ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen im Vorschulalter
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Fortbildung | „Artikel des Monats“ ADHS und Autismus-Spektrum- Störungen im Vorschulalter Helmut Hollmann | Kinderneurologisches Zentrum, LVR-Klinik Bonn Ein exemplarischer Fall dienst und klare Abläufe und Strukturen Im Rahmen der einwöchigen interdis- Marius, einziges Kind der Familie, war gewöhnt, gerieten gleichzeitig in der Erzie- ziplinären sozialpädiatrischen Blockbe- bereits als Säugling unruhig und anstren- hung ihres Sohnes zunehmend mehr un- handlung kristallisierte sich in Beobach- gend. Er hatte große Mühe, seinen Schlaf- ter Druck. Deshalb erfolgte die Überwei- tung, Zielanamnese und Fragebögen als und Ernährungsrhythmus zu finden und sung zum Kinder- und Jugendpsychiater, zentrales Problem des Jungen die soziale schrie dementsprechend viel. Beim Mut- der die Diagnose „ADHS“ stellte. Neben Interaktion heraus. Gleichzeitig wurden ter-Kind-Turnen ging er oftmals eigene intensivierter Anleitung der Eltern erfolg- Schwierigkeiten auf der sprachlichen Ebe- Wege und war nur schwierig wieder einzu- te zur Einschulung aufgrund der weiterhin ne beim Verständnis von Inhalten sowie fangen. Auch im Kindergarten hatten die ausgeprägten Verhaltensproblematik von in der dialogischen Kommunikation deut- Erzieherinnen große Mühe, Marius in die Marius die medikamentöse Einstellung lich. Schließlich ergaben sich bei insgesamt Gruppenaktivitäten zu integrieren. Im- mit Methylphenidat. Die Eltern hatten überdurchschnittlicher Intelligenz Belege mer wieder lief er weg und beschäftigte diesem Vorgehen selbstverständlich zuge- für besondere Interessengebiete, gleich- sich mit eigenen Dingen. stimmt, waren selbst aber nicht überzeugt zeitig ein hohes Maß an Angewiesenheit Vom behandelnden Kinder- und von der Richtigkeit ihres Vorgehens. Als auf feste Abläufe und Rituale mit ausge- Jugendarzt wurde zunächst eine ergothe- dann nach wenigen Wochen in der Schule prägter Irritation bei Abweichungen sowie rapeutische Behandlung verordnet, um unter mittlerer Dosierung (0,6 mg/kg KG) nebenbefundlich reduzierte Fertigkeiten den Jungen über die zielgerichtete Be- die Situation dort eskalierte, Marius in der in der Feinmotorik und Gesamtkörper- schäftigung dann möglichst auch an Be- Gruppe zunehmend weniger tragbar wur- koordination. So wurde in breiter Über- tätigungen in der Gruppe heranzuführen. de und die Einleitung des Wechsels auf die einstimmung von Anamnese, klinischen Dies zeigte jedoch keinen durchgreifen- Förderschule durch die betreuende Klas- Eindrücken und spezifischen Befunden den Effekt, auch wenn einige Besserung- senlehrerin angekündigt wurde, wies der die Diagnose „Autismus-Spektrum-Stö- stendenzen im Kindergarten beschrie- behandelnde Kinder- und Jugendarzt die rung, Asperger-Syndrom“ gestellt. ben wurden. Die Eltern, beide im Staats- Familie auf die Eltern-Kind-Station ein. Marius ist jetzt knapp 15 Jahre alt und dann sanktionierenden Erziehungsstil chotherapie vorgesehen, um ihm hierzu steht mittlerweile seit 7 Jahren in unse- hin zu einem variableren Vorgehen mit mit Einbezug der Eltern eine eigene Platt- rer Mitbehandlung. Der Verlauf ist äu- Berücksichtigung der Tagesverfassung form im geschützten Rahmen zu eröffnen. ßerst wechselhaft. Die Eltern haben in von Marius zu erreichen. Der Junge selbst Die Eltern wie auch Marius selbst sind der Kombination von verhaltenstherapeu- besucht inzwischen unter fortgesetzter mit dem Verlauf seit der Diagnosestellung tisch orientierter Beratung, autismusspe- Schulbegleitung die 8. Klasse des Gym- insgesamt zufrieden. Seit der 3. Klasse wird zifischer Einzelbehandlung für Marius nasiums. Hier überzeugt er in einzelnen bei klinisch und testdiagnostisch gesicher- durch das regionale Autismus-Therapie- Fächern durch sein fulminantes Wissen, ter Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyper- Zentrum (ATZ) und umfassende Hilfe- ist aber sozial ein „geduldeter Außensei- aktivität erneut Methylphenidat in niedri- stellung in der Schule mit Integrations- ter“. Jetzt im Jugendlichenalter stellt die ger Dosierung (0,2 mg/kg KG) eingesetzt. helfer einen Modus gefunden, um mit den Befassung mit seiner Situation eine gro- Die klinische Response ist durch Auslass- weiterhin ausgeprägten Besonderheiten ße Herausforderung dar, was von Mari- versuche im Verlauf belegt. von Marius zurechtzukommen. Beson- us aber noch weitgehend abgelehnt oder Der zu Beginn der Schulzeit mitbehan- ders bedeutsam war für sie, den Wechsel rationalisiert wird. Deshalb ist die Auf- delnde Kinder- und Jugendpsychiater hat von einem extrem strukturierenden und nahme einer begleitenden Kurzzeit-Psy- die diagnostische Ausweisung nicht nach- 298 Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de
