-Schule (Kyōha Shintō), von seiten der Regierung keinerlei Unterstützung erhielt, wurden dem Zweig, der sich dem Kaiser-Kult widmete und der fortan Staats-Shintois- mus (Kokka Shintō) genannt wurde, sowohl finanzielle Unterstützung als auch ver- schiedene politische Privilegien gewährt.“ (Victoria, Zen [wie Anm. 23], S. 29; vgl. dazu auch grundsätzlich Helen Hardcare: Shintō and the State, 1868–1988. Princeton 1989). Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse | 175 er sagt, entsprechen und der „die Geschlossenheit von Regierung und Volk, Volk und Heer und des ganzen Volkslebens“59 verbürgen würde.60 Aber woher hatte Ludendorff eigentlich seine Erkenntnisse über die Japa- ner hergenommen? Da kommt ein Name ins Spiel, der schon genannt wurde, nämlich Haushofer, dessen Schriften Ludendorff sicherlich kannte und zu dem er auch in einem engen persönlichen Verhältnis stand.61 Beide lebten in den 1920er Jahren in München, dieser damaligen Brutstätte des Rechtsradikalismus. Haushofer übermittelt genau dieses Bild der Japaner als eines geschlosse- nen und staatsgläubigen Volkes. So hatte er schon 1913 über Japan geschrieben: Dieses Gefühl des Einzelnen zum Staat in ein unseren stärksten religiösen Antrieben entsprechendes Verhältnis gebracht zu haben, das halte ich für das größte soziale und ethische Verdienst, womit das Inselreich sich selbst, aber vielleicht auch eine [...] Welt-Kultur-Entwicklung überhaupt beschenkt hat.62 Genau diese politische Theologie – so muss man dies wohl nennen –, die Haus- hofer in Japan verwirklicht sah, kann als das eigentliche Anliegen Ludendorffs gewertet werden – wie eben auch wenig später als das Anliegen des totalitären nationalsozialistischen Staates, der ja bekanntlich von seinen ‚Volksgenossen‘ fanatischen Glauben und Selbstaufgabe verlangte.63 Man kann also den Staats-Shintoismus ein „künstliche(s) Konstrukt“ der japanischen Regierung und einen „Kult zur Stärkung des Nationalbewußtseins und des Patriotismus“ (Victoria, Zen [wie Anm. 23], S. 31) nennen. Später sollten führende Nazis, auch Hitler selbst, vom Staats-Shinto schwärmen (vgl. Koltermann, Der Untergang [wie Anm. 38], S. 61ff.). 58 Ludendorff, Der totale Krieg (wie Anm. 5), S. 17. 59 Ebd. 60 Konsequenterweise, um den Deutschen ihre art- oder rasseeigene Religion zu geben, begründete Ludendorff dann auch mit seiner Frau Mathilde eine eigene deutsch-völkische Sekte, die Bund für deutsche Gotterkenntnis (auch Ludendorffer oder Ludendorffinaner genannt) hieß. Sie besteht anscheinend bis heute und ist in die neonazistische bzw. Reichsbürgerszene integriert. 61 Spang listet einige Treffen beider auf, die in Haushofers Lebenserinnerungen vermerkt sind (vgl. Spang, Karl Haushofer [wie Anm. 47], S. 454). 62 Karl Haushofer: Aus der Erfahrung des ersten bayerischen Japan-Kommandos. In: Geist des Ostens. Monatsschrift für asiatische Völkerpsychologie 1 (1913), S. 7–16 u. S. 94–108, hier S. 107. 63 Äußerungen von Hitler oder Rudolf Heß legen dies nahe, die sich auf das japanische ‚Vorbild‘ beziehen; Hitler äußerte beispielsweise: „Wir haben überhaupt das Unglück, eine falsche Religion zu besitzen. Warum haben wir nicht die der Japaner, die das Opfer für das Vaterland als das Höchste ansieht?“ (Dieses Zitat ist von Speer überliefert; zit. nach Koltermann, Der Untergang [wie Anm. 38], S. 62). Oder Heß sagte: „Auch wir kämpfen, um den Individualismus zu vernichten. Wir kämpfen für ein neues Deutschland, das auf der neuen Idee des Totalitarismus aufgebaut ist. In Japan ist diese Art zu denken für das Volk völlig natürlich!“ (Zit. nach Victoria, Zen [wie Anm. 23], S. 9). Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020)
