Akut bedrohliche Blutungen unter neuen Antikoagulanzien (Melagatran, Fondaparinux): diagnostisches und therapeutisches Management
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Originalie Akut bedrohliche Blutungen unter neuen Antikoagulanzien (Melagatran, Fondaparinux): diagnostisches und therapeutisches Management JÜRGEN KOSCIELNY1, HOLGER KIESEWETTER1, REINHARD LATZA1, JOB HARENBERG2, 1 INSTITUT FÜR TRANSFUSIONSMEDIZIN, CAMPUS CHARITÉ MITTE, BERLIN, 2 IV. MEDIZINISCHE KLINIK, UNIVERSITÄTSKLINIKUM MANNHEIM, MANNHEIM Die Stufenkonzepte zur Behandlung von Über- Insbesondere die blutstillende Therapie der dosierungen und Blutungskomplikationen unter schweren bzw. akut (lebens-)bedrohlichen Blu- neuen Antikoagulanzien orientieren sich an tungskomplikationen kann für den Kliniker den Behandlungsschemata für konventionelle problematisch sein. Kasuistiken, offene Unter- Antikoagulanzien wie Vitamin-K-Antagonisten, suchungen an gesunden Probanden und sogar unfraktionierte und niedermolekulare Heparine Tierexperimente sind zumeist die Grundlage und an der Pathophysiologie der jeweiligen für eine blutstillende Therapie bei akut bedroh- Substanzen. lichen Blutungen unter neuen Antikoagulanzien (Exanta®, Arixtra®). Die Handlungsanweisungen Intoxikationen können durch bewusste oder der derzeitigen Fachinformationen der neuen akzidentielle Überdosierungen entstehen und Antikoagulanzien sind daher nicht ausreichend. ohne oder mit klinischen Symptomen einher- In der Regel ist die blutstillende Therapie mit gehen. Die häufigsten Komplikationen unter gerinnungsaktiven Substanzen wie rFVIIa (Novo- Antikoagulanzien sind Blutungen. Dabei unter- Seven®) oder aPCC (Feiba®) eine „Off-label“- scheidet man zwischen leichten, mittelschweren Anwendung. und schweren bzw. akut (lebens-)bedrohlichen Blutungen. Vorgehen bei Tabelle 1: Antagonisierung bei NMH-Überdosierung [3-8] Blutungskomplikationen (Mono-)Embolex® NM (Certoparin): Für die unfraktionierten Heparine (UFH) steht 1 mg Protaminhydrochlorid neutralisiert 50 Anti-Xa-Einheiten bei weiterhin hoher Anti-Xa-Restaktivität (>50% ) Protaminchlorid als Antidot zur Verfügung, Fragmin® P / Forte (Dalteparin): welches eine vollständige Antagonisierung erlaubt [24]. Die niedermolekularen Heparine 25 mg Protamin(hydrochlorid) neutralisieren 2.500 Anti-Xa-Einheiten (1 mg Protamin(hydrochlorid) neutralisiert 100 Anti-Xa-Einheiten) (NMH) werden durch Protaminchlorid bzw. bei weiterer Anti-Xa-Restaktivität von 50% -sulfat nur unvollständig bezüglich ihrer antiko- Clexane® (Enoxaparin): agulatorischen Wirkung (Anti-Xa-Effekt) neu- 1 mg Protaminhydrochlorid oder -sulfat neutralisiert 100 Anti-Xa- tralisiert (Tab. 1) [11, 12, 14, 15, 16, 17, 25]. Einheiten bei weiterer Anti-Xa-Restaktivität von 40% Fraxiparin® (Nadroparin): Protaminderivate wirken ihrerseits bei Über- 6 mg Protaminsulfat neutralisieren 0,1 ml (950 Anti-Xa-Einheiten) dosierung antikoagulatorisch [28]. Hierdurch (1 mg Protaminsulfat neutralisiert 158 Anti-Xa-Einheiten) können diese Substanzen selbst Blutungen bei weiterer Anti-Xa-Restaktivität von 25% hervorrufen. Außerdem sind allergische Clivarin® (Reviparin): Reaktionen bei intravenöser Applikation von 1 mg Protaminhydrochlorid neutralisiert 82 Anti-Xa-Einheiten Protaminderivaten möglich [24, 25, 28]. bei weiterhin hoher Anti-Xa-Restaktivität (>50% ) Innohep® (Tinzaparin): 1 mg Protaminsulfat neutralisiert 100 Anti-Xa-Einheiten bei weiterer Anti-Xa-Restaktivität von 40–60% 28 VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10