Fortbildung | „Artikel des Monats“ vollziehen können. Ein Gespräch hierüber ne beim Asperger-Syndrom dieses Vorge- bensjahr und persistiert während der ge- war von ihm leider nicht erwünscht. hen nicht unterstützen, nachdem es erst samten Lebenszeit. über viele Jahre hinweg gelungen ist, das Als Atypischer Autismus (F 84.1) wird Kerntrias der Leitsymptome von Bewusstsein für die Bedeutung dieses Stö- eine auffällige oder beeinträchtigte Ent- Autismus-Spektrum-Störungen und rungsbildes zu schärfen. wicklung entsprechend den Kriterien zum Grundzüge der Diagnostik Autismus-Spektrum-Störungen sind Frühkindlichen Autismus bezeichnet, die Autistische Störungen werden in der ICD- durch eine symptomatische Kerntrias ge- sich erst später manifestiert oder nicht in 10 im Kapitel F 84 unter der Überschrift kennzeichnet. Diese Leitsymptomatik um- allen Störungsbereichen einen Ausprä- „Tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ fasst grundlegende qualitative Abweichun- gungsgrad entsprechend der Definition geführt. Diese Bezeichnung führt oftmals gen in der sozialen Interaktion, in Sprache erreicht. Atypisches Erkrankungsalter zu Missverständnissen, da sie umgangs- und Kommunikation sowie bei Interessen und atypische Symptomatik können auch sprachlich eine besonders schwerwiegende und Aktivitäten mit Stereotypien, repeti- kombiniert sein. Beeinträchtigung zu bezeichnen scheint. tiven Handlungen und Sonderinteressen. Das Asperger-Syndrom (F 84.5) weist Im englischen Original bedeutet „perva- Die Abweichungen sind in der Kombina- in der Definition als führende Symptoma- sive developmental disorder“ hingegen die tion grundsätzlich bei den betroffenen tik die qualitative Beeinträchtigung der ge- Charakterisierung der besonderen psychi- Kindern vorhanden, jedoch in sehr un- genseitigen sozialen Interaktion aus mit schen Situation. Unter Berücksichtigung terschiedlicher Ausprägung. ähnlichen Kriterien wie beim Frühkind- der bisher identifizierten und polygeneti- Das diagnostische Vorgehen ist partiell lichen Autismus. Daneben liegen repeti- schen Grundlage für autistische Symptome abhängig vom Alter des Kindes und muss tive und stereotype Verhaltensmuster so- und deren variierende Konstellation und die Symptomausprägung in den 3 Katego- wie begrenzte und ungewöhnlich intensi- Ausprägung hat sich inzwischen die we- rien erfassen. Zur Anwendung kommen ve Interessen oder Aktivitäten vor. Es fehlt sentlich besser charakterisierende Bezeich- neben der Anamneseerhebung mit den eine klinisch eindeutige allgemeine und nung „Autismus-Spektrum-Störungen“ Eltern und der Interaktions- und Verhal- schwerwiegende Verzögerung der gespro- international durchgesetzt. Hier werden tensbeobachtung des Kindes als klinischer chenen oder rezeptiven Sprache und der Grundlage verschiedene autismusspezifi- kognitiven Entwicklung. sche Fragebogen-Verfahren. Aktuell ist der Schließlich bietet die ICD-10 die Mög- Autismus-Spektrum-Störungen: Trias der Kernsymptome und sogenannte „Goldstandard“ der Diagnos- lichkeit, noch „Sonstige Tiefgreifende Ent- Abgrenzung gegenüber ADHS tik die Kombination des Eltern-Interviews wicklungsstörungen“ (F 84.8) zu kodieren. ADI-R mit dem standardisierten Beobach- Diese Restkategorie wird für die prakti- ◾◾ Qualitative Abweichungen in der tungsverfahren ADOS in verschiedenen sche Anwendung aber nicht empfohlen. sozialen Interaktion altersbezogenen Modulen. Obwohl so ein Unter der Vorstellung einer spektra- ◆◆ hier potenzielle Symptom- strukturiertes und standardisiertes Vor- len Verteilung von autistischen Sympto- überschneidungen mit ADHS gehen vorgegeben ist, gilt es festzuhalten, men sind zunehmend Übergänge sowohl ◾◾ Qualitative Abweichungen in dass kein „Test auf Autismus“ existiert. Die im klinischen Alltag als auch auf der dia- Sprache und Kommunikation Diagnosesicherung stellt hohe Anforde- gnostischen Ausweisungsebene zu beob- ◆◆ gehören nicht zum ADHS rungen an die Diagnostiker. Diese müs- achten. Der in der ICD-10 nicht erwähnte ◾◾ Qualitative Abweichungen bei In- sen mit den verschiedenen Ausprägungen „Hochfunktions-Autismus“ als Asperger- teressen und Aktivitäten mit Ste- des Störungsbildes gut vertraut und in der ähnlicher Symptomatik, aber mit vorange- reotypien, repetitiven Handlun- Anwendung der Verfahren geschult sein. gangener Sprachentwicklungsverzögerung gen und Sonderinteressen. beziehungsweise -störung, wird oft nach ◆◆ gehören nicht zum ADHS Klassifikation der Autismus- den Kriterien des Frühkindlichen Autis- Spektrum-Störungen