Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik - Was Deutschland für Sicherheit, Verteidigung und Frieden tun muss - DGAP ...
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 27 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik Was Deutschland für Sicherheit, Verteidigung und Frieden tun muss Dr. Claudia Major Dr. Christian Mölling Forschungsgruppenleiterin Forschungsdirektor und Leiter des Sicherheitspolitik, Stiftung Programms Sicherheit und Vertei- Wissenschaft und Politik (SWP) digung, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) Dr. Constanze Stelzenmüller Fritz Stern Chair on Germany and transatlantic relations am Center on the United States and Europe, Brookings Institution
28 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT Für das offene und global vernetzte Deutschland hängen • Amerikas Ambivalenz gegenüber seiner bisherigen Rol- die Sicherheit der Welt und die der europäischen Nach- le als globaler Sicherheitsgarant; barschaft untrennbar mit der eigenen zusammen. Insbe- sondere nach dem Fall der Mauer 1989 haben unter dem • Neue Waffentechnologien (z.B. Hyperschallraketen, Schirm der Vereinten Nationen gewachsene normative KI, autonome Systeme, weltraumgestützte Systeme, Ordnungen den Wohlstand, die Sicherheit und das An- biotechnologische Materialien), teils in Kombination sehen des vereinigten Deutschlands gemehrt, allen vor- mit „alten“ aber modernisierten Waffensystemen wie an die Europäische Union und das von der Sicherheitsga- Nuklearwaffen; rantie der USA getragene westliche Bündnis. Kein Land in Europa hat so von der Erweiterung der EU und der Einfüh- • Informations-Operationen (Propaganda, Desinforma- rung des Euros profitiert wie Deutschland. Die Energie- tion) mit Hilfe neuer Medientechnologien partnerschaft mit Russland und die Handelspartnerschaft mit China haben dazu beigetragen, Deutschland zum wirt- Kriege, Krisen und interne Konflikte finden nicht nur an schaftlichen Motor Europas zu machen. Die Erweiterung Europas Grenzen statt (Israel-Palästina, Syrien, Arme- der NATO schließlich machte die ehemaligen deutschen nien, Nordafrika), sondern in Europa selbst: von Belarus Frontstaaten zum geografischen Mittelpunkt des europäi- über die Ukraine und den Balkan bis in das östliche Mittel- schen Bündnisgebiets. meer. Ihre Auswirkungen beeinträchtigen Europa auf viel- fältige Weise: über Lücken in den Wertschöpfungsketten In Deutschland wurde diese Entwicklung doppelt falsch oder Fracht- und Gastransitrouten, über Migrations- und gelesen, wie der Diplomat Thomas Bagger angemerkt hat: Fluchtbewegungen und über Versuche, Diaspora-Popula- als Beleg für eine globale Konvergenz in Richtung des west- tionen politisch zu instrumentalisieren. Oft stehen hinter lichen Modells und als Beweis dafür, dass sich die deutsche lokalen Konfliktparteien Drittmächte wie China, Russland, Erfahrung einer friedlichen Beilegung des Kalten Krieges der Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien. So wird die euro- verallgemeinern lässt. Aus diesen Missverständnissen zo- päische Nachbarschaft zunehmend zum Schauplatz einer gen viele Deutsche den Fehlschluss, dass sie in einem ange- Konkurrenz von Groß- und Regionalmächten, deren Sog messenen und stabilen Status quo leben, der den Einstieg in sich Europa und Deutschland kaum entziehen können. Dies eine umfassende Abrüstung erlaube. Die Schattenseite der trifft insbesondere zu, wenn Alliierte in diesen Konflikten wirtschaftlichen Verflechtung etwa bei der Abhängigkeit beteiligt sind, etwa die Türkei. vom Handel mit China wollten sie nicht sehen. Noch we- niger wollten sie wahrhaben, dass Partner zu Rivalen und Gegnern werden können, wie dies bei Russland spätestens AUSTRAGUNGSORT DES seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 der SYSTEMWETTBEWERBS Fall ist. Schließlich ignorierte Deutschland viel zu lange die Kritik seiner Partner an den strategischen Nebenwirkun- Längst ist auch Europa selbst zum Austragungsort und gen der deutschen Wirtschaftspolitik, etwa mit Blick auf Objekt des Systemwettbewerbs zwischen Demokratien Vorhaben wie Nord Stream 2. An all diesen Fehleinschät- und Autokratien geworden. China, Russland und die Tür- zungen krankt die deutsche Sicherheitspolitik bis heute. kei verfolgen unterschiedliche Ziele, aber es ist unverkenn- bar, dass alle drei Länder zunehmend als Rivalen oder gar Gegner des Westens agieren. Dabei instrumentalisieren sie EINE NEUE, GEFÄHRLICHE ÄRA Differenzen innerhalb der NATO oder der EU. Sie tragen bi- laterale Konflikte in diese Organisationen und spielen Ak- Inzwischen ist offensichtlich, dass die historische Kons- teure und Öffentlichkeiten innerhalb der Mitgliedstaaten tellation, die Deutschland in der Zeit nach Ende des Kal- gegeneinander aus. Sie unterstützen innerstaatliche Ex- ten Krieges in so einmaliger Weise schützte, an ihr Ende tremisten und verhindern Solidarität und gemeinsames kommt. Mit großer Geschwindigkeit wachsen neue Ge- Handeln. In letzter Konsequenz steht dadurch die Zukunft fahren und Bedrohungen für Deutschlands Sicherheit he- des Westens, des europäischen Projekts und der Demokra- ran, durch die bereits bestehende Bedrohungen wie Krie- tie in Deutschland auf dem Spiel. ge, Staatszerfall, Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen in ihrer Wirkung noch ver- Die bestehenden Sicherheitsordnungen in Europa (NATO, stärkt werden: EU und OSZE) werden aber auch von den eigenen Mitglie- dern in Frage gestellt. Im Falle der OSZE sind es autokrati- • Chinas globale Dominanzstrategie und Russlands terri- sche Regierungen wie die in Russland, die ihre Legitimität torialer Revisionismus; reduzieren. Die EU wird durch den Brexit und autoritäre und nationalistische Regierungen wie in Ungarn und Polen
