Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de

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Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
12. 2019 | No. 104

aktuell
from and about berlin
                                                                      N=°
                                                                   104

AUS UND ÜBER BERLIN

  Berlin für
  Feinschmecker
  Berlin for
  foodies

50 Jahre                     Handshape-Projekt     Berlins Volkshochschulen
Emigrantenprogramm           verbindet Menschen    im Wandel der Zeit
50 years of the invitation   Handshape project –   Berlin’s Adult Education
programme                    Connecting people     Centres over the years
Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
INHALT CONTENTS
                                                                                  Eine Ausstellung blickt
                                                                                  zurück auf
                                                                                  100 Jahre Bauhaus
© Gunter Lepkowski/VG Bild-Kunst Bonn 2019

                                                                                  An exhibition looks back
                                                                                  at 100 years of Bauhaus

                                                                    34                                 Vor fünfzig Jahren begann
                                                                                                         das Berliner Einladungs­
                                                                                                       programm für Emigranten
                                                                                                               Berlin’s invitation
                                                                                                        programme was launched
                                                                                                                     50 years ago

                                                                                                                                                                                                                 29

                                                                                                                                     © Senatskanzlei Berlin
                                                 Weltzeituhr und
                                                   Fernsehturm –
                                                zwei Wahrzeichen
                                                       werden 50
                                              World Clock and TV
                                               Tower – Two land­
                                                    marks turn 50

                                                                                                                                                              commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=51186301
                                                                                                                                                              © Diego Delso, CC BY-SA 4.0

                                                                    45
                                                                    Die Berliner Volkshoch­
                                                                    schulen bieten Weiterbildung
                                                                    für alle
                                                                    Berlin’s Adult Education

                                                     39
                                                                    Centres offer lifetime learning
                                                                    for all
© Thabo Tindi

                                                                                     Interview mit den Autorinnen
                                                                                                                                                                                                                 © Sonya Gropman

                                                                                             des Deutsch­Jüdischen
                                                                                                       Kochbuchs
                                                                                      Interview with the authors of
                                                                                               The German­Jewish
                                                                                                        Cookbook

                                                                                                                       12
                                                                                                               ©
Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
Inhalt Contents
2    Editorial                                         50   Kurz notiert
                                                            News in brief
     Editorial

     Schwerpunkt:                                           Leserbeiträge
     Berlin für Feinschmecker                               Readers’ Contributions
     In Focus: Berlin for foodies                      52   Once, on a station platform

04   Mehr als nur Buletten                             52   Theresienstadt – What I can remember
     More than just meatballs
                                                       53   My story as a “Mischling zweiten Grades”
12   Unglaublich lecker!
     Very delicious!
                                                       57   Leserbriefe
21   „Auch der Weinverkauf ist ein sehr starker
     gewesen“                                               Letters to the Editor
     “Sales of wine were also very robust”

24   Food facts                                        58   Suchanzeigen
     Food facts                                             Help us find them

     Berliner Ereignisse                               63   Buchempfehlungen
     Life in Berlin                                         Books
26   Das Handshape­Projekt – Verbundenheit
     stärken
     The Handshape Project – Recreating the
                                                            Dit is Berlin
     human connection                                       Miscellaneous
29   Charterflug in die Vergangenheit                  64   Drei Fragen an … Gal Ben Moshe
     Charter flight into the past                           Three questions to … Gal Ben Moshe

34   original bauhaus – Die Jubiläumsausstellung       66   Impressum
     original bauhaus – The centenary exhibition            Publishing information

39   Erwachsenbildung als öffentliche Aufgabe:         67   Gewinnspiel
     100 Jahre Volkshochschulen in Berlin                   Prize Crossword
     Adult education as a state task: Berlin’s Adult
     Education Centres celebrate their centenary       68   Zum Schluss noch was Süßes …
                                                            And to end with, something sweet …
45   Alexanderplatz – Verwandlung vor 50 Jahren
     Alexanderplatz – Transforming the square
     50 years ago

                                                                                                       1
Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
EDITORIAL EDITORIAL

           Liebe Leserinnen,
           liebe Leser,
woran denken Sie bei „Berliner Küche“? Bulette,        Wer sich für die deutsch­jüdische Küche aus der
Eisbein und Leber Berliner Art gelten über die         Vorkriegszeit interessiert, dem empfehle ich das
Stadtgrenzen hinaus ebenso als Klassiker wie Roll­     Interview mit Gabrielle Rossmer Gropman und
mops und Pfannkuchen, der andernorts ja auch als       Sonya Gropman. Die beiden haben ein Koch­
„Berliner“ serviert wird. Traditionell steht unsere    buch verfasst, mit dem sie diesen wichtigen Teil
Küche für eher schlichte Rezepte, deftigen Ge­         deutsch­jüdischer Kultur dokumentieren.
schmack und üppige Portionen. Warum das so ist              Darüber hinaus würdigt diese Ausgabe von
und wie sich dieses Image wandelt, darüber infor­      aktuell das 50­jährige Bestehen des Emigranten­
mieren wir mit dem Schwerpunktthema „Berlin            programms des Berliner Senats. Ich bin sehr froh,
für Feinschmecker“ umfassend in dieser Ausgabe         dass das Programm samt dieser wohl einzigarti­
von aktuell.                                           gen Zeitschrift heute wie damals dazu beiträgt,
     Auch zahlreiche Start­ups in Berlin setzen        die Verbindungen zwischen Ihnen und den Ber­
sich mit Lebensmitteln und Ernährung auseinan­         linerinnen und Berlinern hier vor Ort lebendig zu
der. Die Gründerinnen und Gründer befassen sich        halten.
beispielsweise mit alternativen Proteinquellen,             Außerdem widmet sich aktuell dem 30. Jahres­
Urban Farming oder der digitalen Landwirtschaft        tag des Mauerfalls, den alle in Berlin ausgelassen
und entwickeln zukunftsweisende Angebote.              gefeiert haben. 1989 gingen hunderttausende mu­
Berlin ist eine Start­up­Metropole und der Ber­        tige Menschen für Freiheit und Demokratie auf
liner Senat stellt die Weichen so, dass unsere Stadt   die Straße und brachten mit der friedlichen Revo­
auch weiterhin die kreativsten Köpfe aus aller         lution die Mauer zum Einsturz. Wir sollten nicht
Welt anzieht.                                          vergessen, welch großartige Geschenke Mauerfall
     Aber auch abseits von Start­ups und Digitali­     und Wiedervereinigung nach wie vor für die Men­
sierung tut sich einiges in der Berliner Gastrono­     schen sind – in Berlin, Deutschland und der gan­
mie. Von Grüner Woche über eat! berlin bis zum         zen Welt. Passend dazu stellt aktuell das Projekt
Galadinner der Meisterköche und den zahllosen          Handshape vor, das im Vorfeld der Feierlichkei­
Street­Food­Märkten gibt es das ganze Jahr über        ten mit einer tollen Aktion Fremde zusammenge­
viel zu entdecken. Die Vielfalt und die Weltof­        bracht hat.
fenheit der Stadtbevölkerung schlagen sich dabei            Ich danke Ihnen, liebe Leserinnen und Leser,
natürlich auch auf den Tellern nieder. Egal ob         ganz herzlich für Ihr Interesse an aktuell und
Currywurst oder Ceviche, Hausmannskost oder            wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre dieser
Haute Cuisine: In unserer Stadt bleiben keine ku­      Ausgabe. Frohe Feiertage und einen guten Start
linarischen Wünsche offen. 27 Michelin­Sterne          ins neue Jahr 2020!
verteilt auf 22 Restaurants sprechen für sich. Auch
im Ausland hat sich die großartige Auswahl an Re­
staurants, Cafés und Imbissen herumgesprochen.
     Dazu trägt auch Gal Ben­Moshe bei. Der
Spitzenkoch hat 2018 das Restaurant Prism eröff­       Michael Müller
net und aktuell hat ihn unter anderem nach seinem      Regierender Bürgermeister von Berlin
Lieblingsgericht gefragt.

