ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen im Vorschulalter

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Fortbildung | „Artikel des Monats“

ADHS und Autismus-Spektrum-­
Störungen im Vorschulalter
Helmut Hollmann | Kinderneurologisches Zentrum, LVR-Klinik Bonn

  Ein exemplarischer Fall                     dienst und klare Abläufe und Strukturen             Im Rahmen der einwöchigen interdis-
  Marius, einziges Kind der Familie, war      gewöhnt, gerieten gleichzeitig in der Erzie-    ziplinären sozialpädiatrischen Blockbe-
  bereits als Säugling unruhig und anstren-   hung ihres Sohnes zunehmend mehr un-            handlung kristallisierte sich in Beobach-
  gend. Er hatte große Mühe, seinen Schlaf-   ter Druck. Deshalb erfolgte die Überwei-        tung, Zielanamnese und Fragebögen als
  und Ernährungsrhythmus zu finden und        sung zum Kinder- und Jugendpsychiater,          zentrales Problem des Jungen die soziale
  schrie dementsprechend viel. Beim Mut-      der die Diagnose „ADHS“ stellte. Neben          Interaktion heraus. Gleichzeitig wurden
  ter-Kind-Turnen ging er oftmals eigene      intensivierter Anleitung der Eltern erfolg-     Schwierigkeiten auf der sprachlichen Ebe-
  Wege und war nur schwierig wieder einzu-    te zur Einschulung aufgrund der weiterhin       ne beim Verständnis von Inhalten sowie
  fangen. Auch im Kindergarten hatten die     ausgeprägten Verhaltensproblematik von          in der dialogischen Kommunikation deut-
  Erzieherinnen große Mühe, Marius in die     Marius die medikamentöse Einstellung            lich. Schließlich ergaben sich bei insgesamt
  Gruppenaktivitäten zu integrieren. Im-      mit Methylphenidat. Die Eltern hatten           überdurchschnittlicher Intelligenz Belege
  mer wieder lief er weg und beschäftigte     diesem Vorgehen selbstverständlich zuge-        für besondere Interessengebiete, gleich-
  sich mit eigenen Dingen.                    stimmt, waren selbst aber nicht überzeugt       zeitig ein hohes Maß an Angewiesenheit
     Vom behandelnden Kinder- und             von der Richtigkeit ihres Vorgehens. Als        auf feste Abläufe und Rituale mit ausge-
  Jugend­arzt wurde zunächst eine ergothe-    dann nach wenigen Wochen in der Schule          prägter Irritation bei Abweichungen sowie
  rapeutische Behandlung verordnet, um        unter mittlerer Dosierung (0,6 mg/kg KG)        nebenbefundlich reduzierte Fertigkeiten
  den Jungen über die zielgerichtete Be-      die Situation dort eskalierte, Marius in der    in der Feinmotorik und Gesamtkörper-
  schäftigung dann möglichst auch an Be-      Gruppe zunehmend weniger tragbar wur-           koordination. So wurde in breiter Über-
  tätigungen in der Gruppe heranzuführen.     de und die Einleitung des Wechsels auf die      einstimmung von Anamnese, klinischen
  Dies zeigte jedoch keinen durchgreifen-     Förderschule durch die betreuende Klas-         Eindrücken und spezifischen Befunden
  den Effekt, auch wenn einige Besserung-     senlehrerin angekündigt wurde, wies der         die Diagnose „Autismus-Spektrum-Stö-
  stendenzen im Kindergarten beschrie-        behandelnde Kinder- und Jugendarzt die          rung, Asperger-Syndrom“ gestellt.
  ben wurden. Die Eltern, beide im Staats-    Familie auf die Eltern-Kind-Station ein.

Marius ist jetzt knapp 15 Jahre alt und       dann sanktionierenden Erziehungsstil             chotherapie vorgesehen, um ihm hierzu
steht mittlerweile seit 7 Jahren in unse-     hin zu einem variableren Vorgehen mit            mit Einbezug der Eltern eine eigene Platt-
rer Mitbehandlung. Der Verlauf ist äu-        Berücksichtigung der Tagesverfassung             form im geschützten Rahmen zu eröffnen.
ßerst wechselhaft. Die Eltern haben in        von Marius zu erreichen. Der Junge selbst            Die Eltern wie auch Marius selbst sind
der Kombination von verhaltenstherapeu-       besucht inzwischen unter fortgesetzter           mit dem Verlauf seit der Diagnosestellung
tisch orientierter Beratung, autismusspe-     Schulbegleitung die 8. Klasse des Gym-           insgesamt zufrieden. Seit der 3. Klasse wird
zifischer Einzelbehandlung für Marius         nasiums. Hier überzeugt er in einzelnen          bei klinisch und testdiagnostisch gesicher-
durch das regionale Autismus-Therapie-        Fächern durch sein fulminantes Wissen,           ter Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyper-
Zentrum (ATZ) und umfassende Hilfe-           ist aber sozial ein „geduldeter Außensei-        aktivität erneut Methylphenidat in niedri-
stellung in der Schule mit Integrations-      ter“. Jetzt im Jugendlichenalter stellt die      ger Dosierung (0,2 mg/kg KG) eingesetzt.
helfer einen Modus gefunden, um mit den       Befassung mit seiner Situation eine gro-         Die klinische Response ist durch Auslass-
weiterhin ausgeprägten Besonderheiten         ße Herausforderung dar, was von Mari-            versuche im Verlauf belegt.
von Marius zurechtzukommen. Beson-            us aber noch weitgehend abgelehnt oder               Der zu Beginn der Schulzeit mitbehan-
ders bedeutsam war für sie, den Wechsel       rationalisiert wird. Deshalb ist die Auf-        delnde Kinder- und Jugendpsychiater hat
von einem extrem strukturierenden und         nahme einer begleitenden Kurzzeit-Psy-           die diagnostische Ausweisung nicht nach-

