Aktiv, bewusst und fröhlic h lernen - Applica
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Aktiv, bewusst und fröhlich lernen Text Roger Portmann Letztes Jahr haben die grössten Kantone mit der Umsetzung des Lehrplans Redaktion Raphael Briner 21 begonnen. Der harmonisierte Unterricht für die deutschsprachigen Volkss chulen stellt mit einigen neuen Inhalten, vor allem aber mit anderen M ethoden, Haltungen und Perspektiven die beruflichen und weiterbildenden Schulen auf den Prüfstand. 6 A P P L I C A 1 0/ 2 0 1 9
AP P L ICA- T HE M A Träge liegt die Sommerhitze über dem aus der Emme auf und besprüht sie mit begonnen, darunter Zürich und Graubün- Emmental. Doch auf dem weitläufi- farbigem Lack. Einige Schritte nebenan den. Andere befinden sich bereits mitten gen, üppig begrünten Areal der Schu- würden solche Steine eine Stolperfalle in diesem Prozess oder werden noch fol- len Rüegsau läuft an diesem Nachmit- darstellen, denn die Lernenden setzen gen (siehe Kasten auf Seite 8). tag die Projektwoche zum Thema «Natur sich dort gerade den Risiken der Natur pur» auf Hochtouren. aus, indem sie mit Gehörschutz und Au- Nicht nur Ergebnis zählt Im Schulgarten graben einige Primar- genbinde einzelne Sinne ausschalten Kurz gesagt, zählt mit dem Lehrplan 21 schülerinnen und -schüler unter kundi- und sich in der Gruppe ganz verschiede- nicht nur das Ergebnis, sondern auch ger Begleitung die Erde um und staunen nen Alltagssituationen stellen. der Weg dorthin. Und die Kinder wer- über eine Lehmschicht, auf die sie ge- «Hier wird nicht doziert, sondern die den anders sozialisiert als im früheren rade gestossen sind. Nebenan wird ein Lernenden setzen sich aktiv mit ihrem Volksschulunterricht. «Die Schülerinnen Holzkasten mit Backsteinen, Holzwol- Thema auseinander», bringt Susanne und Schüler übernehmen mehr Selbst- le und Schilfrohr bestückt. Er verwan- Muralt das Geschehen auf den Punkt. verantwortung, sie lernen über ihr eige- delt sich allmählich in ein bunt bemaltes Die für Primarschule und Kindergarten nes Handeln und müssen gelegentlich «Insektenhotel». Im Innenhof der Schul zuständige Leiterin der Schulen Rüegs auch vorausdenken», so bilanziert Mari- anlage stehen kunstvoll verzierte, mit au umschreibt damit einen wichtigen us Sterchi, Musiklehrer an der Sekundar- Erde gefüllte Paletten mit Holzrahmen. Aspekt des Lehrplans 21, nämlich die schule in Rüegsau, die Auswirkungen des Beim Betrachten der prachtvollen Pflanz- Handlungsorientierung des Unterrichts. Lehrplans 21 auf die Sekundarstufe II. plätze stellt sich dem Betrachter die Fra- Susanne Muralt erwartet, dass da- ge: «Was wächst denn da?» Fokussieren auf die Lernenden durch die Lernenden ein neues Selbst- Im nur wenige Meter entfernten Handlungsorientierung, Kompetenzori- verständnis und andere Erwartungen an Schulzimmer binden die Kinder sorgfäl- entierung, das Fokussieren auf die fach- den Unterricht mitbringen werden und tig kleine Pakete mit Samen. «Sie wer- lichen und überfachlichen Fertigkeiten sich auch besser einschätzen können. den später den Besucherinnen und Be- der Lernenden und eine neue Rolle der Dass dies auch für die weiteren Ausbil- suchern des Abschlusstages überreicht Lehrperson – dies sind einige Kernele- dungen nach der Volksschule ein Ge- und sollen gepflanzt werden», erklärt mente des Lehrplans 21 für die Volks- winn sei, davon sind Muralt und Sterchi eine Schülerin begeistert. Der Begriff schulen der deutschsprachigen Schweiz überzeugt. Lehrplan 21 fällt nie. Aber hier wird ak- (siehe Kasten auf Seite 9). tiv, bewusst und fröhlich gelernt. Damit befassen sich die rund Haltungen diskutieren Die älteren Schülerinnen und Schüler 50 Lehrpersonen im Team von Susan- Kompetenz- und handlungsorientiert, mit sind auf Exkursionen. Einer von ihnen ist ne Muralt und Ulrich Hofer, Leiter Sekun- hoher Aktivität der Lernenden, so cha- schon zurück, reiht im Innenhof neben darstufe I, seit mehr als einem halben rakterisiert Janine Allimann, Prorekto- den bemalten Paletten kugelige Steine Jahrzehnt. In dieser Zeit ist vieles be- rin der Berufsschule Rüti (ZH) den