Zeit, Affekt und lange Form: David Foster Wallace und Karl Ove Knausgård - Ingenta ...

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Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 3, S. 577–593

Nicola Glaubitz

Zeit, Affekt und lange Form:
David Foster Wallace und Karl Ove Knausgård

I. Einleitung. Miese Gefühle

       [A]ber es half nichts, allein schon bei dem Gedanken an Fiktion, allein schon bei dem Gedanken
       an einen erfundenen Charakter in einer erfundenen Handlung wurde mir flau, ich reagierte
       körperlich darauf. Hatte keine Ahnung, warum.1

Mit dieser Formulierung verwirft der Erzähler in Karl Ove Knausgårds Lieben eine Roman-
idee über die Bewohner Nordamerikas vor der Ankunft der Europäer. Diese Passage gehört
zu Überlegungen, die der Erzähler, Familienvater mit drei kleinen Kindern und Schrift-
steller mit Schreibblockade, über Literatur anstellt. Sie führen am Ende dieses Bandes (des
zweiten) zum Beginn der Niederschrift der sechsbändigen Romanreihe, die im norwegischen
Original (2009–2011) mit Min Kamp (Mein Kampf) betitelt ist. Die Erzählgegenwart, von
der aus immer wieder biographische Rückblicke vorgenommen werden, thematisiert einen
überfordernden und zugleich als wenig sinnvoll empfundenen, eintönigen Alltag.
   David Foster Wallaces Infinite Jest (1996) hat mit Erfahrungen von Überdruss und
Sinnleere eine vergleichbare Ausgangsproblematik. Der Roman ist als Zeitdiagnose einer
Generation gelesen worden, die zunehmende Zweifel an Ironie als distanzierender Haltung
zu postmoderner Optionenvielfalt oder Beliebigkeit hegt und mit einer ‚new sincerity‘
liebäugelt. Für die Figuren in diesem Roman mündet die Zerstreuung durch mediale
Unterhaltungsangebote, Entscheidungsunfähigkeit und sich selbst blockierende Hyperre-
flexivität in Depression und Sucht, und allein die „irony-free zone“2 einer den Anonymen
Alkoholikern nachempfundenen Selbsthilfegruppe scheint einen Ausweg darzustellen.
   Die beiden Langromane problematisieren damit eine affektiv grundierte Zeiterfahrung,
wie sie Elizabeth Goodstein begriffs- und kulturgeschichtlich in Langeweilediskursen seit
dem 19. Jahrhundert rekonstruiert hat. Mit Langeweile verbanden sich weitverbreitete
und alltägliche („demokratisierte“) Erfahrungen von Sinn- und Transzendenzverlust sowie
von Skepsis, die sich (im Unterschied zu den Konzepten der Melancholie oder des ennui)
nicht zu elitären Posen stilisieren ließen: „Boredom is a disenchanted, secularized form of
human discontent.“3 Langeweile ist Goodstein zufolge eine modernetypische Zeiterfah-
rung, eine Konfrontation mit den Grenzen der linear-progressiven Geschichtskonzeption
und mit der Begrenztheit der Vorstellung eines sich entwickelnden, optimierenden, mo-
tivierten, begehrenden Selbst. Unruhe, Angst, Antriebslosigkeit und Sinnkrisen sind die

1   K nausgård (2013a, 650).
2   Wallace (2006, 369)
3   Goodstein (2005, 18, vgl. 179); vgl. Osborne (2013, 176, 179, 184).

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pathologisierten Symptome dieser Zeiterfahrung.4 Wallace und Knausgård entwickeln aus
dieser Erfahrung ein Schreibprogramm, das sich die Form des langen komplexen Romans
auf neuartige Weise zunutze macht: Lange komplexe Romane, die an Schreibweisen der
Moderne anschließen, gelten als unpopulär, unlesbar oder zumindest als intellektuelle
Herausforderung, der nur wenige Lesende gewachsen sind.5 Dass ein 3600-Seiten-Projekt
wie Min Kamp gerade aufgrund seiner Langweiligkeit besticht6 oder ein über 1000seitiges
Buch wie Infinite Jest enthusiastische Online-Leseprojekte generiert, ist daher erklärungs-
bedürftig. Ich werde die beiden Romane auf ihre Art und Weise der Zeitstrukturierung und
die Thematisierung von Affekten hin lesen und dabei mit Überlegungen der amerikanischen
Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai arbeiten. Ngai argumentiert, viele Phänomene der
Gegenwartskultur erforderten neue ästhetische Kategorien, die vor allem die künstlerische
Evokation und Erkundung von ugly feelings beschrieben: unangenehme Gefühle wie z. B.
Neid, Ekel, Angst oder auch frustrierende Langeweile, die sich durch lange Dauer und
im Falle der Langeweile durch niedrige Intensität auszeichnen.7 In diesem Beitrag werden
Ngais Kategorien an einem norwegischen und einem amerikanischen Autor erprobt, die
hier exemplarisch für allgemeine Tendenzen einer ‚postliterarischen‘ Gegenwartsliteratur
stehen, welche zunehmend für eine transnationale Leserschaft geschrieben wird.8
   Die lange Form wird in der Kritik zu Einzeltexten oft als Ermöglichungsstruktur für
das Aushandeln von Zeitlichkeit verstanden.9 Ich greife hier auf den Begriff der ästhetischen
Eigenzeit zurück, um im folgenden Abschnitt II (Umfang, Länge und Zeit) den Zusam-
menhang zwischen Lesezeit, ihrer narrativen Strukturierung und der Thematisierung von
Zeitlichkeit zu erfassen.10 Der Langroman realisiert sich wie jedes Kunstwerk ereignishaft
in der Zeit und für einen Rezipienten, wie ich in Abschnitt III (Länge und Langeweile)
zeigen werde. Bei Knausgård werde ich den langen Schreibprozess, der in der Romanreihe
zum Thema wird, berücksichtigen.11 Ästhetische Eigenzeit unterscheidet sich zudem von