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Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
This issue of aktuell also pays tribute to the 50th anniversary
                                                                 of the Berlin Senate’s invitation programme for former
                                                                 Berliners. I am very glad that, today just as in the past, the
                                                                 invitation programme together with our rather unique mag­
                                                                 azine plays a part in maintaining a vibrant link between you
                                                                 and the Berliners now resident in the city.
                                                                      And, of course, aktuell also looks at the 30th anniver­

Dear readers,                                                    sary of the fall of the Wall, which everyone in Berlin has so
                                                                 enthusiastically celebrated. In 1989, hundreds of thousands
                                                                 of courageous people stood up for their values, risking a lot
When you think of traditional Berlin cuisine, what springs       in a struggle to attain, not least, freedom and democracy. We
to mind? Specialities such as meatballs, pork knuckle or         should not forget how much the fall of the Wall and reuni­
Berlin­style liver are famed far beyond the city’s borders,      fication is still a marvellous gift for people everywhere – in
as are classics from Rollmops (pickled herring) to the jam       Berlin, Germany and the entire world. In that spirit, aktuell
doughnut known (outside Berlin) as a “Berliner”. Tradi­          presents the Handshape project. In the run­up to the cele­
tionally, the “Berliner Küche” is all about simple recipes,      brations, this inspiring project has been a reminder of how
hearty flavours and generous portions. And with this issue       we are all connected.
of aktuell dedicated to Berlin’s amazing food scene, we look          I would also like to warmly thank all aktuell’s readers
at why Berlin’s cuisine developed as it did – and how its        for their interest in our magazine and hope you thoroughly
image is changing.                                               enjoy browsing our latest issue. Happy holidays – and a
     Berlin also has many start­ups addressing issues around     wonderful start to 2020!
food and nutrition. These entrepreneurs specialise, for ex­
ample, in alternative sources of protein, urban farming or
digital agriculture, developing the pioneering approaches
we need for the future. Berlin is a start­up metropolis and
the Berlin Senate opens the way for our city to continue         Michael Müller
to attract the most creative talents from around the world.      Governing Mayor of Berlin
     But even away from start­ups and digitisation, things
are happening in Berlin’s restaurant scene. From the inter­
national Green Week food fair to the eat! berlin gourmet
festival, the Master Chefs Gala Dinner and wealth of street
food markets – there’s a lot to discover at any time of the
year. And naturally, the food on our plates is also influenced
by the diversity and cosmopolitan outlook of Berlin’s resi­
dents. From currywurst to ceviche, traditional fare to haute
cuisine, Berlin has the entire culinary spectrum covered. The
city’s total of 27 Michelin stars awarded to 22 restaurants
speak for themselves. Today, word of the city’s stunning
choice of restaurants, coffee houses and snack bars have
also spread abroad.
     And here, Gal Ben­Moshe has also played a role. In
2018, this top chef opened his Prism restaurant in Berlin. In
aktuell, we take the chance to ask him, among other things,
about his favourite dish.
     The interview with Gabrielle Rossmer Gropman
and Sonya Gropman offers a fascinating insight into Ger­
man­Jewish cuisine in the first decades of the twentieth
                                                                                   © Lena Giovanazzi

century. The cookery book by this mother­daughter duo
documents this important part of German­Jewish culture.

                                                                                                                              3
Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES
© Barbara Dietl

                                                             Die Joseph Roth Diele in
                                                             der Potsdamer Straße
                                                             The Joseph Roth Diele
  4                                                          in Potsdamer Straße
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Mehr als
nur

                                     Nicholas Hahn, „Restaurant am Steinplatz” Schaschlik von der Wassermelone | Melonen-Paprika Tatar | Paprikasorbet © Berlin Partner | photothek.de
Buletten
Berlins neue Küche und Köche
sorgen weltweit für Aufsehen.
In Europa hält nur London mit.
Was macht Berliner Küche aus?
Welche Einflüsse haben sie im
Laufe der Zeit geprägt? Unser
Autor geht der Sache auf den
Grund – und erzählt von seiner
eigenen Familie …

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Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

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         Wochenmarkt am Boxhagener Platz um 1934                     In der Markthalle Neun gibt es Obst und Gemüse
     The weekly market at Boxhagener Platz around 1934                 aus der Region und Streetfood aus aller Welt
                                                             The Markthalle Neun food hall is home to regional vegetables and
                                                                    fruit as well as street food from around the world

VON DR. STEFAN ELFENBEIN, KORRESPONDENT FÜR
DAS MAGAZIN DER FEINSCHMECKER UND PRÄSIDENT
                                                             An silbern funkelnde Berge von
DER JURY BERLINER MEISTERKÖCHE
                                                             Hering und Hornfisch am Markt
„Potse“ nennen die Berliner liebevoll-schnodderig die
Potsdamer Straße. Durch die Bezirke Schöneberg und
                                                             am Halleschen Tor ­erinnerte
Tiergarten schlängelt sie sich gen Berlin-Mitte. Schön
und schick war sie nie, dafür bunt und lebendig. Ka­
                                                             sich meine ­Großmutter
baretts waren hier und Etablissements. Leichte Damen
gibt es immer noch. An die Potse von einst erinnert          An silbern funkelnde Berge von Hering und Horn­
die „Joseph Roth Diele“. Dielen waren Lokale für je­         fisch am Markt am Halleschen Tor erinnerte sich meine
dermann. Die in der Hausnummer 75 war besonders.             Großmutter – und an quietschgelbe Zitronen in einem
Sie war ab 1920 Inspiration und Aufwärmort des Zeit­         Kaufhaus. Berlins breite Straßen und Trottoirs kamen
chronisten Joseph Roth. Parkett und Holzpaneele sind         zurück ins Gedächtnis – und eine Dose Affenfett für
erhalten. Hühnerfrikassee, Rouladen und belegte Stul­        schön glänzende Haare und Schildkrötensuppe, die
len schmecken. Neu sind die Fotos von Roths Leben            es einmal gab. Ein Teenager war sie, als Joseph Roth
an den Wänden, vom Schtetl in Galizien, der Zeit in          in der Diele saß. Berlin zählte 4 Millionen Einwoh­
Lemberg, Wien. Nach dem Mauerfall hat ein Förder­            ner und war nach London und New York drittgrößte
verein die Diele gerettet und neu eröffnet.                  Stadt der Welt. Hoffnung auf ein besseres Leben hatte
     Ich war seitdem öfters da. Zwei Abende waren be­        Menschen aus allen Himmelsrichtungen in die neue
sonders, der eine 2002 mit meiner Berliner Großmut­          Metropole gespült. Produkte und Lieblingsrezepte
ter, der andere 2011 mit Frank Bruni von der „New            brachten sie mit, etwa für Berlins berühmte Klop­
York Times“, dem damals wohl bekanntesten Restau­            se mit Kapern, Senfeier, Rote Grütze, Gefilte Fisch.
rantkritiker der westlichen Welt. Nur einmal noch war        Berliner Schnitzel übrigens ist gebackener Euter von
meine Großmutter nach Berlin gekommen – damals               der Färse, der Jungkuh. Bulette (von boule = ­Kugel),
zu ihrem 90. Geburtstag! Für Frank Bruni war es das          Schrippen, Spargel, Kopfsalat und Blumenkohl hatten
erste Mal. Mit beiden sprach ich über das Leben, Es­         schon zuvor die Hugenotten mitgebracht.
sen, die Stadt.

