"An Stella" und andere frühe Gedichte - Anmerkungen zu Gedichten Hölderlins (2)

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大学教育研究紀要 第7号(2011)77-88

                   «An Stella» und andere frühe Gedichte
                ‐Anmerkungen zu Gedichten Hölderlins‐ (2)

                                   Eiji MIYAGAWA

                                           要 旨

      『シュテラに』と同時期に著わされた複数の詩作品においては、同作品を構成する様々な
    モチーフが、より深化され、詳細化された形で表われ出ている。
                                『M.B.へ』(1785)では、詩人
    を包括する社会環境全般が孕む一つの根本的問題性が、若年期ならではの鋭敏な感性によっ
    て捉えられ、率直な表現を与えられている。また『わが家族』(1786)では、後の詩人の文学
    的展開の基盤を一貫して形成する、卓越した表象化の能力が初めて可視的に機能することで、
    高次の美的イメージが提供されると同時に、自身との精神的類縁性を投影乃至は感得された
    人間存在を、既存の全体内に認知することで生じる屈折した内面性を確認することが出来る。
    そして『嘆き-シュテラに』(1787)と『我が女友達たちに』(1787)では、異性を観念像内に、
    いわば一つの機能体として配置することで、個人と全体に纏わる上記の諸事項のより多面的
    な実像が呈示されている。

      キーワード:環境と個、想像力、ドイツ近代、自然と人間、現代社会、疎外

2.1 «An M.B.» (1785)
   Die im Gedicht «An Stella» erkennbaren Grundmotive, nämlich das heftigste Entgegenge-
setztsein des Dichters gegen das umfassende menschliche Milieu, die daraus notwendigerweise
resultierende und doch zugleich in höchstem Grade innerlich verzehrende Vereinzelung und
der beharrlichste Wille zur gänzlichen Umgestaltung dieser inneren und äußeren Situationen
überhaupt usw., sind natürlich auch in den zeitnah verfassten anderen Gedichten zum Aus-
druck gekommen, und zwar auf eigenartig vertiefende und detailierende Weise. Im Gedicht
«An M.B.», das kurz vor «An Stella» vertmutlich für seinen vertrauten Freund Bilfinger ge-
schrieben wurde, kommt ein Grundproblem der Welt zur Sprache, das erst in Rücksicht auf die
bestimmte Vortrefflichkeit des im Prozess des Wachstums zur Mündigkeit stehenden Jünglings
zum Vorschein kommen kann.

                 O lächle fröhlich unschuldsvolle Freude,
                 Ja, muntrer Knabe, freue dich !
                 Und unbekümmert, gleich dem Lamm auf Frühlings-Haiden,
                 Entwikeln deine Keime sich.

                 Nicht Sorgen und kein Heer der Leidenschafften
                 Strömt über deine Seele hin;

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Eiji MIYAGAWA

                  Du sahst noch nicht, wie tolle Thoren neidisch gafften,
                  Wann sie die Tugend sehen blühn.

                  Dich sucht noch nicht des kühnen Lästrers Zunge:
                  Erst lobt sie, doch ihr Schlangengifft
                  Verwandelt bald das Lob, das sie so glänzend sunge
                  In Tadel, welcher tödlich trifft.

                  Du glaubst mir nicht, daß diese schöne Erde
                  So viele unzufriedne trägt,
                  Daß nicht der Welt, der dich der Schöpfer gab, Beschwerde,
                  Nur eigner Kummer Seufzen regt.

                  So folge ihr, du edle gute Seele,
                   Wohin dich nur die Tugend treibt,
                   Sprich; Welt ! kein leerer Schatten ists, das ich mir wähle
                   Nur Weißheit, die mir ewig bleibt. 1

