Alter Wein in neuen Schläuchen? - Nudging in der Weinbranche
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Mitteilungen Klosterneuburg 71 (2021): 187-195 SCHULZ et al. Alter Wein in neuen Schläuchen? – Nudging in der Weinbranche Frederik Schulz, Linda Bitsch und Jon Hanf Hochschule Geisenheim University D-65366 Geisenheim, Von-Lade-Straße 1 E-Mail: FrederikNikolai.Schulz1@mail.hs-gm.de Mit dem "Nudging" (zu Deutsch "anstoßen", "stupsen", "schubsen") haben der Ökonom Richard H. Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein im Jahr 2008 ein Konzept der Verhaltenssteuerung präsentiert, welches Menschen durch einen sanften psychologischen "Stups" zu Entscheidungen bewegen soll, die ihr Leben "länger", "gesünder" und "besser" machen. Neben seiner grundsätzlichen Ausrichtung als politisches Instrument der Regulierung könnte Nudging auch innerhalb des Weinmarketings Anwendung finden, wenn die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Flasche Wein beeinflusst werden soll. Fraglich ist jedoch, ob dieses Ansinnen einen neuen Aspekt innerhalb des Marketings darstellt. Es kann gezeigt werden, dass die verhaltensökonomischen Grundlagen des Nudge- Konzepts der Weinbranche schon lange bekannt sind und innerhalb des Weinmarketings an vielen Stellen Anwendung finden. Durch seine libertär-paternalistische Sinnorientierung ist Nudging jedoch nur bedingt mit der Vermarktung von Wein vereinbar. Innerhalb des Nachhaltigkeitsmarketings der Branche erweist sich Nudging hingegen als fruchtbar, wenn es darum geht, nachhaltiges Wirtschaften und ökonomische Gewinnorientierung zu vereinen. Schlagwörter: Verhaltensökonomie, Behavioral Economics, Stupsen, Entscheidungsarchitektur, Heuristiken, Marketing Old wine in new skins – Nudging in the wine industry. With 'Nudging', Richard H. Thaler and Cass R. Sunstein presented a concept of behavior control in 2008, which, by means of a gentle psychological 'nudge', aims to motivate people to make decisions that will make their lives 'longer', 'healthier' and 'better'. Apart from its basic orientation as a political instrument of regulation, nudging could also be applied within wine marketing if the decision for or against a certain bottle of wine is to be influenced. However, it is questionable whether this approach represents a new aspect of marketing. It can be shown that the behavioral-economic principles of the nudge concept have been known to the wine industry for a long time and are applied in many areas of wine marketing. Nudging is, however, only partially compatible with wine marketing due to its libertarian-paternalistic orientation. Within the sustainability marketing of the industry, nudging proves to be promising when it comes to combining sustainable management and economic profit orientation. Keywords: Behavioral Economics, nudging, choice architecture, heuristics, marketing 195
Mitteilungen Klosterneuburg 71 (2021): 187-195 SCHULZ et al. Wenn ein Kunde beim Einkauf in Supermärkten Marketings lediglich als "alter Wein in neuen oder Discountern vor einem Weinregal steht, Schläuchen" erweist. werden von ihm Entscheidungen abverlangt: weiß oder rot, trocken oder lieblich, Kork oder Nudging im Kontext der Verhal Schraubverschluss, Europa oder Übersee? Die Liste ließe sich unschwer weiter fortsetzen. Was tensökonomie auch immer am Ende im Einkaufswagen landet, wird beim Weinkauf in den meisten Fällen von Heuristiken und Verzerrungen groben Präferenzen und dem "Bauchgefühl" be stimmt. Dass sich Menschen in vielen Entscheidungssitu