September 2021 29 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschwächt. Die NATO wiederum leidet unter amerikani- Infrastrukturen und Innovationssysteme bis zu illegalen schen Ambivalenzen; wobei es auch nicht hilft, wenn ein Cyberangriffen. Hybride Bedrohungen werden aber erst französischer Präsident das Bündnis für politisch „hirntot“ seit 2020 von der deutschen Regierung als eigenständiges erklärt. Aber auch Deutschlands politische Akteure tragen Thema behandelt – mit Federführung im Bundesinnenmi- große Verantwortung: Sie haben es jahrzehntelang unter- nisterium. Damit gehört Deutschland zu den Nachzüglern lassen, die Gesellschaft über die realen Herausforderungen in EU und NATO. der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzuklären. Sie haben den deutschen Verteidigungsbeitrag in Frage ge- stellt und die Bundeswehr unterfinanziert. Und trotz ihrer WAS IST ZU TUN? Bekenntnisse zu EU und NATO betreiben sie Projekte mit Russland und China wie Nord Stream 2, die Europa und das Deutschland hat in den vergangenen Jahren begonnen, die Bündnis spalten. Kluft zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit in seiner Sicherheitspolitik zu verkleinern. Bei den EU-Sanktionen Die unübersehbaren Fliehkräfte im Bündnis und in der EU gegen Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion machen Deutschland zu dem Punkt, an dem die europäi- der Krim 2014 hat die Bundesregierung die Führung über- sche Ordnung aus den Angeln gehoben werden könnte. Die nommen. Sie hat sich auch bei der Bündnisverteidigung in Tatsache, dass die Bundestagswahl im September und der der NATO und in internationalen Militäreinsätzen stärker damit verbundene Macht- und Generationenwechsel in engagiert. Der Verteidigungshaushalt ist erheblich an- der deutschen Politik schon im Vorfeld zum Gegenstand gestiegen, von 32 Milliarden Euro 2014 auf knapp 47 Mil- von Desinformations-und Propagandakampagnen wur- liarden Euro 2021. Und dennoch bleibt der Eindruck, dass den, ist ein Beleg dafür. Deutschland erlebt überdies seit Deutschland vor allem auf äußeren Druck reagiert—und Jahren eine massive Einflussnahme von ausländischen Ak- auch dann noch zu wenig und zu spät. teuren, vom legalen Einkauf in kommunale oder private EMPFEHLUNGEN große Krisen bestmöglich zu antizipieren, dafür zu planen und sie zu bewältigen. Wenn sie gleichzeitig auftreten, ist er erst recht überfordert. Abstimmungen und Entschei- Angesichts der Verschlechterung der strategischen dungen unter den zuständigen Ministerien und Agenturen Lage muss die neue Bundesregierung die Kraft (Nachrichtendienste, Krisenstäbe) gelingen nur unzurei- zu einer Erneuerung der deutschen Sicherheits- chend. Das Ressortprinzip auf Bundesebene und die föde- politik finden. Ansonsten droht Deutschland der ralen Strukturen sowie fehlende Kooperation mit privaten Verlust von Handlungsspielräumen und die Verein- Akteuren behindern das Handeln der Regierung und des nahmung durch strategische Herausforderer. Da- Gesamtstaates. (siehe auch Aktionsplan Strukturen) her sind drei Dinge notwendig: Gleich zu Beginn der Legislaturperiode sollte die neue Bundesregierung einen sicherheitspolitischen Bewusstseinswandel 1. Strategische Kultur lebendiger gestalten mit praktischen Maßnahmen anstoßen. Dieser soll- te zweitens in veränderten Prozessen und neue Insti- In Deutschland können sich die politischen Akteure nur tutionen münden. In einem dritten Schritt gilt es, die wenige Handlungsoptionen überhaupt vorstellen, als le- bestehenden Politiken anzupassen und zu schärfen; gitim ansehen und öffentlich vertreten. Es mangelt an das gilt insbesondere für den Umgang mit hybriden Vorstellungskraft, politischem Willen und Verantwor- Bedrohungen, Krisenprävention und Stabilisierung, tungs- und Risikobereitschaft, um problemangemessene die nukleare Ordnung und neue Technologien. Politiken zu entscheiden und die Strukturen und Prozes- se so zu gestalten, dass die erforderlichen Instrumente und Ressourcen bereitstehen. Doch wenn Probleme in den STRATEGISCHE KULTUR UND Planungen nicht berücksichtigt werden, dann stehen für INSTITUTIONELLE REFORMEN ihre Bewältigung auch keine angemessenen Instrumen- te zur Verfügung (Masken, Kommunikationsinfrastruktur Die Afghanistankrise hat unterstrichen, was bereits oder schnelle Krisenreaktionsverbände). Dann kann die durch die COVID-19-Pandemie seit 2020 und die Sicherheit in diesen Situationen nicht oder nicht bestmög- Flutkatastrophe im Sommer 2021 deutlich gewor- lich gewährleistet werden. In einer akuten Krisensituation den war: Der deutsche Staat ist nicht in der Lage, engt dieser vielfältige Mangel den Handlungsspielraum
30 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT der politischen Akteure also so stark ein, dass sie nicht 2. Einen handlungsfähigen Bundes- angemessen agieren können. sicherheitsrat (BSR) schaffen Das liegt an der spezifischen gesellschaftlich-kultur- Die wichtigste institutionelle Reform ist die Neukon- ellen Dimension, der so genannten strategischen zeption des Bundessicherheitsrats, der bisher fast nur Kultur. Sie bestimmt, welchen Grundannahmen die Si- über Rüstungsexporte entscheidet, als einem zent- cherheitspolitik eines Landes folgt und gibt den Rah- ralen Koordinationsinstrument der Bundesregierung. men dafür vor, worüber man politisch streiten und Dies ist notwendig, um zu allen sicherheitspolitischen entscheiden kann, und welche Handlungsoptionen un- Themen ressortübergreifende Abstimmungen und Ent- vorstellbar sind. In Deutschland ist dieser Rahmen der scheidungen herstellen zu können. Je nach Thema soll- denkbaren Ziele und Mittel und damit der Handlungs- ten auch die Bundesländer eingebunden werden, deren spielraum eingeschränkter als bei unseren engsten Bedeutung