Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik - Was Deutschland für Sicherheit, Verteidigung und Frieden tun muss - DGAP ...

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Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik - Was Deutschland für Sicherheit, Verteidigung und Frieden tun muss - DGAP ...
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik                                                      27

                                   BERICHT

                Aktionsplan Sicherheits-
                und Verteidigungspolitik
                Was Deutschland für Sicherheit,
                Verteidigung und Frieden tun muss

                                Dr. Claudia Major                   Dr. Christian Mölling
                                Forschungsgruppenleiterin           Forschungsdirektor und Leiter des
                                Sicherheitspolitik, Stiftung        Programms Sicherheit und Vertei-
                                Wissenschaft und Politik (SWP)      digung, Deutsche Gesellschaft für
                                                                    Auswärtige Politik (DGAP)

                                Dr. Constanze Stelzenmüller
                                Fritz Stern Chair on Germany and
                                transatlantic relations am Center
                                on the United States and Europe,
                                Brookings Institution
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Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik                                                                  BERICHT

Für das offene und global vernetzte Deutschland hängen           •   Amerikas Ambivalenz gegenüber seiner bisherigen Rol-
die Sicherheit der Welt und die der europäischen Nach-               le als globaler Sicherheitsgarant;
barschaft untrennbar mit der eigenen zusammen. Insbe-
sondere nach dem Fall der Mauer 1989 haben unter dem             •   Neue Waffentechnologien (z.B. Hyperschallraketen,
Schirm der Vereinten Nationen gewachsene normative                   KI, autonome Systeme, weltraumgestützte Systeme,
Ordnungen den Wohlstand, die Sicherheit und das An-                  biotechnologische Materialien), teils in Kombination
sehen des vereinigten Deutschlands gemehrt, allen vor-               mit „alten“ aber modernisierten Waffensystemen wie
an die Europäische Union und das von der Sicherheitsga-              Nuklearwaffen;
rantie der USA getragene westliche Bündnis. Kein Land in
Europa hat so von der Erweiterung der EU und der Einfüh-         •   Informations-Operationen (Propaganda, Desinforma-
rung des Euros profitiert wie Deutschland. Die Energie-              tion) mit Hilfe neuer Medientechnologien
partnerschaft mit Russland und die Handelspartnerschaft
mit China haben dazu beigetragen, Deutschland zum wirt-          Kriege, Krisen und interne Konflikte finden nicht nur an
schaftlichen Motor Europas zu machen. Die Erweiterung            Europas Grenzen statt (Israel-Palästina, Syrien, Arme-
der NATO schließlich machte die ehemaligen deutschen             nien, Nordafrika), sondern in Europa selbst: von Belarus
Frontstaaten zum geografischen Mittelpunkt des europäi-          über die Ukraine und den Balkan bis in das östliche Mittel-
schen Bündnisgebiets.                                            meer. Ihre Auswirkungen beeinträchtigen Europa auf viel-
                                                                 fältige Weise: über Lücken in den Wertschöpfungsketten
In Deutschland wurde diese Entwicklung doppelt falsch            oder Fracht- und Gastransitrouten, über Migrations- und
gelesen, wie der Diplomat Thomas Bagger angemerkt hat:           Fluchtbewegungen und über Versuche, Diaspora-Popula-
als Beleg für eine globale Konvergenz in Richtung des west-      tionen politisch zu instrumentalisieren. Oft stehen hinter
lichen Modells und als Beweis dafür, dass sich die deutsche      lokalen Konfliktparteien Drittmächte wie China, Russland,
Erfahrung einer friedlichen Beilegung des Kalten Krieges         der Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien. So wird die euro-
verallgemeinern lässt. Aus diesen Missverständnissen zo-         päische Nachbarschaft zunehmend zum Schauplatz einer
gen viele Deutsche den Fehlschluss, dass sie in einem ange-      Konkurrenz von Groß- und Regionalmächten, deren Sog
messenen und stabilen Status quo leben, der den Einstieg in      sich Europa und Deutschland kaum entziehen können. Dies
eine umfassende Abrüstung erlaube. Die Schattenseite der         trifft insbesondere zu, wenn Alliierte in diesen Konflikten
wirtschaftlichen Verflechtung etwa bei der Abhängigkeit          beteiligt sind, etwa die Türkei.
vom Handel mit China wollten sie nicht sehen. Noch we-
niger wollten sie wahrhaben, dass Partner zu Rivalen und
Gegnern werden können, wie dies bei Russland spätestens          AUSTRAGUNGSORT DES
seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 der         SYSTEMWETTBEWERBS
Fall ist. Schließlich ignorierte Deutschland viel zu lange die
Kritik seiner Partner an den strategischen Nebenwirkun-          Längst ist auch Europa selbst zum Austragungsort und
gen der deutschen Wirtschaftspolitik, etwa mit Blick auf         Objekt des Systemwettbewerbs zwischen Demokratien
Vorhaben wie Nord Stream 2. An all diesen Fehleinschät-          und Autokratien geworden. China, Russland und die Tür-
zungen krankt die deutsche Sicherheitspolitik bis heute.         kei verfolgen unterschiedliche Ziele, aber es ist unverkenn-
                                                                 bar, dass alle drei Länder zunehmend als Rivalen oder gar
                                                                 Gegner des Westens agieren. Dabei instrumentalisieren sie
EINE NEUE, GEFÄHRLICHE ÄRA                                       Differenzen innerhalb der NATO oder der EU. Sie tragen bi-
                                                                 laterale Konflikte in diese Organisationen und spielen Ak-
Inzwischen ist offensichtlich, dass die historische Kons-        teure und Öffentlichkeiten innerhalb der Mitgliedstaaten
tellation, die Deutschland in der Zeit nach Ende des Kal-        gegeneinander aus. Sie unterstützen innerstaatliche Ex-
ten Krieges in so einmaliger Weise schützte, an ihr Ende         tremisten und verhindern Solidarität und gemeinsames
kommt. Mit großer Geschwindigkeit wachsen neue Ge-               Handeln. In letzter Konsequenz steht dadurch die Zukunft
fahren und Bedrohungen für Deutschlands Sicherheit he-           des Westens, des europäischen Projekts und der Demokra-
ran, durch die bereits bestehende Bedrohungen wie Krie-          tie in Deutschland auf dem Spiel.
ge, Staatszerfall, Terrorismus und die Proliferation von
Massenvernichtungswaffen in ihrer Wirkung noch ver-              Die bestehenden Sicherheitsordnungen in Europa (NATO,
stärkt werden:                                                   EU und OSZE) werden aber auch von den eigenen Mitglie-
                                                                 dern in Frage gestellt. Im Falle der OSZE sind es autokrati-
•    Chinas globale Dominanzstrategie und Russlands terri-       sche Regierungen wie die in Russland, die ihre Legitimität
     torialer Revisionismus;                                     reduzieren. Die EU wird durch den Brexit und autoritäre
                                                                 und nationalistische Regierungen wie in Ungarn und Polen
September 2021                                                                                                          29