Unter der Behandlung mit Vitamin-K-Antago- Blutungsrisiken der wichtigsten nisten (Marcumar®, Falithrom®, Coumadin®) Vitamin K antagonisiert erst lassen sich schwere Blutungskomplikationen Antikoagulanzien binnen vier bis acht Stunden durch eine intensive Kontrolle (Einstellungs- und ist damit für akute bereich) der oralen Antikoagulation vermeiden. lebensbedrohliche Blutungen Die Kontrolle umfasst [38]: Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die schwer- nicht suffizient. wiegenden Blutungsrisiken der „klassischen” - INR-Einstellung zwischen 2 und 3 und neuen Antikoagulanzien [34, 38]. - Kontrolle über „Point of Care Monitor” mit oder ohne Selbstmanagement. Unfraktionierte (UFH) und niedermolekulare Heparine (NMH): Blutungskomplikationen, sowohl leichte als auch schwere, werden durch eine Kombination von Häufigste Nebenwirkung der Heparine sind oralen Antikoagulanzien und Acetylsalicylsäure Blutungskomplikationen. Unter UFH beträgt die (z. B. 100 mg) verstärkt [37]. Vitamin K antago- Rate schwerer Blutungskomplikationen bis zu nisiert erst binnen vier bis acht Stunden und ist 3%, unter NMH um 2%, je nach eingesetztem damit für akute lebensbedrohliche Blutungen Präparat [38]. Leichte Blutungskomplikationen nicht suffizient. Daher werden, z. B. bei akuten finden sich bei 10% der mit UFH behandelten intrazerebralen Blutungen, PPSB-(Prothrombin- Patienten und bei bis zu 5% der NMH-Patienten komplex)-Präparate eingesetzt [22, 39]. Die (therapeutische Dosierung, z. B. Initialtherapie Gabe von GFP (gefrorenes Frischplasma) ist eben- einer venösen Thromboembolie). Die Ausbildung falls möglich. Der Patient ist dabei durch eine einer Blutungskomplikation ist von verschiede- Hypervolämie nicht zusätzlich zu gefährden [39]. nen Faktoren abhängig [38]: Wie für die meisten zugelassenen Antikoagu- - Alter über 70 Jahre lanzien steht für direkte Thrombininhibitoren - Niereninsuffizienz (GFR < 30 ml/min) wie Lepirudin, Desirudin, Bivalirudin, Argatroban - therapeutischer Einstellungsbereich und Melagatran und dem indirekten Anti-Xa- (Verlängerung der aPTT unter UFH) Inhibitor Fondaparinux kein unmittelbar wirk- - Injektionsform (s.c. oder i.v. bei UFH) sames, direktes Gegenmittel (Antidot) zur klini- - Begleitmedikation (z. B. Acetylsalicylsäure, schen Anwendung zur Verfügung [38]. GP-IIb/IIIa-Rezeptoren-Antagonisten) Tabelle 2: Schwere Blutungskomplikationen unter Antikoagulation (in therapeutischer Dosierung) [38] Eptifibatid bis 10,8% (lebensbedrohlich 1,8%) Orale AK bis 5% 1,6 – 3,8% / Jahr UFH bis 3% Lepirudin bis 3% (lebensbedrohlich 0,4%*) Melagatran 1,1 – 2,4% 1,3 – 2,4% / Jahr NMH (präparateabhängig) bis 2% 1,5% / Jahr Fondaparinux 1,1 – 1,3% (*Blutungen mit nachfolgendem operativen Eingriff, transfusions- pflichtige Blutungen > 4 Transfusionseinheiten) VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 29
Originalie JÜRGEN KOSCIELNY1, HOLGER KIESEWETTER1, REINHARD LATZA1, JOB HARENBERG2, 1 INSTITUT FÜR TRANSFUSIONSMEDIZIN, CAMPUS CHARITÉ MITTE, BERLIN, 2 IV. MEDIZINISCHE KLINIK, UNIVERSITÄTSKLINIKUM MANNHEIM, MANNHEIM Vitamin-K-Antagonisten (VKA): Hirudine und Argatroban: Häufigste Nebenwirkungen der Cumarin-Deri- Schwere Blutungen (intrakranielle Blutungen, vate sind ebenfalls Blutungskomplikationen. Blutungen mit nachfolgendem operativen Tödliche, meist intrazerebrale Blutungen treten Eingriff, transfusionspflichtige Blutungen > 4 mit einer Häufigkeit von1/500 Behandlungsjahre Transfusionseinheiten, tödliche Blutungen) unter auf [2, 38]. Risikofaktoren für Blutungskompli- Lepirudin kommen