How soon is now? Zeitmaschinen und Zeitreisen in den "Tiny Tales" von Florian Meimberg - Ingenta Connect

Die Seite wird erstellt Fritz Scherer
 
WEITER LESEN
penZeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 395–412
Massimo Salgaro

How soon is now?
Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian
Meimberg

I. Einleitung. In einem vor kurzem in der Zeit erschienenen Artikel1 wird ein äußerst
merkwürdiges und besorgniserregendes Institut der Universität Cambridge vorgestellt,
nämlich das sogenannte „Institut zur Erforschung des Endes der Welt“ (Center for the
Study of Existential Risk). In dieser Forschungseinrichtung arbeiten Biologen, Politikwis-
senschaftler, Physiker, Anthropologen und Ökonomen zusammen, um Regierungen und
Privatunternehmen in überlebenswichtigen Themen wie Welternährung, Klimawandel
und Kriegsszenarien zu beraten.

       Jedes Mal kommt dabei eine Fülle dystopischer Zukunftsszenarien zusammen: Biowaffen etwa, die
       von kleinen Fanatikergruppen entwickelt werden, […] Hungersnöte durch den Zusammenbruch
       von Ökosystemen. Neuartige Gefahren durch das Verschmelzen von Menschen und Maschinen.
       Totalitäre Systeme, die Menschen Gehirnchips einpflanzen oder ihren freien Willen durch neu-
       rochemische Substanzen außer Kraft setzen.2

Wie man aus dem eben Genannten herauslesen kann, hängen viele dieser Untergangsszena-
rien mit technologischen Entwicklungen zusammen – so „Killerdrohnenschwärme, Amok
laufende Soldatenroboter und vollautomatische Hackerprogramme“.3
   Das 2012 vom Astrophysiker Martin Rees ins Leben gerufene Institut könnte in einer
fast zeitgleich erschienenen Erzählsammlung, nämlich Florian Meimbergs Tiny Tales. Sehr
kurze Geschichten. Auf die Länge kommt es an (2011), zahlreiche Inspirationen bzw. Anlässe
zur Besorgnis finden. In Meimbergs Erzählsammlung wird – in der komprimierten Form
von Tweets – von abenteuerlichen Reisen in Raum und Zeit berichtet, wobei das Ergebnis
stets katastrophal ist: entweder eine handfeste Tragödie oder gleich der Untergang der
Menschheit.4 Es handelt sich um Texte, die im Internet – genauer: bei Twitter – entstanden
sind und denen erst später zur Buchform verholfen wurde. Darin wechseln sich vorsint-
flutliche und postapokalyptische Szenarien ab und führen den Lesern die Fragilität ihrer
Existenz vor Augen.5

1 Fischermann (18.2.2021, 28).
2 Fischermann (18.2.2021, 28).
3 Fischermann (18.2.2021, 28).
4 Der Untergang der Menschheit ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Thema der dysto-
  pischen Literatur, vgl. Christopher (1956), Aldiss (1964), James (1992).
5 Dieses immerwährende Gefühl einer bevorstehenden Tragödie ist am besten durch drei Texte der Tiny Tales
  (im Folgenden unter der Sigle TT, nachgewiesen) belegt, die auf der gleichen Seite erscheinen (TT, 88) und eine
  Vergiftung, einen Giftgas- sowie einen Bombengürtelanschlag beschreiben. Dass die Obsession für apokalyp-
  tisches Denken für mehrere Phasen des westlichen Denkens prägend ist, zeigte bereits Kermode (1966).

© 2022 Massimo Salgaro - http://doi.org/10.3726/92171_395 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung
4.0 Internationalen Lizenz            Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
396 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

II. Das Posthumane: Androide, Aliens und Medien. Die Vorstellung einer Welt nach der
Vernichtung des Menschen hat in jüngerer Zeit durch die Reflexionen zum ‚Posthumanen‘
neue Aufmerksamkeit gewonnen. Rosi Braidotti ist eine der eminenten Theoretikerinnen
des ‚Lebens nach dem Individuum, der Spezies, dem Tod‘, wie der aus dem Italienischen
übersetzte Untertitel ihres dem Posthumanen gewidmeten Buches verdeutlicht.6 Für Brai-
dotti ist das ‚Posthumane‘ keine neue Kategorie; vielmehr stellt es eine Herausforderung
dar, um traditionelle Modelle des Lebens, der Wirtschaft, des Körpers und der Gesell-
schaft neu zu überdenken. Dabei wird das klassische Ideal des Menschen als ‚Maß aller
Dinge‘, welches von der italienischen Renaissance im vitruvianischen Menschen Leonar-
dos versinnbildlicht wurde, kritisch hinterfragt. Dieser Mensch stellte ein ethisches, äs-
thetisches und intellektuelles Idealbild dar. Im Laufe der Entwicklung des Ideals hat auch
die Aufklärung die rationalen Fähigkeiten dieses selbstentworfenen Subjekts verherrlicht.
   Die Krise des Menschlichen und des darauf gründenden Humanismus sind, laut Braidotti
nur zum Teil mit der rasanten technologischen Entwicklung der letzten Jahre verbunden
gewesen. Bereits in den sechziger Jahren wurde das Ideal vom Podest gestoßen und von Phi-
losophen wie Jacques Derrida und Luce Irigaray dekonstruiert.7 Man räumte ein, dass dieses
angeblich natürliche Ideal ein historisches Konstrukt gewesen sei und folglich kontingent.
Jener ideale Mensch hatte charakteristische Züge angenommen – nämlich „weiß, europä-
isch und schön“ –, die ihn aus Braidottis Perspektive als „Macho seiner Spezies“ erscheinen
lassen. Auch aus postkolonialer Sicht erscheint die Hautfarbe dieses perfekten Menschen
problematisch. Der angeblich durch Vernunft gekennzeichnete Mensch hat im Laufe der
Geschichte zudem viel Bedenkliches unternommen. Nach Kolonialismus, Auschwitz und
Hiroshima drängt sich die Hinterfragung der moralischen Perfektion dieses Ideals auf.
   Für Braidotti lassen sich ethische Fragestellungen in der heutigen Welt, die von Robotern
und artifizieller Intelligenz beherrscht ist, nicht mehr wegdenken. Die Unterscheidung
zwischen Maschine und Mensch, zwischen Natur und Kultur ist durch die modernsten
Implantate und durch Cyborgs nicht mehr gewährleistet. Über Schnittstellen, Interfaces,
werden Hardware und biologischer Körper vernetzt.8 In einer solchen Welt erfolgt Inter-
subjektivität nicht mehr nur zwischen Menschen, sondern auch durch Avatare zwischen
künstlichen und natürlichen Wesen.9
   Nanotechnologien, Biotechnologien, Informatik und Kognitionswissenschaften versu-
chen, diese neue Welt wissenschaftlich zu durchforsten. Durch die Biotechnologien kann
der Mensch auch in das Genom anderer Lebewesen und Menschen eingreifen. Das im
Labor produzierte Schaf „Dolly“ ist dafür ein Paradebeispiel. Diese wissenschaftlichen
Errungenschaften werden vom Spätkapitalismus in gigantischem Ausmaß umgesetzt
und zur Ausbeutung der Natur und Mitmenschen missbraucht. Wer aber soll für die
mächtigen und allgegenwärtigen ‚artifiziellen‘ Wesen, die unsere Welt beherrschen, zur

6   Vgl. Braidotti (2014).
7   Vgl. Braidotti (2014, 32 f.).
8   Braidotti (2014, 155).
9   Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine und zwischen Menschen in virtuellen Dimensionen wird dabei
    immer häufiger. In dieser „empathy in computer-mediated communication“ wird unsere körperliche Präsenz
    von einem Avatar ersetzt (Pinotti [2011, 170]).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg | 397

