Aktiv, bewusst und fröhlic h lernen - Applica

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Aktiv, bewusst und fröhlic h lernen - Applica
Aktiv, bewusst und
fröhlic­h lernen

                             Text Roger Portmann    Letztes Jahr haben die grössten Kantone mit der Umsetzung des Lehrplans
                         Redaktion Raphael Briner   21 begonnen. Der harmonisierte Unterricht für die deutschsprachigen
                                                    ­Volks­s chulen stellt mit einigen neuen Inhalten, vor allem aber mit anderen
                                                     ­M ethoden, Haltungen und Perspektiven die beruflichen und weiterbildenden
                                                      Schulen auf den Prüfstand.

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Träge liegt die Sommerhitze über dem                             aus der Emme auf und besprüht sie mit       begonnen, darunter Zürich und Graubün-
Emmental. Doch auf dem weitläufi-                                farbigem Lack. Einige Schritte nebenan      den. Andere befinden sich bereits mitten
gen, üppig begrünten Areal der Schu-                             würden solche Steine eine Stolperfalle      in diesem Prozess oder werden noch fol-
len Rüegs­au läuft an diesem Nachmit-                            darstellen, denn die Lernenden setzen       gen (siehe Kasten auf Seite 8).
tag die Projektwoche zum Thema «Natur                            sich dort gerade den Risiken der Natur
pur» auf Hochtouren.                                             aus, indem sie mit Gehörschutz und Au-      Nicht nur Ergebnis zählt
     Im Schulgarten graben einige Primar-                        genbinde einzelne Sinne ausschalten         Kurz gesagt, zählt mit dem Lehrplan 21
schülerinnen und -schüler unter kundi-                           und sich in der Gruppe ganz verschiede-     nicht nur das Ergebnis, sondern auch
ger Begleitung die Erde um und staunen                           nen Alltagssituationen stellen.             der Weg dorthin. Und die Kinder wer-
über eine Lehmschicht, auf die sie ge-                               «Hier wird nicht doziert, sondern die   den anders sozialisiert als im früheren
rade gestossen sind. Nebenan wird ein                            Lernenden setzen sich aktiv mit ihrem       Volksschulunterricht. «Die Schülerinnen
Holzkasten mit Backsteinen, Holzwol-                             Thema auseinander», bringt Susanne          und Schüler übernehmen mehr Selbst-
le und Schilfrohr bestückt. Er verwan-                           Muralt das Geschehen auf den Punkt.         verantwortung, sie lernen über ihr eige-
delt sich allmählich in ein bunt bemaltes                        Die für Primarschule und Kindergarten       nes Handeln und müssen gelegentlich
«Insektenhotel». Im Innenhof der Schul­                          zuständige Leiterin der Schulen Rüegs­      auch vorausdenken», so bilanziert Mari-
anlage stehen kunstvoll verzierte, mit                           au umschreibt damit einen wichtigen         us Sterchi, Musiklehrer an der Sekundar-
Erde gefüllte Paletten mit Holzrahmen.                           Aspekt des Lehrplans 21, nämlich die        schule in Rüegsau, die Auswirkungen des
Beim Betrachten der prachtvollen Pflanz-                         Handlungsorientierung des Unterrichts.      Lehrplans 21 auf die Sekundarstufe II.
plätze stellt sich dem Betrachter die Fra-                                                                      Susanne Muralt erwartet, dass da-