6
Aktuell 104NN= AUS UND ÜBER BERLIN - Berlin.de
1907 war auch meine Urgroßmutter, die Mutter mei­
                  ner Großmutter, von Bessarabien nach Berlin gekom­
                  men. Bis zur Mamsell hatte sie sich hochgearbeitet.
                  Affenfett und Schildkrötensuppe waren Geschenke
                  der Herrschaft, bei der sie in Stellung war. Meine Oma
                  lernte Beiköchin. „Unbeschreiblich vielfältig war das
                  Essen in Berlin“, sagte sie mir. Hummer, Austern und
                  Champagner genoss man abends am Potsdamer Platz
                  oder wie heute noch im „KaDeWe“. Das „Hotel Ad­
                  lon“ galt als exklusivstes Hotel im Land, sein Wein­
                  keller als unvergleichlich. Die Cocktailkultur boomte
                  aufgrund der Alkoholprohibition in den USA. Man
                  jazzte. Highlight für meine Großmutter war ihr freier
                  Sonntag; bei schönem Wetter flanierte sie die Linden

                                                                                                                                           © Barbara Dietl
                  entlang zum Schloss.
                       Wenig später zerbrach auch ihre Welt: Inflation,
                  Kündigung, Missbrauch durch die neue Herrschaft, ei­
                  nem Baron von Riedesel, Selbstmordgedanken wegen                 Der Pauly Saal befindet sich in der restaurierten
                                                                                    ehemaligen Jüdischen Mädchenschule in Mitte
                  der Schwangerschaft. Das Kind, mein Vater, Jahrgang
                                                                                      The Pauly Saal is in the refurbished former
                  1928, wurde zu Zieheltern in Hessen gegeben. Einen                        Jewish School for Girls in Mitte
                  grob geschnitzten Holzlöffel hatte ihm meine Ur­
                  großmutter in die Tasche gesteckt. Meine Großmutter
                  tauchte unter, ihre Mutter verschwand. Berlin lag in     sche Soldaten dagelassen hatten, ein Geniestreich: Sie
                  Trümmern. Tote Pferde wurden ausgeweidet, letzten        erfand die Currywurst. Im Tiergarten wuchs Gemüse.
                  Bäumen die Rinde vom Stamm gegessen. Die Stunde          Schichttorten und Käsekuchen in Cafés am Ku’damm
                  null … doch das Leben ging weiter. 1948/1949, wäh­       schmeckten auch ohne Butter und Eier; Ersatz im Teig
                  rend der Berlin­Blockade, ließen US­Piloten Mehl,        war Apfelbrei.
                  Kohle und Kartoffeln vom Himmel regnen – auch                 Berliner Küche war immer Spiegelbild der Stadt,
                  Kaugummi und Schokolade. In ihrem Schnellimbiss          ihrer Verfassung und Seelenlage. Darüber sprach auch
                  in Charlottenburg gelang Herta Heuwer derweil beim       Frank Bruni mit mir. Ich war aufgeregt, als ich in der
                  Hantieren mit Würzpulver aus Blechdosen, die briti­      Diele auf ihn wartete. Fünf Tage hatte er sich durch
                                                                           Restaurants gegessen, darunter das „Horváth“ und
                                                                           das „Tim Raue“ – heute zwei der allerbesten. ‚Nun
                                                                           die Abfuhr!‘, dachte ich. Kulinarisch hatte Berlin 2011
                                                                           noch nicht den besten Ruf. Berlin­West war nach 1961
                                                                           ummauert; frische regionale Produkte gab es nicht. Im
                                                                           Osten herrschte Mangelwirtschaft. Auch nach dem
                                                                           Mauerfall 1989 veränderte sich kulinarisch anfangs
                                                                           wenig. Es dauerte. Erst entstanden Luxushotels, das
                                                                           „Adlon“ wurde aufgebaut. Dann sorgten junge Kü­
                                                                           chenchefs in Hotels für Schlagzeilen. Luxusprodukte
                                                                           ließ man aus Frankreich einfliegen. Aber besser ge­
                                                                           kocht als anderswo wurde nicht, das Besondere fehlte.
                                                                                Brunis seitenlange Analyse „Sorry to Disappoint“,
                                                                           die Standards setzte, erschien nach seiner Rückkehr:
                                                                           „Vor meinem Abflug sagten alle, ich würde sehr ent­
© Barbara Dietl

                                                                           täuscht sein. Man wünschte mir zwar alles Gute, mein­
                                                                           te aber, es sei eine Schande, dass ich mich nicht für Pa­
                                                                           ris oder Kopenhagen – oder jede andere europäische

                                                                                                                                       7
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BERLINER      EREIGNISSE LIFE IN BERLIN
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

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             Käsetheke in der Markthalle Neun                                 Wochenmarkt um 1930
             Dairy counter at Markthalle Neun                                Weekly market around 1930

Großstadt entschieden hätte“, schreibt er. Und dann:         In jedem Jahr sorgten seitdem Berlins Köche und Kü­
„Es tut mir leid, enttäuschen zu müssen; es hat mir          che für Überraschungen und Aufsehen weltweit. 2019
geschmeckt in Berlin“ – und mehr als das. Aufregend          dominierten die Aromen aus der Levante, aus Israel,
sei die Küche, eine Entdeckungsreise.                        Syrien, dem Irak. Die meisten Neueröffnungen gab es
     Tatsächlich war so um 2006 der Knoten geplatzt.         in der Potsdamer Straße, der Potse, Berlins neuer, an­
Die Stadt füllte sich mit jungen engagierten, meist          gesagter Ausgehgegend. Joseph Roth würde schauen.
kreativen Menschen. Wie hundert Jahre zuvor wur­             Meine Großmutter übrigens mochte das neue Berlin.
de Heimisches mitgebracht – diesmal aus aller Welt:          „Vielfalt ist Sicherheit“, meinte sie. Sie lebte am Ende
Falafel, Hummus, Empanadas, Blinis, Algenblätter.            nahe bei meinem Vater. Den geschnitzten Holzlöffel
Die gute Stimmung während der Fußball­WM 2006 in             hatte er immer bei sich. Ich bekam ihn, als er starb. Der
Berlin mag dazu beigetragen haben wie auch geklär­           Löffel liegt hier vor mir.
te Eigentumsverhältnisse im Osten. Es gab günstigen
Wohnraum und Platz, auch für Restaurants. Eins nach
dem anderen machte auf. Wie befreit wurde gekocht.
Gedünstete Weinbergschnecken krochen auf Tellern                                 TOP 5-Restaurants,
                                                                                die für Berlin stehen:
über Ackerkrumen aus getrockneten Oliven, Kakao
und Walnuss­Crumble. Aus Erdbeeren, Sellerie und                                     Horváth
Lauch wurden Desserts. Spektakulär war die Eröff­                            www.restaurant-horvath.de
nung des „Pauly Saal“ in der restaurierten ehemaligen
                                                                              Nobelhart & Schmutzig
Jüdischen Mädchenschule in Mitte. Und beim Staats­                        www.nobelhartundschmutzig.com
dinner der Obamas 2013 in Berlin servierte Chef Tim
Raue Klopse mit Gänseleberkern und Süßweinsoße.                                   Cookies Cream,
                                                                               www.cookiescream.com
     Parallel dazu führte ein junges Team hinter Kreuz­
bergs „Markthalle Neun“ vor, dass im Umland wieder
                                                                               eins44-Kantine Neukölln
bestes Obst und Gemüse wuchs, darunter alte, fast                                  www.eins44.com
vergessene Sorten.
                                                                                   Tulus Lotrek
                                                                                 www.tuluslotrek.de

8
TOP 5 restaurants representing
                       the best in Berlin:

                         Horvath

More
                 www.restaurant-horvath.de

                   Nobelhart & Schmutzig
               www.nobelhartundschmutzig.com

                      Cookies Cream
                   www.cookiescream.com

                   eins44 Kantine Neukölln
                       www.eins44.com

than just
                       Tulus Lotrek
                     www.tuluslotrek.de

meatballs
    Berlin’s new chefs and nouveau
    cuisine are making waves worldwide.
    In Europe, only London is in the same
    class. What defines Berlin cuisine?
    What influences have shaped it down
    the years? Our author investigates –
    and tells of his own family …
                                                     Kreation von Gal Ben Moshe © Ben Fuchs