  Es wird hier die Forderung nach der Fröhlichkeit und der Unbekümmertheit nicht aus dem
Grund der Wertigkeit dieser psychischen Zustände an sich gestellt, sondern sie sollen vor allem
als die notwendigen Voraussetzungen und Mittel funktionieren, um das innenseiende Kost-
barste des Jünglings in seiner normalen Gestalt zu bewahren und unbeschädigt wachsen
zu lassen. Diese eine Art der paradoxen Aussage, dass nicht die Einwirkung von der äußeren
Welt, sondern die Verteidigung des Individuellen gegen jeden belastenden Einfluss von außen
eben seine ideale Bildung ermögliche, stammt aus der ebenso widersprüchlichen, fast bis zur
Umgekehrtheit entstellten Situation der sozialen Umgebung, wo die Gegenwart der seelischen,
ethischen Superiorität, z.B. hier „der Tugend“, schließlich eine höchst negative Reaktion bei der
allgemeinen Aufnahme verursachen muss. Die These der gesellschaftlichen Anteilnahme, an
welcher der einzelne durch die Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit den mannigfal-
tigen Individuellen sich zum umfassenderen Dasein üben könne, kann ihre begrenzte Gel-
tung auch nur auf begrenzte Weise haben, solange die Mitglieder eben das mehr oder we-
niger gemeinsame, also meistens ziemlich beschränkte Niveau haben. Dem hiervon Abwei-
chenden, besonders dem Hinausragenden, wird nur allzuwenig Positives anlässlich dieser
Berührung mit der „Welt“ zuteil und allzuviel Verheerendes, wodurch jeder sein seelisches
Gleichgewicht verliert und unter den ausbrechenden negativen Gefühlen sein bisher erhaltener,
ausgeglichener Zustand des Wohlbefindens bis zur fatalen Folge verseucht wird. Fröhlichkeit
und Unbekümmertheit sind demzufolge sozusagen ein unvermeidbares Korrelat mit der
Abschaltung des Außenseienden. Sie sind einerseits die angeborene, und sogar sich nach außen
entfaltende schöpferische Grundlage des Geistes, die aber in der Bedingtheit des Zeitalters nur
durch die künstliche Erhaltung ihrer in sich verschlossenen Daseinsweise ihre Identität und
Erzeugungskraft behalten kann und daher am dringlichsten diese konsequente Spaltung

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«An Stella» und andere frühe Gedichte

zweierlei kontrastiver Bereiche bewirken muss.
  Nach diesen Schilderungen der sonderbaren Strategie zur Bewahrung des seltenen Selbsts
wird in der vierten Strophe eine grundsätzliche Struktur dieser problematischen Wirkung der
Welt zum Ausdruck gebracht. Indem der Dichter vom Standpunkt des einigermaßen er-
fahrenen Menschen den unwissenden Freund der Existenz der „unzufriedenen“ auf der
„schönen Erde“ gewahr werden lässt, zeigt er einen immensen Kontrast zwischen dem Licht
und der Dunkelheit, nämlich das Dasein der unzählbar vielen Abartigen im Gebiet der
Schönheit, der Natur auf. Der entscheidende Mangel, welcher der besonderen Seinsart dieser
„unzufriedenen“ Menschen zu Grunde liegt, bezieht sich nicht auf „Beschwerde“, sondern auf
„eigenen Kummer“. Ihr Gefühl der Notdurft entsteht nämlich eben nach dem Maß der bloß
privaten, egoistischen Interessen, und keineswegs wegen der öffentlich erkennbaren, somit
dem ethischen Maßstab gemäß möglichst zu löschenden Belastungen. Gegen diese den Schein
der eigenen Richtigkeit vorführende große Mehrheit protestierend, muss man mit einem
verstärkten Willen wagen, die prinzipiellen Grundsätze des eigenen Daseins als ewige
„Weißheit“ zu bejahen, weil der Selbstrechtfertigung beiseite der großen Menge entsprechend,
aus dieser die gründliche Aktion der Verneinung gegen die seltenen Einzelnen, wenigstens in
deren subjektivem Bereich, hervorgeht und sie selber ständig in größter Gefahr stehen, ihr
Innerstes als „leeren Schatten“ spontan zu verleugnen. Durch die äußerst verfeinerten Sinnen
des Jugendlichen geahnte und erfasste Einzelheiten der Umwelt, die sich unter dem Anschein
der Normalität miteinander zu einem schädlichen Irrtum wandeln, sind die wesentlichen
Faktoren des Gedichtes, die den Schauplatz für das poetische Ganze mitsamt den individuellen
und subjektiven Gesinnungen aufbauen.