          BERICHT                                                         Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik

geschwächt. Die NATO wiederum leidet unter amerikani-         Infrastrukturen und Innovationssysteme bis zu illegalen
schen Ambivalenzen; wobei es auch nicht hilft, wenn ein       Cyberangriffen. Hybride Bedrohungen werden aber erst
französischer Präsident das Bündnis für politisch „hirntot“   seit 2020 von der deutschen Regierung als eigenständiges
erklärt. Aber auch Deutschlands politische Akteure tragen     Thema behandelt – mit Federführung im Bundesinnenmi-
große Verantwortung: Sie haben es jahrzehntelang unter-       nisterium. Damit gehört Deutschland zu den Nachzüglern
lassen, die Gesellschaft über die realen Herausforderungen    in EU und NATO.
der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzuklären. Sie
haben den deutschen Verteidigungsbeitrag in Frage ge-
stellt und die Bundeswehr unterfinanziert. Und trotz ihrer    WAS IST ZU TUN?
Bekenntnisse zu EU und NATO betreiben sie Projekte mit
Russland und China wie Nord Stream 2, die Europa und das      Deutschland hat in den vergangenen Jahren begonnen, die
Bündnis spalten.                                              Kluft zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit in seiner
                                                              Sicherheitspolitik zu verkleinern. Bei den EU-Sanktionen
Die unübersehbaren Fliehkräfte im Bündnis und in der EU       gegen Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion
machen Deutschland zu dem Punkt, an dem die europäi-          der Krim 2014 hat die Bundesregierung die Führung über-
sche Ordnung aus den Angeln gehoben werden könnte. Die        nommen. Sie hat sich auch bei der Bündnisverteidigung in
Tatsache, dass die Bundestagswahl im September und der        der NATO und in internationalen Militäreinsätzen stärker
damit verbundene Macht- und Generationenwechsel in            engagiert. Der Verteidigungshaushalt ist erheblich an-
der deutschen Politik schon im Vorfeld zum Gegenstand         gestiegen, von 32 Milliarden Euro 2014 auf knapp 47 Mil-
von Desinformations-und Propagandakampagnen wur-              liarden Euro 2021. Und dennoch bleibt der Eindruck, dass
den, ist ein Beleg dafür. Deutschland erlebt überdies seit    Deutschland vor allem auf äußeren Druck reagiert—und
Jahren eine massive Einflussnahme von ausländischen Ak-       auch dann noch zu wenig und zu spät.
teuren, vom legalen Einkauf in kommunale oder private

     EMPFEHLUNGEN                                             große Krisen bestmöglich zu antizipieren, dafür zu planen
                                                              und sie zu bewältigen. Wenn sie gleichzeitig auftreten, ist
                                                              er erst recht überfordert. Abstimmungen und Entschei-
     Angesichts der Verschlechterung der strategischen        dungen unter den zuständigen Ministerien und Agenturen
     Lage muss die neue Bundesregierung die Kraft             (Nachrichtendienste, Krisenstäbe) gelingen nur unzurei-
     zu einer Erneuerung der deutschen Sicherheits-           chend. Das Ressortprinzip auf Bundesebene und die föde-
     politik finden. Ansonsten droht Deutschland der          ralen Strukturen sowie fehlende Kooperation mit privaten
     Verlust von Handlungsspielräumen und die Verein-         Akteuren behindern das Handeln der Regierung und des
     nahmung durch strategische Herausforderer. Da-           Gesamtstaates. (siehe auch ​Aktionsplan Strukturen)
     her sind drei Dinge notwendig: Gleich zu Beginn der
     Legislaturperiode sollte die neue Bundesregierung
     einen sicherheitspolitischen Bewusstseinswandel          1. Strategische Kultur lebendiger gestalten
     mit praktischen Maßnahmen anstoßen. Dieser soll-
     te zweitens in veränderten Prozessen und neue Insti-     In Deutschland können sich die politischen Akteure nur
     tutionen münden. In einem dritten Schritt gilt es, die   wenige Handlungsoptionen überhaupt vorstellen, als le-
     bestehenden Politiken anzupassen und zu schärfen;        gitim ansehen und öffentlich vertreten. Es mangelt an
     das gilt insbesondere für den Umgang mit hybriden        Vorstellungskraft, politischem Willen und Verantwor-
     Bedrohungen, Krisenprävention und Stabilisierung,        tungs- und Risikobereitschaft, um problemangemessene
     die nukleare Ordnung und neue Technologien.              Politiken zu entscheiden und die Strukturen und Prozes-
                                                              se so zu gestalten, dass die erforderlichen Instrumente
                                                              und Ressourcen bereitstehen. Doch wenn Probleme in den
     STRATEGISCHE KULTUR UND                                  Planungen nicht berücksichtigt werden, dann stehen für
     INSTITUTIONELLE REFORMEN                                 ihre Bewältigung auch keine angemessenen Instrumen-
                                                              te zur Verfügung (Masken, Kommunikationsinfrastruktur
     Die Afghanistankrise hat unterstrichen, was bereits      oder schnelle Krisenreaktionsverbände). Dann kann die
     durch die COVID-19-Pandemie seit 2020 und die            Sicherheit in diesen Situationen nicht oder nicht bestmög-
     Flutkatastrophe im Sommer 2021 deutlich gewor-           lich gewährleistet werden. In einer akuten Krisensituation
     den war: Der deutsche Staat ist nicht in der Lage,       engt dieser vielfältige Mangel den Handlungsspielraum
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Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik                                                              BERICHT

     der politischen Akteure also so stark ein, dass sie nicht   2. Einen handlungsfähigen Bundes-
     angemessen agieren können.                                     sicherheitsrat (BSR) schaffen