 4 Vgl. Goodstein (2005, 5, 23, 34, 179), Dalle Pezze, Salzani (2009, 10, 14, 19).
 5 Vgl. Moretti (1996, 4), Mendelson (1976, 1268), Le Clair (1989, 4).
 6 Vgl. Kunzru (7.3.2014).
 7 Vgl. Ngai (2004, 6–9).
 8 Vgl. Walkowitz (2015). Ich beziehe mich auch auf Collins (2010, 33, 43, 188, 264) und seine These einer
   ‚postliterarischen‘ Neustrukturierung von Lesepublika, bedingt durch eine größere Bandbreite an Rezensions-
   und Verkaufsplattformen für Bücher, an Medieninszenierungen des Lesens und an akzeptierten Lesepraktiken
   jenseits der Unterscheidung von Höhenkamm- und Populärliteratur. Für Collins läuft diese Neustrukturierung
   auf eine Wiederbelebung zentraler Elemente des bürgerlichen Lesens hinaus.
 9 Vgl. McGurl (2016, 465), van de Ven (2018, 331, 334).
10 Meine folgenden Überlegungen beruhen auf Ergebnissen und Vorarbeiten, die im Rahmen eines von Julika
   Griem geleiteten Projekts zu Eigenzeit und Lesegemeinschaften um anglophone Langromane im DFG-Schwer-
   punktprogramm Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne (2016–2019) entstanden
   sind.
11 Vgl. Gamper, Hühn (2014a, 15). Mit dem Begriff der ästhetischen Eigenzeit können die Darstellung von Zeit-
   lichkeit sowie die Verbindung zwischen Strukturen und Formen, die bestimmen, wie der „Darstellungsprozess
   zeitlich organisiert ist“, in ihren jeweiligen Gestalten erfasst werden (Gamper, Hühn [2014a, 7, vgl. 12]). Scott
   McCracken und Jo Winning schlagen für moderne Romane folgende Definitionen von Länge vor: 1) quan-
   titativ-materiale Qualität (Umfang oder Wortzahl), 2) Dauer, definiert als 3) langer Schreibprozess, 4) langer
   Leseprozess, 5) langer Publikations- bzw. Editionsprozess und 6) thematische Auseinandersetzung mit Dauer
   (McCracken, Winning 2015, 275 f.).

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sozial konstituierter Zeitlichkeit, so dass auch die modernetypischen De- und Resynchro-
nisierungen zwischen sozialen und ästhetischen Eigenzeiten beobachtbar werden. Dieses
Spannungsverhältnis thematisiere ich in Abschnitt IV (Alltag und Ethnographie). Ob und
wie sich ästhetische Eigenzeiten aber als ‚Gegenzeiten‘12 zu sozialen Zeitregimes auffassen
lassen, möchte ich hier zunächst als offene Frage formulieren und in Abschnitt V (Eigenzeit
und Zeitkonzepte) noch einmal aufgreifen.

II. ‚Persevere to page 200‘13: Umfang, Länge und Zeit. Die beiden hier diskutierten Romane
stehen in der Tradition langer Romane der Moderne, die inzwischen ein eigenes Genre
bilden und als maximalistische Romane, Mega- oder Systemromane bezeichnet werden.14
Sie stehen in einem ambivalenten Verhältnis zu den früheren Langformen des Epos und
der Enzyklopädie, da sie deren Anspruch auf Vollständigkeit und Umfassendheit einer
Weltdarstellung bzw. Welterklärung zunächst affirmieren müssen, bevor sie sie kritisch in
Frage stellen können. Der komplexe Langroman seit der Moderne ist Stefano Ercolino zu-
folge eine Form, die ambitionierte Experimente und Innovationen ermöglicht15 – was sich
aber nicht ausschließlich auf seine immer nur relational zu anderen Textsorten bestimm-
bare Länge bzw. seinen Umfang zurückführen lässt. Dabei scheint ein Zusammenhang
zwischen großem Umfang, großen Themen und dem Prestige des Komplexen, wie Tom
Le Clair formuliert, zu bestehen:

       If the large book is not better than the small one, the massive novel […] can have greater cultural
       significance, more authority to contest the powers in which literature exists. […] [M]asterworks
       take full advantage of the possibilities […] to represent large cultural and often global wholes.16

Le Clair führt das Prestige und die kulturelle Bedeutung des komplexen Langromans auf die
souveräne Materialbeherrschung und das schriftstellerische Können der Autoren zurück, die
in diesem Genre tätig sind (z. B. Thomas Pynchon, William Gaddis), verkennt dabei aber,
dass etwa für lange Romane von Frauen häufig ganz andere Bewertungskriterien gelten.
Meg Wolitzer hat darauf hingewiesen, dass lange, digressive Texte mit unkonventionellen
Strukturen bei Autorinnen eher als Ausdruck von Geschwätzigkeit und schriftstellerischer
Disziplinlosigkeit bewertet würden, während bei Autoren wie David Foster Wallace,
Haruki Murakami oder William T. Vollmann nach dem künstlerischen Programm gefragt
werde.17 Plausibler ist es daher, anzunehmen, dass das dicke, gewichtige Buch nicht per se
Prestige hat: Es hat lediglich kulturhistorisch lange genug als Knotenpunkt im Netz solcher
Zuschreibungen, Zirkulationsweisen und Praktiken gestanden, um diese Zuschreibungen
selbstverständlich erscheinen zu lassen. Dass Frauenbücher (wie auch populäre Langromane)

12   Gamper, Hühn (2014b, 17).
13   Bucher (2009).
14   Vgl. Mendelson (1976), K arl (2001), Ercolino (2014).
15   Vgl. Ercolino (2014, 19).
16   Le Clair (1989, 1, 2).
17   Vgl. Wolitzer (2012, 3), vgl. zu ähnlichen Beobachtungen in Hinblick auf die männliche Codierung umfang-
     reicher, an ein breites Publikum gerichteter Bücher in der Geschichtswissenschaft Hirschi (2018).

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anders bewertet werden, verweist auf die Kontingenz dieser Zuschreibungen. Komplexe und
umfangreiche Bücher stehen also, um eine Formulierung von Carlos Spoerhase aufzugreifen,

        am Ende eines äußerst aufwendigen und vermittelten sozialen Prozesses. […] Es bedarf also
        einer Perspektive, die […] Materialität nicht als vermeintlich nacktes Faktum fokussiert, sondern
        erforscht, wie sich diese Materialität in gesellschaftlichen Vermittlungspraktiken als wirksam
        erweist.18

Am Beispiel von Infinite Jest lassen sich formale Merkmale des Langromans gut mit solchen
Vermittlungs- und Rezeptionspraktiken in Verbindung bringen, da Berichte von Lesenden
auf dem Online-Forum Infinite Summer vorliegen. Im Rahmen dieses dreimonatigen Lese-
projekts hinterließen 1166 Leser*innen Kommentare zu einem Roman, den Kritiker gern
als unlesbar darstellen, zumindest für sogenannte gewöhnliche Lesende.19 Leser*innenkom­
m­entare sind hier nicht als Zeugnisse authentischer Leseerfahrungen relevant, sondern als
Stellungnahmen, die anderen Regeln folgen als die institutionalisierte Literaturkritik. Sie
unterliegen ihrerseits bestimmten Regeln und Normen der Selbstinszenierung als Leser
oder Leserin, geben also Aufschluss über Praktiken, Lesen in einem teilöffentlichen Raum
darzustellen. Die Plattform bot bspw. die Möglichkeit, auch über scheiternde Lektüren zu
schreiben. Teilnehmende berichten von früheren, vergeblichen Versuchen, Infinite Jest zu
lesen. Auffallend viele von ihnen brachen die Lektüre nach etwa 100 Seiten ab:

        I seem to remember picking up Infinite Jest with excitement and gusto and ambition and …
        boom, stopped on the 100th page or so.20
        Page 112 is turned over at the top, obviously my last stopping point well over 10 years ago. Now
        I begin again. With a group of others (me, the non-joiner most likely joining other non-joiners)
        planning to read the book 75 pages at a time over the course of the summer of 2009.21
        I read 100 pages and put it aside.22