für die Sicherheit im nicht-militärischen Be- Partnern. Der Grund hierfür sind historisch beding- reich steigt. Denn die Länder und Kommunen entschei- te oder parteipolitische und gesellschaftliche Nor- den darüber, wer Zugang zu kritischen Infrastrukturen men und Weltanschauungen. Politischen Entscheidern wie Datennetzen, Wasser- und Energieversorgung oder schlägt deshalb erheblicher Widerstand entgegen, Häfen erhält. wenn sie Politikansätze außerhalb des allgemein ak- zeptierten Rahmens verfolgen wollen. Solche Ansätze Der neue BSR sollte sich in einen Kabinettsausschuss werden in den Planungen selten berücksichtigt. als Beratungs- und Entscheidungsgremium und ein Se- kretariat zur Unterstützung gliedern. Im Kabinettsaus- Deshalb ist es legitim und notwendig, dass die nächste schuss würden Ministerinnen und Minister regelmäßig Bundesregierung es sich zum Ziel macht, die nationale über strategische Themen beraten und verbindliche Strategiefähigkeit zu stärken, also die Fähigkeit, ange- Entscheidungen fällen. Das Sekretariat als permanen- messene sicherheitspolitische Ziele zu definieren und te Unterstützungsstruktur hätte die Aufgabe, Themen die Mittel für die Umsetzung bereitzustellen. Die dafür aus der Arbeit der Bundesregierung aufzugreifen und erforderlichen Veränderungen in der strategischen Kul- dem Ausschuss vorzulegen. Es sollte aber auch selbst- tur Deutschlands sind allerdings schwer zu erreichen. ständig Themen auf die Agenda setzen können. Das Es braucht nicht nur die Einsicht der politischen Akteu- Sekretariat sollte zur Hälfte mit Fachkräften aus den re, sondern auch den Willen, diese gewünschten Ver- am BSR beteiligten Ministerien besetzt werden, zur änderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und sie an anderen Hälfte mit Praktikerinnen und Praktikern und dieser Willensbildung aktiv zu beteiligen. Fachleuten aus Wissenschaft und Privatwirtschaft. Dieses Sekretariat sollte von einer Co-Leitung aus poli- In einem föderalen Land wie Deutschland ist die Macht tischen Beamten und wissenschaftlichen Experten ge- auf verschiedene Ebenen verteilt. Veränderungen der führt werden, um aus beiderlei Perspektiven beraten zu sicherheitspolitischen Problemwahrnehmung, Ziele, können. Mittel und Lösungen sind nur möglich, wenn Regie- rung, Parlament, die sicherheitspolitische Community Der erste Schritt zum Aufbau des neuen BSR ist, einen und die Zivilgesellschaft an diesem Wandel teilnehmen Koordinator oder eine Koordinatorin im Rang eines können. Sonst blockieren sie ihn. Staatssekretärs zu berufen und eine Task Force für den Aufbau und die kommissarische Arbeit einzurichten. Entscheidend für dauerhafte Veränderungen von Re- Wichtige thematische Zuarbeit kann die Sicherheits- gierungshandeln sind Institutionen und Prozesse, die politische Kommission leisten (siehe die nächste Emp- regierungsgemeinsames Handeln zur Regel machen. fehlung). Auf der Grundlage ihrer Vorschläge sollte der Probleme müssen regierungsgemeinsam als solche er- BSR nach ungefähr zwei Jahren eine nationale und fö- kannt werden, Lösungen gemeinsam entschieden und derale Sicherheitsstrategie vorlegen. Instrumente koordiniert eingesetzt werden. Dadurch, dass Regierung und Bürokratie ihr Handeln immer wie- der auf den verschiedenen staatlichen Ebenen, und gegenüber der Öffentlichkeit erklären, können sie auch dazu beitragen, den Rahmen der überhaupt vorstellba- ren Ziele und Mittel zu erweitern.
September 2021 31 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik 3. Sicherheitspolitische Kommission in die Länder und über die Expertengemeinschaft hin- einrichten aus in die Bevölkerung reichen. Als eine seiner ersten Handlungen sollte der BSR eine Das Parlament könnte eine jährliche nationale Sicher- unabhängige Sicherheitspolitische Kommission ein- heitswoche im Bundestag abhalten. setzen. Diese ist zusammengesetzt aus Parlamenta- riern, Experten, und Ministerialbeamten. Sie erarbeitet Die Bundesregierung sollte vorzugsweise während der innerhalb eines Jahres einen Bericht zu den Risiken und Sicherheitswoche einen jährlichen Umsetzungsbericht Chancen, auf die eine gesamtstaatliche Sicherheits- zur Nationalen Sicherheitsstrategie vorlegen, eingelei- politik vorbereiten muss, und Empfehlungen für Poli- tet durch eine Grundsatzrede von Kanzler oder Kanzle- tikinhalte, Strukturen und Instrumente. Damit liefert rin zur Sicherheitspolitik. die Kommission wichtigen inhaltlichen Input für die na- tionale Sicherheitsstrategie und die übrige Arbeit des In seiner derzeitigen Ausschussstruktur spiegelt der BSR. Bundestag nicht die Vernetzung von Innen-, Außen-, Verteidigungs-, Wirtschaftspolitik und Entwicklungs- Die Kommission sollte danach jedes Jahr die Fortschrit- zusammenarbeit wider, die aber für eine strategische te bei der Umsetzung der Sicherheitsstrategie bewer- deutsche Sicherheitspolitik notwendig ist. Der Bundes- ten. Ihre Berichte können einen Beitrag zum Aufbau tag sollte einen Sicherheitspolitischen Ausschuss ein- einer „Community“ aus Experten, Politikern und Prak- richten. Dieser neue Ausschuss würde die Arbeit des tikern in Ministerien und bei Privatakteuren leisten. Bundessicherheitsrats begleiten und parlamentarisch Dies wird dazu führen, dass die Regierung ihre Sicher- kontrollieren. Diese Konstruktion gewährleistet, dass heitspolitik besser erklärt und eine öffentliche Debatte eine größere Handlungsfähigkeit der Exekutive nicht fördert, was wiederum Voraussetzung für die Weiter- auf Kosten ihrer demokratischen Legitimität und der entwicklung der strategischen Kultur ist. Kontrollrechte der Parlamentarier geht. Dieser Aus- schuss sollte Abgeordnete aus allen relevanten Aus- schüssen beteiligen. 