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vollziehen können. Ein Gespräch hierüber              ne beim Asperger-Syndrom dieses Vorge-         bensjahr und persistiert während der ge-
war von ihm leider nicht erwünscht.                   hen nicht unterstützen, nachdem es erst        samten Lebenszeit.
                                                      über viele Jahre hinweg gelungen ist, das          Als Atypischer Autismus (F 84.1) wird
Kerntrias der Leitsymptome von                        Bewusstsein für die Bedeutung dieses Stö-      eine auffällige oder beeinträchtigte Ent-
Autismus-Spektrum-Störungen und                       rungsbildes zu schärfen.                       wicklung entsprechend den Kriterien zum
Grundzüge der Diagnostik                                 Autismus-Spektrum-Störungen sind            Frühkindlichen Autismus bezeichnet, die
Autistische Störungen werden in der ICD-              durch eine symptomatische Kerntrias ge-        sich erst später manifestiert oder nicht in
10 im Kapitel F 84 unter der Überschrift              kennzeichnet. Diese Leitsymptomatik um-        allen Störungsbereichen einen Ausprä-
„Tiefgreifende Entwicklungsstörungen“                 fasst grundlegende qualitative Abweichun-      gungsgrad entsprechend der Definition
geführt. Diese Bezeichnung führt oftmals              gen in der sozialen Interaktion, in Sprache    erreicht. Atypisches Erkrankungsalter
zu Missverständnissen, da sie umgangs-                und Kommunikation sowie bei Interessen         und atypische Symptomatik können auch
sprachlich eine besonders schwerwiegende              und Aktivitäten mit Stereotypien, repeti-      kombiniert sein.
Beeinträchtigung zu bezeichnen scheint.               tiven Handlungen und Sonderinteressen.             Das Asperger-Syndrom (F 84.5) weist
Im englischen Original bedeutet „perva-               Die Abweichungen sind in der Kombina-          in der Definition als führende Symptoma-
sive developmental disorder“ hingegen die             tion grundsätzlich bei den betroffenen         tik die qualitative Beeinträchtigung der ge-
Charakterisierung der besonderen psychi-              Kindern vorhanden, jedoch in sehr un-          genseitigen sozialen Interaktion aus mit
schen Situation. Unter Berücksichtigung               terschiedlicher Ausprägung.                    ähnlichen Kriterien wie beim Frühkind-
der bisher identifizierten und polygeneti-               Das diagnostische Vorgehen ist partiell     lichen Autismus. Daneben liegen repeti-
schen Grundlage für autistische Symptome              abhängig vom Alter des Kindes und muss         tive und stereotype Verhaltensmuster so-
und deren variierende Konstellation und               die Symptomausprägung in den 3 Katego-         wie begrenzte und ungewöhnlich intensi-
Ausprägung hat sich inzwischen die we-                rien erfassen. Zur Anwendung kommen            ve Interessen oder Aktivitäten vor. Es fehlt
sentlich besser charakterisierende Bezeich-           neben der Anamneseerhebung mit den             eine klinisch eindeutige allgemeine und
nung „Autismus-Spektrum-Störungen“                    Eltern und der Interaktions- und Verhal-       schwerwiegende Verzögerung der gespro-
international durchgesetzt. Hier werden               tensbeobachtung des Kindes als klinischer      chenen oder rezeptiven Sprache und der
                                                      Grundlage verschiedene autismusspezifi-        kognitiven Entwicklung.
                                                      sche Fragebogen-Verfahren. Aktuell ist der         Schließlich bietet die ICD-10 die Mög-
  Autismus-Spektrum-Störungen:
  Trias der Kernsymptome und                          sogenannte „Goldstandard“ der Diagnos-         lichkeit, noch „Sonstige Tiefgreifende Ent-
  Abgrenzung gegenüber ADHS                           tik die Kombination des Eltern-Interviews      wicklungsstörungen“ (F 84.8) zu kodieren.
                                                      ADI-R mit dem standardisierten Beobach-        Diese Restkategorie wird für die prakti-
  ◾◾ Qualitative Abweichungen in der                  tungsverfahren ADOS in verschiedenen           sche Anwendung aber nicht empfohlen.
     sozialen Interaktion
                                                      altersbezogenen Modulen. Obwohl so ein             Unter der Vorstellung einer spektra-
      ◆◆ hier potenzielle Symptom-                    strukturiertes und standardisiertes Vor-       len Verteilung von autistischen Sympto-
          überschneidungen mit ADHS                   gehen vorgegeben ist, gilt es festzuhalten,    men sind zunehmend Übergänge sowohl
  ◾◾ Qualitative Abweichungen in                      dass kein „Test auf Autismus“ existiert. Die   im klinischen Alltag als auch auf der dia-
     Sprache und Kommunikation                        Diagnosesicherung stellt hohe Anforde-         gnostischen Ausweisungsebene zu beob-
      ◆◆ gehören nicht zum ADHS                       rungen an die Diagnostiker. Diese müs-         achten. Der in der ICD-10 nicht erwähnte
  ◾◾ Qualitative Abweichungen bei In-                 sen mit den verschiedenen Ausprägungen         „Hochfunktions-Autismus“ als Asperger-
     teressen und Aktivitäten mit Ste-                des Störungsbildes gut vertraut und in der     ähnlicher Symptomatik, aber mit vorange-
     reotypien, repetitiven Handlun-                  Anwendung der Verfahren geschult sein.         gangener Sprachentwicklungsverzögerung
     gen und Sonderinteressen.                                                                       beziehungsweise -störung, wird oft nach
      ◆◆ gehören nicht zum ADHS                       Klassifikation der Autismus-                   den Kriterien des Frühkindlichen Autis-
                                                      Spektrum-Störungen nach ICD-10                 mus mit F 84.0 verschlüsselt.
                                                      Der Frühkindliche Autismus (F 84.0)
Formen von Niedrig- und Hochfunktions-                wird definiert als tiefgreifende, meist        Symptomatik und diagnostisches
Autismus sowie deren Übergänge unter-                 wahrscheinlich genetisch bedingte Ent-         Vorgehen in der Praxis
schieden. Zumindest nach den Vorstellun-              wicklungsstörung mit den 3 Leitsymp-           Kinder mit einer autistischen Symptoma-
gen im neuen Klassifikationssystem DSM-               tomen: Störung von sozialer Interaktion,       tik können bereits im Säuglingsalter auf-
V sollen die Eigennamen für autistische               Störung von Sprache und Kommunikation          fallen. Die Symptome sind dabei zunächst
Entitäten aufgegeben werden. Beim Kan-                sowie stereotypen und repetitiven Verhal-      unspezifisch wie besonders ruhiges und
ner-Autismus (Frühkindlicher Autismus)                tensmustern; in der Regel in Verbindung        „pflegeleichtes“ Verhalten einerseits oder
ist dies durchaus nachvollziehbar, während            mit kognitiver Beeinträchtigung. Er ma-        Tendenz zu Schreiverhalten und Regula-
Fachleute wie insbesondere auch Betroffe-             nifestiert sich vor dem vollendeten 3. Le-     tionsschwierigkeiten andererseits. Bei ge-

Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de                                                                       299
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  Mögliche Frühsymptome für Autismus-Spektrum-Störungen                                         re Interessen. Dabei ist eine Tendenz zur
  ◾◾ Eventuell tritt das soziale Lächeln verspätet auf.                                         Ordnung und Reihung zu beobachten, was
                                                                                                teils monoton im Spielverhalten mit Au-
  ◾◾ Schlaf- und andere Regulationsstörungen
                                                                                                tos, Bauklötzen oder Figuren auffällt, teils
  ◾◾ Abweichungen bei der Nahrungsaufnahme: hohe Selektivität für einzelne                      auch durchaus praktisch anmuten kann
     Nährstoffe; strikte Trennung der einzelnen Nahrungsmittel in der Reihenfolge               mit einer „Begeisterung“ für das Aufräu-
     der Aufnahme oder auf dem Teller.
                                                                                                men. Verstöße gegen die dem Kind inne-
  ◾◾ Häufig anzutreffen ist die akustische Überempfindlichkeit mit Angstreaktionen              wohnende Vorstellung und seine daraus
     bis hin zu panikartigem Verhalten beim plötzlichen Einsatz von Staubsauger                 resultierende Ordnung können zu Schrei-
     oder Föhn.
                                                                                                und Wutanfällen bis hin zu heftigsten Im-
  ◾◾ Taktile Überempfindlichkeit im Kontakt mit Materialien; geringe Empfindlich-               pulsdurchbrüchen führen. Gleiches gilt für
     keit für Kälte oder Schmerz wird ebenfalls häufig beschrieben.                             die Abweichung von gewohnten, vom Kind
  ◾◾ Seltener kommen olfaktorische Überempfindlichkeiten vor.                                   aber stets auch eingeforderten Vorgehens-
  ◾◾ Oftmals sind diese besonderen Reaktionen nicht zu trennen von stereotypen                  weisen im Alltag. Dies kann Abläufe in der
     Verhaltensmustern mit starker Tendenz zur Ritualisierung.                                  Familie betreffen, genauso den Weg zum
                                                                                                Kindergarten oder die Fahrtstrecke beim
  ◾◾ Im Kleinkind- und Vorschulalter manifestieren sich Sonderinteressen, wie z. B.
     ständige Beschäftigung mit technischen Gerätschaften, Betrachten von rotie-                Besuch der Großeltern, schließlich auch
     renden Gegenständen.                                                                       den oftmals ohnehin sehr schwierigen
                                                                                                Übergang im Kindergarten von den be-
  ◾◾ Tendenz zur Ordnung und Reihung, die teils auch durchaus praktisch anmuten
     kann mit einer „Begeisterung“ für das Aufräumen. Verstöße gegen die dem Kind               gleitenden Eltern zu den Erzieherinnen.
     innewohnende Vorstellung und seine daraus resultierende Ordnung können zu                     Durch diese sehr speziellen Lebens-
     Schrei- und Wutanfällen bis hin zu heftigsten Impulsdurchbrüchen führen.                   und Verhaltensmuster im 2. bis 4. Lebens-
                                                                                                jahr sind die von einer Autismus-Spekt-
                                                                                                rum-Störung betroffenen Kinder schon in
nauer Beobachtung kann schon die frühe         vor, die beim einzelnen Kind aber ebenso         diesem frühen Alter als abweichend und
Interaktion und soziale Reagibilität abwei-    wie bei der Nahrungsaufnahme dann in             besonders zu charakterisieren. Gleichzei-
chend sein; eventuell tritt das soziale Lä-    der Wahrnehmung individuell besonders            tig erfordert die skizzierte Symptomatik
cheln verspätet auf.                           aversiver Gerüche durchaus bis zum Erbre-        eine Vielzahl differenzialdiagnostischer
    Abweichungen bei der Nahrungsauf-          chen führen können. Die taktile Überemp-         Überlegungen, die von Fragen zu beson-
nahme können ein weiteres Charakteris-         findlichkeit bereitet Schwierigkeiten in der     ders ausgeprägten Temperamentsmerkma-
tikum sein. Hohe Selektivität für einzel-      Auswahl der Kleidung. Geringe Empfind-           len und Persönlichkeitseigenschaften bis
ne Nährstoffe bis hin zu ausschließlicher      lichkeit für Kälte oder Schmerz wird eben-       hin zu organischen Störungen und einer
Akzeptanz von exklusiv stets denselben         falls häufig beschrieben.                        möglichen Kindesmisshandlung im Sinne
Bestandteilen, im späteren Alter eventu-           Oftmals sind diese besonderen Reak-          eines nicht kindgerechten elterlichen Ver-
ell noch mit „Markenbindung“, können in        tionen nicht zu trennen von stereotypen          haltens reichen. Die Kinder wirken dabei
der Familie sehr belastend werden. Mitun-      Verhaltensmustern mit starker Tendenz            häufig unruhig, mitunter getrieben oder
ter wird eine strikte Trennung der einzelnen   zur Ritualisierung. Bewegungsstereotypi-         sind äußerst unleidlich.
Nahrungsmittel in der Reihenfolge der Auf-     en (Wedeln, Kratzen, Zehenspitzengang,              In der funktionellen Entwicklung sind
nahme oder auf dem Teller registriert. Auch    Handmanierismen, Hüpfen auf der Stel-            oft Abweichungen und gleichzeitig Beson-
ungewöhnliche Kombinationen wie „Pom-          le, Klopfen und Entlangstreifen) ergänzen        derheiten erkennbar. Die Sprache kann
mes mit Nutella“ werden häufig berichtet.      im Einzelfall das spezielle Verhaltensbild.      verzögert einsetzen, manchmal mit Pha-
    Diese Merkmale können zur Palette          Häufig sind die Kinder motorisch auffal-         sen der Echolalie, Eigensprache als von
der sensorischen Empfindlichkeiten und         lend ungeschickt.                                Außenstehenden nicht verständlicher
Störungen gehören. Häufig anzutreffen                                                           Kommunikationsform oder auch Wort-
ist die akustische Überempfindlichkeit         Symptomatik im Kleinkindalter                    und Klangverliebtheit mit überraschen-
mit Angstreaktionen bis hin zu panikar-        Im Kleinkind- und Vorschulalter mani-            der Imitation komplexer Sprachstruktu-
tigem Verhalten beim plötzlichen Einsatz       festieren sich Sonderinteressen, wie stän-       ren, die dann aber über lange Zeit nicht
von Staubsauger oder Föhn. Später geht         dige Beschäftigung mit technischen Ge-           mehr angewendet werden. Gleichzeitig ist
dies über in eine generelle Geräusch- und      rätschaften, Betrachten von rotierenden          zu beobachten, dass aufgrund einer Vor-
Lärmüberempfindlichkeit. Seltener kom-         Gegenständen wie Ventilator oder Wasch-          liebe und Befähigung für Musikalität und
men olfaktorische Überempfindlichkeiten        maschine, Faible für Lichtschalter, Türen        Rhythmus Kinderlieder nahezu vollstän-