                                                 9
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

W
BY DR. STEFAN ELFENBEIN, FOOD AND CULTURE
JOURNALIST WRITING FOR THE FEINSCHMECKER
MAGAZINE AND CHAIRMAN OF THE JURY BERLINER

                                                                                                                                              links left © Kreation von Gal Ben Moshe © Ben Fuchs, rechts right © Barbara Dietl
MEISTERKÖCHE

With their usual affectionate nonchalance, Berliners call Pots­
damer Straße the ‘Potse’. Snaking through the Schöneberg and
Tiergarten districts towards the city centre, it was never chic and
charming. Instead, it was vibrant, colourful, a place of bars, cab­
aret theatres and nightclubs. The ladies of the night still walk
the street today. The old ‘Potse’ comes to life in the Joseph Roth
Diele. The ‘Diele’ were simple taverns for all, though the one at
Postdamer Straße 75 was special. From 1920, this was the haunt,
inspiration and refuge of Joseph Roth, chronicler of his era. The
parquet floor and wood panelling are still original. The chicken
fricassee, cabbage rolls and sandwiches are all tasty. The photos
of Roth’s life on the wall are new, the shtetl in Galicia, his years
in Lemberg and Vienna. After the fall of the Wall, a Friends As­                                Joseph Roth Diele
                                                                                                Joseph Roth Diele
sociation saved the tavern and reopened it.
     Since then, I’ve often been there. Two evenings stand out as
special – one in 2002 with my Berlin grandmother, the other in
2011 with Frank Bruni from the New York Times, probably the
best­known restaurant critic in the Western world. My grand­           lin had 4 million inhabitants, the third largest city after London
mother only came to Berlin once more – for her 90th birthday!          and New York. Driven by the hope of a better life, people from
For Frank Bruni, this was his first visit. I talked to both of them    all points of the compass washed up on the shores of this metrop­
about life, food and the city.                                         olis. They came with their produce and favourite recipes, such as
     My grandmother recalled glittering silvery mountains of           Berlin’s famous meatballs with capers, mustard eggs, Rote Grütze
herring and garfish at the Hallesches Tor market – and intensely       (red berry compote), and gefilte fish. Berlin schnitzel, incidental­
yellow lemons in a department store. Berlin’s broad streets and        ly, is the fried udder of a heifer, a young cow. The Huguenots had
pavements arose again in her memory – along with a tin of cheap        already introduced the bulette (from the French boule = ball), the
brilliantine for beautifully shiny hair and the turtle soup she once   Schrippe bread rolls, asparagus, lettuce and cauliflower.
ate. When Joseph Roth sat in this tavern, she was a teenager. Ber­          In 1907, my great­grandmother, my grandmother’s mother,
                                                                       also came to Berlin from Bessarabia. She worked her way up to
                                                                       become a cook, a Mamsell. The brilliantine and turtle soup were
                                                                       gifts from her master and mistress where she was in service. My
                                                                       grandma trained as an assistant or under­cook. “Food in Berlin
                                                                       was indescribably diverse,” she said to me. In the evening, one
                                                                       indulged in lobster, oysters and champagne at Potsdamer Platz
                                                                       or – just as today – in the ‘KaDeWe’. The Hotel Adlon was rated
                                                                       as Germany’s most exclusive hotel, it’s wine cellar unparalleled.
                                                                       With alcohol prohibition in the USA, the cocktail culture was
                                                                       booming. Jazz was all the rage. My grandmother’s free Sundays
                                                                       were her highlight, strolling in good weather down Unter den
                                                                       Linden boulevard towards the City Palace.
                                                                            A few years later, her world also fell apart. Inflation, dis­
                                                                       missal, abused by her new employer, a Baron von Riedesel, preg­
                                                                       nancy and thoughts of suicide. My father, her child, was born
                                                                       in 1928. He was given to foster parents in Hesse. Into his bag,
                                                                       my great­grandmother tucked a roughly carved wooden spoon.

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Published after Bruni’s return to New York, his pages of analysis
                                                                                                              of Berlin’s restaurant scene was headlined Sorry to Disappoint –
                                                                                                              and it set new benchmarks: “Before I went, everyone told me I’d
                                                                                                              be disappointed,” he wrote, “wished me the best of luck, said it
                                                                                                              was a real shame I wasn’t headed to Paris or Copenhagen or some
                                                                                                              other – any other – European capital of note.” And then: “Sorry
                                                                                                              to disappoint. I ate very well in Berlin.” More than that, he added,
                                                                                                              the cuisine was adventurous, a journey of discovery.
                                                                                                                   Berlin’s culinary breakthrough actually came around 2006.
                                                                                                              The city attracted throngs of young people, enthusiastic and of­
                                                                                                              ten very creative. Just as one hundred years before, they brought
© Gert Schütz/Landesarchiv Berlin

                                                                                                              flavours and foods with them, this time from across the world
                                                                                                              – falafel, hummus, empanadas, blinis, edible seaweed. The party
                                                                                                              mood during the 2006 World Cup in Berlin may have played its
                                                                                                              part, just as clarifying property ownership details in East Berlin
                                                                                                              also did. Affordable apartments and spaces were available, for
                                                                                                              restaurants as well – and new places opened, one after another.
                                                Café Marquardt im Hotel Kempinski, 1952                       It was as if cooking was suddenly liberated. Steamed escargots
                                               Café Marquardt at the Kempinski Hotel, 1952
                                                                                                              slithered on plates set on a ‘soil’ of dried olives, cocoa and walnut
                                                                                                              crumble. Strawberries, celery and leeks were transformed into
                                                                                                              desserts. The opening of the Pauly Saal in the restored former
                                                                                                              Jewish School for Girls in Mitte was spectacular. And in 2013 at
                                    My grandmother went underground, her mother disappeared.                  the Berlin state dinner in honour of the Obamas, chef Tim Raue
                                    Berlin lay in ruins. Dead horses were gutted, the bark eaten off          served dumplings with a foie gras filling and a sweet wine sauce.
                                    the trunks of the last trees. Stunde Null (Hour Zero) … but life               In a parallel development, the young team behind Kreuz­
                                    went on. In 1948­49, during the Berlin blockade, US pilots sent           berg’s Markthalle Neun food hall showed how the region around
                                    flour, coal and potatoes from the skies – and also chewing­gum            Berlin was again growing top vegetables and fruit, including some
                                    and chocolate. In her Charlottenburg snack bar, using up a spice          types almost forgotten.
                                    powder in tins left by British soldiers, Herta Heuwer had a mo­                Every year since then, Berlin’s chefs and restaurants have
                                    ment of genius – and invented the currywurst. Tiergarten Park             been producing surprises and creating a stir on the global stage.
                                    was used to grow vegetables. Even lacking butter and eggs, with           In 2019, the dominant flavours came from the Levante, from
                                    apple sauce as an ersatz in the dough, the layer cakes and cheese­        Israel, Syria, Iraq. And the ‘Potse’, Potsdamer Straße, Berlin’s
                                    cakes in Ku‘damm cafés were still tasty.                                  latest, hippest area, was home to most new restaurant openings.
                                         Berlin’s cuisine has always reflected the city, its mindset and      Joseph Roth would have been amazed. By the way, my grand­
                                    moods – and that’s what Frank Bruni also talked to me about.              mother liked the new Berlin. “Diversity is security,” she said.
                                    Waiting for him in the Joseph Roth Diele, I was nervous. For              At the end of her life, she lived near my father. He still had the
                                    five days, he’d been eating in Berlin’s restaurants including two         roughly­carved wooden spoon. When he died, it became mine.
                                    of today’s absolute top venues – Horvath and Tim Raue. “So,               And that spoon is in front of me now as I write.
                                    now the scathing critique!” I thought. In 2011, Berlin’s culinary
                                    scene did not enjoy a great reputation. After 1961, West Berlin           In her Charlottenburg snack
                                    was walled in; there was no access to fresh regional products. East
                                    Germany was in thrall to an economy of scarcity. After the Wall           bar, using up a spice powder
                                    fell in 1989, the culinary scene initially changed very little. It took
                                    time. First, luxury hotels opened and the Adlon was rebuilt. Then         in tins left by British soldiers,
                                    young chefs de cuisine in the hotels started attracting attention.
                                    Luxury products were flown in from France. But they were not              Herta Heuwer had a moment
                                    prepared better here than anywhere else. That special something
                                    was missing.                                                              of genius – and invented the
                                                                                                              currywurst.
                                                                                                                                                                                11
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

Unglaublic

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                        Cheesecake with Mürbeteig (left),
                        Dried Fruit Compote (top),
                        Matzo Fritters with Raspberry Syrup

                                                                     © Sonya Gropmann

12
ch lecker!
 Gabrielle Rossmer Gropman und Sonya Gropman,
 Mutter und Tochter aus den Vereinigten Staaten,
 haben das erste deutsch-jüdische Kochbuch seit 100

W
 Jahren geschrieben – eine Geschichte und Erinnerungen
 mit über 100 Rezepten.