ge: «Was wächst denn da?»                                        Fokussieren auf die Lernenden               durch die Lernenden ein neues Selbst-
     Im nur wenige Meter entfernten                              Handlungsorientierung, Kompetenzori-        verständnis und andere Erwartungen an
Schulzimmer binden die Kinder sorgfäl-                           entierung, das Fokussieren auf die fach-    den Unterricht mitbringen werden und
tig kleine Pakete mit Samen. «Sie wer-                           lichen und überfachlichen Fertigkeiten      sich auch besser einschätzen können.
den später den Besucherinnen und Be-                             der Lernenden und eine neue Rolle der       Dass dies auch für die weiteren Ausbil-
suchern des Abschlusstages überreicht                            Lehrperson – dies sind einige Kernele-      dungen nach der Volksschule ein Ge-
und sollen gepflanzt werden», erklärt                            mente des Lehrplans 21 für die Volks-       winn sei, davon sind Muralt und Sterchi
eine Schülerin begeistert. Der Begriff                           schulen der deutschsprachigen Schweiz       überzeugt.
Lehrplan 21 fällt nie. Aber hier wird ak-                        (siehe Kasten auf Seite 9).
tiv, bewusst und fröhlich gelernt.                                   Damit befassen sich die rund            Haltungen diskutieren
     Die älteren Schülerinnen und Schüler                        50 Lehrpersonen im Team von Susan-          Kompetenz- und handlungsorientiert, mit
sind auf Exkursionen. Einer von ihnen ist                        ne Muralt und Ulrich Hofer, Leiter Sekun-   hoher Aktivität der Lernenden, so cha-
schon zurück, reiht im Innenhof neben                            darstufe I, seit mehr als einem halben      rakterisiert Janine Allimann, Prorekto-
den bemalten Paletten kugelige Steine                            Jahrzehnt. In dieser Zeit ist vieles be-    rin der Berufsschule Rüti (ZH) den all-
                                                                 reits umgesetzt worden. Nicht alle Lehr-    gemeinbildenden Unterricht (ABU) an
                                                                 personen seien von Anfang an begeis-        Berufsfachschulen. «Seit Jahren disku-
                                                                 tert gewesen, aber dank kleiner Schritte    tieren wir Haltungen, vermitteln Fakten,
                                                                 und individueller Geschwindigkeit habe      fördern selbstständiges Arbeiten, also
                                                                 man am Ende alle mitnehmen können,          auch überfachliche Selbst- und Sozial-
                                                                 freut sich Muralt.                          kompetenzen», wird die erfahrene ABU-
                                                                     «Es ist jetzt wirklich Zeit für etwas   Lehrerin konkreter. «Aber im Bereich der
                                                                 Neues», kommentiert sie die offizielle      Medienpädagogik könnten wir stark zule-
                                                                 Umsetzung des Lehrplans 21 im Kanton        gen und sollten unbedingt auch auf die
                                                                 Bern. Im Schuljahr 2018/19 haben ein        politische Dimension der Digitalisierung
                                                                 halbes Dutzend weiterer Kantone damit       hinweisen», postuliert Allimann.     →