Dass sich Menschen bei der überwältigenden ationen des alltäglichen Lebens von ihrem Bauch Mehrheit ihrer Entscheidungen auf ihr Bauchge gefühl leiten lassen, erklärt Kahnemann (2012) fühl verlassen und nicht wie der klassische damit, dass sich der Mensch beim Denken zweier "Homo Oeconomicus" handeln, ist eine der zent kognitiver Systeme (System 1 und System 2) be ralen Erkenntnisse der Verhaltensökonomie diene. Die Arbeitsweise von System 1 wird dabei (Beck, 2014). Auf Grundlage der "Behavioral Eco als "automatisch und schnell, weitgehend mühe nomics" haben Richard H. Thaler und Cass R. Sun los und ohne willentliche Steuerung" beschrie stein (2009) mit dem "Nudging" (zu Deutsch "An ben. Es ist dieses System, das oftmals schlicht mit stoßen", "Schubsen" oder "Stupsen") ein Konzept dem "gut feeling" ("Bauchgefühl") gleichgesetzt präsentiert, das in erster Linie politischen Verant wird (Thaler und Sunstein, 2009). System 2 hin wortlichen und privaten Institutionen die Mög gegen ist verantwortlich für das reflexive und ra lichkeit eröffnen soll, im Sinne eines "Libertären tionale Denken (Thaler und Sunstein, 2009). Paternalismus" das Leben der Nudge-Adressaten Viele Aufgaben, die dem menschlichen Gehirn durch einen sanften psychologischen Stups "bes gestellt werden, können zwar nicht immer klar ei ser", "länger" und "gesünder" zu machen. nem dieser beiden Systeme zugeordnet werden, In der deutschen Politik war das Nudging bereits die meisten Entscheidungssituationen des tägli Gegenstand lebhafter Debatten bis in den Bun chen Lebens werden aber eher nicht mit dem ra destag, da das Konzept sich gerade im Bereich tional arbeitenden System 2, sondern mit dem des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes als automatischen und schnellen System 1 gelöst effektives Mittel staatlicher Regulierung erwei (Kahneman, 2012) Bei Kunden, die beim Wein sen könnte (Die Bundesregierung der Bundesre kauf im Discounter vielleicht unter Zeitdruck ste publik Deutschland, 2019). hen oder aus ihrem Einkauf keine "Wissenschaft" Obwohl Thaler und Sunstein den Fokus bei der machen wollen, ist eine schnelle Entscheidung Ausformulierung des Konzeptes auf die politische über System 1 genau das, was die Situation ver Ebene legen, könnte Nudging auch im privatwirt langt. schaftlichen Bereich von Relevanz sein, wenn es Um den Weg zur Entscheidungsfindung abzukür etwa im Weinmarketing darum geht, Kunden zur zen, arbeitet das automatische System mit Heu Wahl einer bestimmen Flasche Wein zu "stup ristiken (Kahneman und Tversky, 1974). Sie wer sen". den auch als "Rules of Thumb" bezeichnet (Thaler Auch das "klassische" Marketing verfolgt psycho und Sunstein, 2009). Diese Faust- oder Daumen grafische Ziele, bei denen das Nachfrageverhal regeln sind an vielen Stellen des Lebens äußerst ten beeinflusst werden soll (Meffert et al., 2015). hilfreich, sie führen aber auch zu systematischen Mit dem Ansinnen, eine Verhaltensänderung Fehleinschätzungen und "kognitiven Wahrneh durch bestimmte Maßnahmen zu erzielen, gehen mungsverzerrungen" (Kahneman, 2012). Letz Nudging und Marketing Hand in Hand. In diesem tere werden auch als "Biases" bezeichnet Beitrag soll daher beleuchtet werden, inwiefern (Kahneman und Tversky, 1974). Nudging innerhalb des Weinmarketings genutzt Das bisher Beschriebene soll im Folgenden zu werden könnte, wie sich nächst anhand von drei Heuristiken und eigenen das Konzept vom "klassischen" Marketing unter Beispielen aus der Weinwirtschaft veranschau scheidet und ob sich Nudging im Bereich des licht werden: Die Ankerheuristik wird meist dann angewendet, wenn Menschen Vorhersagen und Schätzungen numerischer Art treffen müssen (Kahneman und Tversky, 1974). Den "Anker" setzen sie bei ihnen 195