nach ICD-10 mus mit F 84.0 verschlüsselt. Der Frühkindliche Autismus (F 84.0) Formen von Niedrig- und Hochfunktions- wird definiert als tiefgreifende, meist Symptomatik und diagnostisches Autismus sowie deren Übergänge unter- wahrscheinlich genetisch bedingte Ent- Vorgehen in der Praxis schieden. Zumindest nach den Vorstellun- wicklungsstörung mit den 3 Leitsymp- Kinder mit einer autistischen Symptoma- gen im neuen Klassifikationssystem DSM- tomen: Störung von sozialer Interaktion, tik können bereits im Säuglingsalter auf- V sollen die Eigennamen für autistische Störung von Sprache und Kommunikation fallen. Die Symptome sind dabei zunächst Entitäten aufgegeben werden. Beim Kan- sowie stereotypen und repetitiven Verhal- unspezifisch wie besonders ruhiges und ner-Autismus (Frühkindlicher Autismus) tensmustern; in der Regel in Verbindung „pflegeleichtes“ Verhalten einerseits oder ist dies durchaus nachvollziehbar, während mit kognitiver Beeinträchtigung. Er ma- Tendenz zu Schreiverhalten und Regula- Fachleute wie insbesondere auch Betroffe- nifestiert sich vor dem vollendeten 3. Le- tionsschwierigkeiten andererseits. Bei ge- Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de 299
Fortbildung | „Artikel des Monats“ oder Schlüssel und viele andere besonde- Mögliche Frühsymptome für Autismus-Spektrum-Störungen re Interessen. Dabei ist eine Tendenz zur ◾◾ Eventuell tritt das soziale Lächeln verspätet auf. Ordnung und Reihung zu beobachten, was teils monoton im Spielverhalten mit Au- ◾◾ Schlaf- und andere Regulationsstörungen tos, Bauklötzen oder Figuren auffällt, teils ◾◾ Abweichungen bei der Nahrungsaufnahme: hohe Selektivität für einzelne auch durchaus praktisch anmuten kann Nährstoffe; strikte Trennung der einzelnen Nahrungsmittel in der Reihenfolge mit einer „Begeisterung“ für das Aufräu- der Aufnahme oder auf dem Teller. men. Verstöße gegen die dem Kind inne- ◾◾ Häufig anzutreffen ist die akustische Überempfindlichkeit mit Angstreaktionen wohnende Vorstellung und seine daraus bis hin zu panikartigem Verhalten beim plötzlichen Einsatz von Staubsauger resultierende Ordnung können zu Schrei- oder Föhn. und Wutanfällen bis hin zu heftigsten Im- ◾◾ Taktile Überempfindlichkeit im Kontakt mit Materialien; geringe Empfindlich- pulsdurchbrüchen führen. Gleiches gilt für keit für Kälte oder Schmerz wird ebenfalls häufig beschrieben. die Abweichung von gewohnten, vom Kind ◾◾ Seltener kommen olfaktorische Überempfindlichkeiten vor. aber stets auch eingeforderten Vorgehens- ◾◾ Oftmals sind diese besonderen Reaktionen nicht zu trennen von stereotypen weisen im Alltag. Dies kann Abläufe in der Verhaltensmustern mit starker Tendenz zur Ritualisierung. Familie betreffen, genauso den Weg zum Kindergarten oder die Fahrtstrecke beim ◾◾ Im Kleinkind- und Vorschulalter manifestieren sich Sonderinteressen, wie z. B. ständige Beschäftigung mit technischen Gerätschaften, Betrachten von rotie- Besuch der Großeltern, schließlich auch renden Gegenständen. den oftmals ohnehin sehr schwierigen Übergang im Kindergarten von den be- ◾◾ Tendenz zur Ordnung und Reihung, die teils auch durchaus praktisch anmuten kann mit einer „Begeisterung“ für das Aufräumen. Verstöße gegen die dem Kind gleitenden Eltern zu den Erzieherinnen. innewohnende Vorstellung und seine daraus resultierende Ordnung können zu Durch diese sehr speziellen Lebens- Schrei- und Wutanfällen bis hin zu heftigsten Impulsdurchbrüchen führen. und Verhaltensmuster im 2. bis 4. Lebens- jahr sind die von einer Autismus-Spekt- rum-Störung betroffenen Kinder schon in nauer Beobachtung kann schon die frühe vor, die beim einzelnen Kind aber ebenso diesem frühen Alter als abweichend und Interaktion und soziale Reagibilität abwei- wie bei der Nahrungsaufnahme dann in besonders zu charakterisieren. Gleichzei- chend sein; eventuell tritt das soziale Lä- der Wahrnehmung individuell besonders tig erfordert die skizzierte Symptomatik cheln verspätet auf. aversiver Gerüche durchaus bis zum Erbre- eine Vielzahl differenzialdiagnostischer Abweichungen bei der Nahrungsauf- chen führen können. Die taktile Überemp- Überlegungen, die von Fragen zu beson- nahme können ein weiteres Charakteris- findlichkeit bereitet Schwierigkeiten in der ders ausgeprägten Temperamentsmerkma- tikum sein. Hohe Selektivität für einzel- Auswahl der Kleidung. Geringe Empfind- len und Persönlichkeitseigenschaften bis ne Nährstoffe bis hin zu ausschließlicher lichkeit für Kälte oder Schmerz wird eben- hin zu organischen Störungen und einer Akzeptanz von exklusiv stets denselben falls häufig beschrieben. möglichen Kindesmisshandlung im Sinne Bestandteilen, im späteren Alter eventu- Oftmals sind diese