Schüler setzen sich aktiv mit
Themen auseinander, etwa
auf Ex­kursionen. Frontal­
unterricht ist «alte Schule».
(Bilder: Rainer Sturm und
Dieter Schütz / pixelio.de)

Autor Roger Portmann ist ABU-Lehrperson an der Berufs-
fachschule Gipser in Wallisellen (zur Zeit in Zürich) und
­freier Journalist. Dieser Artikel ist in längerer Form zuerst
 im «Hep Magazin» 09/2018 erschienen.

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                                               ter an der Pädagogischen Hochschule         «Woher wollen wir wissen, welche Inhalte
                                               St. Gallen (PHSG), ergänzt, dass auch       für neuartige Herausforderungen bedeu-
                                               das ABU-Qualifikationsverfahren mit der     tend sein werden?» Dennoch sei Wissen
                                               projektartigen Vertiefungsarbeit klar auf   wichtig, man müsse offene Prozesse an-
                                               Kompetenzüberprüfung ziele und dass         steuern und den Lernenden ein eigenes
                                               die Kompatibilität von ABU und Lehr-        Verständnis über Lernen und Entwick-
                                               plan 21 gerade Gegenstand von For-          lung bewusst machen, so Züger.
                                               schungsprojekten an der PHSG sei.               Dies führt zum Thema «selbstorga-
                                                   Sein PHSG-Kollege Peter Müller,         nisiertes Lernen». Die bisher zu Wort
                                               Studien­gangleiter für berufskundlichen     gekommenen Fachleute sind sich ei-
                                               Unterricht (BK), sieht bei den Berufs-      nig, dass dies eine Arbeitsweise sei,
                                               fachschulen gerade in der Berufskunde       die schrittweise und mit Bedacht ein-
Auch die Lehrer sind                           das grosse Plus in der Handlungskompe-      geführt werden solle. Die Lehrperson
­g efordert, denn sie müssen                   tenz. Die könne gut eingefordert werden,    bleibt wichtig.
sich weiterbilden.                             auch in Lernortkooperation mit Lehrbe-          Alois Hundertpfund, der viele Jah-
(Bild: Christoph Roth)                         trieben und überbetrieblichen Kursen.       re Fachdidaktikdozent an der PHZH und
                                               In der Praxis treffe er aber auch BK-       ABU-Lehrer war, bekräftigt, dass gera-
                                               Lehrpersonen mit relativ wenig pädago-      de bei Berufslernenden die Lehrperson
    Umsetzung des Lehrplans 21                 gischem Hintergrund an, die nur ein klei-   eine aktive Rolle spielen müsse und
    nach Kantonen                              nes Pensum unterrichten und zur Haupt-      dass das Motivieren eine wichtige und
    2015/16: BL (Primarstufe), BS (flies-      sache in ihrem angestammten Beruf           anspruchsvolle Aufgabe der Lehrperson
    send bis 2021)                             arbeiten. Hier sei eine Nachqualifizie-     bleibe.
    2017/18: AR, GL (fliessend bis 2021),      rung in Unterrichtsmethodik notwendig.
    LU, NW, OW, SG, SZ (Kindergarten,                                                      Schüler nicht sich selbst überlassen
    ­P rimarstufe), TG (8. bis 9. Schuljahr    Bildung der Lehrer ist gefordert            Lernen solle weitgehend selbstständig
    laufen nach altem Lehrplan aus), UR        Umgekehrt müssten die BK-Lehrperso-         geschehen, aber die Lernenden dürften
    2018/19: AI, BE (Kindergarten, 1. bis 7.   nen mit einem Vollpensum darauf ach-        nicht völlig sich selbst überlassen wer-
    Schuljahr), BL (Sekundarstufe I flies-     ten, dass sie in ihrem ursprünglichen       den. Selbstorganisiertes Lernen sei zu
    send), GR, SO, SZ (Sekundarstufe I), VS,   Berufsfeld, das sie nun unterrichteten,     oft eine Ausrede für mangelnde Vorbe-
    ZH (Kindergarten, 1. bis 5. Schuljahr)     den fachlichen Anschluss nicht verlören,    reitung eines Lernprozesses. «Ausser-
    2019/20: BE (8. Schuljahr), FR, SH, ZG,    sagt Müller. Auch die Lehrpersonenaus-      dem schneiden Lernmethoden, die auf
    ZH (6. Schuljahr, Sekundarstufe I)         bildung ist also gefordert.                 grösstmögliches selbstständiges Ler-
    2020/21: AG (Kindergarten,                     Roland Züger, ehemals Studiengang­      nen setzen, in Untersuchungen misera-
    1. bis 7. Schuljahr), BE (9. Schuljahr)    leiter BK der Pädagogischen Hochschu-       bel ab», fügt Hundertpfund hinzu. Dass
    2021/22: AG (8. Schuljahr)                 le Zürich (PHZH) und neu Dozent für Me-     auch die Berufsbildung auf dem Prüf-
    2022/23: AG (9. Schuljahr)                 dien und Informatik an der PH Schwyz,       stand steht, hat nicht nur mit dem Lehr-
                                               fragt sich, wie hilfreich der Fokus auf     plan 21 zu tun, denn seit 2016 läuft der