Mitteilungen Klosterneuburg 71 (2021): 187-195 SCHULZ et al. bekannten Größen und nähern sich diesem da Kahneman und Tversky, 1984). Ein "Frame" (Rah raufhin mit ihrer Schätzung an (Thaler und Sun men) im Discounter oder Supermarkt ist zum Bei stein, 2009) Für den Kunden vor dem Weinregal spiel eine "Edition", innerhalb derer Weine ver in Discountern oder Supermärkten könnte sich marktet werden. In der "Edition Fritz Keller" vielleicht der Hinweis "90 Falstaff-Punkte" als An strahlt der Glanz des "Rahmens" eines renom ker erweisen und ihm bei der Kaufentscheidung mierten südbadischen Weinbaubetriebes auf das auf die Sprünge helfen. Die Repräsentativitäts – wie auch immer geartete – Produkt ab. Der heuristik bezieht sich auf den Vergleich zweier Rahmen vermittelt Sicherheit und Vertrauens Objekte oder Individuen. Die Frage, wie wahr würdigkeit. Priming steht für den Effekt, dass sich scheinlich "A" zu "B" gehört, wird oftmals danach Menschen in ihren Entscheidungen vor allem von beantwortet, wie repräsentativ "A" für "B" ist Informationen und Reizen beeinflussen lassen, (Thaler und Sunstein, 2009). Steht beim Discoun die dem Individuum im frühen Stadium der Ent ter über dem Regal der Hinweis "Bordeaux" (A), scheidungsfindung präsentiert wurden nimmt der "ordinary consumer" diese Hilfestel (Kahneman, 2012). So kann beispielsweise das lung als Hinweis auf einen vermeintlich qualitativ Ernährungsverhalten beeinflusst werden, indem guten Wein (B) vielleicht gerne an. Die Verfügbar Produkte mit positiven Assoziationen in Form keitsheuristik wird bevorzugt dann angewendet, von Bildern und Emotionen verknüpft werden wenn Menschen eine Einschätzung zur Häufigkeit (Holle, 2016). Beim Champagner "Veuve Mon und Plausibilität eines bestimmten Ereignisses signy" aus dem Discounter ist die "geprimte" As abgeben sollen (Kahneman und Tversky, 1974). soziation zur "Witwe Clicquot" ein geschickter Fällt dem eiligen und eher fachunkundigen Ver Marketingschachzug. braucher im Discounter beim Blick auf die deut Damit zeigt sich, dass das Konzept des "Stupsens" schen Weine der Slogan "Kenner trinken Würt insofern nicht neu ist, als die verhaltensökonomi temberger" ein, könnte dies der entscheidende schen Grundlagen seit Jahrzehnten bekannt sind Anstoß zum Kauf eines Weines aus diesem An und im Marketing auf breiter Ebene genutzt wer baugebiet sein. den (Bornemann und Smeddinck, 2016). Das sub Die Wahl einer bestimmten Flasche Wein wird optimale Wirken von System 1 macht den Men auch von "kognitiven Verzerrungen" beeinflusst, schen für Verhaltensbeeinflussungen wie deren Anwendung nach Kahneman und Tversky Nudging empfänglich (Thaler und Sunstein, (1974) auf die zuvor vorgestellten Heuristiken zu 2009). Die aus Heuristiken und Verzerrungen re rückzuführen ist. Der Status-Quo-Bias beschreibt sultierenden Fehlbarkeiten werden genutzt, um das Phänomen, dass Menschen dazu tendieren, das Verhalten von Individuen in eine bestimmte an gegenwärtigen Situationen festzuhalten (Sa – und für gut befundene – Richtung zu lenken muelson und Zeckhauser, 1988). Der Status-Quo- (Hausman und Welch, 2010). Da das Nudge-Kon Bias lässt Verbraucher zu Stammkunden werden. zept mehr umfasst als nur die bloße Anwendung Sie halten an "ihrer" Region, an "ihrem" Weingut verhaltensökonomischer Erkenntnisse, soll im und an "ihrem" Wein