mit einer Häufigkeit von bis kationen sind [38]: zu 0,4% in den prospektiven Untersuchungen wie z. B. der OASIS-2-Studie vor [7]. Tödliche - Alter über 65 Jahre Blutungen traten bei 0,1% der Patienten unter Die Rate der Blutungskom- - zerebrale Ischämie in der Anamnese Lepirudin-Behandlung auf [7]. plikationen drei Monate - gastrointestinale Blutung in der Anamnese nach Beendigung einer - Anämie oralen Antikoagulation - Kreatinin > 1,5 mg % Melagatran (Langzeitanwendung): beträgt ohne diese Risiko- - Diabetes mellitus faktoren etwa 3%. - Herzinfarkt innerhalb der vergangenen In der THRIVE-III-Studie finden sich bei 1,3% der vier Wochen Patienten in der Melagatran-Gruppe schwere Blutungen; tödliche Blutungen kamen nicht vor Die Rate der Blutungskomplikationen drei Mona- [6, 31, 34, 38]. In der SPORTIF-III-Studie betrug te nach Beendigung einer oralen Antikoagu- die Rate größerer Blutungen 1,3% pro Jahr und lation beträgt ohne diese Risikofaktoren etwa in der SPORTIF-V-Studie 2,4% pro Jahr jeweils 3%. Liegen ein oder zwei dieser Risikofaktoren in der mit Melagatran behandelten Patienten- vor, steigt das Blutungsrisiko auf 12% und bei gruppe [34]. drei bis vier Risikofaktoren auf 48% innerhalb eines Jahres. Nach 48 Monaten nimmt die Rate dagegen wieder ab: Schwere und lebensbedroh- Fondaparinux (Therapiedosis): liche Komplikationen sind um den Faktor 7 und tödliche Blutungskomplikationen um den Faktor In den Studien mit therapeutischer Dosierung 70 niedriger als im Einjahreszeitraum [2, 38]. werden schwere Blutungen in 1,1% bzw. 1,3% der Fälle beobachtet; tödliche Blutungen traten unter Fondaparinux in therapeutischer Dosie- rung jeweils nicht auf [4, 5]. 30 VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10
Welche Patienten haben unter Schwere bzw. akut Zu den schweren bzw. den neuen Antikoagulanzien ein (lebens-)bedrohliche akut (lebens-)bedrohlichen erhöhtes Komplikationsrisiko? Blutungskomplikationen Blutungskomplikationen zählen Bluterbrechen, Blut- husten und Blutungen in Für eine erhöhte oder überschießende Reaktion Allgemeine Maßnahmen innere Organe mit einem auf Fondaparinux oder Melagatran kommen transfusionswürdigen Hämo- bestimmte Risikokonstellationen in Frage. Da Zu den schweren bzw. akut (lebens-)bedrohlichen globin-Abfall um minde- Melagatran per Indikation in fixer Dosis verab- Blutungskomplikationen zählen Bluterbrechen, stens 2g/dl. reicht und nicht metabolisiert renal eliminiert Bluthusten und Blutungen in innere Organe mit wird, kann es bei nachfolgend genannten einem transfusionswürdigen Hämoglobin-Abfall Patienten zu einem erhöhten antikoagulatori- um mindestens 2g/dl. Besonders zu erwähnen schen Effekt kommen [6, 10, 13, 31, 36, 40]: sind intrazerebrale, intraokuläre und retroperito- neale Blutungen. Diese Komplikationen führen - Patienten mit einer eingeschränkten Kreatinin- bei den betroffenen Patienten alle zu Kreislauf- Clearance (< 30 ml/min) in Form einer chroni- reaktionen, die über einen Arzt oder Facharzt schen oder intermittierenden Erkrankung eine Klinikeinweisung erforderlich machen. Für bzw. unter verschlechterter Nierenfunktion schwere und lebensbedrohliche Blutungskompli- bei interkurrenten Erkrankungen kationen unter Antikoagulanzien liegen Standards - Patienten mit einem Körpergewicht (KG) von zur Therapie vor [38, 39]. weniger als 45 bis 50 kg - gleichzeitige Anwendung von Acetylsalicyl- Eine Kontrolle der Kreislaufparameter und even- säure und anderen Schmerzmitteln aus der tuelle Stabilisierung des Kreislaufs durch Infu- Klasse der