besonderen Reak- eines nicht kindgerechten elterlichen Ver- ell noch mit „Markenbindung“, können in tionen nicht zu trennen von stereotypen haltens reichen. Die Kinder wirken dabei der Familie sehr belastend werden. Mitun- Verhaltensmustern mit starker Tendenz häufig unruhig, mitunter getrieben oder ter wird eine strikte Trennung der einzelnen zur Ritualisierung. Bewegungsstereotypi- sind äußerst unleidlich. Nahrungsmittel in der Reihenfolge der Auf- en (Wedeln, Kratzen, Zehenspitzengang, In der funktionellen Entwicklung sind nahme oder auf dem Teller registriert. Auch Handmanierismen, Hüpfen auf der Stel- oft Abweichungen und gleichzeitig Beson- ungewöhnliche Kombinationen wie „Pom- le, Klopfen und Entlangstreifen) ergänzen derheiten erkennbar. Die Sprache kann mes mit Nutella“ werden häufig berichtet. im Einzelfall das spezielle Verhaltensbild. verzögert einsetzen, manchmal mit Pha- Diese Merkmale können zur Palette Häufig sind die Kinder motorisch auffal- sen der Echolalie, Eigensprache als von der sensorischen Empfindlichkeiten und lend ungeschickt. Außenstehenden nicht verständlicher Störungen gehören. Häufig anzutreffen Kommunikationsform oder auch Wort- ist die akustische Überempfindlichkeit Symptomatik im Kleinkindalter und Klangverliebtheit mit überraschen- mit Angstreaktionen bis hin zu panikar- Im Kleinkind- und Vorschulalter mani- der Imitation komplexer Sprachstruktu- tigem Verhalten beim plötzlichen Einsatz festieren sich Sonderinteressen, wie stän- ren, die dann aber über lange Zeit nicht von Staubsauger oder Föhn. Später geht dige Beschäftigung mit technischen Ge- mehr angewendet werden. Gleichzeitig ist dies über in eine generelle Geräusch- und rätschaften, Betrachten von rotierenden zu beobachten, dass aufgrund einer Vor- Lärmüberempfindlichkeit. Seltener kom- Gegenständen wie Ventilator oder Wasch- liebe und Befähigung für Musikalität und men olfaktorische Überempfindlichkeiten maschine, Faible für Lichtschalter, Türen Rhythmus Kinderlieder nahezu vollstän- 300 Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de
Fortbildung | „Artikel des Monats“ dig korrekt in Text und Melodie reprodu- che Themen und Interessen, die es selbst Besonderheiten des Kindes belastet sein ziert werden können. Andererseits mag die bestimmt. Bei Anforderungen von außen und über die Andersartigkeit des Verhal- Sprachentwicklung schon im Alter von 2 fällt die Adaptation häufig sehr schwer, tens bei der Mutter Irritation und rezip- bis 3 Jahren ungewöhnlich differenziert und die Aufmerksamkeit ist fluktuierend roke Ablehnung in Verbindung mit einer und elaboriert sein mit Tendenz zu alt- und begrenzt, was dann wiederum den As- erheblichen Überforderung auslösen. Die klug wirkenden Ausdrucksformen. pekt der hyperkinetischen Störung oder jeweiligen Anteile sind für den Diagnosti- Die früher exklusiv formulierte Defi- isolierten Aufmerksamkeitsstörung in den ker schwierig einzuschätzen und erfordern nition, wonach eine verzögerte Sprach- Vordergrund schieben kann. Nach den ak- die sorgfältige, häufig auch längerfristige entwicklung in den ersten Lebensjahren tuell diskutierten neuropsychologischen Beobachtung und Begleitung. („late talker“) beziehungsweise umschrie- Konstrukten liegt diesen Phänomenen Im weiteren Verlauf stellen die besonde- bene Sprachentwicklungsstörung ab dem eine Beeinträchtigung der „Exekutiven ren Verhaltensmuster der Kleinkinder für 4. Lebensjahr die Diagnosestellung des As- Funktionen“ (Prozesse der Handlungs- die Eltern in der Begleitung und Führung perger-Syndroms ausschließe, wird unter planung, Impulssteuerung, Fokussierung eine große, manchmal extreme Herausfor- der Vorstellung der spektrumartigen Ent- und Aufmerksamkeitslenkung, Flexibilität derung dar. Die Kinder wirken merkwür- wicklung bei Störungen aus dem autisti- u. a.) zu Grunde; gleichzeitig bestehen De- dig anders, verschlossen oder überdreht, in schen Formenkreis von vielen Autoren heu- fizite in der „Zentralen Kohärenz“, was die jedem Fall eigensinnig und auf sich bezo- te nicht mehr in dieser Stringenz gefordert. Fähigkeit bedeutet, Details aus dem Kon- gen. Diese kindliche Egozentrizität hat di- Eng verbunden mit der sprachlichen text heraus erfassen und in einen sinnvol- rekte Konsequenzen bereits beim Mutter- Entwicklung und oftmals gleichzeitig len Zusammenhang setzen zu können. Kind-Turnen oder in der Kleinkindgruppe. stark diskrepant in diesem Lebensalter Alle Besonderheiten kulminieren Hier gelingt es häufig nicht, eine Mitwir- sind die kognitiven Leistungen. Die El- schließlich in der speziellen Problema- kung zu erzielen. Die Einordnung in die tern beschreiben mitunter beeindrucken- tik bei