Die von den Initiatoren des Projekts zusammengestellten Hinweise für die Lektüre
empfehlen augenzwinkernd, an dieser Stelle unbedingt über das flaue Gefühl unbestimmten
Grauens („a sinking feeling of dread“23) hinauszugelangen und bis etwa Seite 200 durchzu-
halten. Nachdem sie diese Schwelle erreicht hatten, berichten viele Lesende, die Lektüre sei
ihnen leichter gefallen und es sei sogar schwierig geworden, das Buch aus der Hand zu legen.
   Infinite Jest präsentiert in der Tat auf den ersten ca. 200 Seiten ein ungeheuer detail-
reich geschildertes, aber planlos anmutendes Figuren- und Erzählschnipselpanorama, aus
dem sich erst allmählich Kernfiguren und drei Haupterzählstränge herausschälen. Dann
treten neben die Erzählepisoden und -fragmente und die informationsreichen, oft völlig

18 Spoerhase (2018, 36).
19 Vgl. Bruni (24.3.1996): „‚Infinite Jest‘ is not only massive but also forbidding, and more than a few of the hardy
   souls who set out to scale it will neither make it to the summit nor care to.“
20 Meloy (9.6.2009).
21 User „Leslie“ (20.6.2009), , zuletzt 24.2.2020.
   Bucher (2009). Vgl. Gerdes (2015, 340).
22 User „Bryn“ (1.7.2009), , zuletzt 24.2.2020.
23 Bucher (2009). Vgl. Gerdes (2015, 340)

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irrelevanten Retardationen immer wieder erkennbare und zuweilen spannungserzeugende
Erzählmuster, so etwa die aberwitzige Jagd nach einem verlorenen Objekt (der Urfassung
des Films Infinite Jest), die Kolportage (weiß das jugendliche Tennis-As Hal Incandenza
von den inzestuösen Neigungen seiner Mutter?) oder die poetische Gerechtigkeit und die
gelungene Neuerfindung des Selbst (wird der ehemalige Drogenabhängige Don Gately eine
Schussverletzung überleben, die er sich im selbstlosen Einsatz für seine Freunde zugezogen
hat?). Ein Informationsüberangebot ohne Unterscheidungskriterien zwischen Relevantem
und Irrelevantem erweist sich also als zentrales Thema und Strukturmerkmal des Romans,
und ich werde argumentieren, dass sich hier eine Verbindung zwischen erzählter Zeit und
Lesezeit finden lässt. Die Figuren Hal Incandenza und Don Gately fliehen in einer fatalen
Pendelbewegung vor zu viel medialer Zerstreuung und lebensweltlicher oder intellektueller
Komplexität in Drogen und Sport, nur um den drogen-, doping- und trainingsinduzierten
Stress- und Angstzuständen wieder in den Alltag zu entkommen. Der Roman beschreibt
mit deutlichen intertextuellen Referenzen auf Shakespeares Hamlet diesen Zustand als
„analysis paralysis“24, als lähmende und sogar angstbesetzte Unfähigkeit, angesichts einer
Vielzahl bestehender oder möglicher Optionen Entscheidungen zu treffen und Sinn im
eigenen Handeln zu finden.
   Diese Hinweise zur Erzählstruktur und Informationsvergabe im Roman legen nahe,
Lektüreabbruch, unvollständige Lektüre oder das Überfliegen nicht als falsche, ungeduldige
oder oberflächliche Lesehaltung angesichts eines komplexen Langromans in der Tradition
des enzyklopädischen Romans und des ‚exzessiven‘ Systemromans25 zu betrachten. Viel-
mehr ist die Strukturierung von Lesezeit durch ausgedehnte Phasen mühsamer, da kaum
nach Relevanz zu ordnender Informationsaufnahme im Wechsel mit der Wahrnehmung
vertrauter Konventionen realistischen und sogar populären Erzählens eine gezielte Strate-
gie: Sie stellt eine performative Entsprechung zu den Schilderungen von Überforderung,
Hyperreflexion, Sinnkrisen, Angst und Sucht auf der thematischen Ebene dar. Für David
Letzler legen es vor allem die 388 z. T. mit Querverweisen verbundenen Endnoten, die mit
dem Haupttext koordiniert werden müssen, darauf an, Lesende auf die Probe zu stellen.26
   Infinite Jest bietet daher auch strukturell eine Möglichkeit an, den Zustand der ‚analysis
paralysis‘ lesend nachzuvollziehen – und sogar die suchtartigen Abhängigkeitsverhältnisse
zu simulieren.27 Das Weiter- und Wiederlesen wird durch spannungserzeugende Erzähl-
strategien unterstützt, aber auch durch den Eindruck, eine wiederholte Lektüre könne
offene Fragen oder Unverstandenes klären: „Still, many readers (I number among them)
find themselves finishing the body of text (on page 981) only to turn back to page 1 and
start again.“28 Auch auf Infinite Summer findet sich eine solche Einschätzung:

24 Wallace (2006, 203), Letzler (2014, 132), Glaubitz (2019, 223).
25 LeClair (1989, 15, 20) zufolge ist das Übermaß an Informationen in Systemromanen bei richtiger Lesehaltung
   weder langweilend noch überfordernd, sondern Ermöglichungsbedingung einer „intellectual mastery“ (20).
26 Vgl. Letzler (2014, 134).
27 Vgl. Cioffi (2000), Curtis (2016, 48 f.). Darauf verweist der Titel des Buches, Unendlicher Spaß. Unter dem-
   selben Titel kursiert in der Diegese ein Film, dessen Unterhaltungswert sofort jeden Zuschauer in einen Zustand
   willenloser Abhängigkeit versetzt und schließlich umbringt, da man über dem endlosen Wiederanschauen des
   Films verhungert und verdurstet.
28 Gerdes (2015, 340).

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        My problem is I can’t stop reading the book. Help. me.
        I had a list of about 10 things I hated about Infinite Jest. I had a considerable intellectual resis-
        tance that I even had justifications for. And then it just wore away at them like water on a rock
        and now I am helpless in its clutches.29

Hier wird Lesesucht inszeniert – und mit dieser Sucht kokettiert. Das ist inzwischen
eine gängige Praxis auf Online-Plattformen wie GoodReads, LovelyBooks oder unter den
bookstagrammern, die auf der Plattform Instagram Bücher und das Lesen verbal und visuell
präsentieren: Sich zu obsessivem, suchtartigem und leidenschaftlichem Lesen zu beken-
nen ist für die überwiegend weibliche Schar der User die Norm.30 Dieses wiederholte und
suchtartige Lesen ist, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, ein integraler Teil der
Ästhetik von neueren komplexen Langromanen.