nicht steroidalen Entzündungs- sionslösungen und kreislaufstabilisierende Medi- hemmer (NSAID) oder anderer Thrombozyten- kamente ist indiziert. Die Werte von Hämoglobin, funktionshemmer wie z. B. Clopidogrel Kreatinin, Leberenzymen (GOT, GPT) sowie die - gleichzeitige Anwendung von Desirudin, Thrombozytenzahl, Prothrombinzeit und aPTT Fibrinolytika, GP-IIb/IIIa-Rezeptor-Antagonisten, müssen bestimmt werden. In Abhängigkeit von Heparinen, Heparinoiden oder nieder- der Lokalisation der Blutung erfolgt eine Diag- molekularen Heparinen (NMH) nostik mittels Endoskopie, Ultraschall oder Com- putertomografie und möglichst rasch eine lokale Blutstillung, sofern dies möglich ist. Unter Fondaparinux-Gabe sind folgende zusätzliche Risikofaktoren zu ergänzen: Des Weiteren ist die Antikoagulanzien-Gabe zu unterbrechen oder abzusetzen [10, 13]. - schwerwiegende Leberfunktionsstörungen Das Einsetzen einer blutstillenden Therapie mit und spezifischen Maßnahmen ist im Einzelfall zu - Alter über 75 Jahre erwägen. VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 31
Originalie JÜRGEN KOSCIELNY1, HOLGER KIESEWETTER1, REINHARD LATZA1, JOB HARENBERG2, 1 INSTITUT FÜR TRANSFUSIONSMEDIZIN, CAMPUS CHARITÉ MITTE, BERLIN, 2 IV. MEDIZINISCHE KLINIK, UNIVERSITÄTSKLINIKUM MANNHEIM, MANNHEIM Spezifische Maßnahmen bei Komplikationen Hinweise für eine Intoxikation bzw. Überdosie- unter Melagatran rung von Melagatran lassen sich bereits mit der aPTT und deren Verlängerung über das Drei- Laborparameter fache der Norm erkennen. In diesem Fall sind eine kurzfristige Kontrolle des antikoagulatori- Die antikoagulatorische Wirkung von Melaga- schen Effekts sowie eine wiederholte ärztliche Die antikoagulatorische tran (Exanta®) kann anhand der aktivierten Untersuchung angezeigt [7, 8, 19, 27]. Wirkung von Melagatran partiellen Thromboplastinzeit (aPTT) semiquanti- (Exanta®) kann anhand der tativ und anhand der Ecarinzeit (ECT) sensitiv Abbildung 1 gibt einen Überblick über die aktivierten partiellen Throm- kontrolliert werden. Allerdings stehen nur in orientierende Diagnostik und die mögliche boplastinzeit (aPTT) semi- wenigen Kliniken Testsysteme zur Verfügung, Therapiekontrolle unter einer (lebensbedroh- quantitativ und anhand der um die ECT zu messen. Die Aussagekraft der lichen) Akutblutung unter Melagatran. Ecarinzeit (ECT) sensitiv aPTT ist für Lepirudin und Argatroban im thera- kontrolliert werden. Aller- peutischen Bereich belegt. Eine zwei- bis drei- Die Bestimmung des Quickwerts sowie der dings stehen nur in wenigen fache Verlängerung der aPTT gilt als therapeuti- Fibrinogenkonzentration und der Thrombo- Kliniken Testsysteme zur scher Bereich für die Behandlung mit Lepirudin zytenzahl sollten zur orientierenden Beurteilung Verfügung, um die ECT zu und Argatroban. Zum Nachweis der Wirkung der globalen Gerinnungsfähigkeit und/oder messen. direkter Thrombininhibitoren verfügt die Ecarin- einer möglichen Hyperkoagulabilität durchge- zeit (ECT) verglichen mit der aPTT zwar über führt werden. eine höhere Sensitivität, die therapeutischen Bereiche sind allerdings weniger präzise definiert Blutstillende Therapieoptionen bei Blutungen als für die aPTT [6, 7, 19, 27, 36]. unter Melagatran In verschiedene Studien wurde die Aussagekraft Wie bei den anderen Antikoagulanzien muss der gängigen Essays (aPTT, ECT, PT) für Mela- auch bei Blutungskomplikationen unter Mela- gatran untersucht [8, 9]. Die Ergebnisse entspre- gatran zunächst als erste Maßnahme die Gabe chen im Wesentlichen den Erkenntnissen für von Melagatran unterbrochen