der Ausgestaltung von Sozialkon- Gruppe fehlt und wird zusätzlich erschwert de Einzelfähigkeiten mit sehr hoher Kon- takten. Bereits die frühe Interaktion im durch mögliches „aggressives Verhalten“. zentration und Ausdauer, was gleichzeitig Säuglingsalter zur Mutter kann durch die Das Kind mit einer Autismus-Spektrum- in anderen Betätigungs- und Lebensberei- Störung reagiert ungebremst aversiv bei chen einen sprunghaften Wechsel der Be- Störung seiner Vorstellungen, was wiede- schäftigung keineswegs ausschließt. Kor- Weitere Auffälligkeiten bei Klein- rum ähnliche Reaktionen durch andere respondierend zur Vorliebe für Ordnung, kindern, die Hinweise auf Kinder und die Ablehnung durch beglei- Autismus-Spektrum-Störungen ge- Strukturen und Rituale kann ein beson- tende Eltern beziehungsweise Erzieherin- ben können: deres Interesse an Formen und Symbolen nen provoziert. Frühzeitig manifestiert sich bestehen. Manchmal ist das deutlich in ◾◾ Die Kinder wirken merkwürdig so im Wechselspiel eigener Verhaltensmus- seiner Sprachentwicklung gestörte Kind anders, verschlossen oder über- ter und den Reaktionen aus der Umwelt ei- in der Lage, dennoch mit 3 oder 4 Jahren dreht, in jedem Fall eigensinnig ne erhebliche Tendenz zum Einzelgänger- und auf sich bezogen (fehlende das gesamte Alphabet zu benennen und tum. Es fehlt die sog. „joint attention“, die „joint attention“). in der korrekten Reihenfolge zu sortieren. Fähigkeit zur wechselseitigen und gemein- Auch die Kenntnis von Autonamen, Di- ◾◾ Die Einordnung in die Grup- samen Bezogenheit und Aufmerksamkeit. pe fehlt und wird zusätzlich er- nosauriern und anderen speziellen Inter- Diese „Geteilte Aufmerksamkeit“ beinhal- schwert durch mögliches „aggres- essengebieten kann fulminant sein. Dabei tet die Koordination des zielgerichteten In- sives Verhalten“. ist zu beachten, dass es sich hierbei häufig teresses zwischen dem Kind, der Bezugs- um ein zwar imponierendes lexikalisches ◾◾ Das Kind mit einer Autismus- person und einem Gegenstand. Spektrum-Störung reagiert unge- Wissen handelt, die kognitiven Grund- Nicht selten sind durch die betroffenen bremst aversiv bei Störung seiner strukturen bei konkreten Anforderungen Vorstellungen. Kinder auch ungeeignete Mittel der Kon- an das logisch-schlussfolgernde Denken taktaufnahme zu anderen Kindern zu be- ◾◾ Ungeeignete Mittel der Kontakt- hingegen in der Entwicklungs- oder In- obachten, wie das Betasten der Augen, hef- aufnahme, die als „aggressiv“ telligenzdiagnostik deshalb keineswegs tiges Schubsen oder Ziehen an den Haaren. fehlinterpretiert werden. ähnlich beeindruckend sein müssen. Die Emotionale Einschätzungen der Mitmen- vorschnelle Etikettierung als mögliche ◾◾ Emotionale Einschätzungen der schen sind für das Kind schwierig, und es Mitmenschen sind für das Kind „Hochbegabung“ kann im Gegenteil den kommt immer wieder zu ungewöhnlichen schwierig, es kommt immer wie- Blick für notwendige Zugangsweisen zum der zu ungewöhnlichen und feh- und fehlerhaften Reaktionen im sozialen Kind erheblich verstellen. Bei genauer Be- lerhaften Reaktionen im sozialen Miteinander, die ihrerseits die Mitmen- obachtung zeigt sich die starke Eigenlen- Miteinander. schen irritieren und zur Ablehnung des kung des Kindes ausschließlich durch sol- Kindes führen. 302 Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de
Fortbildung Das Spielverhalten hat eine zentrale Be- peutischen Vorgehensweisen, um Impuls- deutung in der Gesamteinschätzung. Der durchbrüche oder ungeeignete Methoden Übergang vom Parallelspiel ohne wech- der sozialen Kontaktaufnahme im Klein- selseitige Beachtung in das Kooperations- kind- und Kindergartenalter zu steuern. spiel ist mindestens stark verzögert, häufig Bei weiterer Verdeutlichung der abwei- auch unmöglich. Es können teilweise ex- chenden Entwicklungslinie ist der Einsatz zessive Phantasie- und Rollenspiele auf- der Fragebogen-Verfahren essenziell, die treten, während die „So-tun-als-ob“-Fä- inzwischen ohnehin bei den Früherken- higkeit fehlt oder stark verzögert auftritt. nungsuntersuchungen vorgesehen sind. Dadurch ist auch das Lernen über Imitati- Dabei sollte nach Möglichkeit nicht nur on erheblich beeinträchtigt. In der Wech- die Einschätzung der Eltern erfasst werden, selwirkung der beteiligten Veränderungen sondern die Ergänzung durch die Mitbeur- in neuropsychologischen Funktionsabläu- teilung von anderen nahen Bezugspersonen fen von beeinträchtigter zentraler Kohä- erfolgen. Gerade die Einschätzung in der renz und Fähigkeit zur Hineinversetzung Gruppe durch Erzieherinnen, Tagesmütter, in das Gegenüber (Theory of Mind, ToM) aus dem Kinderturnen oder der Musikali- bleibt die soziale