III. Länge und Langeweile. Die ästhetischen Effekte von Infinite Jest lassen sich zum
Teil mit Sianne Ngais Begriff des Stuplimen beschreiben. Der Begriff ist aus sublim und
stupide gebildet und bezeichnet eine Erfahrung, in der sich Langeweile, Erschöpfung und
Überforderung in einem lähmenden Gefühl der Sprachlosigkeit und Überwältigung ver-
dichten. Diesen ästhetischen Effekt findet Ngai in komplexen Prosatexten der Moder-
ne, etwa in Samuel Becketts Texten oder in Gertrude Steins Langroman The Making of
Americans. Beckett suspendiert Sinnbildungsprozesse, indem er Sachverhalte konstatiert
und sofort wieder negiert; Stein gestaltet ihren Roman als endlos anmutende Serie mini-
maler grammatischer und semantischer Permutationen und Substitutionen. Das Fehlen
narrativer Strukturen erschwert die logisch-thematische Nachvollziehbarkeit und lässt
keine greifbaren Rückschlüsse auf Erzählzeit und erzählte Zeit zu.31 Diese Art der Textge-
staltung erfordert größere Aufmerksamkeitsleistungen und verlangsamt das Lesetempo.32
Ngai interessiert sich hier besonders für die verfremdeten, mit Alltagssprache und dem
Gebrauchslesen kontrastierenden Zeitstrukturen. Obwohl das Stuplime den Überwäl-
tigungseffekt mit der klassischen Kategorie des Erhabenen bei Burke und Kant gemein-
sam hat und das Subjekt an die Grenzen seines Verstehens und Wahrnehmens führt,
definiert es sich nicht durch Plötzlichkeit und Präsenz. Das Stuplime zeichnet sich Ngai
zufolge durch (wie beim Erhabenen) gemischte und uneindeutige, aber zeitlich langan-
dauernde Gefühlslagen aus.33 Die frustrierende Langsamkeit einer Lektüre und die kogni-
tive Überforderung durch schwach strukturierte und hierarchisierte Informationsmengen
führt, wie Ngai betont, auch nicht zu Transzendenz- oder mystischen Immanenzerfah-
rungen, sondern zu einem unguten Gefühl des Steckenbleibens.34

29 User „Ozma“ (30.6.2009), , zuletzt: 28.02.2020.
30 Vgl. Thomalla (2018, 128, 129). Zur Problematisierung der Lesesucht als weibliches Phänomen um 1800 vgl.
   Littau (2006, 42–45).
31 Vgl. Ngai (2004, 256).
32 In der Leseforschung sind solche Strukturen als Hindernisse für zügiges Lesen beschrieben worden, vgl. Graf
   (2015).
33 Vgl. Ngai (2004, 7, 10, 13).
34 Vgl. Ngai (2004, 256, 263).

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   Ngais Kategorie des Stuplimen kann allerdings einige Merkmale nicht erfassen, die
sowohl Infinite Jest als auch Knausgårds Romanreihe Min Kamp möglicherweise zu
Grenzfällen des Langromans in der Tradition der Moderne einschließlich der Postmoder-
ne machen. Ngais Kategorie des Stuplimen und das diffus-miese Gefühl der Langeweile
sind noch immer in Bezug auf die Norm des Durchdringens und Beherrschens des Textes
(„cognitive mastery“35) gedacht, als Auseinandersetzung mit den Grenzen des Intelligiblen.
Ngai beschreibt das stupende Moment dieser Erfahrung – die Sprachlosigkeit angesichts
einer offensichtlich sinnlosen, ausgedehnten, desorientierenden Lektüreerfahrung etwa – als
Begegnung mit unbestimmter Differenz. Es ist eine fortgesetzte und quälende Konfronta-
tion mit einem selbst undifferenzierten Anderen, für das noch kein Begriff zur Verfügung
steht.36 Peter Osbornes analoger, weiter gefasster Begriff der Langeweile bezieht eine solche
Erfahrung des Differenzlosen auf eine besondere Zeiterfahrung: Die vermeintlich profane
Erfahrung der alltäglichen Langeweile sei eine Konfrontation mit einer reinen Zeitlichkeit
vor ihrer Temporalisierung und Qualifizierung durch Begriffe des Vorher-Nachher, der
Kausalität, der Teleologie oder der Finalität.37
   Die beiden hier diskutierten Romane führen zwar die Grenzen des begreifenden Denkens
vor, kontrastieren das quälend Undifferenzierte und affektiv mit Überdruss bzw. flauen
Gefühlen besetzte Alltägliche aber nicht allein mit dem Verstehen. Ganz im Gegenteil:
Sie suchen auf der strukturellen und der thematischen Ebene nach Alternativen zum
rationalen Verstehen und finden in Ritualisierung, Rhythmisierung und – wenn man
Knausgårds Gedanken zum Schreibprozess berücksichtigt – in der Privilegierung des
Intuitiven Möglichkeiten der Kontingenzbewältigung. In der Forschung zu Infinite Jest ist
umstritten, inwieweit die Darstellung einer Entsprechung zum 12-Punkte-Programm der
Anonymen Alkoholiker auch auf literarischer Ebene einer ‚ironiefreien Zone‘ angehört,
und ob der Roman die Empfehlungen zu rigider Selbstdisziplin und striktem Zeitmanage-
ment, zu Bescheidenheit und stoischem Gleichmut als banale Klischees entlarvt oder sie als
erfolgreiche Strategien des Entzugs präsentiert.38 Die Figur Don Gately jedenfalls findet
erst aus der Abhängigkeit, als sie das völlig sinnlos erscheinende, arbiträre Zeitregime des
Drogenentzugsprogramms akzeptiert und aufhört, über die Gründe seiner Wirksamkeit
nachzudenken. Die Arbitrarität der Zeitstrukturierung spiegelt der Roman selbst: Erst am
Romanende wird deutlich, dass die erzählte Zeit nicht mit dem Anfangskapitel begonnen
hat, sondern dass dieses Kapitel einem arbiträren Schnitt in der Diegese zu verdanken ist.
Der Nervenzusammenbruch Hal Incandenzas bei seinem Aufnahmegespräch an der Uni-
versität (S. 3–17) bildet den Schluss seiner Entwicklung und der erzählten Zeit. Zumindest
das erste Kapitel bietet sich aufgrund der chronologischen und logischen Schließung der
erzählten Zeit so also zu einer zweiten Lektüre (und sogar zu der im Titel angedeuteten
‚unendlichen‘ Lektüre) unmittelbar an.
   Solche Momente lassen vermuten, dass das Stuplime womöglich einen Doppelgänger hat,
der sich in populären und realistischen Langformen manifestiert. Deirdre Shauna Lynch

35   Lynch (2015, 150).
36   Vgl. Ngai (2004, 252).
37   Vgl. Osborne (2013, 184, 187).
38   Letzler (2014, 143) vertritt die erste Position, Curtis (2016) die zweite.