Verantwortung gezogen werden: der Ingenieur, der Programmierer, der Hersteller oder
gar die Bedienungsperson?10
    Die neue historische Phase verlangt laut Braidotti einen „Postanthropozentrismus“, in
dem das Leben nicht mehr als Recht einer einzigen Spezies angesehen werde. Stattdessen
soll es nicht nur als menschliches Leben qua bíos anerkannt werden, sondern als zoé, die
sowohl menschliches als nicht-menschliches Leben einschließt.11 Das von menschlichen
Idealen gesegnete Anthropozän hat sich als eine tödliche Gefahr und ein selbstdestrukti-
ves Projekt erwiesen: Es legitimierte das Beuteschema des Kapitalismus, das zur aktuellen
Klimakrise geführt und die Nachhaltigkeit des menschlichen Lebens in Frage gestellt hat.
    Das Thema der Vernichtung der Menschheit ist in Film und Literatur popularisiert wor-
den. Für das Publikum ist dieses Motiv sowohl reizend als auch abschreckend.12 Braidottis
radikaler Essay liefert den anthropologischen Hintergrund für Meimbergs Text. Aber er
scheint auch dessen literarische Strategien vorzuzeichnen. Der Übergang vom bíos-zen­
trierten Verständnis des Lebens zur zoé verlangt für Braidotti „eine Art von Entfremdung
und Neupositionierung“ des Menschen.13 Das beste Mittel dafür sei die „Strategie der
Verfremdung“ und eine „aktive Deterritorialisierung“. Wie ich in den nächsten Abschnitten
zeigen werde, zeichnen sich auch Meimbergs minimalistische Erzählungen vor allem durch
Deterritorialisierung in eine unbekannte Raum-Zeit-Dimension aus.
    Meimbergs Mikroszenarien verweisen zudem auf andere Modelle, die mit einem neuen
Zeitverständnis in Zusammenhang stehen. Das Zeitempfinden unserer digitalen Welt
wurde von Douglas Rushkoff in Present Shock: When Everything Happens Now beleuchtet.
Die digitalen Technologien haben die Zeitwahrnehmung unserer Gesellschaft verändert,
indem sie die Gegenwart ins Zentrum unseres Horizonts gesetzt haben. Diese extreme
Fokussierung auf die Jetzt-Zeit hat auch für unser kognitives System unvermeidbare Folgen:
Dessen Umstrukturierung erlaubt uns nicht mehr, wie früher, linearen Argumentationen
zu folgen, Pläne zu entwerfen, langatmige Narrative in der Geschichte aufzubauen oder zu
rekonstruieren, ja überhaupt nicht, sich auf etwas zu konzentrieren. Wir leben einen „pre-
sent shock“,14 in dem Zeit eine von der Technik und den Medien dominierte Dimension
ist. Der Schock ist eine Folge der Dissonanz zwischen unseren digitalen Identitäten und
unserem analogen Selbst.
    Durch diese mediale Wende hat sich für Rushkoff die heutige Gesellschaft von der
Tyrannei der Vergangenheit befreit; Erinnerung erfolgt nicht mehr in unserem Gedächt-
nis – sei es das individuelle oder das kollektive –, sondern ist an die Computer übergeben
worden, wo sie, mit Milliarden anderer Bits, als Information gelagert wird.15 Die ‚Jetztzeit‘,
die diese Lebensweise dominiert, ist nicht die, die man gerade erlebt, sondern die, die
gerade vergangen ist und in den sozialen Medien publik gemacht wird.16 Twitter ist einer

10 Vgl. Braidotti (2014, 52).
11 Vgl. Braidotti (2014, 68).
12 Vgl. Braidotti (2014, 72).
13 Braidotti (2014, 72).
14 Rushkoff (2014, 4).
15 Vgl. Rushkoff (2014, 5). Suchmaschinen, durch die eine Unmenge an Informationen abrufbar wird, kommen
   natürlich auch in den Tiny Tales vor (TT, 33, 95).
16 Vgl. Rushkoff (2014, 6).

Peter Lang                                                     Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
398 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

der Protagonisten dieses neuen globalen Verhaltensschemas; der Dienst stellt sich selbst vor
als das soziale Netzwerk, das „alles, was gerade los ist“, registriert.17 Rushkoff allerdings
betont vehement, dass das chronologische Jetzt und das digitale von Twitter nicht überein-
stimmten: Was ‚jetzt‘ für Twitter ist, ist streng genommen schon vergangen.18 Die digitale
Zeit ersetzt somit die chronologische Zeit. Das digitale Universum ist stets auf dem letzten
Stand: Es tauchen immer neue News auf, Trends, E-Mails, Posts, die der User lesen muss.19
Diese Eingaben strapazieren unser Konzentrationsvermögen und drängen uns eine digitale
Realität auf, die immer anderswo passiert.20
   Die Zeitreisen, die so charakteristisch für Meimbergs Erzählungen sind, erscheinen
Rushkoff als soziales Phänomen. Als „digiphrenia“ wird die Tendenz der Medien und
Technologien betrachtet, zeitgleich an mehreren Orten im Netz aktiv zu sein. Es ist eine
Pathologie des Digitalen, weil „phrenia“ einen gestörten Geisteszustand bezeichnet, in dem
die körperliche Präsenz und die ubiquitäre digitale Präsenz nicht harmonieren.21
   Aber auch andere Phänomene der Poetik Meimbergs finden in Rushkoffs Modell eine
Erklärung. Als „overwinding“ beschreibt er die in vielen Texten der Tiny Tales zu erkennende
Tendenz, große Zeitspannen in deutlich kleinere zu zwängen.22 „Apocalypto“ benennt
eine zeitgenössische Tendenz der Kunst und der Medien, apokalyptische Visionen darzu-
stellen. Symptomatisch für „apocalypto“ wären TV-Serien wie The Walking Dead, die die
Menschheit in eine Zombiewelt umsiedeln, in der diese zu grundlegenden Fragestellungen
des menschlichen Lebens gezwungen wird. Andere dystopische Visionen prophezeien die
Ersetzung biologischer Wesen durch künstliche. Technologie ist zwar ein Produkt des
Humanen, aber es kann sich verselbständigen und so ein Feind des Menschen werden.
Auch die hier analysierten Texte von Florian Meimberg können dieser Tendenz zugerechnet
werden. Laut Rushkoff dienen solche tragischen Narrative, die den Weltuntergangsmythen
der Religionen stark ähneln, als Fluchtweg, um der unendlichen Spannung der digitalen
Gegenwart zu entfliehen. Die apokalyptischen Visionen bieten einen Ausgang aus der
prekären Welt des „present shock“.23
   Zeitreisen, Deterritorialisierung, Auflösung von Vergangenheit und Zukunft in einer
digitalen Gegenwart, die zeitgenössische Denker wie Braidotti und Rushkoff beschreiben,
sind nicht nur gegenwärtige Phänomene, sondern auch Phänomene, die wir in den narrativen
Strategien von Meimbergs Texten wiederfinden.24 Wie bereits angedeutet, entwerfen seine
Texte oft eine dystopische oder tragische Zukunftsvision, von der aus unsere Gegenwart wie

17 „Narrativity and goals are surrendered to a skewed notion of the real and the immediate; the tweet, the status
   update. What we are doing at any given moment becomes all-important − which is behavioristically doomed.
   For this desperate approach to time is at once flawed and narcissistic” (Rushkoff [2014, 6]).
18 Vgl. Rushkoff (2014, 142).
19 Vgl. Rushkoff (2014, 73 f.). Unser Zeitempfinden wird also von den Medien abhängig, die einen ständigen
   Informationsfluss liefern: „stored data and flows of data“ (Rushkoff [2014, 141]).
20 Vgl. Rushkoff (2014, 86).
21 Vgl. Rushkoff (2014, 75).
22 Vgl. Rushkoff (2014, 7).
23 Vgl. Rushkoff (2014, 247).
24 Elias Kreuzmair zeigt, dass die Kultur der Digitalität einer bestimmten Zeitwahrnehmung bedarf, vgl. Kreuz-
   mair (2019, 62−66).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                  Peter Lang
Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg | 399

ein historisches Perfekt erscheint. Das erzeugt Verfremdungseffekte, wie bereits Anne-Rose
Meyer in ihrer Kategorisierung der Tiny Tales reflektiert hat.25 Meimbergs Geschichten
lassen sich ihr zufolge in sechs Kategorien unterteilen, von denen mindestens drei mit
der Auflösung der üblichen Raum-Zeitkoordinaten in Zusammenhang gebracht werden
können: „Immer wieder wird mit zeitlichen Paradoxien gespielt“.26
   Tatsächlich scheinen die Mikrogeschichten die Grenzen zwischen Zukunft und Gegen-
wart verwischt zu haben. Die Poetik der Tiny Tales hat etwas mit den Codes der Compu-
terprogramme gemeinsam: Auch diese sind in der Gegenwart geschrieben, enthalten aber
eine Formel, die unsere Zukunft vorschreibt.27