2.2 «Die Meinige» (1786)
  In diesem Gedicht, das einem Gebet für die eigene Familie gleicht, werden als Bezeichnungen
                                                                               2
für deren Mitglieder die Worte „die Meinige(n)“ und „die lieben Meinen“            benutzt, die mit der
                                                                                           3
vom späteren Hölderlin gern gewählten Ausdruckweise wie „meine Geliebten“                      oder die
           4
„Lieben“       usw. nicht nur im formalen Aspekt, sondern eben im Bezug auf den konkreten
Gegenstand der Hinweisung recht gleichartig sind. Sie deuten alle auf die menschlichen Wesen,
die der Dichter in seiner äußersten Vereinsamung als die fast einzigen Gründe des Lebens im
Vorstellungsbereich mit größter Dichtigheit verkörpert hat, indem er die Verwandschaften mit
den eigenen Wertvorstellungen als Inhalte dieser Wesen darin auftauchen lässt. Auch hier
werden durch die ähnliche Funktion des Geistes die wichtigen seelischen Komponenten des
Dichters, zwar in indirekter und begrenzter Weise, aufs gegenständliche Dasein projeziert.
Dies geschieht besonders bei den jüngeren Geschwistern, Heinrica und Carl.

                    Auch für meine Schwester laß mich flehen,
                    Gott ! du weist es, wie sie meine Seele liebt,
                    Gott ! du weist es, kennest ja die Herzen, hast gesehen,
                    Wie bei ihren Leiden sich mein Blik getrübt.-
                    Unter Rosen, wie in Dornengängen,

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                   Leite jeden ihrer Tritte himmelan.
                   Laß die Leiden sie zur frommen Ruhe bringen,
                   Laß sie weise gehn auf heitrer Lebensbahn.

                   Laß sie früh das beste Theil erwählen,
                   Schreib ihrs tief in ihren unbefangnen Sinn,
                   Tief wie schön-die Himmelsblume blüht in jungen Seelen,
                   Christuslieb’ und Gottesfurcht wie schön !
                   Zeig ihr deiner Weisheit reinre Wonne,
                                       […]

                   Wie sie in das Herz des Kämpfers Frieden
                   Tränen in des bangen Dulders Auge giebt-
                   Wie dann keine Stürme mehr das stille Herz ermüden,
                   Keine Klage mehr die Seele trübt.
                   Wie sie frei einher geht im Getümmel,
                   Ihr vor keinem Spötter, keinem Hasser graut,
                   Wie ihr Auge, helleschimmernd, wie dein Himmel,
                   Schrökend dem Verführer in das Auge schaut. 5

  In diesen ersten drei der an die Schwester gerichteten insgesamt vier Strophen zeigt sich
die ähnliche Bewegung des Herzens mit der beim vorigen Werk sichtbaren Eigenschaft des
dichterischen Gemütes. Das gesteigerte Mitgefühl des Dichters für die Schwester, das von ihm
selber auch aus dem taktischen Gesichtspunkt absichtlich betont ist, besteht aus den psy-
chischen Elementen wie Sorge und Angst, die eben angesichts der durch die „Leiden“
ziemlich beherrschten Schwester angefacht werden, die damit auch in der Gefahr zu stehen
scheint, aus dem angemessenen „Lebenslauf“ abzuweichen. Auch hier werden die negativen
inneren Zustände, erregt durch die äußeren schädlichen Kräfte wie „Spötter“, „Hasser“ und
„Verführer“ usw., als die größten Anlässe zur seelischen Regression für sehr problematisch
gehalten. Um sich mit diesen kritischen Lebebsumständen bei der Schwester zu befassen, weist
aber Hölderlin, anders als beim vorigen Gedicht, wo die Entfernung aller möglichen lästigen
Einwirkungen von außen und somit die Bewahrung der angeborenen naiven Unschuld wenig-
stens angeblich für wünschenswert angesehen sind, ihre gegenwärtige Situation, die „Leiden“,
vorläufig anerkennend, auf die gültigere Maßnahme hin, die unverzichtbare Substanz des
Glaubens, wie sie eben in der Jungendzeit am reinsten behalten werden kann, nämlich „das
beste Theil“, in den tiefsten Grund des inneren Bereichs einzunehmen und sich kraft ihrer
gegen jede geistige Verwüstung erfolgreich entgegenzusetzen. Was in diesen Strophen be-
kräftigt sich in den Vordergrund rückt, ist eben dieses Bild des innersten Kerns, der, alle
Einflüsse und Invasionen von der Finsternis der Umgebung bewältigend, mit seiner leuch-
tenden Lebendigkeit bestehen sollte.