176 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse 4. Ernst Jünger und Nitobe Inazō (mit Bezügen zu Nogi Maresuke) Militäranthropologische Überlegungen sind manifest auch bei Ernst Jünger zu finden.64 Mit seinem Hauptwerk Der Arbeiter (1932) versuchte er eine ganz neue Anthropologie zu begründen.65 Vorläufer dieses Arbeiters war der Front- soldat, den Jünger als heldenhafte Figur in seinem bekannten Weltkriegsroman In Stahlgewittern (1920) entwarf und dann vor allem in seinen publizistischen Arbeiten aus den Jahren 1919 bis 1933 als prägende Gestalt weiter führte66, um sie dann in seinem theoretischen Werk Der Arbeiter eben als solchen, als Arbeiter, zu konzipieren. Dieser Arbeiter ist kernhaft als eine zutiefst kriege- rische Gestalt aufzufassen.67 1934 erschien in Jüngers Essaysammlung mit dem ganz unkriegerischen Titel Blätter und Steine sein Essay Über den Schmerz, der, zusammen mit seinem dort wieder abgedruckten anderen Essay Die Totale Mobilmachung68, einen Höhepunkt seines bellizistischen Diskurses bildet. Man sagt zwar, dass Jünger mit diesem Essayband sich entpolitisiert und einer ‚ästhetischen‘ Deutung der Welt zugewendet habe69, aber dies dann doch erst, nachdem er mit diesen beiden Aufsätzen zukunftsweisend, nämlich auf die Endphase des 64 Obwohl Jünger die Materialschlacht am eigenen Leib erfahren hatte, hielt er dennoch den Willen und die innere Kraft des Menschen für stärker als das Material: „Und die Erkennt- nis, daß die innere Kraft dem Material überlegen ist, das ist ein bleibender Gewinn, den wir aus der Materialschlacht, die gerade das Gegenteil beweisen sollte, mit in den Frieden bringen.“ (Jünger, Politische Publizistik [wie Anm. 4], S. 97). Sie ist Geburtsstätte des neuen Kampftypus ‚Frontsoldat‘ bzw. ‚Arbeiter‘ – anders gesagt: „Der Beherrscher der Materie und der Beherrscher seiner selbst, das ist uns der vollkommene Mensch.“ (Ebd., S. 107). 65 Vgl. zu diesem Aspekt bei Jünger unter anderem: Thomas Pekar: ‚Organische Konstruk- tion‘. Ernst Jüngers Idee einer Symbiose von Mensch und Maschine. In: Friedrich Strack (Hrsg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzburg 2000, S. 99–117; Hans-Ulrich Treichel: Beherrschung des Elementaren. Zur Aktualität von Ernst Jüngers „Arbeiter“. In: Ders.: Über die Schrift hinaus. Essays zur Literatur. Frankfurt a. M. 2000, S. 60–63; Carl Wege: Der Kult der Arbeit. Zu Reden und Schriften von Martin Heidegger und Ernst Jünger aus den Jahren 1932/33. In: Ulrich Bröckling und Eva Horn (Hrsg.): Anthropologie der Arbeit. Tübungen 2002, S. 231–240 und Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichts- kritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Berlin, New York 2008. 66 Vgl. z. B. seinen Aufsatz „Revolution und Frontsoldatentum“ aus dem Jahre 1925, wo er den Frontsoldaten als große, kämpferische Figur preist, die, anstelle eine Revolution zu machen, lieber „zu den Freikorps“ geht, „die an der Ostgrenze weiter kämpften.“ (Jünger, Politische Publizistik [wie Anm. 4], S. 58). 67 ‚Gestalt‘ ist bei Jünger etwas Konkretes und Notwendiges, „das notwendige So-und-nicht- anders-Sein des Lebens“ (ebd., S. 491). 