 DAS INTERVIEW FÜHRTE AMELIE MÜLLER                         1945, erfuhr er, was mit ihnen geschehen war. Das war
                                                            wie ein Hintergrund, vor dem mein Leben stand. Mein
 Wie kamen Sie auf die Idee dieses Buch zu schreiben?       Vater gab mir die Aufgabe, die Erinnerung zu bewah­
 SONYA: Ich habe mich seit jeher sehr für das Kochen        ren. Als Bildhauerin befasste ich mich viel mit meiner
 interessiert. Ich wollte schon immer mal ein Kochbuch      Familiengeschichte, bis ich beschloss, dass ich keine
 schreiben. Irgendwann wurde mir bewusst, dass die          „Holocaust­Künstlerin“ sein wollte. In diese Schubla­
 Essensbräuche beider Seiten meiner Familie sich sehr       de wird man sonst leicht gesteckt. Also hörte ich auf,
 voneinander unterscheiden. Beide Seiten sind jüdisch,      zu diesem Thema zu arbeiten. Als die Idee mit dem
 aber die Eltern meiner Mutter sind aus Deutschland,        Kochbuch entstand, wusste ich, Sonya wollte es ma­
 die Eltern meines Vaters aus Osteuropa. Mir wurde          chen und wir kochen beide leidenschaftlich gern. Ich
 klar, dass kaum jemand etwas über deutsch­jüdische         dachte: „Nun arbeite ich mit Sonya weiter an meiner
 Küche weiß. Also kam ich auf die Idee, dieses Buch zu      Familiengeschichte.“ Es war eine Herausforderung
 schreiben, um die Rezepte zu erhalten, zu dokumen­         und eine Möglichkeit, die Geschichte der deutschen
 tieren und zu teilen – denn sie sind wirklich lecker!      Juden zu dokumentieren – eines Volkes, das in vielerlei
 Ich wusste sofort, dass meine Mutter und ich gemein­       Hinsicht in Vergessenheit geraten ist, sogar innerhalb
 sam an diesem Projekt arbeiten müssen. Sie ist in einer    der Jüdischen Gemeinschaft.
 deutsch­jüdischen Gegend in New York aufgewach­
 sen und hat von klein auf das für diese Kultur typische    Warum, meinen Sie, ist das so?
 Essen gegessen. Und sie spricht Deutsch. Zuerst sagte      GABRIELLE: Der allererste Grund sind die Zahlen. Wir
 sie nein. Aber ich ließ nicht locker, bis sie irgendwann   sind eine sehr kleine jüdische Minderheit. Außerdem
 endlich zustimmte.                                         wollte man nicht als Deutscher identifiziert werden.
 GABRIELLE: Ich bin mit meinen Eltern aus Deutsch­          Deutsch­jüdische Kultur wird eher zurückgezogen
 land geflohen, als ich ein Jahr alt war. Meine Großel­     gelebt. Man möchte nicht zu sichtbar sein oder Auf­
 tern väterlicherseits haben nicht überlebt. Es war eine    merksamkeit auf seine Kultur lenken.
 seltsame Situation: Ich wuchs behütet in New York          SONYA: Die Amerikaner machten da keinen Unter­
 City auf, während mein Vater in der Ungewissheit um        schied. Wenn sie einen deutschen Akzent hörten,
 das Schicksal seiner Eltern lebte. Erst nach dem Krieg,    dachten sie einfach: „Das ist ein deutscher Akzent.“

                                                                                                                13
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

Die jüdische Kultur ist seit jeher eine
nomadische. Überall, wo sich Juden
im Laufe der Geschichte niederließen,
haben sie die Küche ihres jeweiligen
Wohnortes übernommen.

Und Deutschland war der Feind. Viele Menschen                gerichte, die spezifisch jüdisch sind. Bestes Beispiel da­
pflegten ihre Traditionen zuhause, privat, und kochten       für ist Berches oder Barches, die deutsche Version von
die Gerichte, die sie in Deutschland gegessen hatten.        Challa, dem Brot, das jeden Freitagabend vor Beginn
Doch in vielerlei Hinsicht wollten sie sich anpassen         des Sabbat und an Feiertagen gesegnet und gegessen
und wie die „amerikanischen Juden“ werden.                   wird.

Was ist deutsch-jüdische Küche?                              Welche Quellen haben Sie für Ihr Buch genutzt?
SONYA: Die jüdische Kultur ist seit jeher eine nomadi­       GABRIELLE: Ungefähr die Hälfte der Rezepte in unse­
sche. Überall, wo sich Juden im Laufe der Geschich­          rem Buch kannte ich aus meiner Jugend. Die andere
te niederließen, haben sie die Küche ihres jeweiligen        Hälfte kam von Menschen, die wir interviewt haben,
Wohnortes übernommen. Einfach ausgedrückt könnte             oder aus deutsch­jüdischen Kochbüchern, die über­
man sagen, deutsch­jüdische Küche ist deutsche Kü­           wiegend um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20.
che. Aber wir haben sie in drei Unterkategorien un­          Jahrhundert geschrieben wurden. Am meisten haben
terteilt: Die erste besteht aus deutschen Gerichten, die     wir das Buch von Marie Elsasser benutzt...
nicht an die jüdischen Speisegesetze (Kaschrut­Re­           SONYA: … und das von Rebekka Wolf.
geln) angepasst werden mussten, da sie diesen ohnehin        GABRIELLE: Aber die handschriftlichen Aufzeichnun­
entsprachen, wie zum Beispiel Reisauflauf, Kartoffel­        gen meiner Großmutter waren auch recht hilfreich.
klöße, ...                                                   Als junges Mädchen hatte sie die Hauswirtschafts­
GABRIELLE: …und vor allem Kuchen und Gebäck.                 schule in München besucht. Daher besaß sie ein hand­
Denken Sie nur an Kaffee und Kuchen.                         geschriebenes Kochbuch, wie es auch viele der von uns
SONYA: Die zweite Kategorie waren deutsche Ge­               interviewten Frauen hatten.
richte, die an die Kaschrut­Regeln angepasst werden          SONYA: Alte Rezepte sind anders als moderne. Oft
mussten. Bei Sauerbraten beispielsweise werden oft           fehlen die Maß­ oder Temperaturangaben (in einem
Milchprodukte zur Sauce hinzugefügt. Dafür gibt es           Holzherd gibt es ja kein Thermometer). Auch wer­
dann eine jüdische Alternative ohne Milch. Eins der          den viele Techniken nicht extra erklärt, weil damals
besten Beispiele sind Wurst und Aufschnitt, wofür in         jeder kochen konnte. Deswegen konnten wir die al­
Deutschland hauptsächlich Schweinefleisch verwen­            ten Rezepte nicht einfach eins zu eins aus den alten
det wird. Hier gibt es viele unterschiedliche jüdische       Kochbüchern übernehmen. Wir mussten sie quasi neu
Varianten von Würsten aus Kalb­ und Rindfleisch. Die         entwickeln.
dritte Kategorie sind besondere Feiertags­ und Sabbat­

14
links left © the Rossmer family, rechts right © James Hull
        Gaby Rossmer mit ihrem Vater Stephen Rossmer            Sonya Gropman (links) und Gabrielle Rossmer Gropman (rechts)
   (geb. Rossheimer) in den 1940er Jahren im Fort Tryon Park           schrieben das Kochbuch als Mutter-Tochter-Duo
          im New Yorker Stadtteil Washington Heights.            Sonya Gropman (left) and Gabrielle Rossmer Gropman (right)
    Gaby and her father, Stephen Rossmer (neé Rossheimer),               wrote the book as a mother-daughter-team
      1940s, in Fort Tryon Park in the Washington Heights
                      neighborhood of NYC.