all- reits umgesetzt worden. Nicht alle Lehr- gemeinbildenden Unterricht (ABU) an personen seien von Anfang an begeis- Berufsfachschulen. «Seit Jahren disku- tert gewesen, aber dank kleiner Schritte tieren wir Haltungen, vermitteln Fakten, und individueller Geschwindigkeit habe fördern selbstständiges Arbeiten, also man am Ende alle mitnehmen können, auch überfachliche Selbst- und Sozial- freut sich Muralt. kompetenzen», wird die erfahrene ABU- «Es ist jetzt wirklich Zeit für etwas Lehrerin konkreter. «Aber im Bereich der Neues», kommentiert sie die offizielle Medienpädagogik könnten wir stark zule- Umsetzung des Lehrplans 21 im Kanton gen und sollten unbedingt auch auf die Bern. Im Schuljahr 2018/19 haben ein politische Dimension der Digitalisierung halbes Dutzend weiterer Kantone damit hinweisen», postuliert Allimann. → Schüler setzen sich aktiv mit Themen auseinander, etwa auf Exkursionen. Frontal unterricht ist «alte Schule». (Bilder: Rainer Sturm und Dieter Schütz / pixelio.de) Autor Roger Portmann ist ABU-Lehrperson an der Berufs- fachschule Gipser in Wallisellen (zur Zeit in Zürich) und freier Journalist. Dieser Artikel ist in längerer Form zuerst im «Hep Magazin» 09/2018 erschienen. A P P L I C A 1 0/ 2 0 1 9 7
APPLI CA-THEMA Max Koch, ABU-Studienganglei- den Inhalt in der digitalen Zeit noch sei: ter an der Pädagogischen Hochschule «Woher wollen wir wissen, welche Inhalte St. Gallen (PHSG), ergänzt, dass auch für neuartige Herausforderungen bedeu- das ABU-Qualifikationsverfahren mit der tend sein werden?» Dennoch sei Wissen projektartigen Vertiefungsarbeit klar auf wichtig, man müsse offene Prozesse an- Kompetenzüberprüfung ziele und dass steuern und den Lernenden ein eigenes die Kompatibilität von ABU und Lehr- Verständnis über Lernen und Entwick- plan 21 gerade Gegenstand von For- lung bewusst machen, so Züger. schungsprojekten an der PHSG sei. Dies führt zum Thema «selbstorga- Sein PHSG-Kollege Peter Müller, nisiertes Lernen». Die bisher zu Wort Studiengangleiter für berufskundlichen gekommenen Fachleute sind sich ei- Unterricht (BK), sieht bei den Berufs- nig, dass dies eine Arbeitsweise sei, fachschulen gerade in der Berufskunde die schrittweise und mit Bedacht ein- Auch die Lehrer sind das grosse Plus in der Handlungskompe- geführt werden solle. Die Lehrperson g efordert, denn sie müssen tenz. Die könne gut eingefordert werden, bleibt wichtig. sich weiterbilden. auch in Lernortkooperation mit Lehrbe- Alois Hundertpfund, der viele Jah- (Bild: Christoph Roth) trieben und überbetrieblichen Kursen. re Fachdidaktikdozent an der PHZH und In der Praxis treffe er aber auch BK- ABU-Lehrer war, bekräftigt, dass gera- Lehrpersonen mit relativ wenig pädago- de bei Berufslernenden die Lehrperson Umsetzung des Lehrplans 21 gischem Hintergrund an, die nur ein klei- eine aktive Rolle spielen müsse und nach Kantonen nes Pensum unterrichten und zur Haupt- dass das Motivieren eine wichtige und 2015/16: BL (Primarstufe), BS (flies- sache in ihrem angestammten Beruf anspruchsvolle Aufgabe der Lehrperson send bis 2021) arbeiten. Hier sei eine Nachqualifizie- bleibe. 2017/18: AR, GL (fliessend bis 2021), rung in Unterrichtsmethodik notwendig. LU, NW, OW, SG, SZ (Kindergarten, Schüler nicht sich selbst überlassen P rimarstufe), TG (8. bis 9. Schuljahr Bildung der Lehrer ist gefordert Lernen solle weitgehend selbstständig laufen nach altem Lehrplan aus), UR Umgekehrt müssten die BK-Lehrperso- geschehen, aber die Lernenden dürften 2018/19: AI, BE (Kindergarten, 1. bis 7. nen mit einem Vollpensum darauf ach- nicht völlig sich selbst überlassen wer- Schuljahr), BL (Sekundarstufe I flies- ten, dass sie in ihrem ursprünglichen den. Selbstorganisiertes Lernen sei zu send), GR, SO, SZ (Sekundarstufe I), VS, Berufsfeld, das sie nun unterrichteten, oft eine Ausrede für mangelnde Vorbe- ZH (Kindergarten, 1. bis 5. Schuljahr) den fachlichen Anschluss nicht verlören, reitung eines Lernprozesses. «Ausser- 2019/20: BE (8. Schuljahr), FR, SH, ZG, sagt Müller. Auch die Lehrpersonenaus- dem schneiden Lernmethoden, die auf ZH (6. Schuljahr, Sekundarstufe I) bildung ist also gefordert. grösstmögliches selbstständiges Ler- 2020/21: AG (Kindergarten, Roland Züger, ehemals Studiengang nen setzen, in Untersuchungen misera- 1. bis 7. Schuljahr), BE (9. Schuljahr) leiter BK der Pädagogischen Hochschu- bel ab», fügt Hundertpfund hinzu. Dass 2021/22: AG (8. Schuljahr) le Zürich (PHZH) und neu Dozent für Me- auch die Berufsbildung auf dem Prüf- 2022/23: AG (9. Schuljahr) dien und Informatik an der PH Schwyz, stand steht, hat nicht nur mit dem Lehr- fragt sich, wie hilfreich der Fokus auf plan 21 zu tun, denn seit 2016 läuft der 8 A P P L I C A 1 0/ 2 0 1 9