68 Dieser Essay war zuerst in Ernst Jünger (Hrsg.): Krieg und Krieger. Berlin 1930 zu finden. 69 Vgl. z. B. Jörg Sader: Das Alphabet der Leidenschaft. Zu Ernst Jüngers Betrachtungen der Vokale und Konsonanten. In: Lutz Hagestedt (Hrsg.): Ernst Jünger. Politik – Mythos. Internationales Ernst-Jünger-Symposium 2002. Berlin u. a. 2004, S. 387–401, hier S. 387. Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse | 177 Zweiten Weltkriegs, auf den realisierten totalen Krieg, hinweisend, diesen Kriegsdiskurs auf die Spitze getrieben hatte. Diesem Essay Über den Schmerz sind zwei Zitate vorangestellt, wobei das hier interessierende Zitat aus Nitobes Bushido-Buch stammt – und zwar zitiert Jünger den englischen Original-Text: „Does a little booby cry for any ache? The mother scolds him in this fashion: ‚What a coward to cry for a trifling pain! What will you do when your arm is cut off in battle? What when you are called upon to commit harakiri?‘“70 Hier taucht also auch wieder harakiri und die damit verbundene besondere japanische Todeseinstellung als Stichwort, als trigger word, auf, um daran anzuknüpfen. Dieses schreckliche Beispiel japanischer Pädagogik ist Jünger in diesem Aufsatz Auftakt für eine ganze Reihe von Japan-Bezügen71: Vor allem kommt er auf den japanischen General Nogi zu sprechen – und gibt damit ein weiteres Beispiel für die intensive westliche Nogi-Rezeption, die von spätestens 1900 bis praktisch in unsere Tage stattfindet72: Noch Roland Barthes sollte ja mit seinem berühmten Japan-Buch L’empire des signes (1970) diesen Nogi-Mythos73 fortspinnen, wenn in ihm Fotos von Nogi und seine Frau am Vortag ihres Selbstmordes zu finden sind, unter die Roland Barthes schreibt: „Ils vont mourir, ils le savent et cela ne se voit pas“ / „Sie werden bald sterben, sie wissen es, und das ist nicht zu sehen.“74 70 Ernst Jünger: Über den Schmerz. In: Ders.: Blätter und Steine. Hamburg 1934, S. 154–213, hier S. 154 u. Nitobe, Bushido (wie Anm. 25), S. 19; die deutsche Übersetzung des Zitats lautet: „Ein kleiner Junge weint vor Schmerz? Die Mutter schilt ihn folgendermassen: ‚Was bist du für ein Feigling! Wer wird um solche Kleinigkeit weinen! Was willst du thun, wenn dem [recte: dein] Arm in der Schlacht abgeschlagen wird? Was, wenn du harakiri begehen sollst?‘“ (Inazo Nitobe: Bushido. Die Seele Japans. Eine Darstellung des japanischen Geistes. Tokyo 1901, S. 21). 71 Andrew Mills stellt in seinem Aufsatz Parallelen zwischen Überlegungen zur totalen Mobilmachung bei Jünger und dem japanischen Militärstrategen und General Ishiwara Kanji fest, allerdings ohne auf konkrete gegenseitige Übernahmen und Beeinflussungen einzugehen (vgl. Andrew Mills: Ernst Jünger and Ishiwara Kanji. A Comparative Exa- mination of the Concept of Total Mobilization for Germany and Japan. In: New German Review 23 [2008], S. 47–63). 72 Zur Nogi-Rezeption im Nationalsozialismus vgl. Koltermann, Der Untergang (wie Anm. 38), S. 97ff. 73 Vgl. dazu unter anderem Pauly, Seppuku (wie Anm. 27), S. 62–65 und Richard Connaught- on: Rising Sun and Tumbling Bear. Russia’s War with Japan. London 2004, S. 205–209. 74 Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a. M. 1981, S. 128f.; Barthes Bemer- kungen über die Gesichter der beiden sind sehr fantasiereich und man könnte sie auch für Japan-Mythologisierungen halten: Barthes hält Nogi für fast gesichtslos („Er, hinter seinem Bart, unter seinem Käppi, in seinem Putz verloren, hat fast kein Gesicht.“); Frau Nogi hin- gegen habe ihr Gesicht behalten, aber es sei, „wie beim travestierenden Schauspieler [...] kein Adjektiv möglich“, es zu beschreiben. „Die Frau des Generals Nogi hat entschieden, daß der Tod der Sinn sei, daß beides sich im selben Augenblick verflüchtige und daß man daher nicht davon ‚sprechen‘ solle – und sei es mit dem Gesicht.“ (Ebd., S. 127). Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020)