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«An Stella» und andere frühe Gedichte

                Aber Gott ! daß unter Frühlingskränzen
                Oft das feine Laster seinen Stachel birgt-
                Daß so oft die Schlange unter heitern Jugendtänzen
                Wirbelt, und so schnell die Unschuld würgt-!
                Schwester ! Schwester ! reine gute Seele!
                Gottes Engel walte immer über dir !
                Häng’ dich nicht an diese Schlangenhöhle,
                Unsers Bleibens ist - Gott seis gedankt ! nicht hier. 6

  In der letzten Strophe wird abermals auf die verderbliche Beeinflußung hingewiesen, dies-
mal aber auf die sozusagen doppelt entwickelte, in ihrer Verheimlichung umso effektvoller
verleitende Wirkung, die sich in den vornehmeren und damit für die Jugend stark anreizenden
Gewohnheiten und Lebensstilen verbirgt. Der Hauptfaktor, der hier im Gedicht beständig
Hölderlins Empfindung bestimmt, ist eben eine Art von Sorge, diese äußerst gespannte Be-
wußtheit der Krise, dass das jetzt noch bestehende wenige Gute duch die überwältigende
Gewalt des Umfassenden zu Nichts ausgelöscht werden könne, dieses konstante Gefühl der
Isoliertheit, das aus der Ahnung des schroffen Zwiespaltes zwischen dem finsteren Diesseits,
„hier“, und dem lichten Jenseits stammt und beim Anblick der verschiedenen Gegebenheiten ihr
Aussehen des Nicht-überbrückbar-seins noch weiter verstärkt. Auch in den folgenden Strophen
für den jüngeren Bruder kommt dieser Grundton der nervenkranken Wehmut zuweilen hervor.

                Und mein Carl --o ! Himmelsaugenblike !
                O du Stunde stiller, frommer Seeligkeit !
                Wohl ist mir ! ich denke mich in jene Zeit zurüke-
                Gott ! es war doch meine schönste Zeit.
                (O daß wiederkehrten diese Tage !
                O daß noch so unbewölkt des Jünglings Herz,
                Noch so harmlos wäre, noch so frei von Klage,
                Noch so ungetrübt von ungestümmem Schmerz !)

                Guter Carl ! -in jenen schönen Tagen
                Saß ich einst mit dir am Neckarstrand.
                Fröhlich sahen wir die Welle an das Ufer schlagen,
                Leiteten uns Bächlein durch den Sand.
                Endlich sah ich auf. Im Abendschimmer
                Stand der Strom. Ein heiliges Gefühl
                Bebte mir durchs Herz; und plötzlich scherzt’ ich nimmer,
                Plötzlich stand ich ernster auf vom Knabenspiel.

                Bebend lispelt’ ich: wir wollen betten !
                Schüchtern knieten wir in dem Gebüsche hin.

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                  Einfalt, Unschuld wars, was unsre Knabenherzen redten-
                  Liber Gott ! die Stunde war so schön.
                  Wie der leise Laut dich Abba ! nannte !
                  Wie die Knaben sich umarmten ! himmelwärts
                  Ihre Hände strekten ! wie es brandte-
                  Im Gelübde, oft zu betten-beeder Herz ! 7