     Das liegt an der spezifischen gesellschaft­lich-kultur-     Die wichtigste institutionelle Reform ist die Neukon-
     ellen Dimension, der so genannten strategischen             zeption des Bundessicherheitsrats, der bisher fast nur
     Kultur. Sie bestimmt, welchen Grundannahmen die Si-         über Rüstungsexporte entscheidet, als einem zent-
     cherheitspolitik eines Landes folgt und gibt den Rah-       ralen Koordinationsinstrument der Bundesregierung.
     men dafür vor, worüber man politisch streiten und           Dies ist notwendig, um zu allen sicherheitspolitischen
     entscheiden kann, und welche Handlungsoptionen un-          Themen ressortübergreifende Abstimmungen und Ent-
     vorstellbar sind. In Deutschland ist dieser Rahmen der      scheidungen herstellen zu können. Je nach Thema soll-
     denkbaren Ziele und Mittel und damit der Handlungs-         ten auch die Bundesländer eingebunden werden, deren
     spielraum eingeschränkter als bei unseren engsten           Bedeutung für die Sicherheit im nicht-militärischen Be-
     Partnern. Der Grund hierfür sind historisch beding-         reich steigt. Denn die Länder und Kommunen entschei-
     te oder parteipolitische und gesellschaftliche Nor-         den darüber, wer Zugang zu kritischen Infrastrukturen
     men und Weltanschauungen. Politischen Entscheidern          wie Datennetzen, Wasser- und Energieversorgung oder
     schlägt deshalb erheblicher Widerstand entgegen,            Häfen erhält.
     wenn sie Politikansätze außerhalb des allgemein ak-
     zeptierten Rahmens verfolgen wollen. Solche Ansätze         Der neue BSR sollte sich in einen Kabinettsausschuss
     werden in den Planungen selten berücksichtigt.              als Beratungs- und Entscheidungsgremium und ein Se-
                                                                 kretariat zur Unterstützung gliedern. Im Kabinettsaus-
     Deshalb ist es legitim und notwendig, dass die nächste      schuss würden Ministerinnen und Minister regelmäßig
     Bundesregierung es sich zum Ziel macht, die nationale       über strategische Themen beraten und verbindliche
     Strategiefähigkeit zu stärken, also die Fähigkeit, ange-    Entscheidungen fällen. Das Sekretariat als permanen-
     messene sicherheitspolitische Ziele zu definieren und       te Unterstützungsstruktur hätte die Aufgabe, Themen
     die Mittel für die Umsetzung bereitzustellen. Die dafür     aus der Arbeit der Bundesregierung aufzugreifen und
     erforderlichen Veränderungen in der strategischen Kul-      dem Ausschuss vorzulegen. Es sollte aber auch selbst-
     tur Deutschlands sind allerdings schwer zu erreichen.       ständig Themen auf die Agenda setzen können. Das
     Es braucht nicht nur die Einsicht der politischen Akteu-    Sekretariat sollte zur Hälfte mit Fachkräften aus den
     re, sondern auch den Willen, diese gewünschten Ver-         am BSR beteiligten Ministerien besetzt werden, zur
     änderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und sie an       anderen Hälfte mit Praktikerinnen und Praktikern und
     dieser Willensbildung aktiv zu beteiligen.                  Fachleuten aus Wissenschaft und Privatwirtschaft.
                                                                 Dieses Sekretariat sollte von einer Co-Leitung aus poli-
     In einem föderalen Land wie Deutschland ist die Macht       tischen Beamten und wissenschaftlichen Experten ge-
     auf verschiedene Ebenen verteilt. Veränderungen der         führt werden, um aus beiderlei Perspektiven beraten zu
     sicherheitspolitischen Problemwahrnehmung, Ziele,           können.
     Mittel und Lösungen sind nur möglich, wenn Regie-
     rung, Parlament, die sicherheitspolitische Community        Der erste Schritt zum Aufbau des neuen BSR ist, einen
     und die Zivilgesellschaft an diesem Wandel teilnehmen       Koordinator oder eine Koordinatorin im Rang eines
     können. Sonst blockieren sie ihn.                           Staatssekretärs zu berufen und eine Task Force für den
                                                                 Aufbau und die kommissarische Arbeit einzurichten.
     Entscheidend für dauerhafte Veränderungen von Re-           Wichtige thematische Zuarbeit kann die Sicherheits-
     gierungshandeln sind Institutionen und Prozesse, die        politische Kommission leisten (siehe die nächste Emp-
     regierungsgemeinsames Handeln zur Regel machen.             fehlung). Auf der Grundlage ihrer Vorschläge sollte der
     Probleme müssen regierungsgemeinsam als solche er-          BSR nach ungefähr zwei Jahren eine nationale und fö-
     kannt werden, Lösungen gemeinsam entschieden und            derale Sicherheitsstrategie vorlegen.
     Instrumente koordiniert eingesetzt werden. Dadurch,
     dass Regierung und Bürokratie ihr Handeln immer wie-
     der auf den verschiedenen staatlichen Ebenen, und
     gegenüber der Öffentlichkeit erklären, können sie auch
     dazu beitragen, den Rahmen der überhaupt vorstellba-
     ren Ziele und Mittel zu erweitern.
September 2021                                                                                                          31

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     3. Sicherheitspolitische Kommission                        in die Länder und über die Expertengemeinschaft hin-
        einrichten                                              aus in die Bevölkerung reichen.