Adaptation schwierig und schen Früherziehung kann entscheidende qualitativ beeinträchtigt. Hinweise auf die besondere Problematik der Dies gilt auch für das fortschreitende sozialen Adaptation geben, die umso ausge- Kindergartenalter. Die Interpretation der prägter auftritt, je größer die Gruppe und auffallenden Symptomatik in der externen damit für das betroffene Kind unüberseh- und nicht fachlich-medizinisch qualifi- barer die sozialen Verflechtungen sind. So- zierten Zuschreibung reicht dann von der fern sich der Verdacht auf das Vorliegen ei- „Wahrnehmungsstörung“ über die Erzie- ner Störung aus dem Autismus-Spektrum hungsunfähigkeit der Eltern bis zu ADHS ergibt, ist die frühzeitige Überweisung zur oder „Aggression“. Es ist unschwer nach- Mitbeurteilung in eine Institution empfeh- vollziehbar, dass sich aus der sozialen In- lenswert, wo spezifische Expertise mit der teraktionsproblematik auch der zentrale Ausprägung von Entwicklungsstörungen in Leidensdruck für alle Beteiligten ergibt. diesem frühen Alter besteht. Dies sind in al- In Verbindung mit dem häufig sehr hete- ler Regel die jeweiligen Sozialpädiatrischen rogenen Entwicklungsprofil ist der Über- Zentren (SPZs) oder Spezialsprechstunden gang in die Schule schwierig zu gestalten. in den Institutsambulanzen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das diagnostische Vorgehen In üblicher Weise müssen differenzi- Die Basisdiagnostik im Rahmen der Früh- aldiagnostische Maßnahmen und Erwä- erkennungsuntersuchungen beginnt mit gungen veranlasst werden, wenn der Ver- der aufmerksamen Registrierung der von dacht auf organisch auslösende Ursachen den Eltern berichteten, in der Praxis in al- besteht. Dies ist grundsätzlich erforderlich, ler Regel nicht oder allenfalls kaum nach- wenn das Kind eine Globale Entwicklungs- vollziehbaren Symptomatik. Es ist deshalb störung im Sinne der sich abzeichnenden wesentlich, hier keine vorschnelle Zuord- Intelligenzminderung aufweist, auch wenn nung zu einer diagnostischen Ausweisung keine sonstige unmittelbare neurologische zu treffen, dennoch gleichzeitig früh und Symptomatik vorliegt. Die neuropädiatri- intensiv die hohe Belastung der Eltern zu sche Basisdiagnostik umfasst je nach indi- erkennen und einer entsprechenden Hil- vidueller Situation zerebrale Bildgebung festellung zuzuführen. Je jünger das Kind und EEG, neurometabolische Diagnostik und je weniger spezifisch die Symptoma- und molekulargenetische Untersuchung. tik ist, desto universeller kann der thera- Bei gravierend abweichender oder ausblei- peutische Ansatz sein. Er umfasst den Bo- bender Sprachentwicklung ist der defini- gen von Hilfestellungen in der Ausgestal- tive Ausschluss einer relevanten Hörbe- tung der Interaktion und Versorgung im einträchtigung zwingend erforderlich, ge- Säuglingsalter bis hin zu verhaltensthera- gebenenfalls auch im Verlauf wiederholt. Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de 303
Fortbildung | „Artikel des Monats“ Auf der diagnostischen Ebene ist die Ausprägung der Verhaltenssymptomatik Wesentliches für die Praxis . . . präzise zu beschreiben, um dann die dif- ◾◾ Autismus-Spektrum-Störungen weisen eine charakteristische Symptomtrias ferenzialdiagnostische Abgrenzung vor- auf: Es bestehen grundlegende qualitative Abweichungen nehmen zu können. Bei umfassender Er- ◆◆ in der sozialen Interaktion, hebung der anamnestischen und verhal- ◆◆ in Sprache und Kommunikation sowie bei tensbezogenen Daten aus mehreren Quel- ◆◆ Interessen und Aktivitäten mit Stereotypien, repetitiven Handlungen und len wird meist die Abgrenzung zwischen Sonderinteressen. ADHS und Autismus-Spektrum-Störung ◾◾ Bereits im frühen Kindesalter können sich Autismus-Spektrum-Störungen deutlich werden, wobei je nach Ausprä- durch ungewöhnliche Verhaltensbesonderheiten äußern, wie z. B. gung der Symptomatik in den verschiede- ◆◆ Probleme bei der Ernährung mit hoher Selektivität für spezielle Nahrungs- nen Bereichen der autistischen Kerntrias bestandteile, dies nicht immer einfach ist. Gerade bei ◆◆ sensorische Störungen mit akustischer, olfaktorischer, taktiler Überemp- unterschiedlichen Ausprägungsformen des findlichkeit, Asperger-Syndroms ist deshalb nicht selten ◆◆ stereotype Verhaltensmuster mit Ritualisierung, die wiederholte differentialdiagnostische ◆◆ monoton verfolgte Sonderinteressen, Evaluation im Verlauf notwendig. Ferner ◆◆ eine Tendenz zur Reihung und Ordnung, sind auf Seiten des Kindes früh einsetzende ◆◆ heftige Impulsdurchbrüche bei Verstößen gegen die gewünschte Ordnung. emotionale Störungen, Zwänge und Ängste ◾◾ Auch mit standardisierten Testverfahren und Fragebögen kann die Diagnose- in Betracht zu