  Im auffälligen Kontrast zu den anderen gleichzeitigen Arbeiten, in denen zwar die
künstlerischen Kräfte und Werte fraglos vorhanden sind, aber manchmal unter der allzu
unverhohlenen und vereinfachten Redeweise ihre allgemeine Wirksamkeit beträchtlich
vermindern können, besitzen diese oft von den Interpreten erwähnten drei Strophen offen-
sichtlich einen starken „eigenen Ton“.8 Da vor allem im Kontext der bisherigen poetischen
Tätigkeiten wegen der fast ständigen Warnung vor der Welt stark schattierte Stimmungen
herbeigeführt worden sind, wirken die Worte der ersten zwei Zeilen, obwohl sie als bloße
Vokative nur gezetzt sind, als gänzliche Befreiung vom durchaus anstrengenden Zustand und
reißen die Lesenden, mit der Wirkung der folgenden zwei Zeilen und der nächsten Strophen,
über die gegebenen schweren Sachverhalte hinaus in den gerade entstandenen, ästhetisch
imaginären Raum, den der Dichter selber durch die vergrößerte Aktivität der Vorstellung, des
„Sich-darin-denkens“, um sich selbst als die mit der früheren abgewechselte, ganz neue
Gegenwart erscheinen lässt. Diese geistige Funktion des Gegenwärtig-machens der innig
verlangten höheren Umgebung gewinnt in der Chronik von Hölderlins Dichtung hier zum
erstenmal ihre eindeutige Gestalt und gewisse Gültigkeit, und im weiteren Verlauf des Dichtens
ihre fantastische Konstruktionskraft entfaltend, verwandelt sie sich am Anfang des 19.
Jahrhunderts, bei den sogenannten späten Hymnen und Elegien, bis zur fast beschwörenden
magischen Einbildungskraft, mittels deren der Dichter schließlich in den Zustand gerät, wo
er selber der Fiktionalität der um sich werdenden Verhältnisse gar nicht bewußt zu sein
scheint.9 Hier aber handelt es sich dagegen um die durch die Ratio genug kontrollierte
Bewegung des Herzens. Deshalb läuft die Darstellung, bei den letzten vier eingeklammerten
Zeilen wieder die lästige reale Gegenwart temporär zurückrufend, und danach unter den
unwiderrufbaren Kennzeichen der Erinnerung, zur Schilderung der exzellenten Landschaft und
Begebenheiten, welche aber eine recht faszinierende, fast zauberhafte Macht der Poesie in
ihrer Simplizität gegen die Lesenden ausübt.
  Was in den folgenden zwei Strophen sich literarisch am meisten auszeichnet, ist, um es mit
einem Wort zu sagen, die Natürlichkeit einer Idealität. Unter dem schönen Abendschein doch
nur mit dem Spiel emsig sich beschäftigende Kinder, ohne dabei jeden Strahl von oben gewahr
zu werden, erkennen gar zufällig in einem Augenblick eine mit dem „Abendschimmer“ erfüllte
Landschaft um und über sich. Dann wechselt sich im Nu das bisherige Innere der Kinder mit
dem ganz Andersartigen, dem „heiligen Gefühl“, ab und himmelwärts aufsehend beten sie mit
dem heißesten Herzen. Hier ereignet sich diese ideelle und eher formelle Verhaltung, das
Gebet, gar nicht einer vorgeschriebenen Handlungsweise folgend, sondern eben dadurch, dass
kraft der Vorstellung von den Schönheiten der Natur notwendigerweise im Innersten des

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«An Stella» und andere frühe Gedichte

Subjekts eine intentionale Bewegung erregt wird, welche sich auf den dabei außen erkannten,
bzw. geahnten höchsten Wert bezieht. Diese Natürlichkeit des doppelten Charakters, dass das
durchaus Ideale und Abstrakte einerseits identisch mit der Materie der Natur wahrnehmbar
wird und andererseits vermittelt durch diese Erscheinungsweise aus dem innersten Kern des
subjektiven Daseins, nämlich aus dessen Natur selbst, die Intentionalität darauf hervorgeht,
kennzeichnet die Darstellung des Gedichtes und bleibt zeitlebens Hölderlins dichterische
Grundlage.
  Es wird nicht so unangemessen sein, aus diesem Erlebnis der Kindheit zu extrahierende
Essenz des Glaubens als das Fundament jeder auf die Göttlichkeit bezogenen Aussage zu
betrachten, wie sie sich überall und offenbar in den frühen Gedichten befindet, kontrastiert mit
dem gegensätzlichen Faktor der fragwürdigen Umgebung. Auch bei den auf den Bruder
gerichteten Darstellungen folgt sogleich dem glänzenden, hymnischen Bild der Positivitäten
eine zur Welt gekehrte, melanchorische Anschauungsweise.

                 Nun, mein Vater ! höre, was ich bitte;
                                     […]
                 Wann im Kampf ihm einst die Arme sinken,
                 Bang nach Rettung seine Blike um sich sehn,
                 Die Vernunft verirrte Wünsche lenken;
                 O so mahne ihn dein Geist, zu dir zu flehn.

                 Wann er einst mit unverdorbner Seele
                 Unter Menschen irret, wo Verderber spähen,
                 Und ihm süßlich scheint der Pesthauch dieser Schlangenhöhle,
                 O ! so mahne ihn, zu dir zu flehn.
                 Gott ! wir gehen auf schwerem, steilem Pfade,
                 Tausend fallen, wo noch zehen aufrecht stehen,
                 Gott ! so leite ihn mit deiner Gnade,
                 Mahn ihn oft durch deinen Geist, zu dir zu flehn. 10