GABRIELLE: Bei einigen war das richtig schwierig, zum          Sie haben im Rahmen Ihrer Recherchen auch Interviews
Beispiel beim Apfel­Schalet mit Birnen. Dieses Rezept          geführt. Können Sie uns einige Beispiele nennen?
mussten wir vielleicht sechs, sieben Mal ausprobieren,         GABRIELLE: Hanna Zurndorfer war bemerkenswert.
bevor es uns gelang.                                           Wir haben sie getroffen, als sie bereits über 90 war.
                                                               Als junge Frau war sie ganz allein in die USA aus­
Woher wussten Sie, dass Sie den Originalgeschmack              gewandert, weil sie als Jüdin in Deutschland keine
gefunden hatten?                                               Ausbildung mehr machen konnte. Sie kam aus einer
GABRIELLE: Dank Geschmacksgedächtnis …. Als Moris,             Kleinstadt in Baden­Württemberg. In kleinen Orten
ein Freund von uns, der als Sohn von Überlebenden              bewahrten die Juden oft mehr von ihren Traditionen
im US­Bundestaat Minnesota aufwuchs, bei uns zum               als Juden in den Städten (so wie meine Familie bei­
Seder am Vorabend des Pessach­Festes eingeladen war            spielsweise, die in Stadt gezogen war und schon seit
und eine Vorspeise mit Karpfen (wenn auch kein „Ge­            einigen Generationen nicht mehr koscher gegessen
fillte Fisch“) auf den Tisch kam, erstrahlte er. Er er­        hatte). Hanna aber aß nach wie vor koscher, und sie
kannte den Geschmack sofort von seiner Mutter, und             bereitete ihr ganzes Leben lang weiter all jene tradi­
sein Geschmacksgedächtnis war uns sehr von Nutzen.             tionellen Gerichte zu. Freitags gab es immer noch
SONYA: Ein anderes gutes Beispiel ist Krautsalat. Wir          Karpfen nach einem eigenen, sehr komplizierten Re­
fanden das handschriftliche Rezept meiner Urgroß­              zept, das sie mit uns nachgekocht hat. Es war übrigens
mutter in ihrem Notizbuch. Aber als meine Mutter               ziemlich schwierig, in New York einen Karpfen für
es dementsprechend zubereitete, schmeckte es nicht             sie aufzutreiben (früher war das viel einfacher). Die
so, wie sie es aus ihrer Kindheit kannte. Offenbar             Zubereitung dieses Gerichts mit Hanna war eine sehr
mochte meine Urgroßmutter keine Zwiebeln. Und                  intensive Erfahrung, da sie sich auf eine mehrere hun­
obwohl Zwiebeln Bestandteil des Rezepts waren,                 dert Jahre alte Tradition stützte und eine der Letzten
verzichtete sie darauf. Meine Mutter musste sich auf           auf der Welt war, die das Gericht so noch zubereitete.
ihr Geschmacksgedächtnis verlassen, um das Rezept              SONYA: Ein weiteres beeindruckendes Interview haben
zu rekonstruieren. Alle lieben es; es ist so einfach und       wir in Bamberg mit einer Frau namens Emmy Zink
trotzdem unglaublich lecker!

                                                                                                                           15
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

Alte Rezepte sind
anders als moderne.

geführt. Sie war selbst Christin, ihre Familie hatte aber    Weincreme zum Nachtisch. Sie schmeckt sehr nach Zi­
für eine wohlhabende jüdische Familie gearbeitet, ihre       trone und ist äußerst lecker. Und Zwetschgenkuchen!
Mutter als Köchin. Sie konnte sich an viele Dinge er­        Jeder deutschstämmige Jude, mit dem wir gesprochen
innern, als wären sie gestern geschehen, beispielsweise      haben, hatte eine Großmutter, die Zwetschgenkuchen
an das Stopfen einer lebendigen Gans und andere Din­         bzw. Pflaumenkuchen gebacken hat.
ge, die für uns sehr hilfreich waren.
                                                             Wo ist Ihr Buch erhältlich?
Ihre Familie kommt aus Bamberg, aber enthält Ihr             GABRIELLE: In den USA kann man es im Buchhan­
Buch auch Berliner Rezepte?                                  del und online kaufen. In Deutschland ist das Buch
GABRIELLE: In Berlin waren die Juden viel stärker as­        noch nicht erschienen, aber den englischen Titel
similiert als anderswo. Es gab dort sehr viele Juden.        kann man auf Amazon.de bestellen. Es gibt auch eine
Ich bin sicher, dass viele koscher aßen, aber die Mehr­      E­Book­Version.
heit es nicht tat und auch andere jüdische Traditionen       SONYA: Wir haben das Buch mit verschiedenen Veran­
aufgegeben hatte. Eine Frau, die aus Berlin kam, hat         staltungen in Deutschland vorgestellt und hatten den
uns ein hervorragendes Rezept für Heringssalat gege­         Eindruck, dass das Thema bei Deutschen auf großes
ben. Das ist typisch für Berlin, denke ich. Mit regio­       Interesse stößt (bei Juden und Nichtjuden gleicherma­
nalen Besonderheiten haben wir uns nicht im Detail           ßen). Wir hoffen deshalb, dass es bald eine deutsche
befasst, denn obwohl all unsere Gesprächspartner aus         Ausgabe geben wird.
verschiedenen Teilen Deutschlands kamen, hatten sie
doch mehr oder weniger dieselben Gerichte. Nur bei                             Weitere Informationen:
der Zubereitung gab es kleinere Unterschiede.                              www.germanjewishcuisine.com
                                                                          Facebook: German Jewish Cuisine
                                                                             Twitter: @Ger_Jew_Cuisine
Welche Reaktionen gab es nach der Veröffentlichung                      Instagram: #GermanJewishCookbook
des Buchs?
GABRIELLE: Viele Leser haben genauso positiv auf die
Geschichte und die Erinnerungen reagiert wie auf
die Rezepte. Sie haben auch betont, wie wenig über
deutsch­jüdische Geschichte bekannt ist. Oft waren
sie davon fasziniert.
SONYA: Seit der Veröffentlichung unseres Buches sind

                                                            Very
wir durch die USA und Deutschland getourt. Wir ha­
ben viele positive Rückmeldungen erhalten, sowohl
von deutschstämmigen Juden, die schon lang in Ver­
gessenheit geratene Lieblingsgerichte aus ihrer Kind­
heit wiederentdecken, als auch von Menschen, die das
erste Mal mit dieser Küche in Berührung kommen.