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Fortbildung | „Artikel des Monats“

dig korrekt in Text und Melodie reprodu-       che Themen und Interessen, die es selbst        Besonderheiten des Kindes belastet sein
ziert werden können. Andererseits mag die      bestimmt. Bei Anforderungen von außen           und über die Andersartigkeit des Verhal-
Sprachentwicklung schon im Alter von 2         fällt die Adaptation häufig sehr schwer,        tens bei der Mutter Irritation und rezip-
bis 3 Jahren ungewöhnlich differenziert        und die Aufmerksamkeit ist fluktuierend         roke Ablehnung in Verbindung mit einer
und elaboriert sein mit Tendenz zu alt-        und begrenzt, was dann wiederum den As-         erheblichen Überforderung auslösen. Die
klug wirkenden Ausdrucksformen.                pekt der hyperkinetischen Störung oder          jeweiligen Anteile sind für den Diagnosti-
    Die früher exklusiv formulierte Defi-      isolierten Aufmerksamkeitsstörung in den        ker schwierig einzuschätzen und erfordern
nition, wonach eine verzögerte Sprach-         Vordergrund schieben kann. Nach den ak-         die sorgfältige, häufig auch längerfristige
entwicklung in den ersten Lebensjahren         tuell diskutierten neuropsychologischen         Beobachtung und Begleitung.
(„late talker“) beziehungsweise umschrie-      Konstrukten liegt diesen Phänomenen                 Im weiteren Verlauf stellen die besonde-
bene Sprachentwicklungsstörung ab dem          eine Beeinträchtigung der „Exekutiven           ren Verhaltensmuster der Kleinkinder für
4. Lebensjahr die Diagnosestellung des As-     Funktionen“ (Prozesse der Handlungs-            die Eltern in der Begleitung und Führung
perger-Syndroms ausschließe, wird unter        planung, Impulssteuerung, Fokussierung          eine große, manchmal extreme Herausfor-
der Vorstellung der spektrumartigen Ent-       und Aufmerksamkeitslenkung, Flexibilität        derung dar. Die Kinder wirken merkwür-
wicklung bei Störungen aus dem autisti-        u. a.) zu Grunde; gleichzeitig bestehen De-     dig anders, verschlossen oder überdreht, in
schen Formenkreis von vielen Autoren heu-      fizite in der „Zentralen Kohärenz“, was die     jedem Fall eigensinnig und auf sich bezo-
te nicht mehr in dieser Stringenz gefordert.   Fähigkeit bedeutet, Details aus dem Kon-        gen. Diese kindliche Egozentrizität hat di-
    Eng verbunden mit der sprachlichen         text heraus erfassen und in einen sinnvol-      rekte Konsequenzen bereits beim Mutter-
Entwicklung und oftmals gleichzeitig           len Zusammenhang setzen zu können.              Kind-Turnen oder in der Kleinkindgruppe.
stark diskrepant in diesem Lebensalter             Alle Besonderheiten kulminieren             Hier gelingt es häufig nicht, eine Mitwir-
sind die kognitiven Leistungen. Die El-        schließlich in der speziellen Problema-         kung zu erzielen. Die Einordnung in die
tern beschreiben mitunter beeindrucken-        tik bei der Ausgestaltung von Sozialkon-        Gruppe fehlt und wird zusätzlich erschwert
de Einzelfähigkeiten mit sehr hoher Kon-       takten. Bereits die frühe Interaktion im        durch mögliches „aggressives Verhalten“.
zentration und Ausdauer, was gleichzeitig      Säuglingsalter zur Mutter kann durch die        Das Kind mit einer Autismus-Spektrum-
in anderen Betätigungs- und Lebensberei-                                                       Störung reagiert ungebremst aversiv bei
chen einen sprunghaften Wechsel der Be-                                                        Störung seiner Vorstellungen, was wiede-
schäftigung keineswegs ausschließt. Kor-         Weitere Auffälligkeiten bei Klein-            rum ähnliche Reaktionen durch andere
respondierend zur Vorliebe für Ordnung,          kindern, die Hinweise auf                     Kinder und die Ablehnung durch beglei-
                                                 Autismus-Spektrum-Störungen ge-
Strukturen und Rituale kann ein beson-                                                         tende Eltern beziehungsweise Erzieherin-
                                                 ben können:
deres Interesse an Formen und Symbolen                                                         nen provoziert. Frühzeitig manifestiert sich
bestehen. Manchmal ist das deutlich in           ◾◾ Die Kinder wirken merkwürdig               so im Wechselspiel eigener Verhaltensmus-
seiner Sprachentwicklung gestörte Kind              anders, verschlossen oder über-            ter und den Reaktionen aus der Umwelt ei-
in der Lage, dennoch mit 3 oder 4 Jahren            dreht, in jedem Fall eigensinnig           ne erhebliche Tendenz zum Einzelgänger-
                                                    und auf sich bezogen (fehlende
das gesamte Alphabet zu benennen und                                                           tum. Es fehlt die sog. „joint attention“, die
                                                    „joint attention“).
in der korrekten Reihenfolge zu sortieren.                                                     Fähigkeit zur wechselseitigen und gemein-
Auch die Kenntnis von Autonamen, Di-             ◾◾ Die Einordnung in die Grup-                samen Bezogenheit und Aufmerksamkeit.
                                                    pe fehlt und wird zusätzlich er-
nosauriern und anderen speziellen Inter-                                                       Diese „Geteilte Aufmerksamkeit“ beinhal-
                                                    schwert durch mögliches „aggres-
essengebieten kann fulminant sein. Dabei                                                       tet die Koordination des zielgerichteten In-
                                                    sives Verhalten“.
ist zu beachten, dass es sich hierbei häufig                                                   teresses zwischen dem Kind, der Bezugs-
um ein zwar imponierendes lexikalisches          ◾◾ Das Kind mit einer Autismus-               person und einem Gegenstand.
                                                    Spektrum-Störung reagiert unge-
Wissen handelt, die kognitiven Grund-                                                              Nicht selten sind durch die betroffenen
                                                    bremst aversiv bei Störung seiner
strukturen bei konkreten Anforderungen              Vorstellungen.                             Kinder auch ungeeignete Mittel der Kon-
an das logisch-schlussfolgernde Denken                                                         taktaufnahme zu anderen Kindern zu be-
                                                 ◾◾ Ungeeignete Mittel der Kontakt-
hingegen in der Entwicklungs- oder In-                                                         obachten, wie das Betasten der Augen, hef-
                                                    aufnahme, die als „aggressiv“
telligenzdiagnostik deshalb keineswegs                                                         tiges Schubsen oder Ziehen an den Haaren.
                                                    fehlinterpretiert werden.
ähnlich beeindruckend sein müssen. Die                                                         Emotionale Einschätzungen der Mitmen-
vorschnelle Etikettierung als mögliche           ◾◾ Emotionale Einschätzungen der              schen sind für das Kind schwierig, und es
                                                    Mitmenschen sind für das Kind
„Hochbegabung“ kann im Gegenteil den                                                           kommt immer wieder zu ungewöhnlichen
                                                    schwierig, es kommt immer wie-
Blick für notwendige Zugangsweisen zum              der zu ungewöhnlichen und feh-             und fehlerhaften Reaktionen im sozialen
Kind erheblich verstellen. Bei genauer Be-          lerhaften Reaktionen im sozialen           Miteinander, die ihrerseits die Mitmen-
obachtung zeigt sich die starke Eigenlen-           Miteinander.                               schen irritieren und zur Ablehnung des
kung des Kindes ausschließlich durch sol-                                                      Kindes führen.