fest. Er sollte daher in den Folgenden ein vertiefender Blick auf die Kernge Weinregalen von Lebensmitteleinzelhändlern o danken des Ansatzes gerichtet werden. der Fachhändlern immer vorrätig sein und im Re gal an der gleichen Stelle stehen. Eng verbunden Das Nudge-Konzept von Thaler und Sunstein mit dem Status-Quo-Bias ist die Verlustaversion, nach der Menschen Verluste stärker gewichten Begibt sich ein "ordinary consumer" (Thaler und als Gewinne (Kahneman und Tversky, 1984). Im Sunstein, 2009) im deutschen Lebensmittelein Discounter oder Supermarkt kann die Verlusta zelhandel auf die Suche nach einer Flasche Wein, version beispielsweise mit "Wochenaktionen" dann lässt sich dieser nicht nur vielfach von sei durch das Marketing genutzt werden. In ihnen nem automatischen und schnellen kognitiven werden Weine angeboten, die nicht immer Teil System leiten, sondern das vielleicht wahrge des Portfolios und nur begrenzt verfügbar sind. nommene "Bauchgefühl" wurde an vielen Stellen Die Aversion, zu den "Verlierern" zu gehören und ausgelöst durch eine bewusste und gezielte An am Ende mit "leeren Händen" dazustehen, moti passung der "Entscheidungsarchitektur" (Thaler viert zum Kauf. Der Framing-Effekt beschreibt das und Sunstein, 2009). Die Ausweisung von Kriti Phänomen, dass sich Menschen von der Art der ker-Punkten, einprägsame Slogans sowie die Präsentation von Aussagen, Wahrscheinlichkei Wahl des Namens eines Champagners gehen al ten und Produkten leiten lassen (Holle, 2016; 195
Mitteilungen Klosterneuburg 71 (2021): 187-195 SCHULZ et al. lesamt auf das Wirken eines "Entscheidungsar dungsfindung legen nahe, dass es durch das Wir chitekten" zurück, der den Konsumenten mit die ken des automatischen Systems erst gar nicht zu sen simplen Anpassungen der Rahmenbedingun einer reflektierenden Reaktion durch den Nudge- gen in eine bestimmte Richtung "stupst". Adressaten kommt und der "Stups" somit in vie Die intendierte Verhaltenssteuerung erfährt im len Fällen nicht bemerkt wird und damit de facto Nudge-Konzept aber eine wesentliche Einschrän auch keine Wahlfreiheit besteht. kung, da die freie Wahlmöglichkeit trotz der Ein Zusammenfassend sind unter Nudging somit li flussnahme des Entscheidungsarchitekten ge bertär-paternalistisch-sinnorientierte Maßnah wahrt bleiben soll. Damit einher geht der An men zu verstehen, die durch eine bewusste und spruch der leichten Umgehbarkeit der Maßnah aus verhaltensökonomischen Erkenntnissen ab men, die den Adressaten nicht zu einem be geleitete Gestaltung der Entscheidungsarchitek stimmten Verhalten zwingen sollen (Thaler und tur auf eine Verhaltensänderung über das "An Sunstein, 2009). "90 Falstaff-Punkte" leiten den stupsen" des kognitiv-automatischen Systems Konsumenten zwar in eine Richtung, dennoch zielen, wirtschaftliche Anreize nicht stark verän kann er auch weiterhin zu jeder anderen Flasche dern und ohne großen Aufwand zu umgehen im Regal greifen. Sunstein (2014) definiert Nud sind. ges deshalb als "liberty preserving approaches that steer people in particular directions, but that Nudging im Kontext des Weinmarke also allow them to go their own way". Weiters sollen ökonomische Anreize, wie bei tings spielsweise die Preise von einzelnen Produkten, Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt wer nicht wesentlich verändert werden (Thaler und den, dass die Weinbranche beim Marketing auch Sunstein, 2009). Das Ausrufen von "begrenzt ver auf verhaltensökonomisch-informierte Maßnah fügbaren Waren" kann somit als "Stups" gesehen men wie etwa