Peter Lang                                                               Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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rekonstruiert die Potenziale der langen Form in britischen Romanen des 18. und frühen
19. Jahrhunderts anhand von Leseberichten, Kritiken und (medizinischen) Leseanwei-
sungen als Einübung langandauernder und ausgeglichener Gefühle und niedriger Affekt­
intensitäten. Das Wiederlesen etwa diente nicht ausschließlich dem vertieften Verstehen
oder Meistern eines Textes („cognitive mastery“39): Die langandauernde oder wiederholte
Lektüre derselben Texte galt in medizinischen Diskursen als therapeutisches Mittel der Wahl
gegen Unruhe und Unstetigkeit.40 Lynch hebt hervor, dass die beruhigende Wirkung des
Lesens insbesondere langer Romane selbst zur Gewohnheit – oder Angewohnheit – werden
könne, sich in die ritualisierten Zeitabläufe der bürgerlichen Kleinfamilie einfüge und an
protestantische Gebets- und Bibellektürepraktiken anschließe.41 Von Richardsons Brief-
roman Clarissa über Lawrence Sternes Tristram Shandy bis hin zu Jane Austens Romanen
(die auch von Männern in Serie oder mehrfach gelesen wurden) verwirklicht Lynch zufolge
der lange Roman „low-intensity, long-lasting affects“42:

        The fact that novels are long – long enough so that even on a first reading a novel can be some­
        thing you can make a habit of – might contribute to the form’s increasing authority for a culture
        that wanted its standard texts and favourite authors to be steadying ones. Novel reading has had
        time on its side.43

Die Einbettung in alltägliche Routinen wird dabei durch häusliche Schauplätze und Lese-
inszenierungen auch auf der thematischen Ebene reflektiert.44 In diesem Dispositiv formiert
sich um 1800 nicht allein eine praktisch-habituelle (im Gegensatz zu einer intellektuellen)
Lesehaltung, sondern auch eine zunehmend weiblich konnotierte Emotionalität, die sich
von Zerstreuung und Vergnügungssucht abgrenzt und durch Innerlichkeit und Ausgegli-
chenheit auszeichnet. In der Folge wird sie (noch bei Reinhard Kuhn) als intellektuell und
sozial anspruchslose Langeweile und Stumpfsinnigkeit abqualifiziert und als Frauen- und
Unterschichtsyndrom von Haltungen abgegrenzt, die sich wie der ennui und die Melan-
cholie zu Posen einer elitären, urbanen und existenzialistischen Abscheu von der profanen
Welt stilisieren ließen.45
   Die ritualisierten Lesepraktiken im 18. und 19. Jahrhundert zielen auf eine Struktu-
rierung und Einhegung der beunruhigenden Erfahrung von Differenzlosigkeit ab, indem
sie Gewöhnung und Ritualisierung der Lektüre an die Stelle der Orientierungslosigkeit

39   Lynch (2015, 150).
40   Vgl. Lynch (2015, 153, 171, 180–182).
41   Vgl. Lynch (2015, 156 f.).
42   Lynch (2015, 175).
43   Lynch (2015, 153).
44   Vgl. Lynch (2015, 187).
45   Vgl. Goodstein (2005, 56), vgl. Kuhn (1976, 6): „The commuter sitting in the subway train who puts away a
     crossword puzzle to watch names of stations flash by is in exactly the same state. This type of boredom, which
     the French call ‚desoeuvrement‘, is hardly worth serious study. It is a temporary state dependent almost entirely
     on external circumstances.“ Lynch kann allerdings anhand männlicher Leseberichte aus dem 19. Jahrhundert (so
     von Walter Scott, J. E. Austen-Leigh, Lord Holland, Edward Byles Cowell; vgl. Lynch 2015, 186) nachweisen,
     dass das ritualisierte Wiederlesen von Austen auch von Männern als Ausgleich zum aufreibenden Berufsalltag
     gepflegt wurde.

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setzen. Das gilt auch für die strukturell angelegten und thematisierten arbiträren Zeitre-
gimes als Stabilitätsgaranten in Infinite Jest, die auf eine Akzeptanz alltäglicher Routinen
und Klischees mangels besserer Alternativen hinauslaufen. Die Erzählmuster, die einen
Faden durch das Labyrinth der Informationsflut legen, werden als abgegriffene Klischees
präsentiert – doch auch, wenn sie nicht ernst zu nehmen sind, werden sie als provisorische
Strukturierungen und Orientierungsvorgaben innerhalb einer immensen Textmenge wirk-
sam. Routinisierung läuft hier nicht auf eine konzeptuelle Kontrolle des Stuplimen hinaus,
sondern auf eine Kontrolle durch begriffslose Affektmodellierung. Ich möchte Karl Ove
Knausgårds Romanreihe Min Kamp nun als Beispiel für eine solche Affektmodellierung
vorstellen, die sich auch über das Inszenieren des Schreibprozesses artikuliert.

IV. Alltag und Ethnographie. Die Popularität von Knausgårds Romanreihe Min Kamp
(2009–2011) über Skandinavien hinaus wurde in Rezensionen und Leseberichten auf
ihre Einladung zu einem (oft schadenfrohen) Voyeurismus zurückgeführt. Die Haupt-
motive des Scheiterns und der Beschämung im Gestus einer Autobiographie legten diese
Lesehaltung nahe, und Autoreninterviews und Presseberichte unterstützten sie weiter.
Per Thomas Andersen betont außerdem die Attraktivität der Wiedererkennungseffekte,
welche die Romane auslösten:

       All of a sudden hundreds of thousands of Scandinavians found themselves with an insatiable drive
       for reading infinitely long novels with no plot, no heroes, no anti-heroes, no clear message, just
       stories overburdened with details about trivial everyday events and everyday thoughts.46

Einen hohen Stellenwert haben also das indexierende Nennen, Auflisten und Beschreiben
alltäglicher Dinge.47 Auskünfte über Plattensammlungen, Möbel, Essen, Kleidung, über
häusliche Routinearbeiten wie Putzen, Abwaschen, Einkaufen, Aufräumen oder zähe
Auseinandersetzungen mit Partnerin und trotzigen Kleinkindern waren offenbar für viele
Lesende als schlichte Zurückspiegelung ihrer eigenen Biographie oder Lebenswelt attraktiv.
Die einzelnen Bände arbeiten mit Rahmen- und Binnenerzählungen, in denen sich die
Erzählgegenwart des schreibenden oder erlebenden Ich mit Erinnerungen verschränkt.
Sie bestehen aus digressiven Aneinanderreihungen, in denen essayistische Reflexionen mit
detailreich geschilderten Episoden und Situationsschilderungen abwechseln. So stellt sich
der Eindruck gedehnter, übereinanderliegender Zeitschichten ein. Dass sich so die Er-
eignislosigkeit des Alltagslebens unvermittelt mitteilt, macht in den Augen des britischen
Schriftstellers und Kritikers Hari Kunzru das Besondere an Knausgård aus: „This is not
boring in the way bad narrative is boring; it is boring in the way life is boring, and somehow,
almost perversely, that is a surprising thing to see on the page.“48
   Inge van de Ven argumentiert, Min Kamp verbinde in einer „aesthetics of scale“49 das
Prinzip der Datenbank mit dem der Erzählung. Die Prinzipien von Serialität und Akkumu-
lation zeigen sich, wenn erzählende Elemente grundsätzlich unabgeschlossen bleiben, Listen