III. Verfremdungseffekte und Basisemotionen in den Titeln der „Tiny Tales“. Der Titel der
Sammlung von Florian Meimberg –Tiny Tales. Sehr kurze Geschichten. Auf die Länge
kommt es an – ist auffallend redundant. „Tiny Tales“ sind doch ‚sehr kurze Geschichten‘,
nur auf Englisch ausgedrückt. Zu Recht wurden sie von Carmen Pförtner als „espressoar-
tige Geschichten“28 definiert. Warum wird also die Definition dieser Geschichten im Titel
dupliziert? Es ist sogar eine Verdreifachung, weil der Haupttitel noch einmal ironisch auf
das Format verweist, indem er betont: „Auf die Länge kommt es an.“ Im Gegensatz zur
angeblichen Fokussierung auf Stringenz ist dieser Titel auffallend lang; man könnte ihn
sogar als barocken Titel bezeichnen. Und warum soll man in einem Titel, in dem es auf
die Länge ankommt, drei Mal ein ähnliches Konzept wiederholen und somit den ausge-
drückten Begriff geradezu konterkarieren?
   Diese Duplikation ist jedoch keineswegs belanglos, weil sie eine semantische Spannung
im Inneren dieser Titel schafft. ‚Kurz‘ und ‚lang‘ sind die Pole dieses auf mehrere Zeilen
gedehnten Oxymorons. Im Titel ist, wie wir in den nächsten Absätzen sehen werden, das
Rezept der Erzählsammlung bereits irgendwie vorgegeben. Dass dieses Oxymoron nicht
zufällig ist, zeigt auch die Struktur der siebzehn Kapitel der Sammlung, die ihrerseits
betitelt sind. Bezogen auf den Titel des ersten Kapitels – „Anfang“ – lautet der Titel des
16. Kapitels „Ende“. Dem Titel des zweiten Kapitels, „Lüge“ erwidert der Titel des neunten:
„Wahrheit“. Das fünfte Unterkapitel heißt „Leben“, ihm wird im 14. Kapitel der „Tod“
semantisch gegenübergestellt. Andere semantische Oppositionen finden wir zwischen
„Glück“ und „Pech“, „Hass“ und „Liebe“, aber auch zwischen „Irrtum“ und „Täuschung“
und der bereits zitierten „Wahrheit“. Die Sekundärliteratur hat bereits auf die Zirkularität
dieser Kapitel hingewiesen.29
   Der literarische Titel lenkt immer die Erwartungshaltung des Lesers. Die oxymorische
Strukturierung der Titel und der Kapitelüberschriften zeigt, dass in Tiny Tales die Erwar-
tungen des Lesers nicht erfüllt werden. Oft wird er ausgetrickst. Die Titel bereiten auf diese
destabilisierende Rezeption vor, indem sie wie Warnschilder wirken, für: „Überraschung“,
„Täuschung“, „Irrtum“. Wie noch zu zeigen sein wird, beeinflussen die Titel sowohl die

25   Vgl. Meyer (2013, 166−169).
26   Meyer (2013, 168).
27   Rushkoff (2014, 259 f.).
28   Pförtner (29.10.2011).
29   Vgl. Nicoli (2016, 108).

Peter Lang                                                  Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
400 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

Gedanken als auch die Stimmungen und Emotionen der Leser. In seinem Vorwort zur
Sammlung hat Sasha Lobo zu Recht auf diesen Umstand hingewiesen: „Aber was, wenn
die wichtigste Zutat zu einer Geschichte gar nicht die Geschichte selbst wäre? Sondern das,
was sie in uns auslöst?“ (TT, 7)
   Die augenscheinliche äußerst kompakte Struktur lenkt die verfremdete Rezeptionshal-
tung des Lesers.30 In den Mikrotexten werden ein bekanntes Thema, Motiv, eine Geschichte
aufgerufen – dies bezeichnet man in der Kognitions- und Erzählforschung als ‚Frame‘ –,
um im Leser eine Erwartungshaltung, die systematisch enttäuscht wird, aufzubauen. Ein
‚Frame‘ ist eine Datenstruktur zu einer stereotypen Situation; der Begriff wurde in die
Narratologie von Umberto Eco eingeführt. Eco erläuterte das Konzept des ‚Frames‘ am
Beispiel des ‚Supermarkts‘: Der Leser muss wissen, dass man im Supermarkt Lebensmittel
kaufen kann und keine Autos, um die Verfremdung zu erkennen.31 Die Verfremdung eines
Elements setzt immer dessen Familiarität voraus.
   In Meimbergs Poetik werden bekannte Elemente ständig in neue Kontexte gesetzt und
somit verfremdet. Wie wir in den Titeln beobachten konnten, implizieren die Oxymora die
Verfremdung der in den Titeln zitierten Konzepte. Die ästhetische Strategie schlägt sich auf
die Kognition des Lesers nieder, indem sie die festen Assoziationen auflöst und einen Per­
spektivwechsel ermöglicht. Besonders auffällig ist das, wenn die Texte bekannte historische
Persönlichkeiten, Prominente, vertraute Geschichten bzw. Mythen der Weltliteratur oder der
Bibel zitieren, weil sie auf den Leser durch ihre Vertrautheit und durch die Annehmlichkeit
des Wiedererkennens wirken. Direkt proportional dazu ist der Überraschungseffekt in
dem Moment, wo sie in einem unerwarteten Kontext und Licht erscheinen. In Meimbergs
Narrativen geht es um einen Objektivierungsprozess, in dem das Noch-Nicht, das Utopi-
sche dieser möglichen Wirklichkeit, enthüllt wird. In die Erzählungen sind uns bekannte
Elemente montiert, die ‚Frames‘ unserer Kognition, und ihre Kombination lässt mögliche,
d. h. utopische oder dystopische Realitäten aufscheinen.32
   Damit die Titel ihren Verfremdungseffekt ausüben können, müssen sie zuallererst unsere
Aufmerksamkeit auf sich lenken. Diese Aufmerksamkeitssteuerung, die so typisch für un-
sere Navigation im Netz ist, wird durch affektiv besetzte Wörter in den Titeln garantiert.
Die Titel der jeweils in einem Kapitel zusammengestellten Tiny Tales bestehen aus einem
Wort, das meistens überdurchschnittlich emotional geladen ist.33 Als Werbefachmann und
Autor von erfolgreichen Tweets versucht Florian Meimberg, seine Leser durch die Titel
auch gefühlsmäßig zu beeinflussen.