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Auch das ABU-Qualifika­
tionsverfahren mit der
projek­t artigen Vertiefungs­
arbeit zielt klar auf
­Kompetenzüberprüfung.
(Bild: Christoph Roth)

gross angelegte Strategieprozess Be-
rufsbildung 2030, mit dem die Verbund-    Neuerungen und Hintergründe des Lehrplans 21
partner Bund, Kantone und Wirtschaft      Harmonisierung der Volksschule: Erstmals gilt für die deutschsprachige schulische
das Schweizer Erfolgsmodell der Berufs-   Grundbildung in 21 Kantonen derselbe Lehrplan (mit Varianten), daher die Bezeichnung
bildung für die Herausforderungen der     «Lehrplan 21».
Zukunft fit machen wollen.                Sechs Fachbereiche und neue Inhalte: Sprachen, Mathematik, Natur/Mensch/Gesell-
                                          schaft, Gestalten, Musik, Bewegung und Sport sind die Fachbereiche. Dazu kommt der
Grund zur Freude                          verbindliche Umgang mit Medien und Informatik und eine umfassendere Auseinander-
Von den Ergebnissen dieses umfas-         setzung mit der beruflichen Zukunft.
senden Prozesses wird laut Toni Mess-     Konsequente Kompetenzorientierung bei Bildungs- und Lernzielen: Im Zentrum stehen
ner vom Staatssekretariat für Bildung,    die Fertigkeiten, welche die Lernenden anwenden können, weniger der Lernstoff.
Forschung und Innovation auch abhän-      ­W issen und Fähigkeiten werden als Kompetenzen formuliert, beispielsweise «Die
gen, ob der ABU eine grössere Revision    ­L ernenden können ihr Persönlichkeitsprofil beschreiben und nutzen».
oder bloss kleinere Anpassungen an den    Fachliches und Überfachliches: Der Aufbau von fachlichen Kompetenzen wird mit der
Lehrplan 21 erfahren soll.                Förderung von überfachlichen Kompetenzen personaler, sozialer und methodischer Art
    Doch Berufsbildung 2030 ist wieder    verknüpft.
eine andere Geschichte. In so langen      Mehr Eigenaktivitäten der Lernenden: Durch Anknüpfen an das Vorwissen und
Zeithorizonten rechnen die aufgeweck-     ­g ehaltvolle Aufträge werden die Lernenden zum Denken und Handeln angeregt. Die
ten Lernenden der Schulen R   ­ üegsau    Handlungsorientierung des Unterrichts wird gestärkt. Lernen wird als aktiver, selbst­
kaum. Auf sie kommt jetzt erst einmal     gesteuerter, konstruktiver und sozialer Prozess verstanden.
der Lehrplan 21 zu. Und wenn man sich     Vielfältige Methoden und differenzierte Lernunterstützung: Mit individualisierten Lehr-
                                                                                                                            ­­
bei ihnen im Emmental so umschaut, er-    und Lernformen müssen nicht mehr alle Lernenden gleichzeitig auf gleichem Weg die
hält man den Eindruck, dass sie Grund     gleichen Ziele erreichen. Begabtere Schülerinnen und Schüler arbeiten an weiterführen-
zur Freude haben dürfen.            ■    den Kompetenzen.
                                          Gliederung der Grundbildung in drei Zyklen: Die drei Zyklen sind chronologisch geglie-
                                          dert. Der 3. Zyklus beispielsweise umfasst die 1. bis 3. Klasse der Sekundarstufe I.
                                          ­J eder Zyklus weist Grundansprüche aus, die erreicht werden sollen, hinzukommen
                                          ­weiterführende Kompetenzstufen.
                                          Umfassende Beurteilung der Lernenden: Formative Rückmeldungen während der
                                          ­L ernprozesse ergänzen die abschliessenden (summativen) Bewertungen. In die regel-
                                          mässigen Beurteilungsberichte (Zeugnisse) werden die Eltern miteinbezogen. Diese
                                          Vorgaben sind kantonal geregelt.
                                          Neue Aufgabe der Lehrperson: Die Lehrperson ist verantwortlich für Lernumgebungen
                                          und Lernsettings. Sie wird von der allwissenden Zentralinstanz zur gestaltenden
                                          ­L ernbegleitung und leistet Lernunterstützung. Lehr- und Methodenfreiheit bleiben
                                          ­b estehen, denn der Lehrplan 21 lässt entsprechende Freiräume.

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