46 A ndersen (2016, 555).
47 Vgl. A ndersen (2016, 556), Johnston (2018, 369).
48 Kunzru (7.3.2014).
49 van de Ven (2018, 312)

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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im Prinzip unendlich erweiterbar sind und sich wiederholende Ereignisse nicht metonymisch
und exemplarisch zusammengefasst werden.50 Die Beschreibung einer Autofahrt durch die
Vororte von Malmö ins Zentrum signalisiert durch die Reihung allgemeiner Benennungen
zugleich Fülle und Beliebigkeit, erschöpfende Genauigkeit und Erweiterbarkeit:

        Supermärkte, Autohändler, Einkaufszentren, Tankstellen, in den Schaufenstern an der Straße
        waren zunächst billige und einfache Sachen ausgestellt, und je näher wir dem Zentrum kamen, teure
        und exklusive Dinge. Menschen, die auf den Bürgersteigen an den Schaufenstern vorbeigingen,
        Autos, die an den Bürgersteigen und Schaufenstern entlangfuhren, Ampeln und Fußgängerüber-
        wege, Plätze und Straßencafés, kleine und große Parks, ein Kanal, ein Bahnhof, Hotels mit Fahnen
        vor den Eingängen, Sportvereine, Bekleidungsgeschäfte, Schuhgeschäfte, Elektrizitätsgeschäfte,
        Möbelgeschäfte, Lampengeschäfte, Teppichgeschäfte, Optiker, Buchhändler, Computerläden,
        Auktionshäuser, Kücheneinrichtungen. […] Die ganze enorme, von Details wimmelnde Welt war
        aufgeteilt in verzwickte und ungeheuer fein eingestellte Systeme […].51

Die Reihenfolge der Benennungen folgt zunächst noch syntagmatisch und chronologisch
der Fahrtrichtung (preiswerte Läden an der Peripherie, teure in Zentrumsnähe), schwenkt
dann aber in die Logik des Paradigmas um, wenn auf einer gesamten Druckseite Typen
von Geschäften und schließlich Kleidungsmarken aufgezählt werden. Daran schließen
sich Überlegungen über die feinen sozialen Unterschiede an, die sich als stummes Praxis-
wissen in den Ordnungen und Aufteilungen alltäglicher Details manifestieren. Ohne dass
der Name fällt, erinnern diese Gedanken an die Untersuchungen des Soziologen Pierre
Bourdieu, der in Distinction (1979) ethnographisch grundierte Forschungen zum Alltags-
leben der Franzosen in den 1960er und 1970er Jahren mit Überlegungen zur Entstehung
von Klassenbewusstsein verband. In den bei Knausgård immer wieder eingeschobenen
Reflexionen erweist sich eine essayistische Wissenspoetik – oder, genauer gesagt: eine an
ethnographischen Vorgehensweisen geschulte Perspektive – als eine weitere Organisations-
form des Romans.52 Das Schreibprogramm ähnelt hier der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno
Latours, die einen verfremdend-exotisierenden Blick auf die eigene Gesellschaft mit einem
betont langsamen, rasche Schlussfolgerungen vermeidenden methodischen Vorgehen ver-
bindet: „In gewisser Weise gleicht dieses Buch einem Reiseführer durch ein Gebiet, das
gleichzeitig völlig banal – sie ist nur die gewohnte soziale Welt – und vollkommen exotisch
ist – wir werden lernen müssen, jeden einzelnen Schritt zu verlangsamen.“53
    Das soziologisch-ethnographische Schreiben kommt in Lieben als Vorbild und als
Kontrastfolie in den Blick, und zwar in der Auseinandersetzung des Erzählers mit den
Arbeiten seines Hauptgesprächspartners und Freundes Geir – er ist Autor einer Studie
über die Subkultur schwedischer Boxer und hält sich in der erzählten Gegenwart des Jahres

50   Vgl. van de Ven (2018, 326).
51   K nausgård (2018, 340).
52   Vgl. K nausgård (2018, 342).
53   L atour (2007, 37). Auch an anderen Stellen geht es darum, beim Recherchieren „die Geschwindigkeit zu
     drosseln“, L atour (2007, 44). Die Metaphorik von langsamer und schneller Methodik soll die Vorzüge de-
     skriptiver und sogar positivistischer im Vergleich zu erklärenden und kritischen Ansätzen herausstreichen, vgl.
     L atour (2007, 270). In Band 6 (K nausgård [2018, 759, 760]) wird Latours Studie Wir sind nie modern gewesen
     zustimmend erwähnt.

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2003 mehrere Monate lang zur Feldforschung im Irakkrieg auf.54 Trotz der Bewunderung
für den Soziologen führt für die Erzählerfigur kein Weg an der Fiktion vorbei: „War die
Fiktion wertlos, galt das auch für die Welt, denn wir sehen sie heute durch die Fiktion.“55
Eine Alternative zu den aus der Figurensicht inflationären, konventionalisierten und be-
deutungslos gewordenen Narrativen56 findet der Erzähler in Schreibweisen, welche einen
neuen Blick auf ‚Welt‘ ermöglichen und nicht das Entwerfen einer Erzählung anstreben:
„Ich dachte nicht an das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fiktion, denn wenn ich
schrieb, öffnete sich mir eine Welt, die mir eine Weile alles bedeutete.“57 Skalierung ist ein
wichtiger Aspekt dieses Vorgehens: Eine Neujustierung von Raum- und Zeitskalen könne
den immergleichen, nivellierenden Abstand zur Welt ergänzen und sie vor dem Hintergrund
kleinster oder größter Maßstäbe neu fassen.58 Das Schreibprogramm zielt damit auch darauf
ab, der Zeitlichkeit und den Phänomenen des Alltagslebens durch das Herauspräparieren
dessen, was sonst übersehen oder verschwiegen wird, Sinn zu verleihen. Im ersten Band
wird das so formuliert:

       Die Welt verstehen heißt, einen bestimmten Abstand zu ihr einzunehmen. […] In unserer ge-
       samten Kindheit und Jugend streben wir danach, den korrekten Abstand zu den Dingen einzu-
       nehmen. […] Dann gelangen wir eines Tages an den Punkt, an dem alle notwendigen Abstände
       bestimmt, alle notwendigen Systeme bestimmt sind. Es ist der Punkt, an dem die Zeit schneller
       zu vergehen beginnt. Sie stößt auf keine Hindernisse mehr, alles ist festgelegt […] Sinn erfordert
       Fülle, Fülle erfordert Zeit, Zeit erfordert Widerstand. Wissen ist Abstand, Wissen ist Stillstand
       und der Feind des Sinns.59