4. Sicherheitspolitik demokratisieren Dies würde einen umfassenden sicherheitspolitischen Neue Lösungen und sicherheitspolitische Weiterent- Ansatz ermöglichen und verteidigungspolitische Fra- wicklung werden möglich, wenn Regierung, Parteien gen besser mit internationaler politischer Analyse ver- und Parlament eingeübte Argumentationen und reflex- binden. Sicherheits- und verteidigungspolitischen artige Reaktionen überwinden und stattdessen Posi- Themen würden so mehr Gewicht und Reichweite tionen erklären und begründen müssen. Bürgerinnen erhalten. und Bürger sollten an der Entwicklung von politischen Optionen und Zukunftsvisionen teilnehmen. Eine den Herausforderungen angemessene Sicherheitspolitik REFORM DER POLITIKEN kann nur entstehen, wenn die Zivilgesellschaft sie ver- steht, akzeptiert und im besten Fall unterstützt. Das gilt insbesondere für Präventionsmaßnahmen. Folgen- 1. Stärken der NATO und EU verzahnen de Möglichkeiten bieten sich an: Die globalen und regionalen Sicherheitsinstitutionen Die Zivilgesellschaft sollte eingebunden werden, vor wie die Vereinten Nationen und die Organisation für Si- allem bei der Entwicklung von Zukunftsvisionen und cherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bewir- dem Erarbeiten von politischen Optionen. Ihre Erkennt- ken immer weniger, weil sie durch Konflikte unter den nisse und Vorschläge sollten als Input in die Arbeit der Mitgliedern blockiert werden. Deutschland sollte eine sicherheitspolitischen Kommission und die nationale weitere Erosion dieser Institutionen nach Kräften ver- Sicherheitsstrategie einfließen. Dafür könnten Regie- hindern. Aber wirkliche Handlungsfähigkeit im Sinne rung und Parlament ein sicherheits-und friedenspoliti- gestalterischer Optionen bieten zurzeit vor allem EU sches Jahr oder Semester ausrufen. Deren Umsetzung und NATO. könnten die Bundeszentrale für politische Bildung so- wie die Landeszentralen, politischen Stiftungen, Mi- In Europa sind derzeit 21 Staaten gleichzeitig Mitglieder nisterien, Schulen, Universitäten, Medien und andere von NATO und EU, und trotzdem nutzen sie das gemein- Institutionen mit interaktiven und partizipativen Ver- same Potenzial der beiden Institutionen nicht aus. Das anstaltungen begleiten, die über die Hauptstadt hinaus Verhältnis zwischen EU und NATO ist von Misstrauen
32 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT und Desinteresse, bisweilen auch von Konkurrenzden- (EJF) einen sichtbaren politischen, militärischen ken geprägt. In Deutschland bekennen sich politische und technologischen Kristallisationspunkt erhal- Akteure oft einseitig zu einer Institution und schreiben ten. Die EJF sollte 50 Prozent der konventionellen ihr Bedeutungen zu, die zu den eigenen Weltanschau- Fähigkeiten bereitstellen, die für die kollektive Ver- ungen passen, anstatt beide Organisationen für eine teidigung in Europa und das militärische Krisenma- umfassende Sicherheitspolitik zu nutzen. nagement erforderlich sind. Damit wird automatisch auch die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, denn Tatsächlich sind diese ideologischen oder kategori- die nationalen Streitkräfte stehen sowohl der EU als schen Rollenzuschreibungen ein Hindernis für mehr Si- auch der NATO zur Verfügung. cherheit. Den rasant wachsenden Herausforderungen kann Europa nur dann erfolgreich begegnen, wenn es • Zur Umsetzung der gemeinsamen Zielvorstellung die unterschiedlichen Kompetenzen beider Organisa- sollen der NATO-Planungsprozess und die EU-Ko- tionen gemeinsam einsetzt. Dafür bedarf es der Be- operationsinstrumente CARD (Coordinated Annual reitschaft, ideologische Positionen zu überwinden. Die Review on Defence), PESCO (Permanent Structu- NATO ist die stärkste Militärallianz der Welt, wenn sich red Cooperation) und EVF (Europäischer Vertei- die Alliierten politisch einig sind. Aber je mehr Europas digungsfonds) beitragen. Die Grundlagen dafür Sicherheit nicht nur auf klassischen militärischen Fähig- sind bereits gelegt. Die Bundesregierung sollte keiten aufbaut, sondern auch den Schutz kritischer In- dem technologisch-industriellen Bereich besonde- frastrukturen, Resilienz, Prävention, das Management res Gewicht beimessen. Hier konkurrieren amerika- komplexer Konflikte und die Nutzung neuer Technolo- nische und europäische Firmen, und Europa pocht gien erfordert, desto mehr rücken die Handlungsoptio- auf größtmögliche Autonomie. Aus militärischer nen der EU in nicht-militärischen Bereichen ins Blickfeld. Sicht kommt es für die Schlagkraft der westlichen Die Union besitzt einzigartige Instrumente in den Be- Streitkräfte auf technologische Überlegenheit reichen ziviles Krisenmanagement, Klimawandel und und Interoperabilität an. Deshalb sollten NATO-Al- im Technologiebereich über Regulierung, Standardisie- liierte gezielt in EU-Projekte einbezogen werden rung und die Setzung von Entwicklungsanreizen. und umgekehrt. Die Bundesregierung sollte sich nachdrücklich für • Notwendige und verlässliche Partner finden sich einen qualitativen Sprung in der Verzahnung von EU aber auch außerhalb von EU und NATO. Wichtig ist und NATO einsetzen. Das politische Fenster für gro- dies vor allem für das sicherheitspolitische Enga- ße Veränderungen schließt sich im Sommer 2022: Bis gement in Regionen wie Asien. Hier sollte die Bun- dahin wollen EU und NATO ihre strategischen Grund- desregierung weitere Partnersysteme schmieden, lagen neu definieren. Deutschland sollte sich für eine etwa mit Australien. Das kann sowohl im Rahmen möglichst kohärente Analyse der Lage und Zukunft informeller Formate und Koalitionen der Willigen der europäischen Sicherheit einsetzen. Dazu sollte es geschehen als auch in Form einer Zusammenarbeit die 21 Staaten, die zugleich der EU und der NATO an- mit bestehenden regionalen Formaten. gehören, überzeugen, die Ergebnisse, die bis dahin