     Als eine seiner ersten Handlungen sollte der BSR eine      Das Parlament könnte eine jährliche nationale Sicher-
     unabhängige Sicherheitspolitische Kommission ein-          heitswoche im Bundestag abhalten.
     setzen. Diese ist zusammengesetzt aus Parlamenta-
     riern, Experten, und Ministerialbeamten. Sie erarbeitet    Die Bundesregierung sollte vorzugsweise während der
     innerhalb eines Jahres einen Bericht zu den Risiken und    Sicherheitswoche einen jährlichen Umsetzungsbericht
     Chancen, auf die eine gesamtstaatliche Sicherheits-        zur Nationalen Sicherheitsstrategie vorlegen, eingelei-
     politik vorbereiten muss, und Empfehlungen für Poli-       tet durch eine Grundsatzrede von Kanzler oder Kanzle-
     tikinhalte, Strukturen und Instrumente. Damit liefert      rin zur Sicherheitspolitik.
     die Kommission wichtigen inhaltlichen Input für die na-
     tionale Sicherheitsstrategie und die übrige Arbeit des     In seiner derzeitigen Ausschussstruktur spiegelt der
     BSR.                                                       Bundestag nicht die Vernetzung von Innen-, Außen-,
                                                                Verteidigungs-, Wirtschaftspolitik und Entwicklungs-
     Die Kommission sollte danach jedes Jahr die Fortschrit-    zusammenarbeit wider, die aber für eine strategische
     te bei der Umsetzung der Sicherheitsstrategie bewer-       deutsche Sicherheitspolitik notwendig ist. Der Bundes-
     ten. Ihre Berichte können einen Beitrag zum Aufbau         tag sollte einen Sicherheitspolitischen Ausschuss ein-
     einer „Community“ aus Experten, Politikern und Prak-       richten. Dieser neue Ausschuss würde die Arbeit des
     tikern in Ministerien und bei Privatakteuren leisten.      Bundessicherheitsrats begleiten und parlamentarisch
     Dies wird dazu führen, dass die Regierung ihre Sicher-     kontrollieren. Diese Konstruktion gewährleistet, dass
     heitspolitik besser erklärt und eine öffentliche Debatte   eine größere Handlungsfähigkeit der Exekutive nicht
     fördert, was wiederum Voraussetzung für die Weiter-        auf Kosten ihrer demokratischen Legitimität und der
     entwicklung der strategischen Kultur ist.                  Kontrollrechte der Parlamentarier geht. Dieser Aus-
                                                                schuss sollte Abgeordnete aus allen relevanten Aus-
                                                                schüssen beteiligen.
     4. Sicherheitspolitik demokratisieren
                                                                Dies würde einen umfassenden sicherheitspolitischen
     Neue Lösungen und sicherheitspolitische Weiterent-         Ansatz ermöglichen und verteidigungspolitische Fra-
     wicklung werden möglich, wenn Regierung, Parteien          gen besser mit internationaler politischer Analyse ver-
     und Parlament eingeübte Argumentationen und reflex-        binden. Sicherheits- und verteidigungspolitischen
     artige Reaktionen überwinden und stattdessen Posi-         Themen würden so mehr Gewicht und Reichweite
     tionen erklären und begründen müssen. Bürgerinnen          erhalten.
     und Bürger sollten an der Entwicklung von politischen
     Optionen und Zukunftsvisionen teilnehmen. Eine den
     Herausforderungen angemessene Sicherheitspolitik           REFORM DER POLITIKEN
     kann nur entstehen, wenn die Zivilgesellschaft sie ver-
     steht, akzeptiert und im besten Fall unterstützt. Das
     gilt insbesondere für Präventionsmaßnahmen. Folgen-        1. Stärken der NATO und EU verzahnen
     de Möglichkeiten bieten sich an:
                                                                Die globalen und regionalen Sicherheitsinstitutionen
     Die Zivilgesellschaft sollte eingebunden werden, vor       wie die Vereinten Nationen und die Organisation für Si-
     allem bei der Entwicklung von Zukunftsvisionen und         cherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bewir-
     dem Erarbeiten von politischen Optionen. Ihre Erkennt-     ken immer weniger, weil sie durch Konflikte unter den
     nisse und Vorschläge sollten als Input in die Arbeit der   Mitgliedern blockiert werden. Deutschland sollte eine
     sicherheitspolitischen Kommission und die nationale        weitere Erosion dieser Institutionen nach Kräften ver-
     Sicherheitsstrategie einfließen. Dafür könnten Regie-      hindern. Aber wirkliche Handlungsfähigkeit im Sinne
     rung und Parlament ein sicherheits-und friedenspoliti-     gestalterischer Optionen bieten zurzeit vor allem EU
     sches Jahr oder Semester ausrufen. Deren Umsetzung         und NATO.
     könnten die Bundeszentrale für politische Bildung so-
     wie die Landeszentralen, politischen Stiftungen, Mi-       In Europa sind derzeit 21 Staaten gleichzeitig Mitglieder
     nisterien, Schulen, Universitäten, Medien und andere       von NATO und EU, und trotzdem nutzen sie das gemein-
     Institutionen mit interaktiven und partizipativen Ver-     same Potenzial der beiden Institutionen nicht aus. Das
     anstaltungen begleiten, die über die Hauptstadt hinaus     Verhältnis zwischen EU und NATO ist von Misstrauen
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Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik                                                                 BERICHT

     und Desinteresse, bisweilen auch von Konkurrenzden-              (EJF) einen sichtbaren politischen, militärischen
     ken geprägt. In Deutschland bekennen sich politische             und technologischen Kristallisationspunkt erhal-
     Akteure oft einseitig zu einer Institution und schreiben         ten. Die EJF sollte 50 Prozent der konventionellen
     ihr Bedeutungen zu, die zu den eigenen Weltanschau-              Fähigkeiten bereitstellen, die für die kollektive Ver-
     ungen passen, anstatt beide Organisationen für eine              teidigung in Europa und das militärische Krisenma-
     umfassende Sicherheitspolitik zu nutzen.                         nagement erforderlich sind. Damit wird automatisch
                                                                      auch die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, denn
     Tatsächlich sind diese ideologischen oder kategori-              die nationalen Streitkräfte stehen sowohl der EU als
     schen Rollenzuschreibungen ein Hindernis für mehr Si-            auch der NATO zur Verfügung.
     cherheit. Den rasant wachsenden Herausforderungen
     kann Europa nur dann erfolgreich begegnen, wenn es           •   Zur Umsetzung der gemeinsamen Zielvorstellung
     die unterschiedlichen Kompetenzen beider Organisa-               sollen der NATO-Planungsprozess und die EU-Ko-
     tionen gemeinsam einsetzt. Dafür bedarf es der Be-               operationsinstrumente CARD (Coordinated Annual
     reitschaft, ideologische Positionen zu überwinden. Die           Review on Defence), PESCO (Permanent Structu-
     NATO ist die stärkste Militärallianz der Welt, wenn sich         red Cooperation) und EVF (Europäischer Vertei-
     die Alliierten politisch einig sind. Aber je mehr Europas        digungsfonds) beitragen. Die Grundlagen dafür
     Sicherheit nicht nur auf klassischen militärischen Fähig-        sind bereits gelegt. Die Bundesregierung sollte
     keiten aufbaut, sondern auch den Schutz kritischer In-           dem technologisch-industriellen Bereich besonde-
     frastrukturen, Resilienz, Prävention, das Management             res Gewicht beimessen. Hier konkurrieren amerika-
     komplexer Konflikte und die Nutzung neuer Technolo-              nische und europäische Firmen, und Europa pocht
     gien erfordert, desto mehr rücken die Handlungsoptio-            auf größtmögliche Autonomie. Aus militärischer
     nen der EU in nicht-militärischen Bereichen ins Blickfeld.       Sicht kommt es für die Schlagkraft der westlichen
     Die Union besitzt einzigartige Instrumente in den Be-            Streitkräfte auf technologische Überlegenheit
     reichen ziviles Krisenmanagement, Klimawandel und                und Interoperabilität an. Deshalb sollten NATO-Al-
     im Technologiebereich über Regulierung, Standardisie-            liierte gezielt in EU-Projekte einbezogen werden
     rung und die Setzung von Entwicklungsanreizen.                   und umgekehrt.