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Fortbildung

   Das Spielverhalten hat eine zentrale Be-           peutischen Vorgehensweisen, um Impuls-
deutung in der Gesamteinschätzung. Der                durchbrüche oder ungeeignete Methoden
Übergang vom Parallelspiel ohne wech-                 der sozialen Kontaktaufnahme im Klein-
selseitige Beachtung in das Kooperations-             kind- und Kindergartenalter zu steuern.
spiel ist mindestens stark verzögert, häufig              Bei weiterer Verdeutlichung der abwei-
auch unmöglich. Es können teilweise ex-               chenden Entwicklungslinie ist der Einsatz
zessive Phantasie- und Rollenspiele auf-              der Fragebogen-Verfahren essenziell, die
treten, während die „So-tun-als-ob“-Fä-               inzwischen ohnehin bei den Früherken-
higkeit fehlt oder stark verzögert auftritt.          nungsuntersuchungen vorgesehen sind.
Dadurch ist auch das Lernen über Imitati-             Dabei sollte nach Möglichkeit nicht nur
on erheblich beeinträchtigt. In der Wech-             die Einschätzung der Eltern erfasst werden,
selwirkung der beteiligten Veränderungen              sondern die Ergänzung durch die Mitbeur-
in neuropsychologischen Funktionsabläu-               teilung von anderen nahen Bezugspersonen
fen von beeinträchtigter zentraler Kohä-              erfolgen. Gerade die Einschätzung in der
renz und Fähigkeit zur Hineinversetzung               Gruppe durch Erzieherinnen, Tagesmütter,
in das Gegenüber (Theory of Mind, ToM)                aus dem Kinderturnen oder der Musikali-
bleibt die soziale Adaptation schwierig und           schen Früherziehung kann entscheidende
qualitativ beeinträchtigt.                            Hinweise auf die besondere Problematik der
   Dies gilt auch für das fortschreitende             sozialen Adaptation geben, die umso ausge-
Kindergartenalter. Die Interpretation der             prägter auftritt, je größer die Gruppe und
auffallenden Symptomatik in der externen              damit für das betroffene Kind unüberseh-
und nicht fachlich-medizinisch qualifi-               barer die sozialen Verflechtungen sind. So-
zierten Zuschreibung reicht dann von der              fern sich der Verdacht auf das Vorliegen ei-
„Wahrnehmungsstörung“ über die Erzie-                 ner Störung aus dem Autismus-Spektrum
hungsunfähigkeit der Eltern bis zu ADHS               ergibt, ist die frühzeitige Überweisung zur
oder „Aggression“. Es ist unschwer nach-              Mitbeurteilung in eine Institution empfeh-
vollziehbar, dass sich aus der sozialen In-           lenswert, wo spezifische Expertise mit der
teraktionsproblematik auch der zentrale               Ausprägung von Entwicklungsstörungen in
Leidensdruck für alle Beteiligten ergibt.             diesem frühen Alter besteht. Dies sind in al-
In Verbindung mit dem häufig sehr hete-               ler Regel die jeweiligen Sozialpädiatrischen
rogenen Entwicklungsprofil ist der Über-              Zentren (SPZs) oder Spezialsprechstunden
gang in die Schule schwierig zu gestalten.            in den Institutsambulanzen der Klinik für
                                                      Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Das diagnostische Vorgehen                                In üblicher Weise müssen differenzi-
Die Basisdiagnostik im Rahmen der Früh-               aldiagnostische Maßnahmen und Erwä-
erkennungsuntersuchungen beginnt mit                  gungen veranlasst werden, wenn der Ver-
der aufmerksamen Registrierung der von                dacht auf organisch auslösende Ursachen
den Eltern berichteten, in der Praxis in al-          besteht. Dies ist grundsätzlich erforderlich,
ler Regel nicht oder allenfalls kaum nach-            wenn das Kind eine Globale Entwicklungs-
vollziehbaren Symptomatik. Es ist deshalb             störung im Sinne der sich abzeichnenden
wesentlich, hier keine vorschnelle Zuord-             Intelligenzminderung aufweist, auch wenn
nung zu einer diagnostischen Ausweisung               keine sonstige unmittelbare neurologische
zu treffen, dennoch gleichzeitig früh und             Symptomatik vorliegt. Die neuropädiatri-
intensiv die hohe Belastung der Eltern zu             sche Basisdiagnostik umfasst je nach indi-