  Das Bewußtsein, dass auch „die lieben Meinen“ mit dem Dichter in dieselbe Umgebung, in
diese gegebene, unaustauschbare und gründlich fragwürdige Umgebung unvermeidlich
eingeschlossen sind, bildet vermutlich aufgrund der alltäglichen realen Erfahrungen eine
lebhafte wahrscheinliche Gestalt seines Bruders in der Zukunft, der „im Kampf“ mit den
umfassenden gewaltigen Negativitäten in Verzweifelung gerät und die Grundprinzipien des
eigenen Lebens freiwillig abzuwerfen droht. Mehrmals wiederholte, auch hier zur Ein-
dringlichkeit gedichtete oppositionelle Haltungen gegen die allgemeinen Tendenzen gelan-
gen in den mit dem Ruf „Gott !“ anfangenden zwei Zeilen endlich zu einem Höhepunkt, zu
einer thesenhaften Erklärung, wo über den etwas lehrbuchmäßigen Wortgebrauch hinweg eine
wahrhafte Stimme des gegen die allgemeinen umfassenden Tendenzen ringenden Menschen
hörbar wird, der die vielfältigen Krisen des Daseins mit der strengen Selbstbeherrschung

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bestanden hat und bestehen wird. Was aus diesen Strophen für die Geschwister am stärksten
nachhallt, sind eher die Ahnung und das Gefühl von Verzicht und Entfremdung, wenn man
hinter sich das Ausbleiben und Verschwinden der wenigen lieben Gefährten wahrnehmen
muss und da vereinzelt stehen bleibt,-als die einfältige Liebe für sie und die naive Erwartung
ihrer geistigen Beständigkeit.

2.3 «Klagen - An Stella » (1787), «An meine Freundinnen» (1787)
  Bei diesen an damalige eigene „Freundinnen“ gerichteten Gesängen sind die Angerufenen
zwar wirkliche, reale Menschen (Mädchen), aber sie wirken, indem sie in den Rahmen des
Gedichtes eingesetzt sind, vor allem als die literarischen Funktionalitäten, die dem Ausdruck
der sonderartigen Komplexität des dichterischen Daseins von selbst dienen.
  In der ersten Strophe von «Klagen» wird durch ein dreimaliges Benutzen des Wortes „Grab“
auf eindringliche und ziemlich erhitzte Weise das Verlangen des Liebespaares nach dem Tod
gezeigt und danach folgt dessen Grund, der Sachverhalt von ihrem „leiden“. 11

                    O ihr Menschen ! o so gerne wollt’ ich euch
                       Alle lieben, warm und treu ! oh ihr Menschen
                         Sehet diese Stella haßt ihr !
                          Gott vergebe es euch !

                    Reißt sie nur hinweg von mir ! Quäler ! ihr !
                       Ich will schweigen-Gott-Gott wird reden
                         Lebe wohl-ich sterbe bald-O
                          Stella ! Stella vergiß mich.

                    Viele Wonnenaugenblike gabst du mir-
                       Vater ! Vater ! bebt’ ich oft auf zum Ewgen
                         Sieh’ ich liebe sie so rein dein Auge
                          Vater sieht ja mein Herz.

                    Stella ! weinen werd’ ich bis ans Grab um dich
                       Weinen, Stella, du um mich-weinen ! aber
                          Am Gerichtstag will ichs sagen
                             Vorm versammelten Erdkreis:

                   Diese sinds, die Stella quälten-aber nein !
                     Gott im Himmel ! nein ! vergieb diesen Quälern
                        Laß mich sterben-oder tragen
                          Diese Leiden-mein Gott. 12

  Der entsetzliche Zwiespalt zwischen dem Liebespaar und den Menschen im allgemeinen, der

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«An Stella» und andere frühe Gedichte