     Die Bundesregierung sollte sich nachdrücklich für            •   Notwendige und verlässliche Partner finden sich
     einen qualitativen Sprung in der Verzahnung von EU               aber auch außerhalb von EU und NATO. Wichtig ist
     und NATO einsetzen. Das politische Fenster für gro-              dies vor allem für das sicherheitspolitische Enga-
     ße Veränderungen schließt sich im Sommer 2022: Bis               gement in Regionen wie Asien. Hier sollte die Bun-
     dahin wollen EU und NATO ihre strategischen Grund-               desregierung weitere Partnersysteme schmieden,
     lagen neu definieren. Deutschland sollte sich für eine           etwa mit Australien. Das kann sowohl im Rahmen
     möglichst kohärente Analyse der Lage und Zukunft                 informeller Formate und Koalitionen der Willigen
     der europäischen Sicherheit einsetzen. Dazu sollte es            geschehen als auch in Form einer Zusammenarbeit
     die 21 Staaten, die zugleich der EU und der NATO an-             mit bestehenden regionalen Formaten.
     gehören, überzeugen, die Ergebnisse, die bis dahin bei
     den Beratungen in der EU erzielt wurden, als gemeinsa-       •   Institutionelle Veränderungen sollte es auch auf na-
     me Grundlage in den gerade beginnenden Prozess bei               tionaler Ebene geben; Im Auswärtigen Amt sollten
     der NATO einzubringen. Auch das Vereinigte Königreich            die getrennten Strukturen für EU und NATO durch
     dürfte dieses Kohärenzziel unterstützen.                         eine Abteilung Euro-Atlantische Sicherheit ersetzt
                                                                      werden. Im Verteidigungsministerium sollte dies in
     •   Aufbauend auf ihrer gemeinsamen Analyse sollten              den Abteilungen Politik, Planung und Ausrüstung
         die Stäbe von EU und NATO gemeinsam definieren,              gespiegelt werden. Das Ziel ist, anstelle von institu-
         welches Niveau von Fähigkeiten in Europa erreicht            tionellen Logiken die sicherheitspolitischen Ziele in
         werden muss, um das gesamte Konfliktspektrum                 den Vordergrund zu stellen.
         (mit Ausnahme der nuklearen Abschreckung) abzu-
         decken. Zu diesem Ambitionsniveau leisten sowohl         •   Die bereits geplante Bundeswehrreform sollte in
         die EU, die NATO als auch die Mitgliedsstaaten indi-         den Aufbau der EJF eingebettet werden. Deutsch-
         viduell ihren Beitrag.                                       land kann die Umsetzung der EJF fördern, indem
                                                                      es das Rahmennationenkonzept (FNC) wieder auf-
     •   Die militärischen Beiträge der Europäer zum Am-              leben lässt und um den Bereich Rüstung und Be-
         bitionsniveau (und damit der europäische Pfeiler in          schaffung erweitert. So sollte Deutschland nicht
         der NATO) sollten über eine European Joint Force             nur Anlehnungspartnerschaften im Bereich der
September 2021                                                                                                             33

          BERICHT                                                           Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik

         militärischen Strukturen, sondern auch bei der rüs-          Spektrum von Sicherheitsrisiken und -instrumenten
         tungsindustriellen Basis anbieten. Dies würde der            in den Bereichen Klima, Gesundheit und Technolo-
         weiteren Renationalisierung im Verteidigungsbe-              gie auf der Agenda.
         reich in Europa entgegenwirken und die industrielle
         Abhängigkeit von der übrigen Welt reduzieren. Auf        •   Um bei ihren Verbündeten glaubwürdig zu sein, soll-
         diese Weise würde Deutschland helfen, eine leis-             te Deutschland am Zwei-Prozent-Ziel der NATO
         tungsfähige verteidigungstechnologische und in-              festhalten und deutlich machen, dass es die Vor-
         dustrielle Basis auf europäischer Ebene zu erhalten.         gaben bis 2024 erfüllen wird. Gelingt dies, vergrö-
                                                                      ßert die höhere Glaubwürdigkeit auch den Einfluss
                                                                      Deutschlands in der NATO. Die neue Bundesregie-
     2. Planungssicherheit und Mittelverwendung                       rung kann dies nutzen, um für eine Überarbeitung
        verbessern                                                    der Ausgabenmetrik und -bereiche zu werben. Da-
                                                                      bei sollte Berlin den Fokus der zu erbringenden
     In Deutschland ist die Diskussion um die angemes-                Leistungen auf Klima, Cybersicherheit und Innova-
     sene Finanzierung von Sicherheit und Verteidigung                tion erweitern. Ein Teil der Ausgaben (0,5 Prozent
     auf den Streit reduziert, ob das Zwei-Prozent-Ziel der           des BIP) sollte dabei für gemeinsame Projekte mit
     NATO sinnvoll ist. Deutschland hat dessen Erfüllung              EU- und NATO-Staaten sowie mit anderen Partnern
     wiederholt zugesagt, bleibt aber weit davon entfernt.            (zum Beispiel Australien) reserviert werden. Dies
     Auch im Rahmen der EU hat Deutschland eine konti-                würde zugleich zur Konsolidierung der Industrien
     nuierliche Steigerung seiner Verteidigungsausgaben               und Ausrüstungen in Europa beitragen.
     versprochen.
                                                                  •   Darüber hinaus kann der Bundestag mit einem
     Der einseitige Fokus auf Ausgabensteigerungen – und              Bundeswehrplanungsgesetz        Planungssicherheit
     hier vor allem für militärische Mittel – ist mit Blick auf       schaffen und so die Effizienz der eingesetzten
     das erweiterte Bedrohungsspektrum allerdings nicht               Steuergelder steigern. Ein Planungsgesetz soll-
     mehr angemessen. Trotzdem darf die Bundesregierung               te festschreiben, dass langfristige Projekte, über
     nicht den Verdacht aufkommen lassen, sie betone nur              deren Notwendigkeit Konsens besteht, über einen
     deswegen die Notwendigkeit einer größeren Effizienz              längeren Zeitraum (fünf bis zehn Jahre) finanziert
     der Ausgaben und die Einbeziehung nicht-militärischer            werden. Welche Projekte dies sind, legt der Bundes-
     Bereiche von Sicherheit, weil sie sich weiterhin vor Zah-        tag fest.
     lungen drücken und Trittbrettfahrer der USA und ande-
     rer NATO-Länder bleiben wolle.                               •   Weil es in der Bundeswehr jedoch auch an vielen
                                                                      kleinen Anschaffungen fehlt, die es nie auf Priori-
     Hinzu kommt ein interner Organisationsaspekt: Auch               tätslisten schaffen, aber im Ernstfall fehlen, sollte
     wenn Deutschland seine Verteidigungsausgaben ste-                der Bundestag zudem eine Vollausstattungsinitia-
     tig erhöht, passieren diese Steigerungen kurzfristig und         tive für vier Jahre starten und finanziell hinterlegen.
     sind oft nur für das nächste Jahr gesichert. Die Bun-            Dies würde auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO an-
     deswehr kann dieses Geld nicht sinnvoll in langfristi-           gerechnet und rasch die Einsatzfähigkeit der Bun-
     ge Projekte investieren, wenn sie nicht weiß, ob für die         deswehr verbessern.
     gesamte Laufzeit des Projektes die erforderlichen Mit-
     tel verfügbar sind. Die Frage der angemessenen Fi-
     nanzierung hat also mindestens zwei Dimensionen: ob          3. Nukleare Ordnung, Abschreckung und
     Deutschlands NATO- und EU-Zusagen verlässlich sind,             Rüstungskontrolle mitgestalten
     Berlin also Wort hält; und ob die Bundeswehr verläss-
     lich planen kann. Die derzeitige Finanzierung stellt bei-    Die Bedeutung von Nuklearwaffen steigt weltweit, und
     des in Frage.                                                gleichzeitig wächst die Komplexität der nuklearen Ord-
                                                                  nung. Neue Akteure sind hinzugetreten. Zudem sind
     •   Die neue Bundesregierung muss sehr rasch die             nukleare und konventionelle Fähigkeiten zunehmend
         Weichen so stellen, dass sie die unterschiedlichen       mit neuen Technologien verwoben. Diese Entwicklung
         Ansprüche (sinnvolle Beträge und ein breiterer Si-       birgt erhebliche Unsicherheiten, insbesondere wenn
         cherheitsfokus) zusammenbringen kann, denn die           neuartige konventionelle Fähigkeiten mit modernisier-
         NATO will ihr neues strategisches Konzept bereits        ten Atomwaffen kombiniert werden.
         2022 vorlegen. Hier stehen die Themen Bedrohungs-
         situation und Lastenteilung sowie insbesondere das
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Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik                                                               BERICHT