ziehen, ebenso wie die Stö- stellung einer Autismus-Spektrum-Störung im Vorschulalter schwierig sein und rung des Sozialverhaltens. Wegen der be- lange Zeit vorläufig bleiben. sonderen Abhängigkeit von den Bezugs- ◾◾ Differenzialdiagnosen stellen je nach Begleitsymptomatik und Ausprägung personen im Vorschulalter sind auch solche einer kognitiven Beeinträchtigung unterschiedliche Retardierungssyndrome Faktoren mitzubedenken, die auf Ebene der (monogen, chromosomale Mikroaberrationen, seltener erworbene Hirnläsio- Erwachsenen das kindliche Verhalten und nen), aber auch Bindungsstörungen dar. die Entwicklung beeinflussen oder beein- ◾◾ Autismus-Spektrum-Störungen zeigen einzelne Symptome, die durchaus Ähn- trächtigen. Schließlich können ungünstige lichkeiten mit den Symptomen der ADHS aufweisen. Diese ähnlichen Sympto- Rahmenbedingungen bei einer außerfami- me betreffen insbesondere Auffälligkeiten der sozialen Interaktion. liären Betreuung entscheidenden Anteil an ◾◾ Eine Abgrenzung zur ADHS, die gleichzeitig im Kleinkindalter die wichtigste einer Symptombildung haben. Komorbidität von Autismus-Spektrum-Störungen darstellt, ist notwendig. Grundzüge des therapeutischen Vorgehens des, ebenso aber auch der sozialen Kon- rücksichtigt werden wie die Notwendig- Eine kausale Behandlung von Störungen textfaktoren. Die Ressourcenanalyse muss keit, bereits frühzeitig auch deutlich ver- aus dem Autismus-Spektrum ist bislang neben der Orientierung auf das Kind sehr haltensstrukturierend vorzugehen, um nicht möglich. Übergeordnetes Therapie- gut auch die Möglichkeiten und Limitati- möglichst einer Chronifizierung einzel- ziel ist deshalb eine realistische quantita- onen von Familie und betreuenden Institu- ner Muster entgegenzuwirken. tive Verbesserung. Hierzu dient einerseits tionen darstellen. Schließlich sind je nach Das verhaltenstherapeutisch orientier- der Aufbau funktionaler Strukturen in Be- individuellem Entwicklungsverlauf prog- te Vorgehen zur Verhaltensmodifikation zug auf die soziale Interaktion, Kommuni- nostische störungsspezifische Einschät- stellt den Leitgedanken zur mittel- und kation, Selbständigkeit und Anpassung an zungen mitzuberücksichtigen. In der Zu- langfristigen Gestaltung der Therapie Integration und Anforderungen des All- sammenschau dieser Mehrdimensionalen überhaupt dar. Dies bedeutet die Notwen- tags. Andererseits muss dysfunktionales Bereichsdiagnostik in der Sozialpädiatrie digkeit, Bezugspersonen möglichst kon- Verhalten mit zwanghaft wirkender Be- (MBS) resultiert die Behandlungsplanung, kret und an den alltagsrelevanten Situa- tätigung, ausufernden Ritualen oder Ste- in der sowohl der jeweilige Interventions- tionen orientiert pragmatisch anzuleiten. reotypien, Unruhe bis zur Hyperaktivität fokus als auch die eingeleiteten Maßnah- Optimal ist die mobil-aufsuchende Umset- sowie auto- und fremdaggressives Verhal- men regelmäßig dem Verlauf entsprechend zung vor Ort. Dies kann je nach Konzep- ten abgebaut werden. angepasst und modifiziert werden müssen. tion und Verfügbarkeit durch die bundes- Die ausgeprägte Vielfalt der Sympto- Ausgangspunkt ist die Beratung und weit vorhandenen, aber regional sehr un- matik bei Autismus-Spektrum-Störun- Anleitung zur Gestaltung der innerfami- terschiedlich ausgeprägten Möglichkeiten gen erfordert die systematische Erfas- liären Interaktion. Aspekte der Bindung in den Autismus-Therapie-Zentren (ATZ ) sung der Entwicklungssituation des Kin- und Feinfühligkeit müssen hier ebenso be- erfolgen; in Einzelfällen praktizieren auch 304 Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de
Fortbildung | „Artikel des Monats“ Psychologen und Psychotherapeuten aus behandelt? Unter dem Gesichtspunkt der Störungsbefunden muss eine große Palette den SPZs dieses „home treatment“. Optimalität ist die Frage zu bejahen. Rea- von möglichen ursächlichen neuropädiat- Im Regelfall erfolgt die Unterweisung listisch muss aber festgestellt werden, dass rischen Krankheitsbildern ebenso wie psy- der Bezugspersonen im Rahmen von ins- gerade die Diagnose Asperger-Syndrom chischen Störungen berücksichtigt wer- titutionellen Behandlungsterminen, sofern auch heute noch, unter deutlich höherer den. Je nach Ursache und Symptomkons- nicht der behandelnde Pädiater selbst über Aufmerksamkeit für das Störungsbild tellation sind deshalb im Behandlungskon- eine entsprechende psychotherapeutische überhaupt sowie verbesserten diagnosti- zept verschiedene Ebenen des Kindes, sei- Zusatzqualifikation verfügt. Behandlungs- schen Möglichkeiten, häufig erst im spä- ner Eltern sowie anderer Bezugspersonen möglichkeiten bestehen je nach inhaltli- teren Schulalter gestellt wird. einschließlich