30 Sandra Annika Meyer zeigt, dass die Kürze von Meimbergs Texten die Leseraktivierung fördert. Vgl. Meyer
   (2019, 236−240).
31 Vgl. Eco (1983, 80).
32 Für einige zeitgenössische Autoren ist es gerade Aufgabe der Literatur, uns vor der Zerstörung des Anthropozäns
   retten, vgl. Ehrenreich (2020), Benedetti (2021).
33 Um die emotionale Valenz der Titel zu analysieren, haben wir die „Berlin Affective Word list“ benutzt, in der
   tausende von deutschen Wörtern gesammelt und deren emotionale Valenz bestimmt wurde. Die Valenzwerte
   liegen immer zwischen -3 und +3, je nachdem ob das Wort als positiv oder negativ klassifiziert wurde. In der
   Folge die Valenzwerte der folgenden Titel der Tiny Tales, die immer dem Höchstwert +/-3 nahe sind: Angst: -2,6;
   Glück: 2,62; Hass: -2,29; Liebe: 2,9. Vgl. Võ u. a. (2009).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                   Peter Lang
Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg | 401

   Die Emotionen dieser Twitteratur scheinen nämlich genauestens kalkuliert, wie man aus
einer Beobachtung des ‚Sentiments‘ – d. h. der Gefühle oder Stimmung – der Titel ablesen
kann. Der Psychologe Paul Ekman hat die menschlichen Emotionen auf sieben Basis-Emo-
tionen reduziert: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung.
Nicht zufällig drücken drei Kapiteltitel der Tiny Tales explizit Ekmans Grundgefühle aus,
nämlich Angst (TT, 61), Überraschung (TT, 71); andere Titel wie Hass (TT, 81) und Glück
(TT, 112) stehen in Zusammenhang mit der Basisemotion ‚Wut‘ bzw. ‚Freude‘. Auch der
Titel Liebe (TT, 153) verweist, obwohl er nicht als Ekman’sche Basisemotion vorkommt,
auf eine große emotionale Ergriffenheit. Es ist plausibel, dass ein so effektbewusster Autor
wie Meimberg sich durch die Tweets auch einen Effekt auf die Grundgefühle seiner Leser
erhoffte.
   Um zu sehen, ob die Grundgefühle der Titel dem ‚Sentiment‘ der in diesen Kapiteln
enthaltenen Texte entspricht, muss man eine sogenannte Sentiment-Analyse34 der folgenden
Kapitel – Angst (Kapitel 6, TT, 63–68), Überraschung (Kapitel 7, TT, 72–79), Hass (Kapitel 8,
TT, 82–88), Glück (Kapitel 11, TT, 112–118) –, die zugleich Basisemotionen ausdrücken,
durchführen. Die Sentiment-Analyse misst die statistische Häufigkeit des emotionalen
Wortschatzes in den genannten Kapiteln im Vergleich zu den anderen Kapiteln. Wir haben
für diese Analyse „Sentiart“35 benutzt – ein Standardinstrument für die Sentiment-Analyse
in deutschen Korpora.36 Es folgt das Diagramm der Ergebnisse (Abb. 1):

              Abb. 1: Ergebnis der Sentiment-Analyse von Kapiteln der Tiny Tales mit Sentiart.

34 Die Sentiment Analysis hat sich aber in den letzten Jahren auch in der Literaturforschung als nützliche Methode
   durchgesetzt, vgl. Rebora (2020, 209−231), Zehe u.a. (2017).
35 Entwickelt von Jacobs (2019).
36 Die Sentimentanalyse wurde von Simone Rebora ausgeführt.

Peter Lang                                                           Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
402 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

Die Ergebnisse zeigen, dass die in den vier Kapiteln angegebenen Basisemotionen (linke
Spalte) tatsächlich im Vergleich zum Durchschnitt derselben Basisemotion in den anderen
Kapiteln (rechte Spalte) überwiegen. Dies zeigt, wie akkurat die Titelsetzung der Tiny Tales,
auch in Bezug auf die emotionale Valenz der Texte, ist.
   Bei der Basisemotion „happiness“ ist diese Überzahl nur minimal.37 Das darf aber nicht
verwundern in einer auf apokalyptische Motive fokussierten Erzählsammlung, die also vor
allem negative und tragische Fakten beschreibt. Diese Daten zeigen, dass die Einteilung
der Tweets in den unterschiedlichen Kapiteln kohärent war und dem Sentiment der Titel
entspricht. Titel wie „Überraschung“ oder „Angst“ synthetisieren die dystopische und
entfremdende Poetik von Meimberg und lenken die emotionalen Reaktionen, d. h. das
Sentiment der Leser.

IV. Zeitreisen, Zeitsprünge, Raumschiffe und Tauchkapseln. Wie wir den Analysen Brai-
dottis und Rushkoffs entnommen haben, verlangt unser post-humanes digitales Zeit-
alter ein neues Raum-Zeitverständnis, das von Deterritorialisierung, Entfremdung und
Auflösung der Vergangenheit und Zukunft in der digitalen Gegenwart gekennzeichnet
ist. Meimbergs in der digitalen Dimension des Internet geborenes Werk reflektiert diese
Mobilität. Wir stoßen in den Tiny Tales auf zwei Formen von Reisen, welche die neue
Erfahrungswelt versinnbildlichen: Einerseits erzählen sie von Reisen in der Zeit (etwa
durch Zeitmaschinen38 oder Zeitsprünge [TT, 97]), andererseits berichten sie von Reisen
in neuen Raumdimensionen (im Weltall durch Raumschiffe39 oder durch Tauchkapseln
bzw. Roboter40).
    Beide Formen der Reise haben eine Verfremdung gängiger Kategorien zur Folge. Es
werden eurozentrische und anthropozentrische Perspektiven erschüttert und post-huma-
ne, nicht-anthropozentrische Gesichtspunkte beschrieben. Oft kommt es auch zu einer
Umkehrung von herkömmlichen Kategorien, bei denen die Grenzen zwischen Humanem
und Nicht-Humanem, Mensch und Tier,41 Zivilisation und Barbarei,42 Leben und Tod,43
Innen und Außen verwischt werden.
    Der wahrscheinlich aufschlussreichste Text zum Thema des Zeitsprungs ist der folgende:

        Mit dem Macintosh 128k unter dem Arm stieg er aus der Zeitmaschine. „Zeit für eine Revolution!“,
        dachte der junge Steve Jobs. Es war 1983. (TT, 12)

37 Im Diagramm ist links das Ergebnis des Sentiments des einschlägigen Kapitels abgebildet, rechts das der übri-
   gen Kapitel. Unsere Sentiment-Analyse besagt, dass das Kapitel 15 „Liebe“ eigentlich stärker die Basisemotion
   ‚happiness‘ aufweist. Auch das ist kohärent. Im Übrigen sind die Texte von Meimberg so kurz, dass die in den
   Graphen ausgedrückten Unterschiede nicht durch statistische Analysen des p-value bestätigt werden.
38 Eine Zeitmaschine kommt in den TT viermal vor: (TT, 12, 21, 136, 172).
39 Raumschiffe: (TT, 73, 92, 97).
40 Tauchkapseln: (TT, 56, 97).
41 „Durch die Gitterstäbe starrte er dem Tier in die Augen. Was es wohl denken mochte? Dann drehte sich Pierre
   um und trottete zum Futtertrog“. (TT, 55).
42 Es kommen einige Beispiele von Kannibalismus (TT, 25, 65, 128) und Inzest (TT, 22, 154, 156) vor.
43 „Er schwebte auf das Leuchten zu. Es stimmte: der Tunnel. Das helle Licht. Nun war es also vorbei. Eine Stimme
   ertönte. ‚Es ist ein Junge!‘“ (TT, 59).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                  Peter Lang
Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg | 403

Dieser Text verbindet das Internet, d. h. das Medium, das einen epochalen Einschnitt im
Zeitverständnis einführte, mit der Zeitreise. Der junge Steve Jobs steigt aus seiner Kapsel
aus und verkündet mit seinem Computer eine „Revolution“. Eine Revolution bedeutet nicht
nur eine radikale Veränderung von sozialen Bedingungen, sondern auch Umdrehung, die
Bewegung einer Achse um ein Gravitationszentrum. Wie dieser Tweet verdeutlicht, ist das
Internet das Zentrum, von dem aus Vergangenheit und Zukunft in einer digitalen Jetzt-
zeit vermengt werden und deshalb ihre Konturen verlieren: 1983 konnte Steve Jobs nicht
wissen, dass er eine Revolution einführen würde, nur ex-post können wir das behaupten.
Es braucht also eine narrative „Revolution“, um die Jetztzeit aus der Warte der Zukunft
zu betrachten. Aber der Niederschlag des Internets und der Technik auf die Figuren der
Tiny Tales ist alles andere als idyllisch und kann auch katastrophale Folgen haben, wie ein
weiterer Tweet verdeutlicht:

       Unter den Rufen der Dorfbewohner wurden die beiden Männer zum Schafott geführt. Piet zischte:
       „Scheiß Idee, die Zeitmaschine.“ (TT, 136)

Die Technik verändert die Geschichte der Dorfbewohner und der zwei Männer, indem sie
Zeitsprünge ermöglicht. Aber die Technologie wird hier gefährlich und setzt das Leben der
Zeitreisenden aufs Spiel.44 Die beiden Männer gehören aus der Sicht der Dorfbewohner
einer Zukunftsdimension an. Dies verdeutlicht, dass für die Jetztzeit der Tiny Tales die
Vergangenheit offen ist und das Eindringen der Zukunft ermöglicht.
   Das Motiv der Zeitreise muss in den Geschichten von Meimberg nicht explizit genannt
werden. Aber man erfasst es intuitiv, wenn die heutige Gegenwart aus der Zukunft betrach-
tet wird. Somit erfährt der Leser einen Verfremdungseffekt, weil seine Gegenwart als eine
überholte und weit zurückliegende Zeitdimension erscheint. Dieser Perspektivenwechsel
zwingt den Leser auch, die eigenen Kategorien von ‚aktuell‘ und ‚modern‘ zu überdenken,
wie im folgenden Text deutlich wird:

       Die Entdeckung versetzte die Wissenschaft in Schockstarre: Im Altertum hatte es ein primitives
       Computernetzwerk gegeben. Das „Internet“. (TT, 77)

Gerade der Kern unseres Zeitalters und sozusagen der Humus der Tiny Tales wird für
‚primitiv‘ erklärt. Diese Dekontextualisierungen der Gegenwart und der Geschichte sind
für den Leser sowohl schockierend als auch lustig.45 Er wird nämlich gezwungen, die eigene
zeitliche Referenz zu überdenken. Und wie es für den Stil von Meimberg typisch ist, wird
die Pointe des Tweets ans Ende gesetzt, vorzugsweise ins letzte Wort. Gerade für einen
deutschen Leser sollte die Existenz eines dritten Weltkriegs, nachdem der zweite so lange
und tiefgreifend erinnert und aufgearbeitet worden ist, eine überwältigende Neuheit sein:

44 Die Dystopie stellt das fortschrittliche Denken des Bürgertums in Frage, vgl. dazu Muzzioli (2007, 50). Der
   Unterschied zwischen Science Fiction und Dystopie liegt gerade in einer unterschiedlichen Einschätzung
   (optimistisch vs. pessimistisch) der Folgen der Technologien, vgl. ebd. (126 f.).
45 Dieser verfremdende Blick eines Archäologen der Zukunft auf moderne Statussymbole der Technologie bildet
   eine Serie: „Die 16 Geologen starrten auf den 900000 Jahre alten Eisblock. Im Inneren des arktischen Relikts
   steckte ein iPhone. Es klingelte.“ (TT, 72). Dazu kommen iPad (TT, 54), Internet (TT, 77) und Handy (TT, 95).

Peter Lang                                                          Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
404 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

        „Nein, mein Schatz.“ Der Alte lächelte seinen Enkel an. „Die Narbe am Arm ist aus dem Zweiten
        Weltkrieg. DIE hier habe ich aus dem Dritten“. (TT, 59)

Nicht nur die Zeitdimension, sondern auch die Raumerfahrung des Lesers wird verwirrt.
Ein anderer Text beschreibt eine noch unbekannte Technik, die es erlauben sollte, sich in
dem Körper eines nicht näher bestimmten Lebewesens fortzubewegen. Eine Tauchkapsel,
die üblicherweise im Meer oder in Seen Einsatz findet, bewegt sich in einem fiktiven
Körper fort. Wir haben es in diesem minimalistischen Erzählfaden mit einer räumlichen
Inversion zu tun:

        Langsam schwebte die Tauchkapsel durch die trübe Finsternis. Wortlos blickte Maurice durch
        die Luke. Bald würden sie das Gehirn erreichen. (TT, 56)

Auf diese Weise werden nicht nur die Grenzen zwischen Innen und Außen, aber auch die
zwischen Humanem und Nicht-Humanem auf die Probe gestellt.46 Manchmal geschieht
dies auch in einer humorvollen Weise, wie im folgenden Beispiel:

        „… hinterlasse ich mein gesamtes Vermögen meiner geliebten Maja.“ Der Notar schloss das Do-
        kument und blickte in die Runde. Maja bellte. (TT, 115)

Im letzten Wort erscheint, wie so oft, die Pointe. Die Erbin des gesamten Vermögens gibt
sich als Hund zu erkennen. Durch diesen humorvollen Antispeziesismus ist die humane
Perspektive definitiv überholt. Antispeziesismus ist in den Tiny Tales vor allem eine Frage
der Perspektive: Die Weltgeschichte wird nicht mehr aus den Augen der Menschen gese-
hen, sondern aus Sicht der Tiere, der Außerirdischen, der Computer und sogar von nicht
näher bestimmten „Kreatur[en]“ (TT, 35, 109) oder „Wesen“ (TT, 55). In diesem neuen
post-humanen Habitat wird ein Affe zur „Krone der Schöpfung“47 und ein Pinguin „die
Traumfrau“.48 In manchen Tiny Tales werden die Dimensionen der Zeit und des Raums
verschränkt. Dann tauchen gleichzeitig Figuren aus der Vergangenheit und der Zukunft
auf, wie in diesem Tweet:

        Träge hingen die Raumschiffe über dem Dschungel. Der alte Maya-König klopfte dem Alien-Lord
        auf die Schulter. „Alle drin. Wir können los“. (TT, 92)

Die Mayas sind eine ausgestorbene Zivilisation, Aliens sind eine potentielle post-humane
Zivilisation. In zwei Sätzen werden nicht nur Zukunft und Vergangenheit, sondern auch
Natur (der Dschungel) und Kultur (Raumschiff, Maya) zusammengebracht. Darin zeigt
sich, dass Meimberg mit seinem minimalistischen Stil auf die Grundpfeiler der westlichen
Kultur zielt.

46 „Al hatte seit 72 Stunden nicht geschlafen. Entkräftet stolperte er durch die karge Einöde. Er sah zum Himmel.
   Dort ging gerade die Erde auf.“ (TT, 11).
47 „‚Schere schlägt Papier!‘, grinste der Affe. ‚O.k., Mann. Viel Glück dann als Krone der Schöpfung!‘, schnatterte
   der Delphin und schwamm davon.“ (TT, 53).
48 „Linus verschlang die unbekannte Schöne mit den Augen. Die Traumfrau, die er niemals haben würde. Weil sie
   in die Pinguingruppe ging.“ (TT, 158). Wobei nicht klar ist, ob die „Pinguingruppe“ nicht eher eine Kitagruppe
   ist, was auch eine Auswirkung auf das mögliche Alter dieser „Traumfrau“ hätte.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                    Peter Lang
Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg | 405

   Während im eben kommentierten Tweet humane und nicht-humane Kultur anscheinend
friedlich koexistieren, wird in anderen Tweets deutlich, dass die menschliche Kultur der
posthumanen weichen muss. Die menschliche Geschichte wird dabei nicht nur von innen
betrachtet und entfremdet, sondern auch von außen. Somit verliert sie auch ihre Zentralität
und Linearität, weil sie in einen Zusammenhang mit potentiell anderen Geschichten und
Konstellationen gesetzt wird. Sie wird sozusagen ‚vernetzt‘. Zeitreisen sind auch jene Reisen,
in denen Lebewesen auftauchen, die uns heute nicht bekannt sind. Außerirdische Lebewesen
gehören zu den beliebtesten Hauptfiguren der Tiny Tales. Auch sie zwingen den Leser in eine
nicht näher bestimmte Raum-Zeitkonstellation, von der aus er seine Identität hinterfragen muss:

       Der Präsident schritt durch den Hangar, musterte die Tanks mit den gefangenen Aliens. Sein
       Stabschef flüsterte: „Sie nennen sich Menschen“. (TT, 51)

Aus der Sicht eines Außerirdischen ist ein Mensch tatsächlich ein Alien. Die Geschichte
der Menschheit kennt viele Beispiele dafür, dass Fremdheit anderen Kulturen zugeschrie-
ben wird, etwa durch problematische Begriffe wie ‚Barbar‘ oder ‚Primitiver‘. In diesem
Fall scheint diese Zuschreibung nicht in einem friedlichen Kontext zu erfolgen. „Hangar“,
„Tanks“, „Gefangene“ deuten eher auf ein Kriegsszenario. Solche dystopischen Szenarien
sind, wie schon betont, nicht unüblich in den Tiny Tales. Oft scheint die Technik in einer
kausalen Beziehung zu den tragischen Umständen zu stehen: Computer, E-Mails, USB-
Sticks, Handys, Hacker verursachen in den Tiny Tales Tragödien.49 Einer der ‚Schöpfer‘
dieser Realität ist, wie geschichtlich belegt wurde, Bill Rory Gates:

       Die riesige Cyborg-Armee marschierte dem fernen Horizont entgegen. Die Stahlwesen erwarteten
       neue Befehle von ihrem Schöpfer: Rory Gates. (TT, 15)

Bill Gates wird hier, vielleicht liebevoll, mit seinem zweiten Vornamen genannt. Für
seine Kreaturen ist er de facto eine väterliche Figur. Aber er scheint in diesem Text auch
ein Feldherr zu sein, der seine Truppen kommandiert. Ein Cyborg ist definitionsgemäß
ein Mischwesen aus biologischem Organismus und Maschine. In unserer Gesellschaft
sind Menschen mit künstlichen Prothesen oder Implantaten keine Neuheit mehr, aber in
Meimbergs Fiktion haben sich diese Einzelfälle zu einer Armee zusammengerottet. Auch
hier zeigt sich die dystopische Natur der Erzählungen, weil aktuelle Tendenzen ins Extreme
getrieben werden. Kriegsszenen scheinen in der von Meimberg beschriebenen Welt keine
Ausnahme zu sein, wie auch der folgende Tweet belegt:

       „… bedeutende Werke aus dem Zeitalter der Glaubenskriege.“ Der Museumsführer blieb stehen.
       „Dieses etwa: 2078. Die Schlacht um Google.“ (TT, 33)

Aus der narrativen Perspektive befinden wir uns hier in der Zukunft, sicherlich eine gute
Zeitspanne nach 2078, da dieses Datum bereits historisch geworden ist. Nicht nur unsere

49 Siehe einige Beispiele zu den tragischen Effekten der Technik (TT, 32, 39, 66, 104). „Der Tsunami. Hurricane
   Katrina. Beim Justieren waren immer wieder kleinere Fehler passiert. Jetzt stimmte alles. Sie tippte den Code
   ein.“ (TT, 31). Die Beziehungen zwischen Technologien und Dystopien erhellt Marks (2017, 141−155).

Peter Lang                                                          Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
406 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

Gegenwart ist in diesem Tweet längst vergangen; auch unsere Zukunft, nämlich 2078, ist
musealisiert. Und wir erfahren, dass Google, die mächtigste Suchmaschine im Internet
und ein Konzern, zu einem umkämpften Gegenstand in späteren Glaubenskriegen wird.
Es ist bezeichnenderweise Ort oder Gegenstand einer Schlacht, was wiederum zeigt, dass
in Tiny Tales die Technik häufig Auslöser der Tragik ist. Was zurückbleibt, ist oft eine
postapokalyptische Welt, wo Städte wie Los Angeles50 oder Hamburg (TT, 35) zerstört sind,
Manhattan unter Wasser steht (TT, 30) und Berlin eine „Insel voller Kannibalen“51 wird.

V. Brüche in einer perfekten Welt. Meimbergs Texte sind im sozialen Medium Twitter ent-
standen, wo sie in kurzer Zeit großen Erfolg hatten. Wie wir wissen, sind soziale Medien
wie Twitter eine Projektionsfläche des Narzissmus von Millionen Usern. Urlaub, Hochzei-
ten, Prämierungen, Erfolgserlebnisse, Glücksmomente aller Art werden zur Schau gestellt,
um das digitale Ego zu speisen. Die Tiny Tales nehmen zwar auf diesen Narzissmus Bezug,
sie spielen aber auch mit den Werten und Ansichten unserer Gesellschaft; so etwa mit den
Erwartungen und Szenarien, die speziell mit der Hochzeit verbunden sind:

        Behutsam steckte er ihr den Trauring an den Finger. Der Moment war perfekt. Er berührte ihre
        Wange. Die Leichenstarre hatte eingesetzt. (TT, 11)

Der Text öffnet mit dem klassischen ‚Frame‘ eines Heiratsantrags. Alle nötigen Elemente
sind zugegen: der Ring, die Wange, der romantische Moment. Dann die Ernüchterung
bzw. das für Meimberg klassische Überraschungsfinale. Liest man den Satz erneut, fällt
das Adjektiv „perfekt“ auf. Die Eingangsszene ist bzw. scheint „perfekt“, weil sie das Glück
einer Liebesehe verspricht. Dieses Glück ist, wie wir im letzten Satz erkennen, leider nur ein
Versprechen: am Ende steht dem Leser überraschenderweise eine nekrophile ‚Liebe‘ oder
ein fieser, psychopathischer Serienkiller entgegen.52
   Das Adjektiv „perfekt“ kommt in Meimbergs Mikrogeschichten auffallend oft vor,
nämlich acht Mal. Es folgt ein anderes Beispiel von der gleichen Seite:

        Die Ärzte sahen ihn schweigend an. „Ich spüre meine Beine nicht mehr“, log Edwin. Der Plan lief
        perfekt. Sein neues Leben hatte begonnen. (TT, 11)

Der Umschwung in Edwins Leben wurde durch seinen ‚perfekten‘ Plan erwirkt. Doch Ed-
wins Plan ist aus mehreren Gründen nicht perfekt: Er beruht auf einer Lüge, und die Lüge
besagt, dass Edwin gelähmt sei. Auch dieser zweite Gebrauch von „perfekt“ zwingt uns, die
typischen positiven Konnotationen des Adjektivs zu bezweifeln. Perfekt bedeutet nämlich
nicht nur „unglaublich gut“ oder „exzellent“, sondern – vor allem, wenn man seine lateinische
Wurzel perfectum betrachtet – auch „abgeschlossen“. Perfekt ist also etwas Vergangenes,
das streng gegenüber der Gegenwart abgeschlossen ist. Es ist aber genau diese zeitliche
Abgeschiedenheit, die Meimbergs Erzählungen angreifen. Das perfekte, abgeschlossene

50 Die Zerstörung von Los Angeles ist ein Leitmotiv, vgl. (TT, 16; 36, 46).
51 „Die Flasche zerplatzte an dem nassen Felsen. Im Salzwasser zerfloss die alte Tinte: ‚SOS. Gestrandet in Berlin.
   Insel voller Kannibalen.‘“ (TT, 65).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                    Peter Lang
Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg | 407

Faktum wird narrativ wieder geöffnet und einer neuen Interpretation unterzogen. Dieses
Wiederlesen bringt im letztgenannten Beispiel die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge,
Krankheit und Gesundheit ins Schwanken. Dass es um eine Hinterfragung von herkömm-
lichen Grenzziehungen geht, zeigt wiederum das nächste Beispiel:

       Sue trat aus der Dusche. Das Wasser perlte über ihren makellosen Körper. Heute würde es beginnen.
       Tag 001. In ihr surrte der Prozessor-Kern. (TT, 13)

An dieser Stelle haben wir es mit einem für die sozialen Medien typischen Sujet zu tun,
ausgedrückt durch Elemente, die eines der höchsten Ideale unserer medialen Gesellschaft
aufrufen, nämlich weibliche Schönheit. Der makellose, d. h. perfekte Körper ist hier noch
dazu nackt, weil Sue, wie so typisch für den extremen Narzissmus der sozialen Medien,
unter dem Vorwand des Duschens ihren Körper vorzeigen kann. Aber Sue kann kein Mus-
terbeispiel weiblicher Schönheit sein, weil sie, wie das „Surren“ ihres Prozessors signalisiert,
ein Cyborg oder sogar ein Automat ist. Nochmals wird die perfekte Situation aufgebro-
chen, um grundlegende Kategorien wie das Humane und Nicht-Humane gegeneinander
auszuspielen.53
   Die Zerstörung der Perfektion zeigt, dass es auch dabei um eine Form von Zeitreisen geht.
Meimbergs Erzählungen brechen die Unantastbarkeit von Vergangenheit und Zukunft,
indem sie die Möglichkeit eines anderen Verlaufs in diese Dimensionen einspeisen. Sie ver-
ändern retrospektiv Geschichten und Mythen der Vergangenheit oder ersinnen prospektiv
Geschehnisse der Zukunft.54 Dabei verändern sie den Lauf der Geschichte oder lassen die
Geschehnisse einen unerwarteten Ausgang nehmen. Prospektiv können wir in den Tiny Tales
zum Beispiel beobachten, was passieren würde, wenn man einem Kind das Gehirn eines
Mafiabosses transplantierte (vgl. TT, 94). Vor allem aber können wir Transformationen an
wohlbekannten, d. h. starren Mythen der Vergangenheit beobachten, etwa dem folgenden:

       Der König von Troja musterte das riesige Holzpferd. „Mehr hast du nicht drauf, Agamemnon?“
       Lächelnd drehte er sich um: „Anzünden!“ (TT, 102)

Das Holzpferd von Troja ist, laut überliefertem Mythos, ein von Agamemnon ausgedachter
Trick, um Troja zu erobern. Diese List, die als Exempel von Schlauheit in die Geschichte
der westlichen Kultur eingegangen ist, wird vom Finale der Mini-Erzählung gestürzt. Die
Geschlossenheit und Starre des Mythos, seine Perfektion, wird von Meimbergs korrosiver
Poetik angegriffen und in seiner Twitter-Erzählung umgeschrieben. Das Finale wird sogar

52 Meimberg scheint es zu amüsieren, in seinen Texten Szenen des Liebesglücks aufzurufen, um es dann nach einigen
   Worten zu zerstören wie in der folgenden Szene: „Eng umschlungen blickten sie zur Decke. Pias Brautkleid lag
   vor dem Bett auf dem Boden. Sie schielte zur Uhr. ‚Ich muss los. Zur Trauung‘.“ (TT, 24).
53 Die Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Menschen erinnert an Do Androids Dream of a Electric
   Sheep? (Dick [1968]), in dem diese durch einen Empathie-Test unterschieden werden können. In Meimbergs
   Texten ermöglicht es der Lügendetektor (TT, 22).
54 „Gebannt starrte die kleine Nora in das alte Fotoalbum. Ihr Großvater lächelte. ‚Und das hier ist deine Hochzeit.
   Heute in 17 Jahren.‘“ (TT, 57). Diese zukünftigen Geschehnisse könnten auch der dritte Weltkrieg sein, vgl.
   (TT, 59).

Peter Lang                                                             Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
408 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

zugunsten des Königs von Troja umgestülpt. Meimbergs subversive Poetik macht auch
nicht vor der sakralen Aura der Bibel halt:

        „Sorry. Ich hab einen Freund.“ Eva log. Der Typ war ihr auf Anhieb unsympathisch. „Schade“,
        murmelte Adam und verschwand wieder im Wald. (TT, 26)

Die alttestamentarische Eva gibt dem alten Mythos ein zeitgenössisches Ambiente, u. a.
durch Begriffe der Jugendsprache wie „Sorry“ oder „Der Typ“.55 Aber die Geschichten der
westlichen Kultur bekommen in den Tiny Tales auch eine neue Wende durch den Wind
der Möglichkeit. Ausgelöst werden diese unbekannten Narrationen durch Fragen wie ‚Was
wäre wenn?‘: Was wäre, wenn Eva Adam zurückgewiesen hätte? Was wäre, wenn Guten-
berg seine Erfindung zerstört hätte?56 Was hätte Nostradamus aufgeschrieben, wenn er mit
einem „Fremden aus der Zukunft“ (TT, 26) gesprochen hätte? Wie sähe die Neuzeit aus,
wenn Kolumbus Amerika nicht betreten hätte? (vgl. TT, 41) Und wenn Judas Jesus nicht
verraten hätte, weil er den Lohn dafür für nicht angemessen hielt?57 Eine solche Geschichte
mit Möglichkeitssinn bietet sogar einer modernen Ikone wie Lady Di eine neue Chance:

        „Ich hab’s mir anders überlegt. Ich bleibe lieber im Hotel.“ Müde winkte sie in die Runde. Dann
        verschwand Lady Di im Aufzug. (TT, 117)

Was wäre, wenn Lady Di nicht das Pariser Hotel verlassen hätte? Wenn wir die Zeituhr
zurückdrehen könnten, würde sie wahrscheinlich nicht in das Auto einsteigen, das in einem
Unfall verwickelt wurde. Dann wäre sie höchstwahrscheinlich nicht gestorben.
   Da unsere Kultur voller Geschichten und Mythen ist, hat Meimberg die Qual der Wahl
in der Selektion dieser Materialien. Es geht ihm nicht um den Inhalt der Geschichten,
sondern um ihre Verankerung in unserem Gedächtnis, ihren ‚Frame‘; er braucht für seine
narrative Strategie, wie Andy Warhol in seinen Siebdrucken, die Aura dieser Figuren. Die
Singularität der gewählten Persönlichkeiten muss bekannt sein, damit ihre Duplikate einen
Effekt erzielen.58
   Ob es sich um eine reale Persönlichkeit oder eine fiktionale Figur einer Geschichte, eines
Mythos oder Märchens handelt, ist einerlei: In den Tiny Tales kommen die berühmten
Figuren der Grimm’schen Märchen wie Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und Frau Holle
vor.59 Es werden aber auch geschichtliche Ereignisse geschildert wie der Bombenangriff auf

55 Die Aktualisierung der „Story“ von Josef und Maria besitzt einen parodistischen Effekt, weil die Sakralität
   durch banale Klischees gebrochen wird, z. B. „Die Übelkeit. Der Heißhunger. Die ausbleibende Periode. Es
   gab keinen Zweifel. Maria räusperte sich: ‚Josef? Wir müssen reden.‘“ (TT, 78).
56 „Die Maschine stand vor ihm wie ein Mahnmal. ‚Es ist einfach zu gefährlich‘, murmelte Johannes Gutenberg.
   Und entzündete das Streichholz.“ (TT, 15).
57 „‚30 Silberlinge? Das soll wohl ein Witz sein!‘ Er spuckte auf die Münzen. ‚Sucht euch einen anderen Dummen!‘
   Wütend stapfte Judas davon.“ (TT, 84).
58 In dieser fantastischen Zeitmaschine kann auch das Genie von Mozart im Genie von Dalí dupliziert werden.
   „Der Mann, der sich Mozart nannte, lächelte. ‚Tut mir leid, aber ich muss weiter. Ins Jahr 1904. Dort bin ich
   ein Genie namens Dali.‘“ (TT, 108).
59 „Sie sah aus dem Fenster. Tief ‚Daisy‘ hatte die Welt ins Schneechaos gestürzt. Frau Holle schmunzelte. Und
   das war erst das Kopfkissen … “ (TT, 33).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                 Peter Lang
Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg | 409