     Erschwert wird die Situation durch die zunehmende          •   Eine Chance auf Gehör wird die neue Bundesregie-
     Schwächung der Rüstungskontrolle. Das Ende des INF-            rung allerdings nur haben, wenn sie glaubhaft ma-
     Vertrags über landgestützte Mittelstreckenraketen, die         chen kann, dass sie der gemeinsamen und gleichen
     Unsicherheiten über die langfristige Zukunft des Ver-          Sicherheit für alle NATO-Staaten absoluten Vorrang
     trags über strategische Atomwaffen (New START) und             gibt. Unilaterale Initiativen verbieten sich. Deutsch-
     die Aushöhlung des Atomwaffensperrvertrags erhöht              land muss aktiv zur kollektiven Sicherheit beitragen
     das Risiko von Fehlkalkulationen. Die rasche nukleare          und am NATO-Grundsatz der nuklearen Abschre-
     Aufrüstung Chinas, das bisher wenig Bereitschaft zur           ckung festhalten. Solange diese über nukleare Teil-
     Rüstungskontrolle zeigt, vergrößert das Problem. Ab-           habe organisiert wird, sollte Deutschland die ihm
     rüstungsvorschläge wie der Kernwaffenverbotsvertrag            dabei zukommende Rolle zuverlässig ausüben. Da-
     sind aussichtsloser denn je. Sie sind gut gemeint, haben       zu gehört einerseits, in Deutschland die Herausfor-
     aber keine Chance auf Umsetzung, weil sie aus Sicht der        derungen der nuklearen Ordnung zu benennen, die
     Nuklearstaaten keine überzeugende Alternative für de-          Kosten und den Nutzen nuklearer Abschreckung für
     ren Sicherheitsinteressen aufzeigen. Zudem fehlt es an         Deutschland transparent zu machen und mögliche
     Verifikationsmechanismen und Garantien, dass Nuk-              Veränderungen, etwa durch neue US-Nukleardok-
     learwaffen tatsächlich für immer abgeschafft sind.             trinen, vorausschauend mitzudenken. Andererseits
                                                                    bedeutet das aber auch die Stationierung von US-
     Deutschland verfügt nicht über eigene Nuklearwaffen.           Atombomben auf deutschem Boden sowie die Be-
     Für die nukleare Abschreckung hängt es von der NATO            reitstellung von konventionellen Kampfflugzeugen,
     und den Beiträgen der USA, Frankreich und Großbri-             die für den Transport dieser Nuklearwaffen zertifi-
     tannien ab. Damit kann Deutschland weder die Be-               ziert sind. Aus politischen und technischen Gründen
     dingungen für nukleare Abschreckung noch die für               sollte die neue Generation dieser Kampfflugzeu-
     Rüstungskontrolle und Abrüstung direkt bestimmen.              ge in den USA beschafft oder geleast werden. So
     Die wesentliche Voraussetzung für beides, gesicherte           wären sie auch bei einer Änderung der nuklearen
     Abschreckung und Abrüstung, ist die europäische und            Abschreckung, etwa infolge einer veränderten US-
     transatlantische Einigkeit in der NATO.                        Doktrin, von militärischem Wert.

     Die NATO sieht sich inzwischen mit zwei miteinan-          •   Wichtig für die nukleare Ordnung und Abschreckung
     der verbundenen nuklearen Räumen konfrontiert: dem             in Europa sind auch die europäischen Atommächte
     euro-atlantischen Raum, der durch das stetig wachsen-          Frankreich und Großbritannien. Deutschland sollte
     de Nukleararsenal Russlands bedroht wird, und dem              der Einladung Frankreichs zu einem strategischen
     asiatischen, in dem China Anspruch auf geopolitische           Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung
     Dominanz erhebt. Strategische Stabilität kann nur im           in Europa und Frankreichs Beitrag dazu folgen. Da-
     Dreieck USA-China-Russland definiert werden, wobei             bei sollte es aber darauf hinwirken, dass nicht Frank-
     die europäische Mitsprache eng begrenzt ist. Das rus-          reich allein, sondern die europäischen Staaten
     sische Nuklearwaffenarsenal, insbesondere im Bereich           gemeinsam die Prozesse und Inhalte eines solchen
     der Mittelstreckenraketen, ist primär ein europäisches         Dialogs definieren. Die Vereinbarkeit mit der NATO
     Problem, das chinesische primär ein US-Problem.                muss gewährleistet bleiben. Zu den weiteren ge-
                                                                    meinsamen Themen, bei denen auch das Vereinig-
     •   Deutschland sollte in der nächsten Legislaturperio-        te Königreich einbezogen werden sollte, könnte die
         de bei seinen NATO-Verbündeten für eine Abrüs-             Frage gehören, was Europa dazu beitragen kann,
         tungsinitiative für nukleare Mittelstreckenraketen         das Risiko von konventionellen oder nuklearen Aus-
         in Europa zu Wasser, zu Lande und in der Luft wer-         einandersetzungen im Indopazifik zu verringern..
         ben. Diese Waffenklasse sollte deshalb im Zent-
         rum stehen, weil ihr Überraschungspotenzial Europa
         unter Druck setzt und sie bereits in Friedenszeiten    4. Krisenprävention und Stabilisierung
         geeignet ist, die Europäer zu erpressen. Wenn Russ-       besser aufstellen
         land die unter Bruch des INF-Vertrages entwickelten
         und eingeführten nuklearfähigen Mittelstreckenra-      Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden Krisenprä-
         keten abrüstet, könnten die NATO-Staaten anbie-        vention und Stabilisierung zu einer zentralen Aufgabe
         ten, keine konventionellen Lenkwaffen in Europa        der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik. Doch
         zu stationieren, die russische Raketenanlagen und      nach insgesamt erfolgreichen Einsätzen auf dem west-
         Kommandostellen treffen könnten.                       lichen Balkan (siehe auch Aktionsplan Westbalkan)
                                                                stellt das Scheitern der westlichen Aufbaumission in
September 2021                                                                                                            35

          BERICHT                                                           Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik

     Afghanistan viele Grundannahmen dieser Orientierung              am strategischen Kompass der EU (bis Ende 2021),
     in Frage. Die USA hat die Ära des „State Building“ für           dem „Civilian Compact“ der EU bis 2023 und dem
     beendet erklärt. Die neue Bundesregierung muss dem               strategischen Konzept der NATO bis 2022 einge-
     nicht folgen, aber auch sie wird Ziele und Instrumente           bracht werden.
     neu bewerten müssen. Vier Elemente sind zentral:
                                                                  •   Europäisches Stabilisierungskorps: Schon heute
     •   Gründliche Analyse der Operationen in Afgha-                 wären Tausende von zivilen und militärischen Exper-
         nistan, Mali und anderen großen zivilen oder mi-             tinnen und Experten vom Ingenieur bis zum Polizei-
         litärischen Engagements. Ziel es, zu klären, unter           ausbilder erforderlich, um in komplexen Konflikten
         welchen Umständen und mit welchen Mitteln Kri-               von der Sahelzone bis Syrien strukturelle Verände-
         senprävention und Stabilisierung erfolgreich sein            rungen zu bewirken. Die neue Bundesregierung soll-
         können. Auch die deutsche Öffentlichkeit wird nur            te deswegen die Aufstellung eines europäischen
         dann neue Missionen akzeptieren, wenn überzeu-               Stabilisierungskorps auf den Weg bringen und
         gend dargelegt wird, dass diese eine begründete              selbst fünfzig Prozent der benötigten Fähigkeiten
         Chance auf Erfolg haben. In Analyse und Kommu-               beitragen. Damit könnte es als zivile Rahmennation
         nikation kann die Sicherheitspolitische Kommission           nicht nur zur Stabilisierung in Krisen beitragen, son-
         eine zentrale Rolle spielen.                                 dern diese Operationen auch führen und gestalten.
                                                                      Zu diesem Zweck sollte Deutschland einen Perso-
     •   Verständnis der Wirkungszusammenhänge ver-                   nalpool von 5000 Spezialistinnen und Spezialisten
         tiefen. Bis heute überschätzen viele Befürworter             bereitstellen, die, komplett oder in Teilen, den Kern,
         von Krisenprävention und Stabilisierung die Wirk-            die Führungsstruktur und die Logistik von größeren
         samkeit von Missionen und unterschätzen deren Ri-            zivilen oder integrierten Operationen bilden kön-
         siken. Zudem halten einige Akteure den dezidiert             nen. Dies würde es vielen kleineren Nationen erlau-
         friedenspolitischen Anspruch von Krisenpräven-               ben, sich mit einem sinnvollen Beitrag anzukoppeln.
         tion und Stabilisierung für nicht vereinbar mit dem
         Schutz von Menschen und Mission durch militäri-
         sche Mittel. Entwicklung braucht aber einen siche-       5. Exportkontrolle von Rüstungsgütern
         ren Rahmen. Das Verständnis für Potenziale und              und Technologie neu ordnen
         Grenzen der Krisenprävention kann über einen par-
         tizipativen Lernprozess verbessert werden: ein           Deutschland spielt in der EU und international eine
         Labor zur Zukunft von Krisenprävention und Stabi-        zentrale Rolle als Hersteller, Kooperationspartner und
         lisierung für Vertreter der Politik, der Institutionen   Exporteur von Rüstungsindustriegütern. Im Bereich
         und der Zivilgesellschaft.                               der klassischen Rüstungsexporte wird Deutschland je-
                                                                  doch als unzuverlässig wahrgenommen. Trotz klarer
     •   Strategische Planung: Weder national noch inter-         (und restriktiver) Vorgaben sind die Entscheidungen für
         national gehen die Akteure der Frage nach, wie ihr       Exporte und Verbote und deren Grundlagen intranspa-
         künftiges Engagement für Krisenprävention und            rent. Deutschland gefährdet damit seine eigene indus-
         Stabilisierung aussehen können und was sie dafür         triell-technologische Basis, die von Exporten abhängig
         brauchen werden – sie lassen sich überraschen und        ist, sowie die Kooperationsfähigkeit mit Partnern.
         setzen dann die Instrumente ein, die ad hoc verfüg-
         bar sind. Die neue Bundesregierung sollte hier lang-     Hinzu kommt, dass klassische Kriegswaffen aus tech-
         fristig – etwa mit einem Horizont bis 2040 – planen,     nologischer Sicht nur noch eine geringe Rolle spielen.
         auf welche Konflikte sich Deutschland einstel-           In komplexen Waffensystemen gewinnen einzelne (zu-
         len muss, welche Ziele es erreichen will und welche      meist digitale) Technologien erheblich an Bedeutung.
         Mittel dafür notwendig sind. Ein erster Schritt da-      Diese „emerging and disruptive technologies“ (EDT)
         zu ist die Gründung einer Arbeitsgruppe mit stra-        sind ein viel größeres sicherheitspolitisches Problem,
         tegischen Planern des Auswärtigen Amtes und des          da sie die Leistung von Waffensystemen erheblich stei-
         Bundesverteidigungsministeriums, wo bereits Pro-         gern. Hinzu kommt, dass militärische Anwendungen
         jekte der strategischen Vorausschau existieren.          nur noch ein kleiner Bereich in einem großen Feld der
         Andere Ministerien und zivile Akteure können hin-        Sicherheitsanwendungen sind. Die bestehenden Ex-
         zukommen. Eine solche integrierte Planung und Ab-        portkontroll- und Technologieregime sind schon seit
         stimmung der Instrumente hätte Vorbildcharakter          längerer Zeit nicht mehr in der Lage, neue technologi-
         auch für die EU, die NATO und die Vereinten Natio-       sche Entwicklungen zu erfassen und zu regulieren.
         nen. Vorschläge dazu sollten im Zuge der Arbeiten
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Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik                                                              BERICHT