bzw. eingestellt Lepirudin und Argatroban. werden. Eine Intoxikation bzw. Überdosierung von Melagatran ist durch einen Arzt zu dia- gnostizieren. Hierbei ist zu beachten, dass die Abbildung 1: Akutblutung unter Melagatran – orientierende Diagnostik vollständige Eliminationszeit bei nierengesunden und Therapiekontrolle Patienten zwölf Stunden beträgt. Bei Intoxi- kation bzw. Überdosierung ohne Blutungs- Orientierende Diagnostik komplikationen ist nur in Ausnahmefällen die Gabe eines Antidots erforderlich, da die Elimi- aPTT ( ECT (Ecarin Clotting Time) ) nationshalbwertszeit von Melagatran mit etwa drei Stunden sehr gering und vergleichbar Quick Thrombozytenzahl Fibrinogen der von Lepirudin und Argatroban ist [8, 9]. Orientierende Therapiekontrolle Hämodialyse / FEIBA® aPTT ECT rFVIIa Quick aPPT 32 VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10
Als Antidot verfügbar sind beispielsweise Feiba® Tabelle 3 gibt einer Überblick über das jeweilige und Novo Seven®. Eine weitere Therapieoption thrombophile Risiko durch aktivierten rekombi- ist die Hämodialyse. Die Substitution von akti- nanten Faktor VII (rFVIIa; Novo Seven®) und viertem Prothrombinkomplex-Präparat (aPCC, aktiviertes Prothrombinkomplex-Präparat (aPCC, z.B. Feiba®) als Bolus (100 I.E. Feiba® pro kg KG) z. B. Feiba®) [1, 30]. zur akuten Blutstillung führte in den bislang durchgeführten Untersuchungen aber zu den besten Ergebnissen [8, 9, 26, 33, 41]. Wenn Tabelle 3: Thrombophiles Risiko unter rFVIIa und aPCC (< 0.1%) [1, 30] keine Blutstillung oder eine deutliche Regredienz der akuten Blutung innerhalb von 60 Minuten Substanz rFVIIa aPCC nach Erstgabe des aktivierten Prothrombinkom- (Novo Seven®) (Feiba®) plex-Präparats eintritt (fehlende Wirksamkeit), Zeitraum 1996 – 2003 1999– 2002 ist ein zweiter Bolus anzustreben. Hierbei ist die Anzahl der 354.162 194.076 Standarddosen (1/3 “off-label-use”) Tageshöchstdosis von 200 I.E. Feiba® pro kg KG pro Tag zu beachten, um thrombogene Risiken Anzahl schwerwiegender 16 16 Thromboembolien möglichst gering zu halten. Der Effekt von akti- Schwerwiegende 0,005 % 0,008 % viertem Prothrombinkomplex-Präparat (aPCC, Thromboembolien pro z.B. Feiba®) auf die Hämostase (u. a. Normalisie- Standarddosis [%] rung der Thrombinbildung) geht mit einer ausge- prägten Verkürzung der aPTT oder der ECT ein- her und lässt sich daher gut kontrollieren [31]. Ist kein aPCC verfügbar, könnte auch aktivierter Abbildung 2: Akutblutung unter Melagatran – blutstillende Therapieoptionen rekombinanter Faktor VII (rFVIIa; Novo Seven®) in hohen Dosen („megadose“, z.B. 300 µg/kg KG) zur akuten Blutstillung verabreicht werden [33, Melagatran (Ximelagatran) 41]. Solch hohe Dosierungen sind bisher klinisch Einnahme < 12 Std. vor Blutung allerdings nur in der Therapie der Hemmkörper- hämophilie bei Kindern (therapierefraktäre Blutungen) erprobt [32]. Eine durchschnittliche Aktuelle Hämodialyse rFVIIa (300 µg/kg KG) Dosis von 90 bis 120 µg/kg KG erwies sich Fachinformation Bolus – megadose [41] jedoch bei Gesunden als nicht ausreichend, um einen überschießenden antikoagulatorischen persistierende Effekt von Melagatran aufzuheben [8, 9]. Blutung Tritt keine Blutstillung oder deutliche Regredienz aPCC (Feiba®) Bolus 100 I.E. kg KG [9, 41] der akuten Blutung innerhalb von 30 Minuten nach Erstgabe von rFVIIa ein (fehlende Wirksam- keit), ist ein zweiter Bolus anzustreben. Die Wir- kung von rFVIIa auf die Hämostase kann mit der PT bzw. der Thromboplastinzeit (Quickwert) optimal kontrolliert werden. Eine Kombination von aPCC und rFVIIa oder ein Wechsel der bei- den Präparate während der Therapie ist wegen der Potenzierung des thrombophilen Risikos zu vermeiden. VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 33