Die recht simple Gleichung, die der Erzähler hier aufstellt, begreift Sinnhaftigkeit als
Funktion von Detailfülle. Detailfülle wiederum setzt eine verlangsamte Zeit voraus, und
deren Möglichkeitsbedingung ist die Abwesenheit von Wissen als Inbegriff einer zu großen
Distanz. Weder die zu ‚schnell vergehende Zeit‘ bei habitualisierter Betrachtung noch der
kontrollierend stillstellende Zugriff auf die Welt sind angemessen.60 In der Zurückweisung
von vorgefassten Systemen und Kategorien findet sich eine weitere Parallele zur alltagseth-
nographischen Soziologie und besonders zur Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours.61
Bei Knausgård wird im Rahmen einer Poetik des Enzyklopädischen die langsam entfaltete

54   Vgl. K nausgård (2013b, 92–94, 164 f.).
55   K nausgård (2013b, 725).
56   Vgl. K nausgård (2013b, 724).
57   K nausgård (2016, 581). Hier und an anderen Stellen wird das Autobiographische als Schreibanlass und als
     Ermöglichungsbedingung des Schreibens angesprochen, ohne dass dies einen Wahrheitsanspruch einschlösse
     – die Erzählerfigur gibt an, Details oder Dialoge erfunden zu haben bzw. so beschrieben zu haben, wie sie
     gewesen sein könnten. H alfmann (2017, 12) arbeitet heraus, wie der inszenierte Schreibakt sukzessive den
     Authentizitätsanspruch zersetzt; diesen Aspekt holt Knausgårds Poetik jedoch nicht ein.
58   Vgl. K nausgård (2013b, 724), K nausgård (2013a, 17). Der Wechsel zwischen der (überwiegenden) Nahsicht
     auf leicht übersehene Alltagsphänomene und Versuchen, die ‚Tiefenzeit‘ geologischer, kosmologischer und his-
     torischer Zeiträume als Referenzrahmen zu verwenden, ist charakteristisch für die Romanreihe, vgl. K nausgård
     (2015, 482, 672)
59   K nausgård (2013a, 17).
60   Vgl. K nausgård (2013b, 166, 759).
61   Vgl. L atour (2007, 176 f., 238 f.).

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Detailfülle zur Voraussetzung der literarischen und epistemologischen Sinnstiftung. Sie
schließt damit auch an zeitgenössische Achtsamkeits- und Entschleunigungsdiskurse an,
indem sie die ‚lange Weile‘ der gemächlichen, aber doch fortschreitenden Lektüre einrech-
net. Die etwa 12 Mitglieder umfassende Gruppe, die sich auf der akademischen Plattform
Post45 zusammenschloss, um – analog zum Infinite Summer-Projekt – Min Kamp zu le-
sen, verschrieb sich daran anschließend einer verlangsamten, bewusst auf den Leseprozess
Bezug nehmenden Form der Literaturkritik: „slow-form criticism“62 sollte der zeitdehnenden
Schreibweise Knausgårds gerecht werden.

V. Eigenzeit und Zeitkonzepte. Skalierung und Verlangsamung als Kernelemente der
Knausgård’schen Poetik verdienen allerdings – gerade im Hinblick auf das Genre des
komplexen Langromans – einen zweiten Blick, der über das Bestimmen des rein formalen
Schreibprogramms und seiner Temporalisierungsstrategien hinaus auch dessen Dramati-
sierung und affektive Einfärbung berücksichtigt. Die Schilderungen von Langeweile und
Überdruss in der Romanreihe sind hier entscheidend, denn an ihnen konstituiert sich die
für das gesamte Projekt bestimmende autobiographische Sprech- und Schreibposition. Im
zweiten Band, an dessen Ende der Erzähler schließlich mit dem Schreiben von Min Kamp
beginnt, ist er nach Abschluss eines Romans (in autobiographischer Lesart: Knausgårds
En tid for alt, 2004) unfähig, erneut fiktional zu schreiben, und leidet unter der Eintönig-
keit des häuslichen Alltags in der Elternzeit.63 Geir dagegen kehrt nach mehrmonatiger
Abwesenheit nach Stockholm zurück, „beladen mit Mikrokassetten voller Interviews,
nachdem er sich wochenlang mitten im Bombenhagel aufgehalten hatte“, und nach einer
depressiven Phase vor der Reise nun „wie runderneuert“64. Die Figur hat als teilnehmen-
der Beobachter Feldforschung unter Friedensaktivisten betrieben, die sich in Bagdad als
menschliche Schutzschilde aufhielten.65 Geirs Bereitschaft, sich in ein Kriegsgebiet zu be-
geben und Boxen zu lernen, um sich ganz auf die maskuline, alles andere als intellektuell
geprägte Subkultur einlassen zu können, steht in scharfem Kontrast zu den vermeintlichen
Defiziten, die das schreibende Ich an sich selbst registriert. In allen sechs Bänden artiku-
liert der Erzähler seine Schwierigkeiten mit einer als befremdlich feminin wahrgenomme-
nen Zuständigkeit für Haushalt und Kinderbetreuung und mit dem Leben in Schweden,
einem Land, das sich der weitestmöglichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern
sowie einem respektvollen Umgang mit Minderheiten verschrieben hat.66
   Über das Alltägliche und über die Selbstfindung unter diesen Umständen zu schreiben
ist nur möglich, indem sie zu einem ‚Kampf‘ stilisiert werden, der in einer unheroischen,
aber gewissenhaften Pflichterfüllung liegt.67 Diese neo-stoische Haltung geht mit einem

62 Sinykin (6.3.2016).
63 Vgl. K nausgård (2013b, 92–94).
64 K nausgård (2013b, 162).
65 Knausgårds Vorbild für diese Episode ist der norwegische Publizist Geir Angell Øygarden, der seine 2003 ge-
   machten Beobachtungen aus dem Irak 2011 unter dem Titel Bagdad Indigo in Knausgårds Pelikanen forlag,
   Stavanger, veröffentlichte.
66 Vgl. K nausgård (2013b, 24 f., 96, 759), K nausgård (2018, 273, 913).
67 Vgl. K nausgård (2013a, 46 f.)