Was sind Ihre Lieblingsgerichte? Können Sie uns etwas
empfehlen?
GABRIELLE: In unserer Familie sind die Kartoffelklö­
ße sehr beliebt. Sonya mag den Kartoffelsalat meines
Vaters, und auch den Krautsalat. Ich persönlich mag

16
© Sonya Gropmann

                   Apfel Schalet mit Birnen: dieses Gericht wurde
                   traditionell als milchiges Abendessen gegessen
                   Baked Apple Pudding with Pears: This dish was
                   traditionally eaten as a dairy meal in the evening

delicious!                                                              17
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

Gabrielle Rossmer Gropman and Sonya                                   SONYA: Americans didn’t know the difference. If they heard a

Gropman, mother and daughter from                                     German accent, they just thought “It’s a German accent”. And

H
                                                                      Germany was the enemy. Many people continued their traditions
the United States, have written the first                             at home, privately, cooking the dishes they had eaten in Germa­
German-Jewish cookbook in a century                                   ny. But in many other ways they just wanted to assimilate and

– a history and memoir with over 100                                  become like “American Jews”.

recipes.                                                              So tell us – What is German Jewish cuisine?
                                                                      SONYA: Jewish culture has always been nomadic. Over history,
                                                                      wherever Jews settled, they adopted the cuisine of the place they
INTERVIEWED BY AMELIE MÜLLER                                          were living. So the simple answer is that German Jewish food is
                                                                      German food, but we’ve broken it down into three subcategories.
How did you come up with the idea of writing this book?               The first were just German recipes that did not need to be adapted
SONYA: My whole life I’ve had a strong interest in cooking. I’ve      for kosher law because they were fine as they were. Things like
always had the idea that I’d like to write a cookbook. At a certain   Reisauflauf (Rice Soufflé), Kartoffelklöße (Potato Dumplings)…
point I realized that the food traditions of the two sides of my      GABRIELLE: …and most importantly all the cakes and pastries.
family were very different. Both were Jewish but my mother’s          Think of Kaffee und Kuchen.
parents were from Germany, my father’s parents were from East­        SONYA: The second category were German recipes that did have
ern Europe. I realized that nobody really knows about German          to be adapted because of kosher (kashrut) law. For example, Sau­
Jewish food. So I had the idea that we should write this book as      erbraten often has dairy in the sauce, so there is an alternate Jew­
a way of preserving the recipes, documenting them and sharing         ish version made without dairy. One of the biggest examples is
them because they are very delicious. I immediately knew it had       Wurst und Aufschnitt (sausage and cold cuts) which in Germany
to be a project my mother and I worked on together. She grew          are 99.9 percent pork. There were many different Jewish versions
up eating the traditional food in a New York neighbourhood that       of sausages made with veal and beef instead. The third category
was very German Jewish. And she speaks German. At first, she          covers special holiday and Shabbos dishes, which are specifically
said no. I kept asking her over and over and finally she said yes.    Jewish. The best example is Berches (or Barches), the German
GABRIELLE: I left Germany as a refugee with my parents when I         version of Challa, the bread blessed and eaten every week on
was one year old. My grandparents on my father’s side did not         Friday night for the beginning of the Shabbos and on holidays.
survive. So this was a strange thing: having a very secure child­
hood in New York City, but knowing in the background that my
father was wondering what happened to his parents until 1945,
                                                                      Jewish culture has always been
after the war, when he did find out. It was a background of my life
and my father gave me the task of remembering. As a sculptor I
                                                                      nomadic. Over history, where-
did a lot of work about my family history until I decided I didn’t
want to be known as a “Holocaust artist”. People would classify
                                                                      ver Jews settled, they adopted
you in that way, so I stopped making that body of artwork. When
the cookbook idea came up I knew Sonya wanted to do it and we
                                                                      the cuisine of the place they
both love to cook. I thought: “I’m going to continue with Sonya
this theme of working with my family history”. It was a challenge
                                                                      were living.
and a continuation of documenting the history of a people, the
German Jews, which is forgotten in many ways, even within the         What were your sources for the book?
Jewish community.                                                     GABRIELLE: About 50 percent of the recipes in our book are rec­
                                                                      ipes I knew from my younger life. The other 50 percent percent
Why do you think that is?                                             came from other people we interviewed and from German Jewish
GABRIELLE: The very first reason is numbers. We are a very small      cookbooks mostly written around the turn of the nineteenth to
minority of Jews. Also German­Jewish people didn’t want to be         the twentieth century. Marie Elsasser’s is the book we used the
identified as German. And German­Jewish culture is very re­           most...
tiring; people don't want to be too visible or call attention to      SONYA: …and Rebekka Wolf.
themselves.

18
GABRIELLE: But also my grandmother’s handwritten book was
somewhat useful. She went to a cooking school in Munich as
a young girl and she had a handwritten cookbook, something
many women we interviewed also had.
SONYA: Old recipes are not like modern recipes. They don’t usu­
ally include quantities, or tell you a temperature (if you have a
wood burning stove there’s no thermometer). There’s also a lot
of technique they leave out since everybody knew how to cook.
So we did not just take recipes out of old books and put them in
our book – we really had to develop those recipes.
GABRIELLE: Some were really difficult, like Apfel Schalet mit Bir­
nen (Baked Apple Pudding with Pears). We had to test this recipe
maybe six or seven times before we got it right.

                                                                                                                                              © Sylvie Michel
How did you know when you’d found the original taste?
GABRIELLE: Taste memory. When our friend Moris from Minne­
sota, a child of survivors, was a guest at our Passover seder and
we served a carp appetizer, even though not gefillte fish, his face         Im März 2015 gaben Sonya und Gaby einen Kochkurs
                                                                       über deutsch-jüdische Küche bei Goldhahn & Sampson in Berlin.
lit up. The taste was immediately familiar to him and his taste          Die Teilnehmer kochten ein Seder Menü, das anschließend
memory was very helpful to us.                                           gemeinsam verzehrt wurde. Hier sieht man die Herstellung
                                                                                von Grimsele und Weinsauce für das Dessert.
SONYA: Another great example of taste memory is Krautsalat
                                                                         Sonya and Gaby taught a German-Jewish cooking class at
(Cabbage Slaw). We found my great grandmother’s recipe in               Goldhahn & Sampson in Berlin, March, 2015. The class cooked
her handwritten book, but when my mother made it that way               a seder menu, then sat down at a long table to eat together.
                                                                       Here, students are frying Matzo Fritters (Grimsele) and making
it didn’t taste as she remembered from her childhood. My great
                                                                                 Wine Sauce to accompany them for dessert.
grandmother apparently did not like onions. Even though onions
were included in the recipe, she didn’t use them. My mother had
to use her taste memory in order to recreate the recipe. Every­
body loves it, it’s so easy and simple but very delicious!            You said you interviewed people during your research. Can you
                                                                      give us some examples?
                                                                      GABRIELLE: Hanna Zurndorfer, whom we met when she was in
                                                                      her nineties, was quite remarkable. She came to the US alone as
                                                                      a young woman because as a Jew she couldn’t continue her edu­
                                                                      cation in Germany. She came from a small town in Baden­Würt­
                                                                      temberg. In small places, Jews kept more of their traditions than
                                                                      those who moved to cities (for example, my family had moved
                                                                      to the city and hadn’t been kosher for a couple of generations).
                                                                      But Hanna was, and she continued making all of those traditional
                                                                      foods throughout her life. She still made Karpfen (carp) for Fri­
                                                                      day night, a very complicated recipe that she made with us. We
                                                                      had a very hard time actually finding a carp in New York City for
                                                                      her to use (it used to be much easier). It was a very intense experi­
                                                                      ence working on the carp with Hanna because she had hundreds
                                                                      of years of background with it and she was one of the few people
                                                                      left in the world doing it.