erkennen und einer entsprechenden Hil-                vidueller Situation zerebrale Bildgebung
festellung zuzuführen. Je jünger das Kind             und EEG, neurometabolische Diagnostik
und je weniger spezifisch die Symptoma-               und molekulargenetische Untersuchung.
tik ist, desto universeller kann der thera-           Bei gravierend abweichender oder ausblei-
peutische Ansatz sein. Er umfasst den Bo-             bender Sprachentwicklung ist der defini-
gen von Hilfestellungen in der Ausgestal-             tive Ausschluss einer relevanten Hörbe-
tung der Interaktion und Versorgung im                einträchtigung zwingend erforderlich, ge-
Säuglingsalter bis hin zu verhaltensthera-            gebenenfalls auch im Verlauf wiederholt.

Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de                                 303
Fortbildung | „Artikel des Monats“

    Auf der diagnostischen Ebene ist die
Ausprägung der Verhaltenssymptomatik             Wesentliches für die Praxis . . .
präzise zu beschreiben, um dann die dif-         ◾◾ Autismus-Spektrum-Störungen weisen eine charakteristische Symptomtrias
ferenzialdiagnostische Abgrenzung vor-              auf: Es bestehen grundlegende qualitative Abweichungen
nehmen zu können. Bei umfassender Er-               ◆◆ in der sozialen Interaktion,
hebung der anamnestischen und verhal-               ◆◆ in Sprache und Kommunikation sowie bei
tensbezogenen Daten aus mehreren Quel-              ◆◆ Interessen und Aktivitäten mit Stereotypien, repetitiven Handlungen und
len wird meist die Abgrenzung zwischen                 Sonderinteressen.
ADHS und Autismus-Spektrum-Störung               ◾◾ Bereits im frühen Kindesalter können sich Autismus-Spektrum-Störungen
deutlich werden, wobei je nach Ausprä-              durch ungewöhnliche Verhaltensbesonderheiten äußern, wie z. B.
gung der Symptomatik in den verschiede-             ◆◆ Probleme bei der Ernährung mit hoher Selektivität für spezielle Nahrungs-
nen Bereichen der autistischen Kern­trias              bestandteile,
dies nicht immer einfach ist. Gerade bei            ◆◆ sensorische Störungen mit akustischer, olfaktorischer, taktiler Überemp-
unterschiedlichen Ausprägungsformen des                findlichkeit,
Asperger-Syndroms ist deshalb nicht selten          ◆◆ stereotype Verhaltensmuster mit Ritualisierung,
die wiederholte differentialdiagnostische           ◆◆ monoton verfolgte Sonderinteressen,
Evaluation im Verlauf notwendig. Ferner             ◆◆ eine Tendenz zur Reihung und Ordnung,
sind auf Seiten des Kindes früh einsetzende         ◆◆ heftige Impulsdurchbrüche bei Verstößen gegen die gewünschte Ordnung.
emotionale Störungen, Zwänge und Ängste          ◾◾ Auch mit standardisierten Testverfahren und Fragebögen kann die Diagnose-
in Betracht zu ziehen, ebenso wie die Stö-          stellung einer Autismus-Spektrum-Störung im Vorschulalter schwierig sein und
rung des Sozialverhaltens. Wegen der be-            lange Zeit vorläufig bleiben.
sonderen Abhängigkeit von den Bezugs-
                                                 ◾◾ Differenzialdiagnosen stellen je nach Begleitsymptomatik und Ausprägung
personen im Vorschulalter sind auch solche          einer kognitiven Beeinträchtigung unterschiedliche Retardierungssyndrome
Faktoren mitzubedenken, die auf Ebene der           (monogen, chromosomale Mikroaberrationen, seltener erworbene Hirnläsio-
Erwachsenen das kindliche Verhalten und             nen), aber auch Bindungsstörungen dar.
die Entwicklung beeinflussen oder beein-
                                                 ◾◾ Autismus-Spektrum-Störungen zeigen einzelne Symptome, die durchaus Ähn-
trächtigen. Schließlich können ungünstige           lichkeiten mit den Symptomen der ADHS aufweisen. Diese ähnlichen Sympto-
Rahmenbedingungen bei einer außerfami-              me betreffen insbesondere Auffälligkeiten der sozialen Interaktion.
liären Betreuung entscheidenden Anteil an
                                                 ◾◾ Eine Abgrenzung zur ADHS, die gleichzeitig im Kleinkindalter die wichtigste
einer Symptombildung haben.                         Komorbidität von Autismus-Spektrum-Störungen darstellt, ist notwendig.