Dresden, der sich im „November 2014“ – also aus Sicht des Publikationsdatums der Tiny
Tales in der nicht allzu fernen Zukunft– wiederholt.60

VI. Die metaliterarische Dimension der „Tiny Tales“. Roberto Nicoli versucht sich in seiner
Exegese zu den Tiny Tales eine philologische Praxis. Er verortet diese Texte, die zwar auch
in Buchform erschienen sind, in ihrem ursprünglichen Medium, nämlich im Internet,
und zwar in Twitter.61 Das ist nicht nur aus philologischer Perspektive nachvollziehbar –
zugleich erlaubt es auch, die mediale Anbindung dieser Texte zu verstehen. Das Internet
ist nämlich eine zweite Wirklichkeit geworden, eine Wirklichkeit, die selbst wirklichkeits-
stiftend ist und Wirklichkeitsanspruch erhebt. Die im Internet kursierenden Fakten und
Geschichten können, wie wir jüngst erfahren haben, ‚alternative Fakten‘ werden, auf die
sich eine ‚post-faktische‘ Politik gründet. Dass diese Begriffe Gegenstand von Meimbergs
Reflexion sind, zeigen wiederum die Titel wie Wahrheit, Lüge, Irrtum, Wahn. Autoren
kommt in dieser postfaktischen Welt eine besondere Funktion zu:

       „Zusatzzahl: 7“, tippte er. Dann schloss er den Laptop. Er liebte das Autorendasein. Im Wohn-
       zimmer murmelte der Fernseher: „Zusatzzahl: 7.“ (TT, 84)

Der Autor, der seine Arbeit liebt, schreibt einen Text. Sein Text ist das Drehbuch eines Films
oder einer TV-Sendung, das eine mediale Wirklichkeit vorschreibt, die vom Fernseher aus-
gestrahlt wird. Dieser zufriedene Autor hat eine Wirklichkeit buchstäblich ‚vorgeschrieben‘,
doch ein Autor kann auch noch mächtiger sein, wie das nächste Beispiel zeigt:

       Der Autor weinte. Er hatte soeben seine Hauptfigur sterben lassen. Behutsam wickelte er den
       Körper in einen Müllsack. (TT, 149)

Der Autor hat die Macht, eine Figur zu erschaffen, aber, wie das Beispiel zeigt, auch die
Figur sterben zu lassen. An dieser Stelle haben wir es mit einer metaliterarischen Pointe
zu tun. Was hier Schockwirkung für den Leser besitzt, ist, dass die vom fiktionalen Autor
geschaffene Figur in dessen Text, also in der Metadiegese, stirbt, ihre Leiche aber dar-
aufhin von ihm, d. h. in der von den Tiny Tales konstruierten fiktionalen Wirklichkeit,
der Erzähldiegese, in einen Müllsack gewickelt wird. Dass die Grenzen zwischen Realität
und Fiktion verschwimmen, zeigt ebenso die emotionale Reaktion des Autors. Wenn das
Internet alternative Fakten behaupten kann, dann gibt es durchaus eine Gleichstellung
zwischen Fiktion und Wirklichkeit, und der Autor wird ein Demiurg, der auf die Wirklich-
keit einwirken kann. Nicht vergessen dürfen wir in diesem Zusammenhang, dass Florian
Meimberg ein Creative Director ist und seine Kreativität für Werbekampagnen eingesetzt
hat.62 Werbung impliziert, dass Texte und Bilder einen Einfluss auf die Wirklichkeit und

60 „Der alte Mann weinte. Die Bilder ließen ihn einfach nicht los. Der Bombenhagel über Dresden. Das Lager.
   Die Folter. Damals. November 2014.“ (TT, 52).
61 Vgl. Nicoli (2013, 217−239).
62 Vgl. seine Internetseite: , zuletzt: 27.10.2021. Im Epilog der Tiny
   Tales (TT, 179) betont Meimberg die Affinität zwischen Werbung und Literatur.

Peter Lang                                                          Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
410 | Massimo Salgaro: Zeitmaschinen und Zeitreisen in den „Tiny Tales“ von Florian Meimberg

die Konsumenten haben können, und genau dieser Effekt wird angestrebt. Im folgenden
Beispiel wird das besonders deutlich:

        Tom öffnete das alte Buch und begann zu lesen: „Tom öffnete das alte Buch und begann zu lesen.
        Noch ahnte er nichts von seinem nahen Tod.“ (TT, 150)

Tom liest ein Buch, in dem er die Hauptfigur der Geschichte ist. Sein Schicksal ist vorge-
schrieben. Sein Los wird ihm aber verheimlicht und ist, wie so oft für Meimbergs Hauptfi-
guren, tragisch. Die kurze Erzählung irritiert wie die vorige, weil Erzähl- und Metadiegese
miteinander verschwimmen. Während es hier um ein Einzelschicksal geht, ist im nächsten
Text ein historisches Ereignis genannt:

        The End. Sein Roman über die WTC-Anschläge war fertig. Er klappte den Laptop zu, sah auf
        die Uhr. Fast Mitternacht. Es war der 10.9.2001. (TT, 166)

Auch in diesem Passus finden wir einen Autor, und zwar explizit einen Romanautor. Der
anonyme Schriftsteller beendet am 10.09.2001 einen Roman, in dem die Anschläge auf
das World Trade Center beschrieben sind. Die Fiktion schreibt auch hier ein historisches
Faktum, das sie mit einem Tag Vorsprung prophezeit. Die Narrationen ‚schreiben Geschich-
te‘, während die Historiographie narrative Strukturen aufweist, wie sie Hayden White in
der offiziellen Geschichtsschreibung hervorgehoben hat.63 Unser 21. Jahrhundert kann
deshalb als das Produkt eines Regisseurs erscheinen, dessen Arbeit lächelnd von Satan
beobachtet wird:

        „Cuuut!“ Die Stimme des Regisseurs schallte über das Set. „Perfekt! Umbau auf die nächste Szene:
        21. Jahrhundert.“ Satan lächelte. (TT, 105)

Das Internet ist ein globales Medium, das sich nicht nur die anderen Medien TV, Radio
und Bücher einverleibt hat, sondern auch eine neue Wirklichkeit hervorgebracht hat. Die
Medienwelt ist nicht zufällig eines der Leitmotive von Meimbergs Erzählsammlung.64 Seine
Texte wurden als ein Beispiel von Twitteratur65 klassifiziert, die ein Zwitterwesen ist, das
zwei Medien wie Literatur und Internet verbindet. Will man dieser Zwitterliteratur gerecht
werden, verlangt dies, dass man die Tweets auch als solche erkennt. Tweets antworten,
laut ihrem Erfinder Jack Dorsey, auf die Frage „Was ist gerade los?“ Sie sind folglich auf
die Gegenwart fokussiert; auf ein Gefühl, eine Erfahrung, einen Gedanken, die mitgeteilt
werden. Tweets transportieren also ein ‚Sentiment‘, d. h. eine Stimmung. Deshalb werden sie
vorzugsweise von Internetkonzernen durchforstet, um die Reaktionen der Internetbenutzer
auf gewisse Produkte und Geschehnisse zu erfahren. In ihrer kommerziellen Variante ver-
suchen die Studien des Sentiments, die sogenannte ‚Sentiment Analysis‘, die positive oder

63 White (1973).
64 U. a. (TT, 44, 63).
65 Vgl. Freuler (13.2.2011). Die Twitteratur ist inzwischen auch ein Objekt literaturwissenschaftlicher Analyse
   geworden, etwa bei Drees, Meyer (2013), v. a. die Analyse zu den TT im Kapitel „Von der Short Story zur
   digitalen Kürzestgeschichte“. Es gibt inzwischen auch eine Twitter Literaturgeschichte von Kreuzmair (2020).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                Peter Lang
Sie können auch lesen