Originalie JÜRGEN KOSCIELNY1, HOLGER KIESEWETTER1, REINHARD LATZA1, JOB HARENBERG2, 1 INSTITUT FÜR TRANSFUSIONSMEDIZIN, CAMPUS CHARITÉ MITTE, BERLIN, 2 IV. MEDIZINISCHE KLINIK, UNIVERSITÄTSKLINIKUM MANNHEIM, MANNHEIM Eine Hämofiltration ist erst bei klinisch unzu- Spezifische Maßnahmen bei Komplikationen Der hohe logistische Zeit- reichender bzw. fehlender Blutstillung durch die unter Fondaparinux aufwand bei einer Hämo- vorherigen medikamentösen Maßnahmen bei filtration auf Grund einer lebensbedrohlichen Blutungen als Therapie der Laborparameter akuten Blutung durch letzten Wahl anzusehen. Der hohe logistische Melagatran ist unbedingt Zeitaufwand bei einer Hämofiltration auf Grund Fondaparinux (Arixtra®) ist ein synthetisches zu berücksichtigen. einer akuten Blutung durch Melagatran ist Pentasaccharid, das mit hoher Affinität an Anti- unbedingt zu berücksichtigen. Lepirudin und thrombin bindet und spezifisch aktivierten Fak- Argatroban können dagegen durch Hämofiltra- tor Xa hemmt. Es hat eine lineares dosisabhängi- tion effektiv und zügig eliminiert werden [21]. ges pharmakokinetisches Profil. Nach subkuta- In Abbildung 2 sind die blutstillenden Therapie- ner Gabe ist es zu 100% bioverfügbar. Seine optionen bei einer (lebens-)bedrohlichen Akut- Wirkung setzt 30 Minuten nach der Injektion blutung unter Melagatran zusammengefasst. ein. Die Halbwertszeit beträgt 14 bis 16 Stunden. Dadurch wird eine anhaltende antithromboti- sche Wirkung von 24 Stunden erreicht [10, 40]. Eine einmal tägliche Gabe reicht aus. Fondapa- rinux hat keinen Einfluss auf die Prothrombin- zeit, auf die aktivierte partielle Thrombopla- stinzeit oder auf die Plättchenfunktion [18, 40]. Bei höheren Dosierungen kann eine leichte Abbildung 3: Akutblutung unter Fondaparinux – orientierende Diagnostik Verlängerung der aPTT auftreten. In Interaktions- und Therapiekontrolle studien konnte bei einer Dosierung von 10 mg kein signifikanter Einfluss auf die antikoagula- Orientierende Diagnostik torische Aktivität von Vitamin-K-Antagonisten (INR-Werte) festgestellt werden. Unter Fondapa- Anti-Xa-Aktivität rinux sollte nach Möglichkeit die Anti-Xa-Aktivi- tät zur Abschätzung eines übertherapeutischen aPTT Quick Thrombozytenzahl Fibrinogen Effekts bestimmt werden [18, 20, 40]. Orientierende Therapiekontrolle FFP/Plasmapherese Anti-Xa-Aktivität rFVIIa Quick 34 VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10
Allerdings kann nur Fondaparinux zur Kalibra- Blutstillende Therapieoptionen bei Blutungen tion des eingesetzten Anti-Xa-Tests verwendet unter Fondaparinux Wie bei den anderen werden [18, 20]. Die internationalen Standards Antikoagulanzien gilt auch von UFH oder NMH sind hierfür nicht geeignet. Wie bei den anderen Antikoagulanzien gilt auch bei Blutungskomplikationen Das Ergebnis der Fondaparinux-Aktivität kann bei Blutungskomplikationen unter Fondaparinux unter Fondaparinux als auch in Milligramm (mg) in Bezug auf die zur als erste Gegenmaßnahme ein Pausieren bzw. erste Gegenmaßnahme ein Kalibration benutzte Fondaparinux-Menge Absetzen der Antikoagulanzien. Eine Intoxikation Pausieren bzw. Absetzen angegeben werden. Die Anti-Xa-Aktivität von bzw. Überdosierung von Fondaparinux bei einem der Antikoagulanzien. Fondaparinux wächst linear mit der Konzentra- Patienten ist durch einen Arzt zu diagnostizie- tion und erreicht bei Nierengesunden ungefähr ren. Hierbei ist die Eliminationshalbwertszeit von drei Stunden nach Gabe maximale Werte. 