bei den Beratungen in der EU erzielt wurden, als gemeinsa- • Institutionelle Veränderungen sollte es auch auf na- me Grundlage in den gerade beginnenden Prozess bei tionaler Ebene geben; Im Auswärtigen Amt sollten der NATO einzubringen. Auch das Vereinigte Königreich die getrennten Strukturen für EU und NATO durch dürfte dieses Kohärenzziel unterstützen. eine Abteilung Euro-Atlantische Sicherheit ersetzt werden. Im Verteidigungsministerium sollte dies in • Aufbauend auf ihrer gemeinsamen Analyse sollten den Abteilungen Politik, Planung und Ausrüstung die Stäbe von EU und NATO gemeinsam definieren, gespiegelt werden. Das Ziel ist, anstelle von institu- welches Niveau von Fähigkeiten in Europa erreicht tionellen Logiken die sicherheitspolitischen Ziele in werden muss, um das gesamte Konfliktspektrum den Vordergrund zu stellen. (mit Ausnahme der nuklearen Abschreckung) abzu- decken. Zu diesem Ambitionsniveau leisten sowohl • Die bereits geplante Bundeswehrreform sollte in die EU, die NATO als auch die Mitgliedsstaaten indi- den Aufbau der EJF eingebettet werden. Deutsch- viduell ihren Beitrag. land kann die Umsetzung der EJF fördern, indem es das Rahmennationenkonzept (FNC) wieder auf- • Die militärischen Beiträge der Europäer zum Am- leben lässt und um den Bereich Rüstung und Be- bitionsniveau (und damit der europäische Pfeiler in schaffung erweitert. So sollte Deutschland nicht der NATO) sollten über eine European Joint Force nur Anlehnungspartnerschaften im Bereich der
September 2021 33 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik militärischen Strukturen, sondern auch bei der rüs- Spektrum von Sicherheitsrisiken und -instrumenten tungsindustriellen Basis anbieten. Dies würde der in den Bereichen Klima, Gesundheit und Technolo- weiteren Renationalisierung im Verteidigungsbe- gie auf der Agenda. reich in Europa entgegenwirken und die industrielle Abhängigkeit von der übrigen Welt reduzieren. Auf • Um bei ihren Verbündeten glaubwürdig zu sein, soll- diese Weise würde Deutschland helfen, eine leis- te Deutschland am Zwei-Prozent-Ziel der NATO tungsfähige verteidigungstechnologische und in- festhalten und deutlich machen, dass es die Vor- dustrielle Basis auf europäischer Ebene zu erhalten. gaben bis 2024 erfüllen wird. Gelingt dies, vergrö- ßert die höhere Glaubwürdigkeit auch den Einfluss Deutschlands in der NATO. Die neue Bundesregie- 2. Planungssicherheit und Mittelverwendung rung kann dies nutzen, um für eine Überarbeitung verbessern der Ausgabenmetrik und -bereiche zu werben. Da- bei sollte Berlin den Fokus der zu erbringenden In Deutschland ist die Diskussion um die angemes- Leistungen auf Klima, Cybersicherheit und Innova- sene Finanzierung von Sicherheit und Verteidigung tion erweitern. Ein Teil der Ausgaben (0,5 Prozent auf den Streit reduziert, ob das Zwei-Prozent-Ziel der des BIP) sollte dabei für gemeinsame Projekte mit NATO sinnvoll ist. Deutschland hat dessen Erfüllung EU- und NATO-Staaten sowie mit anderen Partnern wiederholt zugesagt, bleibt aber weit davon entfernt. (zum Beispiel Australien) reserviert werden. Dies Auch im Rahmen der EU hat Deutschland eine konti- würde zugleich zur Konsolidierung der Industrien nuierliche Steigerung seiner Verteidigungsausgaben und Ausrüstungen in Europa beitragen. versprochen. • Darüber hinaus kann der Bundestag mit einem Der einseitige Fokus auf Ausgabensteigerungen – und Bundeswehrplanungsgesetz Planungssicherheit hier vor allem für militärische Mittel – ist mit Blick auf schaffen und so die Effizienz der eingesetzten das erweiterte Bedrohungsspektrum allerdings nicht Steuergelder steigern. Ein Planungsgesetz soll- mehr angemessen. Trotzdem darf die Bundesregierung te festschreiben, dass langfristige Projekte, über nicht den Verdacht aufkommen lassen, sie betone nur deren Notwendigkeit Konsens besteht, über einen deswegen die Notwendigkeit einer größeren Effizienz längeren Zeitraum (fünf bis zehn Jahre) finanziert der Ausgaben und die Einbeziehung nicht-militärischer werden. Welche Projekte dies sind, legt der Bundes- Bereiche von Sicherheit, weil sie sich weiterhin vor Zah- tag fest. lungen drücken und Trittbrettfahrer der USA und ande- rer NATO-Länder bleiben wolle. • Weil es in der Bundeswehr jedoch auch an vielen kleinen Anschaffungen fehlt, die es nie auf Priori- Hinzu kommt ein interner Organisationsaspekt: Auch tätslisten schaffen, aber im Ernstfall fehlen, sollte wenn Deutschland seine Verteidigungsausgaben ste- der Bundestag zudem eine Vollausstattungsinitia- tig erhöht, passieren diese Steigerungen kurzfristig und tive für vier Jahre starten und finanziell hinterlegen. sind oft nur für das nächste Jahr gesichert. Die Bun- Dies würde auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO an- deswehr kann dieses Geld nicht sinnvoll in langfristi- gerechnet und rasch die Einsatzfähigkeit der Bun- ge Projekte investieren, wenn sie nicht weiß, ob für die deswehr verbessern. gesamte Laufzeit des Projektes die erforderlichen Mit- tel verfügbar sind. Die Frage der angemessenen Fi- nanzierung hat also mindestens zwei Dimensionen: ob 3. Nukleare Ordnung, Abschreckung und Deutschlands NATO- und EU-Zusagen verlässlich sind, Rüstungskontrolle mitgestalten Berlin also Wort hält; und ob die Bundeswehr verläss- lich planen kann. Die derzeitige Finanzierung stellt bei- Die Bedeutung von Nuklearwaffen steigt weltweit, und des in Frage. gleichzeitig wächst die Komplexität der nuklearen Ord- nung. Neue Akteure sind hinzugetreten. Zudem sind • Die neue Bundesregierung muss sehr rasch die nukleare und konventionelle Fähigkeiten zunehmend Weichen so stellen, dass sie die unterschiedlichen mit neuen Technologien verwoben. Diese Entwicklung Ansprüche (sinnvolle Beträge und ein breiterer Si- birgt erhebliche Unsicherheiten, insbesondere wenn cherheitsfokus) zusammenbringen kann, denn die neuartige konventionelle Fähigkeiten mit modernisier- NATO will ihr neues strategisches Konzept bereits ten Atomwaffen kombiniert werden. 2022 vorlegen. Hier stehen die Themen Bedrohungs- situation und Lastenteilung sowie insbesondere das