Gestaltung der Rahmenbe- cher Ausrichtung auch bei den sozialpsy- Die ADHS ist die häufigere Störung dingungen bei einer institutionellen Be- chiatrisch zugelassenen Kinder- und Ju- und wird deshalb zu Recht oftmals pri- treuung einzubeziehen. Dominierendes gendpsychiatern. mär ausgewiesen. Gemeinsamkeiten zwi- Element im Vorschulalter ist in Bezug auf Medizinisch-funktionelle Interventi- schen beiden Entitäten sind Impulsivität, die Verhaltensmodifikation die Anleitung onen auf der Ebene der Heilmittel haben Probleme der Aufmerksamkeit und moto- der Bezugspersonen. einen gänzlich anderen Ansatzpunkt. Sie rische Überaktivität. Diese führen unab- Das Autismus-Spektrum stellt ein Kon- können unterstützend indiziert und hilf- hängig vom übergeordneten Krankheits- tinuum der Symptom-Konstellation in un- reich sein, um bestehende Defizite in funk- bild zu Belastungen für die soziale Um- terschiedlicher Ausprägung dar. Ätiolo- tionellen Bereichen therapeutisch anzu- gebung. Die Komorbidität wird in neue- gisch dominierend hierfür ist die variable gehen, sind aber nicht geeignet, um das ren Untersuchungen mit mindestens 50 genetische Grundlage und damit Disposi- Verhalten generell und insbesondere die Prozent angegeben. Die Autismus-Spek- tion zum neuropsychologischen und Ver- soziale Einordnung in die Gruppe aus der trum-Störung unterscheidet sich aber bei haltens-Phänotyp. Dies wird im kommen- Einzelbehandlung heraus zu beeinflussen. genauer Betrachtung doch deutlich von der den Klassifikationssystem ICD-11 Berück- Dementsprechend gelten hier die üblichen ADHS durch die zusätzliche Symptomatik, sichtigung finden. Vorgaben der Heilmittel-Richtlinien mit besonders aber die grundlegende qualitati- Indikationsbezug. Eltern ebenso wie ande- ve Beeinträchtigung der sozialen Reagibi- Weiterführende Literatur 1. Attwood T (2012) Ein Leben mit dem Asperger-Syndrom. re Betreuungspersonen müssen sehr deut- lität und Interaktionsgestaltung. Diese ist Trias 2. Bölte S (Hrsg.) (2009) Autismus. Spektrum, Ursachen, lich darüber informiert werden, dass sie bei der ADHS nicht in dieser Form vorhan- Diagnostik, Intervention, Perspektiven. Huber selbst in ihren Handlungen die entschei- den. Vereinfacht formuliert zeigt die Autis- 3. Leitner Y (2014) The co-occurrence of autism and atten- tion deficit hyperactivity disorder in children – what do denden Rahmenbedingungen für die Be- mus-Spektrum-Störung im Vorschulalter we know? Review article. Front Hum Neurosci 8: 268 treuung des Kindes aufstellen. Dies kann zwar Überschneidungen mit der ADHS, 4. Poustka F, Bölte S, Feines-Matthews S, Schmötzer G (2009) Ratgeber Autistische Störungen. Information für Betroffene, nicht in den funktionell orientierten The- weist aber in jedem Fall eine „Plus-Symp- Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe rapiebereich delegiert werden. tomatik“ auf, die dann diagnostisch in der 5. Remschmidt H, Kamp-Becker I (2006) Asperger-Syndrom. Springer Bei älteren Kindern kommen autismus- Gesamtsicht entscheidend ist. 6. Sinzig J (2011) Frühkindlicher Autismus. Springer spezifische Behandlungsoptionen hinzu. Diese umfassen besondere Ansätze des Zusammenfassung verhaltenstherapeutischen Vorgehens Autismus-Spektrum-Störungen zeigen aus Korrespondenzadresse ebenso wie der Kommunikationsanbah- bisher nicht eindeutig geklärten Gründen Dr. Helmut Hollmann Kinderneurologisches Zentrum nung und -unterstützung, zu einem späte- eine Zunahme in der diagnostischen Aus- LVR-Klinik Bonn ren Zeitpunkt dann auch besondere Grup- weisung bei Inanspruchnahme-Populati- Tel.: 02 28/66 83-132 pentherapien. onen von spezialisierten Institutionen. Fax: 02 28/66 83-139 Die medikamentöse Behandlung hat Dementsprechend gewinnt ihre frühzei- E-Mail: Helmut.Hollmann@lvr.de im Vorschulalter nur einen geringen Stel- tige Ausweisung zumindest auf der Ebene lenwert, kommt im indizierten Einzelfall differenzialdiagnostischer Überlegungen aber durchaus in Betracht. Vorzugsweise auch für die Praxis der niedergelassenen werden Stimulanzien eingesetzt, daneben Pädiater zunehmend an Bedeutung. Eine auch Antipsychotika mit sedierend-regu- Abgrenzung ist erforderlich zur ADHS, die lierendem Effekt. gleichzeitig im Kleinkindalter die wich- tigste Komorbidität von Autismus-Spek- Autismus-Spektrum-Störungen und trum-Störungen darstellt. Bei der Inter- ADHS pretation von gravierend abweichenden Wurde Marius, der Patient im Fallbeispiel, Verhaltensmustern mit und ohne Kombi- im Vorschulalter falsch diagnostiziert und nation von funktionellen und kognitiven 306 Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de
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