17 Stunden bei nierengesunden jungen Patien- ten und von 21 Stunden bei nierengesunden Andere Antikoagulanzien wie NMH oder orale älteren Patienten, insbesondere bei Patienten Vitamin-K-Antagonisten können die Anti-Xa- über 75 Jahre, zu berücksichtigen [10, 40]. Aktivität sowohl von Fondaparinux als auch von Idraparinux, einem indirekten Anti-Xa-Inhibitor Laut Fachinformation sollte erwogen werden, mit deutlich längerer Halbwertszeit als Fondapa- zusätzlich geeignete Maßnahmen wie mecha- rinux, verstärken [20]. Abbildung 3 gibt einen nische Blutstillung, Blutersatz, Frischplasma- Überblick über die orientierende Diagnostik und Transfusionen oder Plasmapherese einzuleiten mögliche Therapiekontrolle bei einer Akut- [10]. Unter einer chronischen intermittieren- blutung unter Fondaparinux. den Hämodialyse kann die Clearance-Rate von Fondaparinux um bis 20% ansteigen [18]. Die Bestimmung des Quickwerts sowie der Fibrinogenkonzentration und der Thrombo- zytenzahl sollten zur orientierenden Beurteilung der globalen Gerinnungsfähigkeit und/oder Abbildung 4: Akutblutung unter Fondaparinux – blutstillende einer möglichen Hyperkoagulabilität durchge- Therapieoptionen führt werden. Fondaparinux Einnahme < 24 Std. vor Blutung FFP, Aktuelle Plasmapherese Fachinformation rFVIIa (90 µg/kg KG) [3, 29, 35] + persistierende Blutung Tranexamsäure (15 mg/kg KG) [29] VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 35
Originalie JÜRGEN KOSCIELNY1, HOLGER KIESEWETTER1, REINHARD LATZA1, JOB HARENBERG2, 1 INSTITUT FÜR TRANSFUSIONSMEDIZIN, CAMPUS CHARITÉ MITTE, BERLIN, 2 IV. MEDIZINISCHE KLINIK, UNIVERSITÄTSKLINIKUM MANNHEIM, MANNHEIM Allerdings sind Frischplasma-Transfusionen Eine Substanz mit schnell einsetzender blut- oder Plasmapheresen bei einer akuten lebens- stillender Wirkung, circa 10 bis 20 Minuten bedrohlichen Blutung durch ihren erheblichen nach Applikation, ist der rekombinante aktivier- logistischen Zeitaufwand nur eingeschränkt te Faktor VIIa - rFVIIa (NovoSeven®). Die Gabe wirksam. Bis beispielsweise 2 l Frischplasma be- von rFVIIa nach vorheriger Fondaparinux-Appli- stehend aus bis zu 10 Einheiten GFP (gefrorenes kation führte in vitro zu einer beschleunigten Frischplasma) á 200-250 ml in einer zentralisier- Thrombinbildung, einer partiellen Reduktion der ten Blutbank angefordert, fachgerecht aufgetaut, Fibrinolyse über den Thrombin-aktivierbaren transportiert und transfundiert sind, können Fibrinolyse-Inhibitor (TAFI) und einer Verkürzung Zeitintervalle von deutlich über zwei Stunden der Gerinnungsbildungszeit. Bei gesunden Frei- erreicht werden. willigen war zu beobachten, dass die Prothrom- binzeit, die aPTT und die Thrombinbildungszeit Des Weiteren ist gefrorenes Frischplasma bei durch die Gabe von rFVIIa verkürzt werden Allerdings sind Frischplasma- der Herstellung nicht auf den Faktor X standar- [3, 23, 35]. Transfusionen oder Plasma- disiert. Diesbezüglich können erhebliche Unter- pheresen bei einer akuten schiede von GFP-Einheit zu GFP-Einheit beste- Eine durchschnittliche Dosis von 90 bis 120 µg/kg KG lebensbedrohlichen Blutung hen. Nicht immer wird daher durch eine GFP- erwies sich bei Gesunden als ausreichend, um durch ihren erheblichen lo- Gabe die Faktor-X-Aktivität zur Blutstillung einen überschießenden antikoagulatorischen gistischen Zeitaufwand nur suffizient angehoben. Außerdem ist eine Hyper- Effekt von Fondaparinux aufzuheben [3, 23, 35]. eingeschränkt