Framing oder Priming zurückgreift. werden, nicht jedoch das alljährliche Kampfange Meffert, Burmann und Kirchgeorg (2015) definie bot des Rotkäppchen-Sekts von 2,49 Euro zur ren Marketing als "systematischen Entschei Weihnachtszeit. dungs- und Gestaltungsprozess, der die Berück Der übergeordnete Leitgedanke des Nudge-An sichtigung der Kundenbedürfnisse bei allen satzes ist das Konzept des "Libertären Paternalis marktgerichteten Unternehmensaktivitäten si mus" (Thaler und Sunstein, 2009). Schon Jahre cherstellt, um hierüber die Unternehmensziele vor dem Erscheinen von "Nudge" (2009) haben zu erreichen". Ein äußerst populäres und allge Thaler und Sunstein (2003) einen Aufsatz zu die genwärtiges Instrument der Verhaltensbeeinflus sem Konzept veröffentlicht. Der grundlegende sung – ebenfalls über das kognitiv-automatische Gedanke hinter dem Libertären Paternalismus System – ist auch die dem Marketing zugehörige besteht darin, dass politische Verantwortliche, Werbung, unter der "ein kommunikativer Beein private Institutionen und Behörden das Verhal flussungsprozess mithilfe von Massenkommuni ten von Menschen beeinflussen, sodass diese kationsmitteln [verstanden wird], der das Ziel nach ihrer Entscheidung "besser" dastehen (Tha hat, beim Adressaten marktrelevante Einstellun ler und Sunstein, 2009). Ergänzt wird dieser pa gen und Verhaltensweisen im Sinne der Unter ternalistische Gedanke durch den libertären As nehmensziele zu verändern" (Bruhn, nach Mef pekt der bereits zuvor beschriebenen Wahlfrei fert et al., 2015). heit bei der Entscheidungsfindung. Nudging wird Da in der wissenschaftlichen Literatur bislang deshalb auch als "soft paternalism” bezeichnet keine Beiträge zum Thema Nudging im Weinmar (Thaler und Sunstein, 2009). Zum Verhalten, wel keting veröffentlicht wurden, soll im Folgenden ches das Leben der Menschen in besonderer dargestellt werden, wie sich Nudging vom "klas Weise negativ beeinflusst, zählen für Thaler und sischen" Marketing unterscheidet. (In der Litera Sunstein (2009) etwa eine ungesunde Ernährung, tur bereits thematisiert wurden mit Blick auf die das Rauchen sowie der Konsum von Alkohol. libertär-paternalistische Sinnorientierung des Die bereits vorgestellten Beispiele werfen jedoch Nudge-Konzeptes die Möglichkeiten und Gren die Frage auf, inwieweit auf Seiten des Adressa zen einer staatlichen Einflussnahme auf den Kon ten der Verhaltensbeeinflussung tatsächlich eine sum von Wein (Schulz et al., 2021). Der vorlie Wahlfreiheit besteht. Die beschriebenen Vor gende Beitrag nimmt davon Abstand und legt den gänge im menschlichen Gehirn bei der Entschei 195
Mitteilungen Klosterneuburg 71 (2021): 187-195 SCHULZ et al. Fokus auf die privatwirtschaftliche Ebene.) Hier teilung der Gesamtbevölkerung in relevante Ziel bei wird in einem ersten Abschnitt zunächst der gruppen für den Verkauf deutscher Weine zeigt, Prozess der Kaufentscheidung beleuchtet, wel dass rund 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger cher grundlegend für eine mögliche Differenzie Gruppen zugeordnet werden können, die Wein rung ist. vornehmlich in Discountern und Supermärkten beziehen. Da sich diese Milieus durch geringe Erklärungsansätze des Käuferverhaltens Produktkenntnisse, niedrige Ansprüche und durch eine hohe Preissensibilität auszeichnen, Um das Kaufverhalten von Konsumenten erklä kann davon ausgegangen werden, dass das Gros ren zu können, erweist sich das S-O-R-Modell der in Deutschland generierten Weinverkäufe auf (Stimulus-Organismus-Response) als hilfreich. ein habituelles