178 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse Nogi Maresuke war General in der japanischen Armee, kämpfte schon im Chinesisch-Japanischen Krieg, dann als General im Russisch-Japanischen75 – und wird als ‚Held von Port Arthur‘ bezeichnet.76 Er beging dann am Tage der Beerdigung des Kaisers Meiji, am 13.9.1912, zusammen mit seiner Frau, traditionellen Selbstmord mit dem Schwert, seppuku, was darüber hinaus der mittelalterlichen japanischen Sitte entsprach, dem Gefolgsherrn in den Tod zu folgen, was junshi (Treuetod) genannt wird.77 Die wichtige strategische Hafenstadt Port Arthur (heutiger Name: Lüshunkou und heute ein Stadtbezirk der chinesischen Hafenstadt Dalian)78 wurde im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von Japan erobert, aber auf Druck einiger westlicher Mächte, an China zurückgegeben.79 Russland setzte gegenüber dem geschwächten China durch, die Stadt und Teile der Halbinsel Liaodong zu pachten, worauf im Russisch-Japanischen Krieg japanische Truppen Port Arthur belagerten, um es schließlich unter äußerst verlustreichen Kämpfen Anfang 1905 zu erobern. Bei der Belagerung von Port Arthur vom August 1904 bis zum Januar 1905 fielen ca. 15.000 Russen, allerdings 94.000 bis 110.000 Japaner. Diese enormen Verluste der Japaner hatten vor allem zwei Gründe: neue technische Waffenentwicklungen, vor allem das Maschinenge- wehr, kamen zum Einsatz; ein regelrechter Grabenkrieg wurde geführt wie er dann im Ersten Weltkrieg bestimmend sein sollte.80 Zum anderen bestand Nogis Strategie – wenn man das überhaupt so nennen will – hauptsächlich darin, seine Soldaten in Frontalangriffen gegen die russischen Maschinengewehrstellungen 75 Von 1908 bis zu seinem Tod 1912 war er Präsident der Gakushūin Adelsschule (der späteren Gakushūin Universität), wo er Erzieher von Hirohito, dem späteren Kaiser war (ab 1926; heute unter seinem posthumen Titel als Kaiser Showa bekannt). 76 Faktisch wurde er vor der Einnahme Port Arthurs als Oberbefehlshaber wegen seiner ver- heerenden Angriffsoperationen, die insgesamt rund 56.000 Japanern das Leben kostete, abgelöst. Deswegen wollte sich Nogi bereits nach der Siegesparade umbringen, aber der Kaiser habe ihm befohlen, damit bis zu seinem Tod zu warten (vgl. Koltermann, Der Untergang [wie Anm. 38], S. 100). 77 Diese traditionellen Selbstmorde erregten im sich modernisierenden Japan großes Auf- sehen (vgl. Carol Gluck: Japan’s Modern Myths. Princeton 1987); vgl. zum junshi auch Hearn, der es „following of one’s lord in death“ (Hearn, Japan [wie Anm. 34], S. 313) nennt. Zum Einfluss von Nogi auf wichtige japanische Schriftsteller wie Mori Ōgai und Natsume Sōseki vgl. Doris G. Bargen: Suicidal Honor. General Nogi and the Writings of Mori Ōgai and Natsume Sōseki. Honolulu 2006. 78 Gegenwärtig ist der Hafen einer der wichtigsten Marinestützpunkte Chinas. 79 Bei dieser sogenannte ‚Drei-Mächte-Intervention‘ oder ‚Intervention von Shimonoseki‘ setzten sich Russland, Deutschland und Frankreich für die Rückgabe der Halbinsel Liadong an China ein. Japan gab nach, empfand diese Intervention aber als große Zu- rücksetzung. 