Grundzüge
des therapeutischen Vorgehens                  des, ebenso aber auch der sozialen Kon-         rücksichtigt werden wie die Notwendig-
Eine kausale Behandlung von Störungen          textfaktoren. Die Ressourcenanalyse muss        keit, bereits frühzeitig auch deutlich ver-
aus dem Autismus-Spektrum ist bislang          neben der Orientierung auf das Kind sehr        haltensstrukturierend vorzugehen, um
nicht möglich. Übergeordnetes Therapie-        gut auch die Möglichkeiten und Limitati-        möglichst einer Chronifizierung einzel-
ziel ist deshalb eine realistische quantita-   onen von Familie und betreuenden Institu-       ner Muster entgegenzuwirken.
tive Verbesserung. Hierzu dient einerseits     tionen darstellen. Schließlich sind je nach        Das verhaltenstherapeutisch orientier-
der Aufbau funktionaler Strukturen in Be-      individuellem Entwicklungsverlauf prog-         te Vorgehen zur Verhaltensmodifikation
zug auf die soziale Interaktion, Kommuni-      nostische störungsspezifische Einschät-         stellt den Leitgedanken zur mittel- und
kation, Selbständigkeit und Anpassung an       zungen mitzuberücksichtigen. In der Zu-         langfristigen Gestaltung der Therapie
Integration und Anforderungen des All-         sammenschau dieser Mehrdimensionalen            überhaupt dar. Dies bedeutet die Notwen-
tags. Andererseits muss dysfunktionales        Bereichsdiagnostik in der Sozialpädiatrie       digkeit, Bezugspersonen möglichst kon-
Verhalten mit zwanghaft wirkender Be-          (MBS) resultiert die Behandlungsplanung,        kret und an den alltagsrelevanten Situa-
tätigung, ausufernden Ritualen oder Ste-       in der sowohl der jeweilige Interventions-      tionen orientiert pragmatisch anzuleiten.
reotypien, Unruhe bis zur Hyperaktivität       fokus als auch die eingeleiteten Maßnah-        Optimal ist die mobil-aufsuchende Umset-
sowie auto- und fremdaggressives Verhal-       men regelmäßig dem Verlauf entsprechend         zung vor Ort. Dies kann je nach Konzep-
ten abgebaut werden.                           angepasst und modifiziert werden müssen.        tion und Verfügbarkeit durch die bundes-
   Die ausgeprägte Vielfalt der Sympto-           Ausgangspunkt ist die Beratung und           weit vorhandenen, aber regional sehr un-
matik bei Autismus-Spektrum-Störun-            Anleitung zur Gestaltung der innerfami-         terschiedlich ausgeprägten Möglichkeiten
gen erfordert die systematische Erfas-         liären Interaktion. Aspekte der Bindung         in den Autismus-Therapie-Zentren (ATZ )
sung der Entwicklungssituation des Kin-        und Feinfühligkeit müssen hier ebenso be-       erfolgen; in Einzelfällen praktizieren auch

304                                                                          Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de
Fortbildung | „Artikel des Monats“