und impulsives Kaufverhalten zu Dieses rückt – im Gegensatz zum behavioristi rückzuführen ist, bei dem Intuition und "Bauch schen Erklärungsansatz (S-R-Modell) – den Orga gefühl" eine wichtige Rolle spielen (Deutsches nismus sowie die dort ablaufenden Prozesse in Weininstitut, 2013). den Mittelpunkt des Kaufentscheidungsprozes Nicht nur deshalb besitzt die Ausrichtung und ses (Meffert et al., 2015). So wird ein Kunde auf Kontrolle der absatzpolitischen Instrumente in der Suche nach einer Flasche Wein beispiels nerhalb der Weinbranche eine stetig wachsende weise durch die Ausstattung der Weine in den Re Bedeutung. Auch der hohe Anteil an Importwei galen beeinflusst. Dieser Reiz (Stimulus), der nen bei gleichzeitig stagnierendem Marktvolu durch die schlichte Wahrnehmung der Flaschen men erhöht aufgrund des entstehenden Verdrän form, der Etiketten etc. ausgelöst wird, verstärkt gungswettbewerbs die Relevanz einer erfolgrei sich positiv oder negativ im Organismus durch chen Absatzpolitik (Loose, 2018; Meffert et al., den Einfluss persönlicher Bestimmungsfaktoren, 2015). Im Bereich des Weinmarketings müssen zu denen die Persönlichkeit, Werte oder der kul daher neue, "innovative" Ideen eingebracht wer turelle Hintergrund gehören, und führt letztlich den. Hierbei könnten sich insbesondere die von zu einer Entscheidung für oder gegen das Produkt Thaler und Sunstein angeführten Überlegungen (Response). Schon an dieser Stelle wird bereits als fruchtbar erweisen. deutlich, dass das S-O-R Modell offen ist für die Anwendung verhaltensökonomischer Erkennt Verhaltensökonomisch-orientierter Marke nisse. "Klassisches" Marketing setzt an dieser tingansatz und Nudging Stelle an und entwickelt Lösungsansätze, um die Marketingziele über die Ausgestaltung der Pro Beim "klassischen" Marketingansatz werden die dukt-, Preis-, Distributions- und Kommunikati Bedürfnisse der Kunden aus den vielfältigen Be onspolitik zu erreichen (Meffert et al., 2015). stimmungsfaktoren des Organismus abgeleitet. Letztlich geht es hierbei wiederum um die grund Darüber hinaus können aber auch das menschli legende Befriedigung der Kundenbedürfnisse che Rationalitätsdefizit mit seinen Heuristiken und somit um die Erfüllung der unternehmeri und kognitiven Verzerrungen bei der Gestaltung schen Ziele. absatzfördernder Maßnahmen genutzt werden, um die langfristigen Unternehmensziele effizien Relevanz von Marketing in der deutschen ter zu erreichen. Entscheidend ist dabei letztlich Weinbranche nicht nur, was sich der Mensch vor dem Hinter grund seiner Bedürfnisse bei der Kaufentschei Für die Unternehmen der Weinbranche ergeben dung denkt, sondern vor allem wie der Mensch sich im Bereich der Absatzpolitik komplexe Her denkt. Der verhaltensökonomische Ansatz kann ausforderungen, da es sich bei Wein um ein Ge somit als ergänzender Baustein verstanden wer nussmittel handelt, bei dem sich Vorlieben, Ge den, da er den "klassischen" Ansatz absatzför schmäcker sowie das generelle Involvement und dernder Maßnahmen unterstützen kann, indem der Konsum nicht nur zwischen den Geschlech Fehlbarkeiten des menschlichen Denkens ausge tern, sondern auch zwischen Altersgruppen im nutzt werden. mens unterscheiden können (Szolnoki, 2019). Für die Weinregale des Lebensmitteleinzelhan Eine in den Jahren 2012 und 2013 vom Deutschen dels kann dies beispielsweise bedeuten, dass ne Weininstitut in Auftrag gegebene Studie zur Ein ben zielgruppengerechten und bedürfnisange passten Angeboten und Marketingmaßnahmen jene Weine auf Augenhöhe platziert werden 195