80 In vieler Hinsicht kann der Russisch-Japanische Krieg als Vorgriff auf die Weltkriege gesehen werden, weshalb er oft als „World War Zero“ bezeichnet wird (vgl. z. B. Steinberg, The Russo-Japanese War [wie Anm. 14]). Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse | 179 laufen zu lassen81; deshalb die hohen japanischen Verluste. So forderte etwa die Einnahme eines kleinen Hügels, von dem aus man den Hafen übersehen konnte, ca. 20.000 japanische Tote; unter ihnen befand sich auch der zweite Sohn Nogis (den ersten hatte er bei einer anderen Schlacht dieses Krieges kurz zuvor verloren). Diese Frontalangriffe sind als selbstmörderische Kriegseinsätze anzuse- hen. Ein japanischer Offizier, der über diesen Krieg ein Tagebuch führte und später publizierte, Sakurai Tadayoshi, hat diesem bezeichnenderweise den Titel Niku-dan gegeben, ins Deutsche dann als ‚Menschenopfer‘ übersetzt82, was aber nicht ganz richtig ist, denn ‚niku‘ heißt ‚Fleisch‘ und ‚dan‘ Kugel; also wäre von ‚Fleischkugeln‘ zu sprechen, aber von Menschen als diese lebendigen ‚Fleischkugeln‘. Diese Angriffe sind von derselben todesverachtenden Bushido-Ideolgie bestimmt, die dann auch die selbstmörderischen Kamikaze-Einsätze aus der Endphase des Pazifikkriegs bestimmen sollte.83 Bezeichnenderweise thematisierte Jünger in seinem Essay, nach der Erwähnung Nogis, das Beispiel einer solchen selbstmörderischen japanischen Waffe. Er schreibt (und das bereits 1934): Vor kurzem ging die Nachricht über einen neuen Torpedo durch die Zeitungen, der in der japanischen Kriegsmarine entwickelt werden soll. Das Erstaunliche an dieser Waffe liegt darin, daß sie nicht mehr durch mechanische, sondern durch menschliche Kraft gesteuert wird, und zwar durch einen Steuermann, der in eine kleine Zelle eingeschlossen ist, und den man zugleich als ein techni- sches Glied und als die eigentliche Intelligenz des Geschosses betrachten kann. Der Gedanke, der dieser seltsamen organischen Konstruktion zugrunde liegt, treibt das Wesen der technischen Welt ein wenig vor, indem er den Menschen 81 Allerdings wurde diese ‚Strategie‘ des Frontalangriffs weithin auch im Ersten Weltkrieg sowohl von deutschen als auch alliierten Kommandeuren eingesetzt. Nach der treffenden Bemerkung des britischen Strategen Liddell Harts wurde allerdings „die Theorie der griechischen Phalanx, die sich auf die Masse stützt, [...] durch das Maschinengewehr widerlegt.“ (Zit. nach Heuser, Den Krieg denken [wie Anm. 1], S. 219f.). 82 Vgl. Tadayoshi Sakurai: Niku-dan: Menschenopfer. Tagebuch eines japanischen Offiziers während der Belagerung und Erstürmung von Port Arthur. Freiburg 1911; vgl. auch die englische Übersetzung Human Bullets (Tadayoshi Sakurai: Human Bullets. A Soldiers Story of Port Arthur. Boston, New York 1907); zum deutschen Übersetzer, Albert Schinzinger, der ein Onkel des in Japan lehrenden Philosophen und Germanisten Robert Schinzinger war, vgl. Rolf-Harald Wippich: Ein (fast) vergessener Japan-Deutscher: Albert Schinzinger (1856–1926) – Artillerieoffizier, Krupp-Vertreter, japanischer Honorarkonsul und Geschäftsmann. In: OAG Notizen 6 (2014), S. 10–22. 83 Dementsprechend heißt niku-dan auch ein japanischer Film von 1968, der das Schicksal eines Kamikaze-Piloten aus dem Zweiten Weltkrieg zum Thema hat (produziert von Okamoto Kihachi; engl. Titel: The Human Bullet). Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020)