34 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT Erschwert wird die Situation durch die zunehmende • Eine Chance auf Gehör wird die neue Bundesregie- Schwächung der Rüstungskontrolle. Das Ende des INF- rung allerdings nur haben, wenn sie glaubhaft ma- Vertrags über landgestützte Mittelstreckenraketen, die chen kann, dass sie der gemeinsamen und gleichen Unsicherheiten über die langfristige Zukunft des Ver- Sicherheit für alle NATO-Staaten absoluten Vorrang trags über strategische Atomwaffen (New START) und gibt. Unilaterale Initiativen verbieten sich. Deutsch- die Aushöhlung des Atomwaffensperrvertrags erhöht land muss aktiv zur kollektiven Sicherheit beitragen das Risiko von Fehlkalkulationen. Die rasche nukleare und am NATO-Grundsatz der nuklearen Abschre- Aufrüstung Chinas, das bisher wenig Bereitschaft zur ckung festhalten. Solange diese über nukleare Teil- Rüstungskontrolle zeigt, vergrößert das Problem. Ab- habe organisiert wird, sollte Deutschland die ihm rüstungsvorschläge wie der Kernwaffenverbotsvertrag dabei zukommende Rolle zuverlässig ausüben. Da- sind aussichtsloser denn je. Sie sind gut gemeint, haben zu gehört einerseits, in Deutschland die Herausfor- aber keine Chance auf Umsetzung, weil sie aus Sicht der derungen der nuklearen Ordnung zu benennen, die Nuklearstaaten keine überzeugende Alternative für de- Kosten und den Nutzen nuklearer Abschreckung für ren Sicherheitsinteressen aufzeigen. Zudem fehlt es an Deutschland transparent zu machen und mögliche Verifikationsmechanismen und Garantien, dass Nuk- Veränderungen, etwa durch neue US-Nukleardok- learwaffen tatsächlich für immer abgeschafft sind. trinen, vorausschauend mitzudenken. Andererseits bedeutet das aber auch die Stationierung von US- Deutschland verfügt nicht über eigene Nuklearwaffen. Atombomben auf deutschem Boden sowie die Be- Für die nukleare Abschreckung hängt es von der NATO reitstellung von konventionellen Kampfflugzeugen, und den Beiträgen der USA, Frankreich und Großbri- die für den Transport dieser Nuklearwaffen zertifi- tannien ab. Damit kann Deutschland weder die Be- ziert sind. Aus politischen und technischen Gründen dingungen für nukleare Abschreckung noch die für sollte die neue Generation dieser Kampfflugzeu- Rüstungskontrolle und Abrüstung direkt bestimmen. ge in den USA beschafft oder geleast werden. So Die wesentliche Voraussetzung für beides, gesicherte wären sie auch bei einer Änderung der nuklearen Abschreckung und Abrüstung, ist die europäische und Abschreckung, etwa infolge einer veränderten US- transatlantische Einigkeit in der NATO. Doktrin, von militärischem Wert. Die NATO sieht sich inzwischen mit zwei miteinan- • Wichtig für die nukleare Ordnung und Abschreckung der verbundenen nuklearen Räumen konfrontiert: dem in Europa sind auch die europäischen Atommächte euro-atlantischen Raum, der durch das stetig wachsen- Frankreich und Großbritannien. Deutschland sollte de Nukleararsenal Russlands bedroht wird, und dem der Einladung Frankreichs zu einem strategischen asiatischen, in dem China Anspruch auf geopolitische Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung Dominanz erhebt. Strategische Stabilität kann nur im in Europa und Frankreichs Beitrag dazu folgen. Da- Dreieck USA-China-Russland definiert werden, wobei bei sollte es aber darauf hinwirken, dass nicht Frank- die europäische Mitsprache eng begrenzt ist. Das rus- reich allein, sondern die europäischen Staaten sische Nuklearwaffenarsenal, insbesondere im Bereich gemeinsam die Prozesse und Inhalte eines solchen der Mittelstreckenraketen, ist primär ein europäisches Dialogs definieren. Die Vereinbarkeit mit der NATO Problem, das chinesische primär ein US-Problem. muss gewährleistet bleiben. Zu den weiteren ge- meinsamen Themen, bei denen auch das Vereinig- • Deutschland sollte in der nächsten Legislaturperio- te Königreich einbezogen werden sollte, könnte die de bei seinen NATO-Verbündeten für eine Abrüs- Frage gehören, was Europa dazu beitragen kann, tungsinitiative für nukleare Mittelstreckenraketen das Risiko von konventionellen oder nuklearen Aus- in Europa zu Wasser, zu Lande und in der Luft wer- einandersetzungen im Indopazifik zu verringern.. ben. Diese Waffenklasse sollte deshalb im Zent- rum stehen, weil ihr Überraschungspotenzial Europa unter Druck setzt und sie bereits in Friedenszeiten 4. Krisenprävention und Stabilisierung geeignet ist, die Europäer zu erpressen. Wenn Russ- besser aufstellen land die unter Bruch des INF-Vertrages entwickelten und eingeführten nuklearfähigen Mittelstreckenra- Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden Krisenprä- keten abrüstet, könnten die NATO-Staaten anbie- vention und Stabilisierung zu einer zentralen Aufgabe ten, keine konventionellen Lenkwaffen in Europa der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik. Doch zu stationieren, die russische Raketenanlagen und nach insgesamt erfolgreichen Einsätzen auf dem west- Kommandostellen treffen könnten. lichen Balkan (siehe auch Aktionsplan Westbalkan) stellt das Scheitern der westlichen Aufbaumission in