Welt, besteht eben darin, dass die große Mehrheit diese Liebe trotz ihrer vom Dichter selber
behaupteten, echten Legitimität nicht anerkennt und aus einer fast instinktiven Feindseligkeit
die Liebenden, besonders die Liebende, als das Häßlichste beseitigen will. Um die besondere
Wesentlichkeit des Gedichtes zu begreifen, wird es wohl aufschlußreicher sein, die grund-
legende Logik der gesamten Darstellungen in ihrer vielschichtigen Konstruktion zu er-
fassen, als die mannigfältigen Konkretheiten bei dieser Gelegenheit zu erwägen. Diese
absolute Gegnerschaft nämlich hat ihren letzten Grund nicht in der Persönlichkeit der Geliebten
selber, sondern in der dem Liebesverhältnis vorausgehenden fundamentalen Gegensätzlichkeit
zwischen dem Dichter und dem Milieu, die in diesem Aufsatz bereits erwähnt ist. Eine Frau,
die bisher als ein normales Glied der Welt keine Repression daraus erlebt hat, gerät un-
absichtlich in die umgekehrte, unglückliche Lage, indem sie einen der Welt gegenüber-
stehenden Mann liebhat, d.h. an der Welt sozusagen Verrat begeht. Durch die eigene
Liebe, durch die Beziehung mit dem Geliebten, beinahe unbewußt von der gewohnten Seite,
welcher sie angehört und deren innersten Wertvorstellungen sie eigentlich am meisten ent-
spricht, in die gegensätzliche und fremde Seite hereingezogen, erschöpft sich die Liebende
unter den ihr selber unverständlichen ungeheueren Plagen, die aber für die bisherige Seite
gemäß dem primitiven Gefühl wirklich natürlich sind. Solche nach dem rein ethischen Maßstab
nicht anzuerkennenden Barbareien von Anfang an mit den empfänglichen Sinnen enthüllend
und heftig anklagend, nähert sich der Dichter zuletzt zu einer Entsagung, wo er nur auf die
Duldung alles Unheils gefasst sein soll, erstens aus dem Standpunkt der rein religiösen
Humanität und zweitens, weil alles das im Grunde aus seiner existenziellen Stellungsnahme
notwendig herführt und somit nichts als sein Verhängnis ist.
  Auch im Gedicht «An meine Freundinnen» kann beim bloß flüchtigen Anblick nur eine allzu
sentimentalische Stimmung eines Jünglings bemerkt werden, der im Entfremdetsein von der
Umgebung anscheinend am anderen Geschlecht, an den „Mädchen“, großen Trost, d.h.
Anerkennung seines Selbsts, suchen will. Aber natürlich spricht hier ebenso eine ernste
Künstlerschaft sich aus.

                     Mädchen ! die ihr mein Herz, die ihr mein Schiksaal kennt,
                           Und das Auge, das oft Tränen im Thale weint
                             In den Stunden des Elends-
                              Diß mein traurendes Auge seht !

                     In der Stille der Nacht denket an euch mein Lied,
                      Wo mein ewiger Gram jeglichen Stundenschlag
                            Welcher näher mich bringt dem
                              Trauten Grabe, mit Dank begrüßt.

                    Aber daß ich mein Herz redlich und treu, und rein
                      Im Gewirre der Welt, unter den Lästerern
                            Treu und rein es behielt, ist

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Eiji MIYAGAWA

                         Himmelswonne dem Leidenden.

                   Mädchen ! bleibt auch ihr redlich und rein und treu !
                     Gute Seelen ! Vielleich wartet auf euch ein Loos,
                        Das dem meinigen gleicht. Dann
                          Stärkt im Leiden auch euch mein Trost. 13