AP P L ICA- T HE M A Auch das ABU-Qualifika tionsverfahren mit der projekt artigen Vertiefungs arbeit zielt klar auf Kompetenzüberprüfung. (Bild: Christoph Roth) gross angelegte Strategieprozess Be- rufsbildung 2030, mit dem die Verbund- Neuerungen und Hintergründe des Lehrplans 21 partner Bund, Kantone und Wirtschaft Harmonisierung der Volksschule: Erstmals gilt für die deutschsprachige schulische das Schweizer Erfolgsmodell der Berufs- Grundbildung in 21 Kantonen derselbe Lehrplan (mit Varianten), daher die Bezeichnung bildung für die Herausforderungen der «Lehrplan 21». Zukunft fit machen wollen. Sechs Fachbereiche und neue Inhalte: Sprachen, Mathematik, Natur/Mensch/Gesell- schaft, Gestalten, Musik, Bewegung und Sport sind die Fachbereiche. Dazu kommt der Grund zur Freude verbindliche Umgang mit Medien und Informatik und eine umfassendere Auseinander- Von den Ergebnissen dieses umfas- setzung mit der beruflichen Zukunft. senden Prozesses wird laut Toni Mess- Konsequente Kompetenzorientierung bei Bildungs- und Lernzielen: Im Zentrum stehen ner vom Staatssekretariat für Bildung, die Fertigkeiten, welche die Lernenden anwenden können, weniger der Lernstoff. Forschung und Innovation auch abhän- W issen und Fähigkeiten werden als Kompetenzen formuliert, beispielsweise «Die gen, ob der ABU eine grössere Revision L ernenden können ihr Persönlichkeitsprofil beschreiben und nutzen». oder bloss kleinere Anpassungen an den Fachliches und Überfachliches: Der Aufbau von fachlichen Kompetenzen wird mit der Lehrplan 21 erfahren soll. Förderung von überfachlichen Kompetenzen personaler, sozialer und methodischer Art Doch Berufsbildung 2030 ist wieder verknüpft. eine andere Geschichte. In so langen Mehr Eigenaktivitäten der Lernenden: Durch Anknüpfen an das Vorwissen und Zeithorizonten rechnen die aufgeweck- g ehaltvolle Aufträge werden die Lernenden zum Denken und Handeln angeregt. Die ten Lernenden der Schulen R üegsau Handlungsorientierung des Unterrichts wird gestärkt. Lernen wird als aktiver, selbst kaum. Auf sie kommt jetzt erst einmal gesteuerter, konstruktiver und sozialer Prozess verstanden. der Lehrplan 21 zu. Und wenn man sich Vielfältige Methoden und differenzierte Lernunterstützung: Mit individualisierten Lehr- bei ihnen im Emmental so umschaut, er- und Lernformen müssen nicht mehr alle Lernenden gleichzeitig auf gleichem Weg die hält man den Eindruck, dass sie Grund gleichen Ziele erreichen. Begabtere Schülerinnen und Schüler arbeiten an weiterführen- zur Freude haben dürfen. ■ den Kompetenzen. Gliederung der Grundbildung in drei Zyklen: Die drei Zyklen sind chronologisch geglie- dert. Der 3. Zyklus beispielsweise umfasst die 1. bis 3. Klasse der Sekundarstufe I. J eder Zyklus weist Grundansprüche aus, die erreicht werden sollen, hinzukommen weiterführende Kompetenzstufen. Umfassende Beurteilung der Lernenden: Formative Rückmeldungen während der L ernprozesse ergänzen die abschliessenden (summativen) Bewertungen. In die regel- mässigen Beurteilungsberichte (Zeugnisse) werden die Eltern miteinbezogen. Diese Vorgaben sind kantonal geregelt. Neue Aufgabe der Lehrperson: Die Lehrperson ist verantwortlich für Lernumgebungen und Lernsettings. Sie wird von der allwissenden Zentralinstanz zur gestaltenden L ernbegleitung und leistet Lernunterstützung. Lehr- und Methodenfreiheit bleiben b estehen, denn der Lehrplan 21 lässt entsprechende Freiräume. A P P L I C A 1 0/ 2 0 1 9 9
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