September 2021 35 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik Afghanistan viele Grundannahmen dieser Orientierung am strategischen Kompass der EU (bis Ende 2021), in Frage. Die USA hat die Ära des „State Building“ für dem „Civilian Compact“ der EU bis 2023 und dem beendet erklärt. Die neue Bundesregierung muss dem strategischen Konzept der NATO bis 2022 einge- nicht folgen, aber auch sie wird Ziele und Instrumente bracht werden. neu bewerten müssen. Vier Elemente sind zentral: • Europäisches Stabilisierungskorps: Schon heute • Gründliche Analyse der Operationen in Afgha- wären Tausende von zivilen und militärischen Exper- nistan, Mali und anderen großen zivilen oder mi- tinnen und Experten vom Ingenieur bis zum Polizei- litärischen Engagements. Ziel es, zu klären, unter ausbilder erforderlich, um in komplexen Konflikten welchen Umständen und mit welchen Mitteln Kri- von der Sahelzone bis Syrien strukturelle Verände- senprävention und Stabilisierung erfolgreich sein rungen zu bewirken. Die neue Bundesregierung soll- können. Auch die deutsche Öffentlichkeit wird nur te deswegen die Aufstellung eines europäischen dann neue Missionen akzeptieren, wenn überzeu- Stabilisierungskorps auf den Weg bringen und gend dargelegt wird, dass diese eine begründete selbst fünfzig Prozent der benötigten Fähigkeiten Chance auf Erfolg haben. In Analyse und Kommu- beitragen. Damit könnte es als zivile Rahmennation nikation kann die Sicherheitspolitische Kommission nicht nur zur Stabilisierung in Krisen beitragen, son- eine zentrale Rolle spielen. dern diese Operationen auch führen und gestalten. Zu diesem Zweck sollte Deutschland einen Perso- • Verständnis der Wirkungszusammenhänge ver- nalpool von 5000 Spezialistinnen und Spezialisten tiefen. Bis heute überschätzen viele Befürworter bereitstellen, die, komplett oder in Teilen, den Kern, von Krisenprävention und Stabilisierung die Wirk- die Führungsstruktur und die Logistik von größeren samkeit von Missionen und unterschätzen deren Ri- zivilen oder integrierten Operationen bilden kön- siken. Zudem halten einige Akteure den dezidiert nen. Dies würde es vielen kleineren Nationen erlau- friedenspolitischen Anspruch von Krisenpräven- ben, sich mit einem sinnvollen Beitrag anzukoppeln. tion und Stabilisierung für nicht vereinbar mit dem Schutz von Menschen und Mission durch militäri- sche Mittel. Entwicklung braucht aber einen siche- 5. Exportkontrolle von Rüstungsgütern ren Rahmen. Das Verständnis für Potenziale und und Technologie neu ordnen Grenzen der Krisenprävention kann über einen par- tizipativen Lernprozess verbessert werden: ein Deutschland spielt in der EU und international eine Labor zur Zukunft von Krisenprävention und Stabi- zentrale Rolle als Hersteller, Kooperationspartner und lisierung für Vertreter der Politik, der Institutionen Exporteur von Rüstungsindustriegütern. Im Bereich und der Zivilgesellschaft. der klassischen Rüstungsexporte wird Deutschland je- doch als unzuverlässig wahrgenommen. Trotz klarer • Strategische Planung: Weder national noch inter- (und restriktiver) Vorgaben sind die Entscheidungen für national gehen die Akteure der Frage nach, wie ihr Exporte und Verbote und deren Grundlagen intranspa- künftiges Engagement für Krisenprävention und rent. Deutschland gefährdet damit seine eigene indus- Stabilisierung aussehen können und was sie dafür triell-technologische Basis, die von Exporten abhängig brauchen werden – sie lassen sich überraschen und ist, sowie die Kooperationsfähigkeit mit Partnern. setzen dann die Instrumente ein, die ad hoc verfüg- bar sind. Die neue Bundesregierung sollte hier lang- Hinzu kommt, dass klassische Kriegswaffen aus tech- fristig – etwa mit einem Horizont bis 2040 – planen, nologischer Sicht nur noch eine geringe Rolle spielen. auf welche Konflikte sich Deutschland einstel- In komplexen Waffensystemen gewinnen einzelne (zu- len muss, welche Ziele es erreichen will und welche meist digitale) Technologien erheblich an Bedeutung. Mittel dafür notwendig sind. Ein erster Schritt da- Diese „emerging and disruptive technologies“ (EDT) zu ist die Gründung einer Arbeitsgruppe mit stra- sind ein viel größeres sicherheitspolitisches Problem, tegischen Planern des Auswärtigen Amtes und des da sie die Leistung von Waffensystemen erheblich stei- Bundesverteidigungsministeriums, wo bereits Pro- gern. Hinzu kommt, dass militärische Anwendungen jekte der strategischen Vorausschau existieren. nur noch ein kleiner Bereich in einem großen Feld der Andere Ministerien und zivile Akteure können hin- Sicherheitsanwendungen sind. Die bestehenden Ex- zukommen. Eine solche integrierte Planung und Ab- portkontroll- und Technologieregime sind schon seit stimmung der Instrumente hätte Vorbildcharakter längerer Zeit nicht mehr in der Lage, neue technologi- auch für die EU, die NATO und die Vereinten Natio- sche Entwicklungen zu erfassen und zu regulieren. nen. Vorschläge dazu sollten im Zuge der Arbeiten
36 September 2021 Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik BERICHT Die neuen Technologien führen auch in besonde- - identifizieren und koordinieren, wie der Zugang rer Weise zu Zielkonflikten zwischen wirtschaftlichen zu Technologien und Innovation in Deutschland und sicherheitspolitischen Interessen: Künstliche In- und auf europäischer Ebene gesichert werden telligenz oder Quantencomputer verbindet, dass sie kann in den nächsten fünf bis 20 Jahren eine wichtige Quel- le von Wohlstand für die Länder sein werden, die die- - definieren, wie der Zugang zu strategischen se Technologien kontrollieren. Zugleich wird bei diesen Technologien kontrolliert werden kann (access Technologien ein hohes Schadenspotenzial vermutet, denial), in Deutschland, auf EU-Ebene und im wenn sie in Konflikten zum Einsatz kommen, sei es im Rahmen der G7. militärischen Kontext, gegen Infrastrukturen oder zur gezielten gesellschaftlichen und sozialen Einfluss- • Deutschland muss in Zukunft seine Rüstungsex- nahme. Dass Staaten sehr unterschiedliche Positio- portpolitik sicherheitspolitisch begründen und nen dazu haben, wie die richtige Balance zwischen damit auch für seine Bürger