                                                                                         „The German-Jewish Cookbook:
                                                                                     Recipes & History of a Cuisine” enthält
                                                                                                  100 Rezepte
         © Sonya Gropman

                                                                                       “The German-Jewish Cookbook: Rec-
                                                                                      ipes & History of a Cuisine” contains
                                                                                                   100 recipes

                                                                                                                                        19
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

                                                                                         We hope to publish a German
                                                                                         edition in the near future.
© Sonya Gropman

                  Dreierlei Gemüse: Gurkensalat (links), Rote Beete und Sellerie-Salat
                         mit Kresse (rechts), Gelbe Rüben mit Petersilie (unten)
                  Three Vegetables: Cucumber Salad (left), Beet and Celery Root Salad
                         with Watercress (right), Carrots with Parsley (bottom)

                  SONYA: Another incredible interview was with a woman named             they haven’t eaten in many years, as well as from people who are
                  Emmy Zink in Bamberg. She was Christian, but her family had            discovering this cuisine for the first time.
                  worked for a wealthy Jewish family. Her mother did a lot of
                  cooking for them and she remembered many things as if they’d           What are your favorite dishes? Any recommendations?
                  happened yesterday, including how to prepare a live goose, and         GABRIELLE: In our family people were very partial to Kartof­
                  other memories that were helpful to us.                                felklöße (Potato Dumplings). Sonya loves the potato salad that
                                                                                         my father made and the Krautsalat (Cabbage Slaw). I am very
                  Your family is from Bamberg. Does your book also include Jewish        partial to the winecream as a dessert. It’s very lemony and very
                  food from Berlin?                                                      delicious. And Zwetschgenkuchen (Plum Cake). Every German
                  GABRIELLE: In Berlin, Jews were much more assimilated than in          Jew we talked to had a grandmother who made Zwetschgen­
                  other places. Berlin had a lot of Jews. I’m sure there were nu­        kuchen or Pflaumenkuchen.

                                                                                                                                                               D
                  merous Jews who were kosher, but there were more who weren’t
                  and who also rejected a lot of Jewish traditions. A woman who          Where can people buy your book?
                  was a Berliner gave us a very good herring salad recipe, which         GABRIELLE: In the US it can be ordered from and purchased at
                  I think would be typical for the city. We didn’t really research       local bookshops or online. The book is not published in Ger­
                  regionality. We found that while everybody we talked to came           many yet, but the English language edition can be ordered from
                  from different parts of Germany, they all basically had the same       Amazon.de. There is also an eBook version.
                  foods. They just made them a little differently.                       SONYA: We’ve done various book events in Germany. From our
                                                                                         experience, it seems to feel very relevant and is of great interest
                  What reactions have you had to the book?                               to Germans (both Jews and non­Jews alike). We hope to publish
                  GABRIELLE: Many readers respond as positively to the history           a German edition in the near future.
                  and memoir as to the recipes. They point out how little known
                  German­Jewish history is. And they often seem fascinated by it.                                More information:
                  SONYA: Since our book was published we have done many events                             www.germanjewishcuisine.com
                                                                                                          Facebook: German Jewish Cuisine
                  around the US and in Germany. There have been very positive
                                                                                                             Twitter: @Ger_Jew_Cuisine
                  reactions to it, both from people of German­Jewish background                         Instagram: #GermanJewishCookbook
                  who rediscover much­loved dishes from their childhood that

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links left © gemeinfrei, rechts right © Amelie Müller
      Die Räumlichkeiten waren mit zahlreichen Bildern,              Heute ist der Ratskeller eine öffentliche Kantine
         Ornamenten und Trinksprüchen geschmückt                        Today, the Ratskeller is a public canteen
     The rooms were decorated with an array of pictures,
              ornaments and drinking toasts

„Auch der Weinver-
kauf ist ein sehr
starker gewesen“

D
Vor 150 Jahren wurde im Ratskeller des                     immer von Neugierigen überfüllt. Schon morgens um
Roten Rathauses das erste Bier gezapft.                    9 Uhr finden sich schaarenweise die Gäste ein, und
                                                           Nachts um 12 Uhr, zu welcher Zeit der Keller stets
Eine Berliner Institution im Wandel der                    geschlossen wird, ist noch kaum ein Stuhl leer. Am
Zeit.                                                      Eröffnungstage haben nach der ungefähren Zählung
                                                           des Wirths gegen 80,000 Menschen den Keller passirt,
                                                           81 Tonnen Bier sind ausgeschenkt und 4100 Portionen
VON AMELIE MÜLLER, SENATSKANZLEI BERLIN                    Essen verkauft worden. Auch der Weinverkauf ist ein
                                                           sehr starker gewesen.“
Der Bau des Roten Rathauses war noch nicht vollen­             Der Ratskeller machte ein Viertel des Unterge­
det, als am 5. Oktober 1869 der Ratskeller feierlich er­   schosses aus und erstreckte sich entlang der Vorder­
öffnet wurde. Es war ein gesellschaftliches Großereig­     front des Gebäudes an der damaligen Königsstraße. Er
nis. Die Berliner Gerichts­Zeitung bilanzierte wenige      war in ein Weinlokal und ein Bierlokal unterteilt. Bei­
Tage später: „Der neueröffnete Rathskeller ist noch        de boten ein vielfältiges Angebot, im Bierlokal etwa

                                                                                                                         21
SCHWERPUNKT: BERLIN FÜR FEINSCHMECKER IN FOCUS: BERLIN FOR FOODIES

81 Tonnen Bier sind ausge-
schenkt und 4100 Portionen

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Essen verkauft worden

                                                                                                                              O
                                                                                 Das Rote Rathaus
                                                                                 The Red Town Hall

konnte der Gast zwischen 70 verschiedenen Biersor­           Unter den Nationalsozialisten wurde der Ratskeller
ten wählen. Verbunden waren die beiden Lokale über           1934 vollständig renoviert, wobei die vielen Reime
ein reich verziertes Rondell, den Glanzpunkt des gan­        und Trinksprüche überstrichen wurden.
zen Ratskellers, in dem je nach Wunsch Bier oder Wein             Im Zweiten Weltkrieg wurde das Rathaus durch
genossen werden konnte.                                      Luftangriffe und Artilleriebeschuss schwer beschä­
     Neben zahlreichen Wandbildern und Ornamen­              digt und zur Ruine. Der Wiederaufbau als Sitz des
ten waren alle Räume auch mit Sinn­ und Trinksprü­           Ost­Berliner Oberbürgermeisters dauerte bis 1955.
chen verziert, die der Humorist und Schriftsteller Ru­       Danach vergingen noch mehrere Jahre, bis 1964 auch
dolf Löwenstein zusammengestellt hatte. Sie fanden           das Ratskeller­Restaurant seine Pforten wieder öffnete
großen Beifall und gingen teilweise in den Volksmund         – weiterhin unterteilt in Bier­ und Weinrestaurant. Ein
über. Einige Beispiele: Gut gekaut ist halb verdaut. –       traditionelles Berliner Lokal, gutbürgerliche Küche,
Man steht doch nicht auf einem Bein, drum schenk das         gehobene Ausstattung, allerdings mit sozialistischen
zweite Glas dir ein. – Alle wissen guten Rath, nur der       Preisen. Dort kochte der Koch persönlich am Tisch,
nicht, der ihn nöthig hat.                                   ob für Arbeiter oder Professor.
     Der König besuchte den Keller im Dezember                    1991 wurde der Ratskeller als solcher geschlos­
1869 und viele illustre Gäste sollten in den nächsten        sen. 1999 wurde eine Hälfte des Kellers mit der Hotel
Jahrzehnten folgen. Der Chronik ist zu entnehmen,            Akademie Berlin als Kantine der Senatskanzlei wie­
dass sich hier namhafte Berliner Persönlichkeiten am         dereröffnet. Seit 2004 wird sie von der gemeinnützigen
Stammtisch trafen, zum Beispiel der berühmte Arzt            Union Sozialer Einrichtungen geführt, die mit ihrem
Rudolf Virchow und die Maler Adolph Menzel und               inklusiven Profil behinderten und benachteiligten
Max Liebermann.                                              Menschen einen Arbeitsplatz gibt. Montags bis frei­
     Im Laufe der Jahrzehnte wurde die Dekoration            tags werden 450 bis 500 Personen mit Mittagessen ver­
des Ratskellers mehrmals verändert, ohne den urig­hu­        sorgt, darunter viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
moristischen Charakter zu verlieren. 1922 wurden             der Senatskanzlei. Auch Klassiker stehen gelegentlich
beispielsweise Wappen von 84 deutschen Städte an­            auf dem Speiseplan: Senfeier, Königsberger Klopse,
gebracht, die mit scherzhaften Sprüchen und Dar­             Kasslerbraten.
stellungen der jeweiligen Stadt umschmückt waren.

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