Mitteilungen Klosterneuburg 71 (2021): 187-195 SCHULZ et al. könnten (Framing), die die größte Marge besit und Ökonomie miteinbeziehen, haben sich etab zen. liert. In Deutschland existiert der Verband Fair Auf Grundlage der oben dargestellten konzeptio and Green (FAIR and GREEN e.V., 2019). Der ös nellen Elemente des Nudge-Ansatzes kann an terreichische Weinbau führte 2015 das Zertifizie dieser Stelle eine weitere Abgrenzung getroffen rungsinstrument "Nachhaltig Austria" ein, bei werden. Im Mittelpunkt steht dabei die libertär- dem Betriebe nachhaltige Arbeitsweisen mittels paternalistische Sinnorientierung des Konzeptes. Eigenbewertung messen und verbessern können Demnach sollen vordergründig jene Verhaltens (Poelz und Rosner, 2020; Rosner und Zöch, 2020). weisen "korrigiert" werden, die in ökonomischer Durch Nutzung der Zertifizierungen in Form von Hinsicht negative externe Effekte hervorrufen Labels auf Etiketten, Webseiten oder in Broschü und damit langfristig das Potenzial besitzen, die ren können diese den Konsumenten durch den ökonomische Wohlfahrt insgesamt zu verringern Informationswert zum Kauf und Konsum dieser (Thaler und Sunstein, 2009). Paternalistische Produkte "stupsen". Auch Priming, welches den Züge, wie die Verbesserung der Gesundheit von Nachhaltigkeitsgedanken aufgreift, wird bereits Konsumenten, sind dem "klassischen" Marketing verstärkt bei der Gestaltung von Etiketten ange eher fremd. Dies wird bereits bei der Betrachtung wendet, wie etwa der Aufdruck von Insekten auf der Entwicklung des definitorischen Verständnis Weinflaschen zeigt (Klein, 2020). ses von Marketing ersichtlich (Meffert et al., Diese Beispiele zeigen einen Weg auf, um liber 2015). Da Thaler und Sunstein (2009) auch den tär-paternalistisch-orientierte Maßnahmen auch Konsum von Alkohol als "risk related behavior" im Bereich des Weinmarketings zu implementie bezeichnen, ist der Grundgedanke des Nudging ren. Sofern die Zertifizierungs- und Bewertungs nur schwerlich mit der Vermarktung von Wein prozesse in Weinbaubetrieben die Verwendung vereinbar. Im Folgenden soll dennoch eine Mög von Labels oder Siegeln zulassen, können diese lichkeit aufgezeigt werden, wie die libertär-pater ohne allzu großen Aufwand durch das Anbringen nalistische Sinnorientierung des Nudge-Konzep auf Etiketten oder durch Informationen auf Web tes mit absatzfördernden Maßnahmen im Be seiten auch in kleineren Unternehmen für Mar reich Wein zumindest ansatzweise verbunden ketingzwecke genutzt werden. Die Vorzüge lie werden könnte. gen dabei auf der Hand: Ein transparent ausge staltetes Nudging könnte ganzheitliche Nachhal Nudging als Teil des Nachhaltigkeitsmarke tigkeit, in der ökologische, ökonomische und so tings der Weinbranche ziale Aspekte verbunden werden, weiter in das Blickfeld der Konsumenten rücken und die stei Stetig an Bedeutung gewonnen hat in den ver gende Relevanz dieses Themas aufgreifen. Damit gangenen Jahren der Bereich des Nachhaltig könnte Nudging der Branche in der aktuellen keitsmarketings, bei dem innerhalb jeglicher Nachhaltigkeitsdebatte einen "Schub" geben, Transaktionsaktivitäten eines Unternehmens die ohne in den Verdacht zu geraten, allzu "manipu Vermeidung oder Verringerung von Nachhaltig lativ" zu agieren, da die Akzeptanz für Verhal keitsproblemen sichergestellt werden soll (Mef tensbeeinflussungen dieser Art größer sein fert et al., 2015). könnte als gegenüber rein verhaltensökono Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit den misch-orientierten Maßnahmen, welche in erster