180 | Thomas Pekar: Japanische Kriegsdiskurse selbst und zwar in einem buchstäblicheren Sinne als bisher, zu einem ihrer Bestandteile macht.84 Was Jünger hier anspricht, sind die sogenannten kaiten (was soviel wie ‚Rückkehr in den Himmel‘ heißt) Torpedos, die die Japaner in der Endphase des Zweiten Weltkrieges bei selbstmörderischen Angriffen auf US-Kriegsschiffe dann tatsächlich auch einsetzten85; im Gegensatz zum Mythos der Kamika- ze-Piloten86 ist aber über diese U-Boot-Fahrer im Westen nur wenig bekannt, deren Verabschiedung zu ihren Einsätze in Japan genauso rituell zelebriert wurde wie die der Piloten.87 Es geht also um die Idee des intelligenten Geschosses, heute als Marsch- flugkörper/Cruise Missile verwirklicht88, wobei früher in Ermangelung des Computers der Mensch die Steuerung übernehmen sollte – allerdings um den Preis seines Lebens, als Teil der organischen Konstruktion. Das ist also die Realisierung des, um es mit Jünger zu sagen, „menschlichen Geschosses“89 – die Weiterentwicklung dieser ‚Niku-Dan-Idee‘. Es ist immer wieder derselbe Punkt, auf den sich hier Jünger in Hin- sicht auf ‚Japan‘ konzentriert: In der Hingabe des eigenen Lebens, sei es in den selbstmörderischen von Nogi befohlenen Kriegseinsätzen, die zum Tode tausender Soldaten, unter ihnen seine beiden Söhne, führten90; sei es in Nogis 84 Jünger, Über den Schmerz (wie Anm. 70), S. 173f. 85 Vgl. Richard O’Neill: Suicide Squads. Axis and Allied Special Attack Weapons of World War II. New York 1981, S. 256. 86 Auf die späteren Kamikaze-Piloten verweist Jünger ebenfalls schon in seinem Essay, wo es heißt: „So lassen sich etwa Flugzeuge als Lufttorpedos konstruieren, mit denen man aus großer Höhe im gezielten Absturz die Lebensknoten des feindlichen Widerstandes zerstört.“ (Jünger, Über den Schmerz [wie Anm. 70], S. 174). 87 In Japan gibt es ein Kaiten Memorial Museum auf der Insel Ōtsushima (die zur Stadt Shūnan in der Präfektur Yamaguchi gehört), wo auch die Abschussbasis dieser Torpedos zu besichtigen ist; vgl. http://www.kamikazeimages.net/museums/kaiten/index.htm [letzter Zugriff 15.9.2019]. 88 Mit Cruise Missiles vergleichbare sich selbst steuernde Torpedos scheint es allerdings noch nicht zu geben. 89 Jünger, Über den Schmerz (wie Anm. 70), S. 174f.; in der Erstausgabe macht Jünger zum Ausdruck „Idee des menschlichen Geschosses“ diese Anmerkung: „Die freilich unserem Ethos durchaus widerspricht. Außerdem müssen wir noch stärker sein.“ Was bedeutet dieser zweite Satz? Eine einigermaßen enigmatische Bemerkung. In der Ausgabe der Sämtlichen Werke Jüngers fehlt diese Anmerkung; stattdessen ist hier dieser gesamte Absatz zusätzlich eingefügt: „Freilich ist unser Ethos nicht auf solche Verhaltungsweisen angelegt. Sie tauchen höchstens in nihilistischen Grenzsituationen auf. In einem der Ro- mane Joseph Conrads, der die Umtriebe russischer Revolutionäre in London schildert und in vieler Hinsicht prophetische Züge enthält, tritt ein Anarchist auf [...].“ (Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 7. Stuttgart 1980, S. 161). 90 Und Jünger schreibt dazu, dass Nogi, den er für „eine der sehr wenigen Gestalten unserer Zeit“ hält, „auf die man das Wort Held, ohne es zu schänden anwenden kann“, die Nachricht, Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LII – Heft 2 (2020) Peter Lang
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