wie für internationa- wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen le Partner verlässlicher und nachvollziehbarer ge- aussieht, bremst die Versuche, die Kontrollansätze in stalten: Wann sind Lieferungen von Waffen und Europa anzugleichen. Technologie gerechtfertigt, und welchen sicher- heitspolitischen Nutzen haben sie für Deutsch- Gleichzeitig gewinnt die Frage, wie sich Staaten den Zu- land? Inwieweit versteht die Bundesregierung gang zu diesen Technologien und die Kontrolle über sie Rüstungsexporte als sicherheitspolitisches Instru- sichern können, eine erhebliche politisch-strategische ment, um deutsche Interessen und politischen Ein- Bedeutung. Die neuen Technologien sind ein wesent- fluss zu unterstützen? liches Feld der geostrategischen Auseinandersetzung, insbesondere zwischen den USA, der EU und China. • Die neue Bundesregierung sollte die Exportpolitik Deutschlands Partner in EU und NATO drängen bei mili- in eine Länder- und Regionalstrategie einbetten tärischen Systemen auf Regeln, die den Export gemein- und einen systematischen Chancen/Risiken-An- samer Entwicklungen erleichtern. Zugleich konkurrieren satz verfolgen: Eine nach Sicherheitslage und -Inte- die Europäer aber auch untereinander. Die USA wiede- ressen differenzierte Länder- und Regionalstrategie rum drängen auf einen viel vorsichtigeren Umgang mit würde es erlauben, Rüstungsexporte explizit als Wissen und Technologien gegenüber potenziellen Geg- Mittel politischer Einflussnahme in die deutsche nern, vor allem China. Schließlich strebt Deutschland, Außen- und Sicherheitspolitik einzubetten. Sie wä- wie andere Staaten auch, Kooperationen in anderen re Grundlage für rüstungsexportpolitische Be- Regionen an, wie etwa im Indo-Pazifik. Dabei ist Tech- wertungen und öffentliche Begründungen. Die nologiekooperation im Bereich von Sicherheit und Ver- Strategie müsste Risiken und Chancen abwägen: teidigung eine attraktive Option, denn Europa hat hier Welche Verantwortung und Handlungsmöglichkei- interessante Produkte anzubieten. ten hat Deutschland, wenn Rüstungsgüter in falsche Hände geraten, etwa bei einem Staatsstreich, und • Deutschland sollte sich im Verbund mit der EU, der wie wahrscheinlich sind solche Ereignisse? Hilfe- NATO und G7-Partnern den Zugang zu Techno- stellung könnte ein exportpolitisches Ampelsystem logien sichern (etwa durch Investitionen in Inno- bieten, das Exportländer entlang der vorhanden Ex- vation), aber auch Rivalen den Zugriff verwehren portkriterien bewertet: Bei grünen Ländern bedarf können (zum Beispiel durch Rückverlagerung von es einer besonderen Begründung, nicht zu exportie- Produktionsstätten, Investitionskontrollen oder ren; bei roten braucht jeder Export einer besonde- Lieferkettenschutz, siehe auch Aktionsplan Wirt- ren Begründung; bei gelben Ländern bedarf es einer schaft und Außenpolitik). Daraus resultieren folgen- Einzelfallentscheidung. Die Einstufung sollte regel- de Aufgaben, die vom neuen Bundessicherheitsrat mäßig geprüft werden. behandelt und in der nationalen Sicherheitsstrate- gie erörtert werden sollten: • Verlässlichkeit kann die neue Bundesregierung auch durch ein Exportgesetz herstellen, das eine ein- - definieren, welche Schlüsseltechnologien heitliche gesetzliche Grundlage für den Export Deutschland national erhalten will, und welche von Kriegswaffen, Rüstungsgütern und neue Ka- auf europäischer Ebene tegorien (EDT) schafft. Es sollte auch Kontrollmaß- nahmen (z.B. zur Prüfung des Endverbleibs) und Sanktionsoptionen enthalten, zum Beispiel Möglich- keiten zur Stilllegung militärischer Ausrüstung. Bei
September 2021 37 BERICHT Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Formulierung eines neuen Exportgesetzes muss und NATO enger zusammenarbeiten. Gerade die Zusam- die Bundesregierung aber auch die möglichen finan- menarbeit zwischen staatlicher und internationaler Ebe- ziellen Folgen einer restriktiveren Politik für die Rüs- ne (EU, NATO) und die Koordination zwischen der EU und tungsindustrie und eventuelle Kompensationen für der NATO sollten weiter intensiviert werden. den Wegfall von Skaleneffekten bedenken. • Die neue Bundesregierung sollte regelmäßige Übun- • Schließlich sollte Deutschland eine internationa- gen und Planspiele auf allen Ebenen abhalten. Solche le Initiative für die Exportkontrolle von EDT starten Übungen helfen den Teilnehmenden, Prozesse und und mitgestalten. Diese sollte darauf abzielen, ein Vorgaben zu verstehen, Grauzonenfälle zu erfassen Exportregime für kritische Technologien zu schaffen. und auf Krisenfälle vorbereitet zu sein. National und europaweit sollten mehr sektorübergreifende Übun- gen durchgeführt werden. Innerstaatlich sollte das 6. Resilienz in Deutschland, in Europa Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen und im Bündnis stärken (Kommunen-Land-Bund) und Akteuren (zivil, militä- risch, staatlich, privat) stärker geübt werden. Schon längst üben andere Akteure nicht mehr nur in den engen Grenzen des Militärischen Druck auf Deutsch- • Die Institutionen, die von der Bundesregierung als land aus; das zeigen der Anstieg der Cyberangriffe auf kritisch für die Aufrechterhaltung des staatlichen kritische Infrastrukturen, die Manipulation der sozialen Gemeinwesens eingestuft werden, sollten zudem Medien und die Desinformationskampagnen im Zusam- einem Stress- und Funktionalitätstest unterzogen menhang mit der Pandemie. Um Deutschland in solchen werden. Dies erlaubt, die Sicherheitsvorsorge auf hybriden, vielschichtigen Konflikten schützen zu kön- den Ebenen Bund, Länder und Gemeinden zu über- nen, müssen zivile und militärische, private und staatli- prüfen und zu verbessern. che Akteure von der kommunalen Ebene bis hin zu EU
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