sich zunehmend verändernden Bewirtschaf Linie Marktstellungs-, Marktleistungs- und Renta tungsformen im Weinbau. So waren im Jahr 2019 bilitätsziele forcieren. Dennoch erweist sich die in Österreich bereits 15,5 Prozent der Rebfläche Berücksichtigung libertär-paternalistischer Ge biologisch zertifiziert, in Deutschland lag der An dankengänge bei der Implikation von Nudges im teil der Bio-Rebfläche im Jahr 2019 bei knapp 10 Weinmarketing eher als sperrig. Prozent (ÖWM, 2020; Statista, 2020). Zahlreiche Zertifizierungen wie Demeter, Bioland oder Eco vin bieten Konsumenten auf Weinetiketten oder den Internetseiten der Mitgliedsbetriebe Infor mationen zu den Anbauweisen. Auch ganzheitli che Ansätze, welche den Nachhaltigkeitsaspekt in Weingütern nicht nur auf ökologische Ziele be schränken, sondern auch die Bereiche Soziales 195
Mitteilungen Klosterneuburg 71 (2021): 187-195 SCHULZ et al. Diskussion Die Frage, ob es sich bei Nudging im Weinmarke In diesem Beitrag wurde jedoch andererseits ting um "alten Wein in neuen Schläuchen" han deutlich, dass Nudging nicht allein auf die Beein delt, muss schlussendlich differenziert betrachtet flussung menschlichen Verhaltens auf Grundlage werden. Einerseits bleibt festzuhalten, dass ver der Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie re haltensökonomische Erkenntnisse und das Nut duziert werden kann, denn letztlich ist das Kon zen menschlicher Fehlbarkeiten, die durch das zept untrennbar mit der Ideologie des Libertären Zusammenwirken der beiden kognitiven Denk Paternalismus verbunden, innerhalb derer Men systeme ausgelöst werden, schon lange eine ge schen zu einem gesünderen, längeren und besse wichtige Rolle innerhalb des Marketings spielen. ren Leben verholfen werden soll. Dennoch Die Anpassung der Entscheidungsarchitektur mit scheint es, als würde Nudging als Überbegriff für tels Framing, Priming und anderen verhaltens eine Vielzahl verschiedener Formen der Verhal ökonomisch-informierten Methoden ist ein fes tensbeeinflussung dienen, die nicht zwingend ter Bestandteil des Weinmarketings, nicht nur im den libertär-paternalistischen Gedanken verfol Lebensmitteleinzelhandel. In einem sich verstär gen. Dies ist nicht verwunderlich, beschreibt der kenden Verdrängungswettbewerb wird diese Art Begriff doch sehr treffend und auf "smarte" Art der "sanften" Beeinflussung des Kaufverhaltens und Weise die angedachte Verhaltensänderung. für die Weinbranche weiter an Bedeutung gewin Das Nudge-Konzept mit seinen Kerngedanken ist nen. Im Hinblick auf das reine Ansinnen, Konsu im Weinmarketing nur bedingt anwendbar, da menten durch die Anwendung verhaltensökono der Libertäre Paternalismus auch den Konsum mischer Erkenntnisse bei ihren Entscheidungen von Alkohol unter jenes Verhalten subsumiert, zu beeinflussen, kann das Nudge-Konzept somit welches dem Leben der Bürgerinnen und Bürger durchaus als "neuer Schlauch" bezeichnet wer schadet. Da jedoch Gedanken zu den den, durch den bereits bekannte Erkenntnisse Themen Nachhaltigkeit und Umweltschutz auch "gepumpt" werden. in der Weinbranche immer bedeutsamer wer den, könnte sich Nudging insofern als inspirie rend erweisen, wenn es im Weinmarketing da rum geht, ökonomische Gewinnorientierung, Ge sundheit und nachhaltiges Wirtschaften konzep tionell miteinander zu denken. Wie die neuesten Marketingbemühungen der Branche zeigen, wer den diese Gedanken mit Nachhaltigkeits-Labels oder erweiterten Produktinformationen bereits in die Tat umgesetzt. 195
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