Psychologen und Psychotherapeuten aus         behandelt? Unter dem Gesichtspunkt der           Störungsbefunden muss eine große Palette
den SPZs dieses „home treatment“.             Optimalität ist die Frage zu bejahen. Rea-       von möglichen ursächlichen neuropädiat-
    Im Regelfall erfolgt die Unterweisung     listisch muss aber festgestellt werden, dass     rischen Krankheitsbildern ebenso wie psy-
der Bezugspersonen im Rahmen von ins-         gerade die Diagnose Asperger-Syndrom             chischen Störungen berücksichtigt wer-
titutionellen Behandlungsterminen, sofern     auch heute noch, unter deutlich höherer          den. Je nach Ursache und Symptomkons-
nicht der behandelnde Pädiater selbst über    Aufmerksamkeit für das Störungsbild              tellation sind deshalb im Behandlungskon-
eine entsprechende psychotherapeutische       überhaupt sowie verbesserten diagnosti-          zept verschiedene Ebenen des Kindes, sei-
Zusatzqualifikation verfügt. Behandlungs-     schen Möglichkeiten, häufig erst im spä-         ner Eltern sowie anderer Bezugspersonen
möglichkeiten bestehen je nach inhaltli-      teren Schulalter gestellt wird.                  einschließlich Gestaltung der Rahmenbe-
cher Ausrichtung auch bei den sozialpsy-          Die ADHS ist die häufigere Störung           dingungen bei einer institutionellen Be-
chiatrisch zugelassenen Kinder- und Ju-       und wird deshalb zu Recht oftmals pri-           treuung einzubeziehen. Dominierendes
gendpsychiatern.                              mär ausgewiesen. Gemeinsamkeiten zwi-            Element im Vorschulalter ist in Bezug auf
    Medizinisch-funktionelle Interventi-      schen beiden Entitäten sind Impulsivität,        die Verhaltensmodifikation die Anleitung
onen auf der Ebene der Heilmittel haben       Probleme der Aufmerksamkeit und moto-            der Bezugspersonen.
einen gänzlich anderen Ansatzpunkt. Sie       rische Überaktivität. Diese führen unab-             Das Autismus-Spektrum stellt ein Kon-
können unterstützend indiziert und hilf-      hängig vom übergeordneten Krankheits-            tinuum der Symptom-Konstellation in un-
reich sein, um bestehende Defizite in funk-   bild zu Belastungen für die soziale Um-          terschiedlicher Ausprägung dar. Ätiolo-
tionellen Bereichen therapeutisch anzu-       gebung. Die Komorbidität wird in neue-           gisch dominierend hierfür ist die variable
gehen, sind aber nicht geeignet, um das       ren Untersuchungen mit mindestens 50             genetische Grundlage und damit Disposi-
Verhalten generell und insbesondere die       Prozent angegeben. Die Autismus-Spek-            tion zum neuropsychologischen und Ver-
soziale Einordnung in die Gruppe aus der      trum-Störung unterscheidet sich aber bei         haltens-Phänotyp. Dies wird im kommen-
Einzelbehandlung heraus zu beeinflussen.      genauer Betrachtung doch deutlich von der        den Klassifikationssystem ICD-11 Berück-
Dementsprechend gelten hier die üblichen      ADHS durch die zusätzliche Symptomatik,          sichtigung finden.
Vorgaben der Heilmittel-Richtlinien mit       besonders aber die grundlegende qualitati-
Indikationsbezug. Eltern ebenso wie ande-     ve Beeinträchtigung der sozialen Reagibi-        Weiterführende Literatur
                                                                                               1. Attwood T (2012) Ein Leben mit dem Asperger-Syndrom.
re Betreuungspersonen müssen sehr deut-       lität und Interaktionsgestaltung. Diese ist          Trias
                                                                                               2. Bölte S (Hrsg.) (2009) Autismus. Spektrum, Ursachen,
lich darüber informiert werden, dass sie      bei der ADHS nicht in dieser Form vorhan-            Diagnostik, Intervention, Perspektiven. Huber
selbst in ihren Handlungen die entschei-      den. Vereinfacht formuliert zeigt die Autis-     3. Leitner Y (2014) The co-occurrence of autism and atten-
                                                                                                   tion deficit hyperactivity disorder in children – what do
denden Rahmenbedingungen für die Be-          mus-Spektrum-Störung im Vorschulalter                we know? Review article. Front Hum Neurosci 8: 268
treuung des Kindes aufstellen. Dies kann      zwar Überschneidungen mit der ADHS,              4. Poustka F, Bölte S, Feines-Matthews S, Schmötzer G (2009)
                                                                                                   Ratgeber Autistische Störungen. Information für Betroffene,
nicht in den funktionell orientierten The-    weist aber in jedem Fall eine „Plus-Symp-            Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe
rapiebereich delegiert werden.                tomatik“ auf, die dann diagnostisch in der       5. Remschmidt H, Kamp-Becker I (2006) Asperger-Syndrom.
                                                                                                   Springer
    Bei älteren Kindern kommen autismus-      Gesamtsicht entscheidend ist.                    6. Sinzig J (2011) Frühkindlicher Autismus. Springer
spezifische Behandlungsoptionen hinzu.
Diese umfassen besondere Ansätze des          Zusammenfassung
verhaltenstherapeutischen Vorgehens           Autismus-Spektrum-Störungen zeigen aus           Korrespondenzadresse
ebenso wie der Kommunikationsanbah-           bisher nicht eindeutig geklärten Gründen         Dr. Helmut Hollmann
                                                                                               Kinderneurologisches Zentrum
nung und -unterstützung, zu einem späte-      eine Zunahme in der diagnostischen Aus-          LVR-Klinik Bonn
ren Zeitpunkt dann auch besondere Grup-       weisung bei Inanspruchnahme-Populati-            Tel.: 02 28/66 83-132
pentherapien.                                 onen von spezialisierten Institutionen.          Fax: 02 28/66 83-139
    Die medikamentöse Behandlung hat          Dementsprechend gewinnt ihre frühzei-            E-Mail: Helmut.Hollmann@lvr.de
im Vorschulalter nur einen geringen Stel-     tige Ausweisung zumindest auf der Ebene
lenwert, kommt im indizierten Einzelfall      differenzialdiagnostischer Überlegungen
aber durchaus in Betracht. Vorzugsweise       auch für die Praxis der niedergelassenen
werden Stimulanzien eingesetzt, daneben       Pädiater zunehmend an Bedeutung. Eine
auch Antipsychotika mit sedierend-regu-       Abgrenzung ist erforderlich zur ADHS, die
lierendem Effekt.                             gleichzeitig im Kleinkindalter die wich-
                                              tigste Komorbidität von Autismus-Spek-
Autismus-Spektrum-Störungen und               trum-Störungen darstellt. Bei der Inter-
ADHS                                          pretation von gravierend abweichenden
Wurde Marius, der Patient im Fallbeispiel,    Verhaltensmustern mit und ohne Kombi-
im Vorschulalter falsch diagnostiziert und    nation von funktionellen und kognitiven

306                                                                          Kinderärztliche Praxis 85, 298 – 306 (2014) Nr. 5 www.kipra-online.de
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