  Anders als beim ersten Eindruck beherrschen das Werk konsequent von Anfang bis Ende
nicht die gemütlichen Identifikationen mit den Gegenständen, sondern eine Art von strengerer
Objektivierung und die exakte Eerkenntnis der Innerlichkeit und der Außenwelt. In der ersten
und der zweiten Strophe zeigt sich die ziemlich zurückhaltene Anteilnahme des Dichters an
den Mädchen, dass er beim Dichten an sie bloß „denket“. Dies entspricht der ebenfalls
bescheidenen Verhaltung auf Seiten der Mädchen, welche schließlich nur die bestimmte Auf-
nahmefähigkeit für das sonderbare Dasein Hölderlins, dessen Kennen-und-sehen-können, sicht-
bar gemacht haben, was auch die Beschreibung in einem Brief Hölderlins vermuten lässt.14
Also hier dem weiblichen Wesen als dem gewiß adäquaten Gegenstand der seelischen
Resonanz ein begrenztes Gewicht zuteilend, bildet der Dichter die Basis der Darstellung im
realen konstanten Zustand seiner fast zum Tod führenden namenlosen Leiden, die freilich mit
den schon erwähnten identisch sind und deshalb nicht als der vorläufige, plötzliche, der Jugend
typische Ausbruch der übertriebenen Emotion, sondern als die buchstäblich „ewige“ Grundlage
eines Menschen betrachtet werden sollen, welche die ganze dichterische Tätigkeit dieses „immer
verschlossenen Menschen, mit finstrem Aussehen“ 15 weiter charaktarisieren wird.
    Aus dieser dauerhaften Basis heraus springt in der dirtten Strophe fast überraschend, zuerst
gar ungeachtet des Daseins der angerufenen Mädchen, ein starker Wille auf, das Selbst-
vertrauen, das infolge der unerbitterlichen Negation und der Belastungen von außen her
zu verlöschen gefährdet ist, durch die kräftige Überzeugung der darunter bewahrten Echtheit
der eigenen Seele wiederzugewinnen, welches am Gedichtsende von «An M.B.» und an anderen
Stellen auf verwandte Weise versucht wird. Aufgrund dieser im Ausmaß der ganzen Strophe
vollgezogenen Heimkehr zu sich selbst wendet sich der Dichter in der vierten Strophe wieder
zu den weiblichen Personen, wobei er aber nicht mehr wie vorher aus dem scheinbaren
Standpunkt des Um-(mit)hilfe-rufenden zu ihnen redet, sondern gerade als das musterhafte Da-
sein, das unter den fortdauernden Angestrengtheiten die effektiven Methoden fürs Leben,
vor allem die zuverlässige Zähheit für die Erhaltung der höheren Geistigkeit erlangt hat und
darin selber ein „Trost“ für sie sein kann. Die Frauen, die am Anfang des Gedichtes in ihren
dem Dichter offenbarten Verwandtschaften sozusagen als seelische Gefährten in den be-
schränkten Bereich seines Inneren sympathisch aufgenommen worden sind, werden hier aus dem
viel weiter entfernten Standpunkt des geringeren Mitgefühls eben als die nur möglichen Nach-
folger und Schüler angeredet und zu ihrem künftigen Überwinden der Krise aufgemuntert.
Auch hier waltet wie bei den anderen vertrauteren Personen eine vollständige Nüchtern-
heit des Anschauens, worunter die geistigen Mitmenschen grundsätzlich ungeziert in
ihren nackten Gestalten in die erbarmungslose, reale Welt eingesetzt sind und durch die

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«An Stella» und andere frühe Gedichte

verschärften, strikten Prüfungen hindurch wie auf einer Waage geprüft werden, ob sie im
weiteren Verlauf der Zeit die höheren Erfordernisse erfüllen können oder, wie es wohl im Fall
der meisten anzunehmen ist, im ungewissen dunklen Bereich der Schattenseite fast wider-
standslos versinken werden.
                                                                  (Die Fortsetzung im nächsten Band)

Anmerkungen

1 StA 1, 5, v. 1‐4.
2 StA 1, 15, v. 1.
3 StA 3, 8.
4 StA 2, 55, v. 6.
5 StA 1, 17, v. 4‐18, v. 2.
6 StA 1, 18, v. 3.
7 StA 1, 18, v. 4‐19, v. 2.
8 StA 1, 341.
9 Tezuka weist im Bezug auf die Schilderung der abendlichen Landschaft auf die

„erhöhte Kraft der optischen Halluzination “, „die den Keim der ihm selber unbekannten
Vorstellung der Welt “ vor Hölderlin erscheinen ließ, die „mit den weiteren
Entwicklungen seiner ganzen dichterischen Tätigkeiten “ irgendeine Beziehung haben
könnte.(Tezuka, S.44)
10 StA 1, 19, v. 3‐4.
11 StA 1, 26, v. 1.
12 StA 1, 26, v. 2‐6.
13 StA 1, 27, v. 1‐4.
14 Im Brief an Imanuel Nast(Jan.87) erwähnt Hölderlin die „Mädchen aus der

Verwaltung“, die „allererstenmal im Vorbeigehen“ ihn angeredet haben, so dass er „wie
ein Kind “ sich gefreut hat, dass ihn „nur auch jemand angeredet hat“ (StA 6, 7). Die
Tatsache, dass solche winzige, kleinste Sache zur größeren Freude führen kann,
offenbart das in der Vereinsamung immer nach der Freundlichkeit dürstende Gemüt
des Jünglings und seine notwendigen Neigungen zum anderen Geschlecht, das bei
seiner Gegenwart oft gewisse innerliche Affinitäten zeigen kann.
15
   StA 2, 262, v. 3‐4.

Literatur

Hölderlin, Fr., Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. Fr. Beißner.
Stuttgart 1943ff. (StA)
Hölderlin, Fr., Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. G. Mieth. München 1978.
Beißner, Fr., Hölderlin. Köln 1969.
Häussermann, U., Hölderlin. Hamburg 1964.
Lahnstein, P., Hölderlins Heimatstaat. Hölderlin Jahrbuch 1973/1974. Tübingen 1974

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