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Antiintellektualismus einher: Gesucht wird eine Schreibweise, welche die Begegnung
der Lesenden mit Körper, Blick und Stimme68 ermöglicht und literarisch ein Gegenüber
herstellt, das sich einer Auflösung in „sekundäre[n] Phänomene“69 durch philosophische,
soziologische oder auch narrative Schablonen entzieht. Auch der gelingende Schreibprozess
wird als intuitiv – und bezeichnenderweise oft als die schnelle Produktion großer Text-
mengen – inszeniert.70 Das intuitive Schreiben wird im sechsten Band, der rückblickend
noch einmal die gesamte Romanreihe thematisiert, als weiterer Authentizitätsmarker der
maskulinen, in einer irreduziblen körperlich-stimmlichen Präsenz verankerten Sprecher-
position angeführt:

       [I]ch begann mit einer leeren Seite und dem unbedingten Willen zum Schreiben, und ich endete
       mit diesem bestimmten Roman. Darin liegt der Glaube an das Intuitive, das so gut wie blind ist,
       und daraus lässt sich sowohl eine Poetik wie eine Ontologie ableiten, glaube ich, denn für mich ist
       der Roman eine Form des Denkens, radikal anders als die Form des Denkens in Essays, Artikeln
       oder Abhandlungen, weil im Roman die Reflexion der Erkenntnis nicht als Mittel übergeordnet,
       sondern allen anderen Elementen gleichgestellt ist.71

Schließlich wird die Sprecherposition auch – und das unterscheidet sie von einem ethno-
graphischen Blick wie von den Ordnungsprinzipien der Datenbank – historisch grundiert.
Der Blick auf die Gegenwärtigkeit des Alltags muss, wie gesehen, ein verfremdender sein,
um wirkungsvoll zu werden. Der Erzähler findet einen solchen Außenstandpunkt in der
Vergangenheit: In Geirs Buch über das Boxen, aber auch bei seinen Gewährsleuten Fried-
rich Nietzsche, Yukio Mishima, Ernst Jünger und E. M. Cioran sowie bei Michel Serres
sieht er einen „Ort außerhalb der Gegenwart […], entweder an ihrem Rand, […] oder in
der Tiefe der Geschichte“72 – eine Welt, in der „weiterhin Werte wie Männlichkeit, Ehre,
Gewalt und Schmerz, die unsere Wohlstandsgesellschaft zurückgedrängt hatte“73, gelten.
Die temporale Skalierung, die in Min Kamp den gegenwärtigen Alltag aus einer Distanz als
unbefriedigend, langweilig und durch und durch standardisiert erscheinen lässt, erstreckt
sich vorwiegend in die Vergangenheit, die biographische ebenso wie die europäische.
   Es ist daher sicherlich zutreffend, Knausgårds Romane als Verzögerung einer unmittel-
baren Gegenwartserfahrung zu betrachten und sie so als Gegenentwurf zur unmittelbaren
Interaktion in sozialen Medien zu beschreiben.74 Auch Räume ‚autonomer Sozialität‘ und

68 Vgl. K nausgård (2013b, 166). K nausgård (2013b, 724): „Das Erfundene hat keinen Wert, das Fiktionale hat
   keinen Wert. Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher
   und Essays, die Genres in der Literatur, in denen es nicht um eine Erzählung ging, die von nichts handelten,
   sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht,
   einem Blick, dem man begegnen konnte.“
69 K nausgård (2013b, 166), vgl. K nausgård (2013b, 724).
70 Vgl. K nausgård (2016, 581).
71 K nausgård (2018, 193).
72 K nausgård (2013b, 164 f.).
73 K nausgård (2013b, 164).
74 Vgl. van de Ven (2018, 331, 334). Dessen ungeachtet argumentiert Andreas M ahler (2018, 79–81) allerdings
   überzeugend, dass Knausgårds Romane als ‚Mega-Selfies‘ funktionieren und das epistemologische Versprechen
   der sozialen Medien – Beglaubigung des eigenen Lebens in der schlichten, im Wiedererkennen aufgehenden
   Präsentation von biografischen Episoden – weitgehend ungeprüft übernehmen.

Peter Lang                                                           Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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‚Gegenzeiten‘ zur durchgetakteten Arbeitswelt stellen Lesenden zweifellos die erzählstruktu-
rellen, affektbezogenen und epistemologischen Strategien bereit.75 Doch die Freiräume und
Frei-Zeiten, die sich in der langen Lektüre von Min Kamp öffnen, sind nicht unbedingt an
liberale oder progressive Ideen gebunden – Erwartungen, die offenbar die Teilnehmenden
der Slow Burn-Lesegruppe auf der Post45-Plattform gehegt hatten, die alle sechs Bände der
Reihe sukzessive las. Ihre Freude an dem „konzeptionellen Konsens, mit dem der Prozess
der Lektüre einhellig über das Produkt gestellt wurde“76, wich schließlich der Ernüchterung:
In den Beiträgen der Lesegruppe zum sechsten Band steht die Kritik an den gender- und
gesellschaftspolitischen Positionen im Mittelpunkt, die Knausgård in seiner Apologie des
Projekts bezieht und die an eine Zeitsemantik vormoderner Perspektiven auf die Gegen-
wart gekoppelt sind. Für Rachel Greenwald Smith stellt sich die Frage, ob die investierte
Lesezeit sie nicht in eine Komplizität mit diesen Positionen hineinmanövriert habe.77 Die
Erwartung an die Form des langen komplexen Romans mit modernen und postmodernen
Zügen, eine Infragestellung von Weltentwürfen und eine selbstreflexive Suspendierung
von Wirklichkeits- und Wahrheitsansprüchen zu leisten, löst Knausgårds Reihe für diese
Kritiker nicht ein.
   Zeitsemantiken und Zeitthematisierungen akzentuieren daher vergleichbare formale
Organisationsprinzipien ästhetischer Eigenzeit bei Karl Ove Knausgård und David Foster
Wallace auf unterschiedliche Weise. Beide Autoren übernehmen von Langromanen der
Moderne und der Postmoderne die Kombination von großem Umfang und Detailfülle ohne
durchgehende narrative Strukturierung. Beide Autoren evozieren durch das Ausklammern
oder Suspendieren von Relevanzkriterien Langeweile und Verwirrung, um diese Affekte
und die damit verbundene Zeiterfahrung gegenwartsdiagnostisch zu reflektieren und lesend
nachvollziehbar zu machen (bei David Foster Wallace geschieht dies durch eine Ästhetik
des Stuplimen). Die Option, der quälenden und überfordernden Banalität des Alltäglichen,
aber auch der Reflexion (‚analysis paralysis‘) durch eine Zurückweisung von Denken und
Wissen zu entkommen, erwägen ebenfalls beide Autoren. Wallace bietet Leseroutinen und
-rituale sowie Klischees und Erzählschablonen jedoch als kontingente, nur pragmatische
und damit auch problematische Orientierungsvorgaben an. (Diese Problematik wird auf
der thematischen Ebene verdeutlicht, wenn es um ihrerseits abhängig machende Thera-
pieangebote und institutionelle Zeitregimes geht.) Knausgårds Schwanken zwischen einer
Verklärung des Banal-Alltäglichen als Sphäre des Konkreten und des Authentischen und
einer Verachtung des Alltäglichen als des Femininen und Unheroischen rekapituliert
hingegen auch in formgeschichtlicher Perspektive eher traditionelle Erzählmuster – das
Überhöhend-Epische und das lediglich Dokumentierend-Enzyklopädische –, ohne über
diese Muster hinauszuweisen.

75 Vgl. McGurl (2016, 465), Gamper, Hühn (2014b, 17).
76 Griem (2018, 252).
77 Vgl. Smith (23.10.2018)

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Kuhn, Reinhard (1976): The Demon of Noontide. Ennui in Western Literature. Princeton.
Kunzru, Hari (7.3.2014): Karl Ove Knausgaard. The latest literary sensation. In: The Guardian on-
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Peter Lang                                                      Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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