wirksam. volämie durch die Gabe von mehreren Litern Wenn keine Blutstillung oder deutliche Regre- aufgetauten Frischplasmas zu vermeiden. Zu dienz der akuten Blutung innerhalb von 30 Mi- bedenken ist weiterhin der zusätzliche mehr- nuten nach Erstgabe von rFVIIa eintritt (fehlende stündige Zeitaufwand für die Durchführung Wirksamkeit), ist ein zweiter Bolus anzustreben einer Plasmapherese, zumal diese auch nicht [23, 35]. Die Wirkung von rFVIIa auf die Hämo- in jedem Krankenhaus vorgehalten wird. stase ist mit der PT bzw. der Thromboplastinzeit (Quickwert) in optimaler Weise zu kontrollieren. Abbildung 4 fasst die blutstillenden Therapie- optionen bei einer Akutblutung unter Fondapa- rinux zusammen. 36 VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10
Fallbeispiel Schlussfolgerung Dass rFVIIa klinisch effektiv blutstillend wirkt, Es ist anzumerken, dass – abgesehen von zeigt eindrucksvoll eine erste aktuelle Kasuistik den Heparinen – für keines der verfügba- Es ist anzumerken, dass – von HUVERS und Mitarbeitern [29]. Einer 79- ren neuen Antikoagulanzien ein spezifi- abgesehen von den Hepari- jährigen Patientin wurde nach einem Bolus sches Antidot existiert. Daher wird üblicher- nen – für keines der verfüg- rFVIIa (90 µg/kg Körpergewicht) zusätzlich zur weise nicht die Intoxikation bzw. Überdo- baren neuen Antikoagulan- Fibrinstabilisierung Tranexamsäure (15 mg pro sierung an sich behandelt, sondern die zien ein spezifisches Antidot kg Körpergewicht) gegeben. Sie hatte nach assoziierte Symptomatik (z.B. akute existiert. Hüftoperation sechs Stunden postoperativ eine Blutung). subkutane Applikation von 2,5 mg Fondapari- nux zur Thromboseprophylaxe erhalten und Weiterhin kann die Behandlung akuter entwickelte nach einem bereits intraoperativen (lebens-)bedrohlicher Blutungen unter Blutverlust von 1.500 ml einen weiteren akuten Antikoagulanzien mit Nebenwirkungen in Blutverlust, u. a. Drainagenverlust, von 75 ml Form einer Gerinnungssteigerung oder pro Stunde. Dieser war trotz einer umfang- sogar einer „überschießenden” Antikoagu- reichen Therapie mit Blutkomponenten nicht zu lation einhergehen. Daher ist bei solchen kompensieren und führte zu einem hämorrha- Fällen eine blutstillende Therapie in Zusam- gischen Schockgeschehen. menarbeit mit Fachärzten und Spezialisten der Hämostaseologie erforderlich. Erst nach Gabe von rFVIIa und Tranexamsäure war eine Blutstillung mit einem Durchbrechen der Schocksymptomatik innerhalb einer Stunde möglich. VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 37
Originalie JÜRGEN KOSCIELNY1, HOLGER KIESEWETTER1, REINHARD LATZA1, JOB HARENBERG2, 1 INSTITUT FÜR TRANSFUSIONSMEDIZIN, CAMPUS CHARITÉ MITTE, BERLIN, 2 IV. MEDIZINISCHE KLINIK, UNIVERSITÄTSKLINIKUM MANNHEIM, MANNHEIM Literatur: [15] Fachinformation Fraxiparin, FRAXIPARIN 0,3 duo, Fraxiparin multi. [1] Aledort L: Comparative thrombotic event incidence after infusion of Stand September (2004) http://www.fachinfo.de/ recombinant factor VIIa versus factor VIII inhibitor bypass activity. [16] Fachinformation innohep 20.000 Anti-Xa I.E./ml; innohep 3.500; J Thromb Haemost. Oct 2 (10) (2004) 1700–708 innohep multi. Stand Juli (2003) http://www.fachinfo.de/ [2] Beyth RJ, Beyth RJ, Quinn LM, Landefeld CS: Prospective evaluation [17] Fachinformation Mono-Embolex 8000 I.E. Therapie, Mono-Embolex of an index for predicting risk of major bleeding in outpatients multi, Mono-Embolex NM, Mono-Embolex PEN. Stand Februar treated with warfarin. 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