     Die neuen Technologien führen auch in besonde-                 -   identifizieren und koordinieren, wie der Zugang
     rer Weise zu Zielkonflikten zwischen wirtschaftlichen              zu Technologien und Innovation in Deutschland
     und sicherheitspolitischen Interessen: Künstliche In-              und auf europäischer Ebene gesichert werden
     telligenz oder Quantencomputer verbindet, dass sie                 kann
     in den nächsten fünf bis 20 Jahren eine wichtige Quel-
     le von Wohlstand für die Länder sein werden, die die-          -   definieren, wie der Zugang zu strategischen
     se Technologien kontrollieren. Zugleich wird bei diesen            Technologien kontrolliert werden kann (access
     Technologien ein hohes Schadenspotenzial vermutet,                 denial), in Deutschland, auf EU-Ebene und im
     wenn sie in Konflikten zum Einsatz kommen, sei es im               Rahmen der G7.
     militärischen Kontext, gegen Infrastrukturen oder zur
     gezielten gesellschaftlichen und sozialen Einfluss-        •   Deutschland muss in Zukunft seine Rüstungsex-
     nahme. Dass Staaten sehr unterschiedliche Positio-             portpolitik sicherheitspolitisch begründen und
     nen dazu haben, wie die richtige Balance zwischen              damit auch für seine Bürger wie für internationa-
     wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen         le Partner verlässlicher und nachvollziehbarer ge-
     aussieht, bremst die Versuche, die Kontrollansätze in          stalten: Wann sind Lieferungen von Waffen und
     Europa anzugleichen.                                           Technologie gerechtfertigt, und welchen sicher-
                                                                    heitspolitischen Nutzen haben sie für Deutsch-
     Gleichzeitig gewinnt die Frage, wie sich Staaten den Zu-       land? Inwieweit versteht die Bundesregierung
     gang zu diesen Technologien und die Kontrolle über sie         Rüstungsexporte als sicherheitspolitisches Instru-
     sichern können, eine erhebliche politisch-strategische         ment, um deutsche Interessen und politischen Ein-
     Bedeutung. Die neuen Technologien sind ein wesent-             fluss zu unterstützen?
     liches Feld der geostrategischen Auseinandersetzung,
     insbesondere zwischen den USA, der EU und China.           •   Die neue Bundesregierung sollte die Exportpolitik
     Deutschlands Partner in EU und NATO drängen bei mili-          in eine Länder- und Regionalstrategie einbetten
     tärischen Systemen auf Regeln, die den Export gemein-          und einen systematischen Chancen/Risiken-An-
     samer Entwicklungen erleichtern. Zugleich konkurrieren         satz verfolgen: Eine nach Sicherheitslage und -Inte-
     die Europäer aber auch untereinander. Die USA wiede-           ressen differenzierte Länder- und Regionalstrategie
     rum drängen auf einen viel vorsichtigeren Umgang mit           würde es erlauben, Rüstungsexporte explizit als
     Wissen und Technologien gegenüber potenziellen Geg-            Mittel politischer Einflussnahme in die deutsche
     nern, vor allem China. Schließlich strebt Deutschland,         Außen- und Sicherheitspolitik einzubetten. Sie wä-
     wie andere Staaten auch, Kooperationen in anderen              re Grundlage für rüstungsexportpolitische Be-
     Regionen an, wie etwa im Indo-Pazifik. Dabei ist Tech-         wertungen und öffentliche Begründungen. Die
     nologiekooperation im Bereich von Sicherheit und Ver-          Strategie müsste Risiken und Chancen abwägen:
     teidigung eine attraktive Option, denn Europa hat hier         Welche Verantwortung und Handlungsmöglichkei-
     interessante Produkte anzubieten.                              ten hat Deutschland, wenn Rüstungsgüter in falsche
                                                                    Hände geraten, etwa bei einem Staatsstreich, und
     •   Deutschland sollte sich im Verbund mit der EU, der         wie wahrscheinlich sind solche Ereignisse? Hilfe-
         NATO und G7-Partnern den Zugang zu Techno-                 stellung könnte ein exportpolitisches Ampelsystem
         logien sichern (etwa durch Investitionen in Inno-          bieten, das Exportländer entlang der vorhanden Ex-
         vation), aber auch Rivalen den Zugriff verwehren           portkriterien bewertet: Bei grünen Ländern bedarf
         können (zum Beispiel durch Rückverlagerung von             es einer besonderen Begründung, nicht zu exportie-
         Produktionsstätten, Investitionskontrollen oder            ren; bei roten braucht jeder Export einer besonde-
         Lieferkettenschutz, siehe auch Aktionsplan Wirt-           ren Begründung; bei gelben Ländern bedarf es einer
         schaft und Außenpolitik). Daraus resultieren folgen-       Einzelfallentscheidung. Die Einstufung sollte regel-
         de Aufgaben, die vom neuen Bundessicherheitsrat            mäßig geprüft werden.
         behandelt und in der nationalen Sicherheitsstrate-
         gie erörtert werden sollten:                           •   Verlässlichkeit kann die neue Bundesregierung auch
                                                                    durch ein Exportgesetz herstellen, das eine ein-
         -   definieren, welche Schlüsseltechnologien               heitliche gesetzliche Grundlage für den Export
             Deutschland national erhalten will, und welche         von Kriegswaffen, Rüstungsgütern und neue Ka-
             auf europäischer Ebene                                 tegorien (EDT) schafft. Es sollte auch Kontrollmaß-
                                                                    nahmen (z.B. zur Prüfung des Endverbleibs) und
                                                                    Sanktionsoptionen enthalten, zum Beispiel Möglich-
                                                                    keiten zur Stilllegung militärischer Ausrüstung. Bei
September 2021                                                                                                              37

           BERICHT                                                            Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik

         der Formulierung eines neuen Exportgesetzes muss           und NATO enger zusammenarbeiten. Gerade die Zusam-
         die Bundesregierung aber auch die möglichen finan-         menarbeit zwischen staatlicher und internationaler Ebe-
         ziellen Folgen einer restriktiveren Politik für die Rüs-   ne (EU, NATO) und die Koordination zwischen der EU und
         tungsindustrie und eventuelle Kompensationen für           der NATO sollten weiter intensiviert werden.
         den Wegfall von Skaleneffekten bedenken.
                                                                    •   Die neue Bundesregierung sollte regelmäßige Übun-
     •   Schließlich sollte Deutschland eine internationa-              gen und Planspiele auf allen Ebenen abhalten. Solche
         le Initiative für die Exportkontrolle von EDT starten          Übungen helfen den Teilnehmenden, Prozesse und
         und mitgestalten. Diese sollte darauf abzielen, ein            Vorgaben zu verstehen, Grauzonenfälle zu erfassen
         Exportregime für kritische Technologien zu schaffen.           und auf Krisenfälle vorbereitet zu sein. National und
                                                                        europaweit sollten mehr sektorübergreifende Übun-
                                                                        gen durchgeführt werden. Innerstaatlich sollte das
     6. Resilienz in Deutschland, in Europa                             Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen
        und im Bündnis stärken                                          (Kommunen-Land-Bund) und Akteuren (zivil, militä-
                                                                        risch, staatlich, privat) stärker geübt werden.
     Schon längst üben andere Akteure nicht mehr nur in den
     engen Grenzen des Militärischen Druck auf Deutsch-             •   Die Institutionen, die von der Bundesregierung als
     land aus; das zeigen der Anstieg der Cyberangriffe auf             kritisch für die Aufrechterhaltung des staatlichen
     kritische Infrastrukturen, die Manipulation der sozialen           Gemeinwesens eingestuft werden, sollten zudem
     Medien und die Desinformationskampagnen im Zusam-                  einem Stress- und Funktionalitätstest unterzogen
     menhang mit der Pandemie. Um Deutschland in solchen                werden. Dies erlaubt, die Sicherheitsvorsorge auf
     hybriden, vielschichtigen Konflikten schützen zu kön-              den Ebenen Bund, Länder und Gemeinden zu über-
     nen, müssen zivile und militärische, private und staatli-          prüfen und zu verbessern.
     che Akteure von der kommunalen Ebene bis hin zu EU
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